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1 Die COVID-19-Pandemie in der Schweiz

In der Schweiz wurden bis heute (Stand: April 2022) insgesamt rund 1,5-mal so viele Infektionen mit SARS-CoV-2 detektiert wie in Deutschland: Auf eine Million Einwohner kamen in der Schweiz kumuliert 410.000 Infektionen, in Deutschland 280.000 Infektionen. Ansonsten verlief die Pandemie in der Schweiz ähnlich wie in Deutschland. Es gab wie in Deutschland insgesamt fünf Wellen, die mit dem Auftreten neuer Virusvarianten einhergingen. Die fünfte Welle, bei der die Fallzahlen extrem gestiegen sind, beruhte zunächst auf Infektionen der Varianten Delta, dicht gefolgt von Omikron BA.1 und BA.2.

In der Schweiz wurden 1,5-mal so viele Infektionen wie in Deutschland wohl deshalb detektiert, weil rund 1,5-mal so viel getestet wurde: In Deutschland kamen auf 1000 Einwohner kumuliert 1490 Tests, in der Schweiz 2370.

Betrachtet man die Zahl der Todesfälle (Abb. 1), so gab es in der Schweiz im März 2020 eine schwere erste Welle mit rund 2000 Toten (rund 230 Todesfälle / Million Einwohner). Betroffen war vor allem die italienische Schweiz mit der Nähe zu Norditalien und die französischsprachige Schweiz, weniger die deutschsprachige Schweiz. Es folgte ein Sommer mit sehr wenigen Neuinfektionen. Im Oktober und November 2020 kam dann früher und stärker als in Deutschland eine zweite Welle. Täglich starben 80 bis 100 Menschen über einen Zeitraum von fast zwei Monaten. Das entspräche in Deutschland – bezieht man es auf die Einwohnerzahl – rund 800 bis 1000 Toten täglich. Das war eine nahezu unerträgliche Situation für mich als Spitalmediziner. Die Gesellschaft hat lange gebraucht, um diese hohe Zahl an Toten wahrzunehmen – wohl auch, weil vor allem Menschen in Alters- und Pflegeheimen an den Infektionen starben. Kumulativ starben rund 8000 Personen (930 Todesfälle pro Million Einwohner) während der zweiten Welle mit nur noch geringen regionalen Unterschieden in den verschiedenen Sprachregionen.

Abb. 1.
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Der Verlauf der COVID-19-Pandemie in der Schweiz (grün) und in Deutschland (rot). Angegeben ist die Zahl der Todesfälle pro Tag und pro 1 Million Einwohner (Attribution 4.0 International CC BY 4.0) [1]

Nach der ‚tödlichen‘ zweiten Pandemiewelle folgte von Januar bis in den Sommer 2021 eine Phase der epidemiologisch gesteuerten Pandemiebekämpfung, während der die politischen und gesellschaftlichen Maßnahmen und Empfehlungen gemäß der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz zeitnah an den Verlauf der Pandemie angepasst wurden. In der Welle im Herbst 2021, hervorgerufen durch das Auftreten der Delta-Variante, starben insgesamt rund 1000 Schweizer an oder mit einer SARS-CoV-2-Infektion. Kumulativ sind bis heute (Stand 17. April 2022) in der Schweiz rund 13.000 respektive 1565 COVID-19-Tote pro 1 Million Einwohner zu verzeichnen, in Deutschland demgegenüber 1585 pro 1 Million Einwohner. Bezüglich Todesfälle haben die zwei Länder die Pandemie bisher ähnlich gut (oder schlecht) bewältigt. Hauptproblem in der Schweiz war die ungenügende, unkoordinierte und stark verspätete politische Reaktion im Herbst 2020, was zu einer 2. Welle führte, in welcher rund 60 % aller COVID-bedingten Todesfälle zu verzeichnen waren.

Die Impfraten in der Schweiz waren noch etwas geringer als in Deutschland. Wissenschaft und Politik hatten große Mühe, die Bevölkerung davon zu überzeugen, dass die Impfungen gegen SARS-CoV-2 sicher und wesentlich sind, um die Pandemie einzudämmen. Die Impfkampagne war nicht überzeugend und die Impfraten blieben niedriger als in den meisten anderen europäischen Ländern. Das Boostern erfolgte eigentlich zu spät, aber für die am stärksten gefährdeten Personen gerade noch rechtzeitig vor dem Auftreten der Omikron-Variante.

Ein großer Unterschied zwischen Deutschland und der Schweiz bestand in der Strenge und Steuerung der nicht-pharmazeutischen Eindämmungsmaßnahmen (Abb. 2). Anfänglich waren die Maßnahmen ähnlich strikt. In der Schweiz hatten wir aber nie eine Ausgangssperre und die obligatorischen Schulen waren nur in der ersten Welle während 7 Wochen geschlossen. Insgesamt wurden in der Schweiz bei einer epidemiologischen Beschleunigung Maßnahmen später und erst bei einer höheren Inzidenz verschärft als in Deutschland. Bei rückläufigen Fallzahlen wurde dafür schneller und stärker gelockert. Gemessen am Oxford Stingency Index war die Schweiz meist 15–20 Punkte lockerer unterwegs als Deutschland (Abb. 3).

Abb. 2.
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Die ergriffenen Eindämmungsmaßnahmen in der Schweiz (blau) und in Deutschland (grün) im Vergleich, gemessen am Oxford Stringency Index (Attribution 4.0 International CC BY 4.0) [1, 2]

Abb. 3.
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Wesentliche politische Entscheidungen in der Schweiz zur Eindämmung der COVID-19-Pandemie (Our World In Data, Global Change Data Lab/Attribution 4.0 International CC BY 4.0)

Normalerweise ist die Gesundheitsversorgung in der Schweiz Sache der Kantone. Gemäß Epidemiengesetz gibt es zwei Eskalationsstufen: In einer sogenannten ‚besonderen Lage’ (28.2. bis 16.3.2020 sowie 20.6.2020 bis 31.3.2022) erhält der Bundesrat zusätzliche Entscheidungskompetenzen, muss aber vor einer neuen Verfügung die kantonalen Wünsche anhören und berücksichtigen. In der sogenannten ‚außerordentlichen Lage’ (17.3. bis 19.6.2020) kann der Bundesrat autonom entscheiden. Die Umsetzung der Entscheide obliegt aber weiterhin den Kantonen.

Während der außerordentlichen Lage, die zur Kontrolle der ersten Welle verfügt wurde, gab es in der Schweiz die stärksten Einschränkungen inklusive eine schweizweite Schließung aller Schulen. Ansonsten blieben in der gesamten Pandemie die obligatorischen Schulen offen.

Die relativ lockere Maßnahmenpolitik der Schweiz hat hohe Fallzahlen in Kauf genommen und eine hohe Belastung der Krankenhäuser verursacht. Die maximale Kapazität auf den Intensivstationen beträgt rund 850 betreibbare Betten. In fast jeder Welle wurde ein Drittel bis mehr als die Hälfte dieser Kapazität für COVID-19-Patienten benötigt. Diese Belastung haben die Beschäftigten in den Spitälern gespürt. Sie waren und sind erschöpft. Viele haben den Beruf verlassen.

Die Schweizer Bevölkerung konnte sich im Juni und im November 2021 in zwei Volksabstimmungen zum sogenannten COVID-Gesetz und damit zum politischen Umgang mit der COVID-19-Pandemie äußern. Am 13.6.2021 stimmten mehr als 60 Prozent der Stimmberechtigten dem COVID-19-Gesetz zu. Es war die rückwirkende Grundlage für eine Reihe von Maßnahmen zum Schutz der Bevölkerung und für die finanzielle Unterstützung von Personen und Unternehmen, die besonders unter den wirtschaftlichen Folgen der Pandemie zu leiden hatten. Am 28. November 2021 folgte ein erneutes Referendum über einen Teil des Gesetzes, das die Grundlage unter anderem für den Einsatz der COVID-Zertifikate war. Wieder stimmten mehr als 60 Prozent der Schweizer für das Gesetz. Den Abstimmungen gingen jeweils heftige und emotional öffentliche Debatten voraus, denn sie wurden auch als generelle Legitimation der starken staatlichen Eingriffe in das gesellschaftliche Leben und in die individuellen Freiheiten der Bürger gewertet.

Im Februar 2022 wurden praktisch alle Maßnahmen aufgehoben und am 31.3.2022 wurde die ‚besondere Lage’ in der Schweiz beendet.

2 Bewertung der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie

Insgesamt haben die politischen Entscheidungsträger der Schweiz während der ganzen Pandemie versucht, mit möglichst milden Eindämmungsmaßnahmen wirtschaftliche und gesellschaftliche Aktivitäten zu ermöglichen. Aus epidemiologischer und gesundheitlicher Perspektive wurden wirksame Verschärfungen oft deutlich zu spät verfügt, um möglichst effektiv zu sein. Erst bei einer immanent drohenden Überlastung der Intensivstationen wurden Maßnahmen getroffen. Lockerungen wurden jeweils früh umgesetzt. Davon haben Wirtschaft und Gesellschaft profitiert, die weniger stark eingeschränkt wurden als in vielen westeuropäischen Ländern.

Ein kritischer Blick auf Vorbereitung und Management der Pandemie zeigt: Die Schweizer Behörden und die Politik waren ungenügend auf eine Pandemie vorbereitet. Zwar existierten Pandemiepläne, die aber zu relevanten Teilen nicht oder nur ungenügend umgesetzt wurden. Bis Ende Februar 2020 haben Behörden und Politik zudem die Gefährlichkeit von SARS-CoV-2 trotz Warnungen aus der Wissenschaft unterschätzt. Nationale Maßnahmen zur Pandemieeindämmung wurden erst unter dem Eindruck der hohen Sterblichkeit in Norditalien getroffen und kamen für die Süd- und Westschweiz zu spät, waren jedoch sehr schnell wirksam, sodass die Deutschschweiz in der ersten Welle weitgehend verschont blieb. Danach betrachteten viele (Deutsch)Schweizer die Pandemie mit einer gewissen Überheblichkeit und beurteilten die während der 1. Welle verfügten Eindämmungsmaßnahmen als übertrieben. Entsprechend stark waren Gesellschaft, Politik und Behörden von der Heftigkeit der zweiten Welle im Herbst 2020 überrascht. Hinzu kam in der zweiten Welle ein monatelanger Kompetenzstreit zwischen Bund und Kantonen: Da ging es um Zuständigkeiten und die Finanzierung von wirksamen Maßnahmen. Dieser monatelange Streit führte dazu, dass es von Oktober bis Ende Dezember 2020 dauerte, bis schweizweit einheitliche Eindämmungsmaßnahmen ergriffen wurden. Da allein in diesen drei Monaten fast 6000 COVID-Todesfälle registriert wurden, ist davon auszugehen, dass mit einer früheren und schweizweit koordinierten politischen Reaktion und der Verfügung von wirksamen Eindämmungsmaßnahmen mehrere Tausend Todesfälle hätten vermieden werden können. Dies umso mehr, da bereits im Januar 2021 mit den ersten Impfungen begonnen werden konnte, um die am stärksten gefährdeten Personen wirksam zu schützen.

Auch die Wissenschaft lag mit ihren epidemiologischen Szenarien nicht immer richtig. Beispielsweise hatten Schweizer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor einer massiven Welle im April 2021 gewarnt, verursacht durch die Alpha-Variante. Diese Welle fiel nur sehr schwach aus. Am Höhepunkt dieser „Alpha-Welle“ beschloss der Bundesrat entgegen der wissenschaftlichen Lageanalyse und Projektionen starke Öffnungsschritte – nachträglich betrachtet genau im richtigen Moment – denn trotz diesen Öffnungsschritten kam es zu keiner epidemiologischen Beschleunigung.

Die Abstimmungen zum COVID-Gesetz und die daraus resultierenden öffentlichen Debatten beeinflussten die Maßnahmenpolitik ebenfalls. Verschärfungen von Eindämmungsmaßnahmen wurden in den Monaten vor den Abstimmungen trotz ungünstiger epidemiologischer Entwicklung tendenziell vermieden. So wurden die Massnahmen erst unmittelbar nach der 2. Abstimmung Ende November 2021 verschärft, obwohl die 5. Welle durch die Delta-Variante bereits zuvor zu einer hohen Spitalbelastung geführt hatte.

Im Februar 2022 hat man trotz rekordhohen Fallzahlen, großer Belastung der Spitäler und der Verbreitung der noch ansteckenderen Omikron BA.2 Variante praktisch alle Maßnahmen aufgehoben. Die Folge war eine nochmalige epidemiologische Beschleunigung mit einer zusätzlichen Welle durch BA.2.

3 Wissenschaftsbasierte Politikberatung – Erfahrungen in der Schweiz

3.1 Von der Konstitution bis zum Mandat

Die Schweiz ist am 16. März 2020 in die außerordentliche Lage eingetreten. Schon zwei Tage später gründete Michael Hengartner, Präsident des Rates der Eidgenössisch-Technischen Hochschulen (ETH) die ETH Domain COVID-19-Task Force mit dem Ziel, Expertisen und Ressourcen der ETH zu bündeln und dem Bund und der Bevölkerung zur Verfügung zu stellen. Anfänglich tauschten sich die Mitglieder in nächtlichen langen Video-Meetings über die ETH-Expertise beispielsweise in der Epidemiologie, der Modellierung und der Produktion etwa von Masken, Textilien und Beatmungsgeräten aus. Das Gremium bestand ursprünglich aus 13 Forscherinnen und Forschern aus allen Institutionen des ETH-Bereichs unter Leitung von Martin Ackermann, einem Mikrobiologen. Das Problem: Dem Gremium fehlte zunächst völlig die Anbindung an Politik und zuständige Behörden.

Am 23. März ging diese Task Force des ETH-Bereichs in eine erweiterte ad-hoc Swiss Scientific COVID-19 Task Force über, unterstützt durch die Präsidenten des ETH-Rates, des Schweizerischen Nationalfonds (SNF) und des Verbandes der Schweizer Universitäten swissuniversities, sowie durch die Akademien der Wissenschaft Schweiz. Ziel war es, die initiale Expertengruppe von 13 Professorinnen und Professoren zu erweitern und dabei weitere wissenschaftliche Disziplinen und weitere Institutionen zu integrieren. Diese Task Force hat dann einen Tag später beim Krisenstab des Bundesrates Corona (KSBC) ein Mandat beantragt. Schon am 31. März wurde dann offiziell die Gründung der Swiss National Task Force bestätigt. Mandatsgeber waren das Staatssekretariat für Bildung, Forschung und Innovation, das Bundesamt für Gesundheit und der KSBC. Da es sich um eine selbst konstituierte Gruppierung handelte, hat sich die Task Force stets nicht nur als Auftragsnehmer gesehen, die dazu da ist, Fragen von Behörden oder der Regierung zu beantworten. Sondern die Task Force hat auch proaktiv eigene Fragen gestellt. Sie hat sich bemüht, mit ihrer Expertise ein möglichst breites Spektrum an Problemen abzudecken. Es sollte bewusst nicht nur auf biologische und infektiologische Fragestellungen fokussiert werden.

3.2 Vom Mandat zur wirksamen Beratung

Es wurden zehn Expertengruppen etabliert, die verschiedene Pandemie-relevante Wissenschaftsbereiche abdecken:

  • Clinical Care

  • Infection Prevention and Control

  • Data and Modeling

  • Ethical Legal and Social Issues

  • Economy

  • Public Health

  • Diagnostics and Testing

  • Immunologie

  • International Exchange

  • Digital Epidemiology

Matthias Egger, Vorsitzender des Schweizer Nationalfonds, und die drei Präsidenten der mandatsnehmenden Institutionen bestimmten für jede Expertengruppe eine Leiterin oder einen Leiter. Diese wählte dann in Absprache mit den Präsidenten die Mitglieder der jeweiligen Expertengruppe. Ergänzt wurde die Task Force durch ein Advisory Board. Insgesamt knapp 80 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler waren an der Task Force beteiligt. Sie haben das Mandat allesamt ehrenamtlich, also neben ihren sonstigen Aufgaben, übernommen.

Unmittelbar nach der offiziellen Gründung nahm die Task Force die Zusammenarbeit mit Organisationen des Bundes und der Kantone auf. Die Leitung der Task Force nahm an wöchentlichen Treffen des KSBS teil und präsentierte eine kurze Einschätzung der epidemiologischen Lage. In regelmäßigen Treffen mit Experten des Bundesamtes für Gesundheit wurden aktuelle Themen im Zusammenhang mit COVID-19 diskutiert.

In der Realität galt es für die einzelnen Akteure in einem langsamen Prozess, ihre Rollen zu klären und gegenseitig Vertrauen aufzubauen. Es hat gedauert, bis die Politiker wahrnahmen, dass es der Task Force nicht ums Kritisieren und „Besserwissen“ ging, sondern darum, Fakten und Daten zur Verfügung zu stellen, die der Politik helfen können, Entscheidungen zu treffen, welche die aktuell verfügbare wissenschaftliche Evidenz berücksichtigen.

Bis zum 19. Juni 2020 – da endete die außerordentliche Lage und damit das erste Mandat – schrieb die National Science Task Force 43 Berichte, sogenannte Policy Briefs, mit wissenschaftlichen und häufig interdisziplinären Perspektiven zu aktuellen Themen im Zusammenhang mit COVID-19. Diese Berichte basierten auf einem breiten Konsens unter den verschiedenen Wissenschaftlern und Disziplinen innerhalb der Task Force. Sie waren deshalb à priori multidisziplinär ausgerichtet. Sie wurden zunächst den Mandatsgebern zur Kenntnis gebracht und dann auf den Webseiten der National Science Task Force veröffentlicht.

Am 1. August 2020 trat das zweite Mandat in Kraft. Da schon in der ersten Phase Vertrauen aufgebaut worden war, intensivierte sich der Austausch der Task Force mit dem Bundesamt für Gesundheit, dem Schweizer Gesundheitsminister Alain Berset, dem Generalsekretariat des Eidgenössischen Departements des Innern (GS-EDI), dem Gesamtbundesrat und verschiedenen Mitgliedern des Parlamentes. Ab Oktober 2020 nahm dann ein Vertreter der Task Force an den wöchentlichen Pressekonferenzen von Bundeskanzlei und BAG zu COVID-19 teil. Auch in dieser zweiten Periode verfasste die Task Force wieder 46 Policy Briefs. Dazu kommen 46 wissenschaftliche Updates über neue wissenschaftliche Erkenntnisse zu COVID-19 und zur epidemiologischen Lagebeurteilung.

Im Sommer 2021 fand dann eine größere Reorganisation statt: Die Struktur mit den Expertengruppen und dem Advisory Boards wurde aufgelöst und die Zahl der Mitglieder von fast 80 auf 25 reduziert. Die Gründe für diese Reorganisation: Die Geschwindigkeit der wissenschaftlichen Entwicklung hatte etwas abgenommen, so dass nicht mehr so viele neue Erkenntnisse gesammelt und gebündelt werden mussten. Außerdem sollte dadurch die interne und externe Kommunikation vereinfacht werden.

Im August 2021 trat dann das dritte Mandat für die Task Force in Kraft. Sie stand weiterhin im engen Austausch mit dem BAG, dem GS-EDI und Bundesrat A. Berset. Sie verfasste weitere 7 Policy Briefs und 34 wissenschaftliche Updates. Am 16. Februar 2022 kommunizierte dann der Bundesrat, dass sich die Task Force auf eigenen Wunsch Ende März 2022 mit dem Ende der besonderen Lage auflösen würde.

3.3 Die Herausforderungen

Im Laufe der 24 Monate entwickelte die Task Force ein Rollenverständnis, welches sich auf vier zentrale Aufgaben in der Pandemiebewältigung konzentrierte:

  • wissenschaftliche Arbeit und Zusammenstellen wissenschaftlicher Evidenz

  • die interne Präsentation der wissenschaftlichen Erkenntnisse und Handlungsoptionen gegenüber den Mandatsträgern

  • die Zusammenarbeit mit den Mandatsgebern an den Schnittstellen von evidenzbasierten Wissen und der Umsetzung im Public Health Bereich

  • transparente, koordinierte und zielgruppenorientierte Darlegung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Öffentlichkeit

Konfliktpotenzial gab es dabei an folgenden Punkten:

  • Worin besteht die Legitimation einer selbst konstituierten wissenschaftlichen Expertengruppe?

  • Wie stellt sich eine solche Expertengruppe gegenüber politischen Handlungen, die epidemiologische Szenarien oder wissenschaftliche Empfehlungen ungenügend oder verspätet berücksichtigt? Die Medien haben diese Frage ständig gestellt. Das war für die Mitglieder der Task Force immer eine herausfordernde Situation.

  • Wie positioniert sich die Task Force gegenüber Empfehlungen von Behörden, die nicht mit wissenschaftlicher Evidenz im Einklang stehen?

  • Wie geht die Task Force damit um, wenn Politik und Behörden bestimmte Ziele der Pandemiebekämpfung nicht oder nur wenig berücksichtigen? Beispiele für solche Ziele, welche von Politik und Behörden kaum berücksichtigt wurden, sind die Problematik der Long-COVID-Erkrankungen und die Minderung der Belastung von Kindern oder von Beschäftigten im Gesundheitswesen.

  • Wie geht die Task Force damit um, wenn nicht transparent kommuniziert wird, auf welche Weise die wissenschaftlichen Einschätzungen der Task Force bei politischen Entscheidungen berücksichtigt werden?

  • Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollen als Fachleute jederzeit frei über ihr Fachgebiet informieren können. Andererseits wurden sie als Mitglieder der National Science Task Force wahrgenommen. Das führte unter anderem dazu, dass Medien berichteten, es existiere eine Kakophonie von Meinungen innerhalb der Task Force. So erschien es, als ob die Task Force selbst nicht wüsste, was sie will. Somit beschloss die Task Force, den wissenschaftlichen Diskurs nicht mehr in der Öffentlichkeit auszutragen. Sie änderte ihre Kommunikationsstrategie dahingehend, dass nur leitende Mitglieder zu aktuellen Fragen Stellung nahmen. Das war kein einfacher Entschluss: Einige Mitglieder fühlten sich dadurch in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt und traten aus der Task Force aus. Ich meine jedoch, die Task Force konnte so zielgerichteter und konsequenter kommunizieren.

Mit der Ankündigung der Selbstauflösung hat die Task Force Empfehlungen erarbeitet, um den künftigen Austausch zwischen Wissenschaft, Politik und Verwaltung zu stärken. Sie schlägt eine nationale Rahmenstruktur für die Zusammenarbeit von Wissenschaft und Politik vor, um vom ersten Tag einer Krise an Beziehungen, Vertrauen und Legitimation sowie die Erhebung und den Austausch von Daten und Informationen zu gewährleisten. So könnte der Bundesrat zum Beispiel in Zukunft die akademischen Institutionen im Schweizer Bildungs- Forschungs- und Innovationsbereich beauftragen, als Träger einer permanenten Science-for-Policy-Schnittstelle zu wirken. Darüber hinaus sollte wissenschaftliche Expertise für alle Bundesdepartemente bereitgestellt werden, anstatt nur für einzelne Behörden oder Departemente. Weiterhin sollte bei der Kommunikation von politischen Entscheidungen dargelegt werden, inwieweit wissenschaftliche Erkenntnisse berücksichtigt wurden.

3.4 Fazit

  • Der Aufbau einer konstruktiven Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Behörden und Politik braucht Zeit, an der es in einer akuten Krise mangelt.

  • Die langfristige Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Behörden und Politik fördert ein Vertrauensverhältnis als Voraussetzung für eine konstruktive Zusammenarbeit.

  • Die multidisziplinäre Ausrichtung der wissenschaftlichen Beratung hat sich bewährt.

  • Die Task Force hat die politischen Entscheidungen in der Schweiz am deutlichsten zwischen dem Dezember 2020 und dem April 2021 beeinflusst, als die Politik epidemiologisch gesteuerte Maßnahmen ergriff.

  • Die Medien und die Öffentlichkeit haben die Swiss National Task Force mehrheitlich als ein Gremium für wissenschaftliche Informationen wahrgenommen und zum Teil auch als eine „alarmistische Warnsirene“.