9.1 Einleitung

Für viele Unternehmen wird Wissen zum Schlüssel für ihren Erfolg. Häufig geht Wissen jedoch verloren oder fehlt an der richtigen Stelle. Das ist z. B. der Fall, wenn erfahrene Mitarbeiter:innen das Unternehmen verlassen, bei seltenen Störfällen oder bei komplexen Vorgängen, mit denen nur einzelne Personen vertraut sind. Digitale Tools bieten hier neue Möglichkeiten, den Austausch und den Erhalt von Wissen effizient zu fördern.

Wie das genau gelingen kann, wird im Forschungsprojekt EVerAssist untersucht. Die Kurzform „EVerAssist“ steht für „Einführung und Verstetigung technologiebasierter Assistenzsysteme in KMU“. Das Forschungsprojekt hat das Ziel, digitale Assistenzsysteme erfolgreich in den Arbeitsalltag der Produktion und insbesondere von Instandhalter:innen einzuführen. Im Mittelpunkt stehen die Fragen:

  • Wie können Assistenzsysteme erfolgreich in den Arbeitsalltag von Instandhalter:innen integriert werden?

  • Wie können Assistenzsysteme langfristig den Austausch und Erhalt von Wissen fördern?

Eine Besonderheit des Projekts ist es, dass es den Transfer des impliziten Wissens von Erfahrungsträger:innen durch ein Assistenzsystem fokussiert. Dieses Wissen ist Mitarbeitenden häufig nicht bewusst und es wurde nicht dokumentiert. Für die Unternehmen ist es besonders wertvoll. Ziel des vorliegenden Beitrags ist es, Einblicke in die in EVerAssist entstandenen Erfahrungen und Lösungsansätze zu geben. Im Fokus stehen die umfangreichen betriebsspezifischen Vorarbeiten, die für eine erfolgreiche Einführung unerlässlich sind. Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels fand die Evaluierung der Erprobungsphase statt.

Der Beitrag adressiert sowohl interessierte Anwender:innen des Assistenzsystems aus der Wirtschaft als auch Leser:innen aus den Feldern der Personal- und Organisationsentwicklung, der Technologieentwicklung sowie Wissenschaftler:innen weiterer Disziplinen. Diese Lesergruppen spiegelt auch das Projektkonsortium wider. Beteiligt waren:

  • GESA Automation GmbH (GESA), Teuchern: Anwendungspartner im Bereich Automatisierungsanlagenbau und -service

  • CeH4 technologies GmbH (CeH4), Celle: Anwendungspartner im Bereich Anlagenbau der öffentlichen Erdgasversorgung

  • Fraunhofer Institut für Fabrikbetrieb und -automatisierung IFF (Fraunhofer IFF), Magdeburg: Forschungs-, Entwicklungs- und Beratungspartner in den Bereichen Technologieentwicklung, didaktisch-technisches Design und Einführungsprozess für Lern- und Assistenzsysteme

  • EUMEDIAS AG (EUMEDIAS), Magdeburg: Forschungs- und Entwicklungspartner im Bereich Gestaltung und Forschung zum Einführungsprozess, insbesondere für das Befähigungskonzept; Expertise im Bereich Personal- und Organisationsentwicklung

  • Philipps-Universität Marburg, Institut für Erziehungswissenschaft, Prof. Dr. Susanne Maria Weber: Wissenschaftliche Prozessbegleitung, Organisationspädagogische Expertise

Der Beitrag ist wie folgt gegliedert:

  • Abschn. 9.2 schildert die Ausgangssituation für das Projekt EVerAssist sowie die Motivation von GESA und CeH4 für die Einführung des Assistenzsystems.

  • Abschn. 9.3 enthält ein betriebsübergreifendes Zielbild für den Einführungsprozess.

  • Abschn. 9.4 skizziert den forschungsmethodologischen Rahmen für die folgenden Ergebniskapitel 5-9 mit dem organisationspädagogischen Designforschungs-Ansatz.

  • Abschn. 9.5 stellt die zentralen Assistenzfunktionen vor, die im Rahmen des Projekts partizipativ weiterentwickelt wurden.

  • Abschn. 9.6 gibt Einblicke in Herausforderungen und Strategien bei der Eingabe von Assistenzinhalten in ein System durch Instandhalter:innen bei GESA und CeH4. EUMEDIAS übernahm hier die didaktische Begleitung.

  • Abschn. 9.7 erläutert das Konzept zur Befähigung von Assistenznutzer:innen, welches durch die EUMEDIAS entwickelt wurde. Kern des Konzepts ist es, nicht nur die primäre Zielgruppe (Instandhalter:innen), sondern noch vier weitere Zielgruppen einzubeziehen und ganzheitlich zu befähigen.

  • Abschn. 9.8 widmet sich Ansätzen, mit denen das strategische Potenzial des Assistenzsystems für jedes Unternehmen individuell erschlossen werden kann. Dazu zählen auch Erfahrungen bei der Erstellung einer Struktur zur Organisation von Assistenzinhalten.

  • Abschn. 9.9 fasst die Ansätze zu partizipativen Vorgehensweisen, die schon in den Kapiteln 5-8 beispielhaft gezeigt wurden, in einem Prozessmodell zusammen. Sie fußen auf einem organisationspädagogischen Ansatz.

  • Abschn. 9.10 zieht ein Resümee mit zwei wesentlichen Erfolgsfaktoren für die Einführung von Assistenzsystemen, reflektiert die Übertragbarkeit der Assistenzlösung wie auch der im Projekt entwickelten Lösungsansätze und enthält einen Ausblick.

9.2 Herausforderungen in der Einführung von Assistenzsystemen

Die technische Lösung des Assistenzsystems lag bereits als Ergebnis eines vorausgegangenen ForschungsprojektsFootnote 1 und weiterer Vorarbeiten am Fraunhofer IFF in diesem Feld vor. Diese Assistenzlösung ist generisch und in vorhandene IT-Systemlandschaften integrierbar. Somit stellt sie eine kostengünstige Lösung für KMU dar. Erfahrungen zeigen jedoch, dass die technische Lösung allein nicht zwingend zu realen Mehrwerten für Mitarbeitende und Unternehmen führt, was u. a. geringe Nutzungszeiten zur Folge hat. Vielmehr ist das Vorgehen bei der Einführung des Assistenzsystems entscheidend für dessen Wahrnehmung und Nutzung und damit für den erfolgreichen Einsatz in der Produktion (Rogalla 2015, Adler & Eckstein, 2020). Insbesondere bleibt es eine Herausforderung, das System mit betriebsspezifischem Erfahrungswissen zu füllen und es erfolgreich in Arbeitsprozesse zu integrieren. An diesen Herausforderungen setzt das Projekt EVerAssist an. Im Folgenden werden die Herausforderungen und Ziele des Projekts weiter aufgeschlüsselt.

9.2.1 Aktuelle Herausforderungen in der Instandhaltung komplexer Anlagen

Zielgruppe des Projekts EVerAssist sind Instandhalter:innen komplexer Anlagen, an denen z. B. Erdöl oder Gas verarbeitet wird. Sie führen Maßnahmen zur Wartung, Inspektion, Instandsetzung und Verbesserung von Anlagen durch (vgl. DIN 31051 (2012-09)), welche „dem Erhalt oder der Wiederherstellung des funktionsfähigen Zustands“ einer Anlage dienen (DIN EN 13306 (2012-12)). Um Zusammenhänge an Anlagen zu verstehen, die beispielsweise Erdöl, Erdgas oder Nahrungsmittel verarbeiten, ist ein vielfältiges Wissen aus Daten, Theorie und Erfahrung erforderlich. Wenn z. B. die Gastemperatur einer Gasdruckregelanlage zu niedrig ist, kann dies vielfältige Ursachen haben. Um diese schnell zu ermitteln, ist Erfahrungswissen ein wesentlicher Erfolgsfaktor. Auch ist es erforderlich, dass Instandhalter:innen über hohe Eigenverantwortung und Problemlösefähigkeiten verfügen (vgl. Bergmann & Wiedemann, 1997; Pahl, 2013; Haase, 2017).

In der Instandhaltung herrscht zudem häufig eine Kultur des informellen Informationsaustauschs: Gefundene Problemlösungen werden eher mündlich und bei zufälligen Begegnungen ausgetauscht, bspw. beim Pausengespräch. Zudem besitzen einzelne Instandhalter:innen oftmals eine sehr hohe Expertise für spezifische Fragestellungen und pflegen individuelle Arbeitsstile (Rogalla, 2015). Darüber hinaus sind mit einigen komplexen Vorgängen oder selten eintretenden Ereignissen oftmals nur wenige Mitarbeitende vertraut. Durch Dokumentationslücken oder Personalfluktuation ist die erforderliche Expertise im Zweifelsfall dann nicht schnell verfügbar oder fehlt sogar. Es ist daher besonders dramatisch, wenn diese Mitarbeiter das Unternehmen verlassen.

Zentrale Herausforderungen in der Instandhaltung komplexer Anlagen sind zusammengefasst die Folgenden:

  • Personalfluktuation: Verlust von Erfahrung und Wissen

  • Breites Tätigkeitsspektrum: Mit einigen Vorgängen sind nur wenige Mitarbeiter:innen vertraut

  • Dokumentation seltener Ereignisse: Erfahrungswissen ist lückenhaft dokumentiert

  • Große Informationsmengen: Beschaffung von Informationen und Dokumenten, die vor Ort an der Anlage gebraucht werden, ist kompliziert

9.2.2 Kognitive Assistenzsysteme als Lösungsansatz

Kognitive Assistenzsysteme setzen an den genannten Herausforderungen an, indem sie die Fähigkeiten von Instandhalter:innen fördern und den Erfahrungstransfer unterstützen. Im Gegensatz zu physischen Assistenzsystemen bilden kognitive Assistenzsysteme eine informationstechnische Schnittstelle zwischen der virtuellen Welt von Maschinen und Anlagen sowie Menschen in der Produktion (Apt et al., 2018).

Wie bereits am Anfang dieses Kapitels angeführt, lag zu Beginn des Projektes EVerAssist ein solches System durch Vorarbeiten am Fraunhofer IFF vor. Abb. 9.1 zeigt das Assistenzsystem, das bauteil- und situationsbezogene Assistenzinhalte auf mobilen Endgeräten zur Verfügung stellt. Assistenzinhalte können z. B. Tipps und Handlungsempfehlungen von erfahrenen Kolleg:innen sein, die etwa in Verbindung mit Sensordaten oder weiteren relevanten Dokumenten wie z. B. Prüfprotokollen angezeigt werden. Durch die mobile Umsetzung greifen Mitarbeitende direkt in der Handlungssituation auf die Inhalte zu.

Abb. 9.1
figure 1

(Bildquelle: Fraunhofer IFF)

Kognitives Assistenzsystem als Ergebnis des Vorgängerprojekts CPPSProcessAssist.

Zentrale Assistenzfunktionen dieses Systems sind:

  1. a)

    Mobiler Dokumentenzugriff

  2. b)

    Erfahrungstransfer

  3. c)

    Dokumentation von Wartungstätigkeiten

Es handelt sich um ein generisches System, das in vorhandene Systeme, z. B. Dokumenten- oder Produktdatenmanagementsysteme, integrierbar ist. Somit stellt es eine kostengünstige Lösung dar und ist insbesondere für KMU attraktiv. Die webbasierte Umsetzung ermöglicht zudem eine endgerätunabhängige und damit flexible Nutzung.

Der Einsatzbereich dieses Systems zielt auf die Unterstützung wissensintensiver und problemlösender Tätigkeiten in der Produktion, wie z. B. die Instandhaltung in hochkomplexen Produktionsumgebungen wie etwa in der Prozessindustrie. Das System ist dabei weniger ein instruktionales System und entspricht eher den Merkmalen eines Wissenssystems (Hirsch-Kreinsen, 2018, 2019; Keller, 2018), das kreative Tätigkeiten und Problemlöseprozesse unterstützt, wie z. B. die Störungsanalyse in der Instandhaltung (Haase, 2017). Indem das Assistenzsystem nicht direktiv wirkt, sondern selbstständige Arbeitsweisen unterstützt, bietet es das Potenzial, informelle (d. h. unbewusste) und in den Arbeitsprozess integrierte Lernprozesse (Dehnbostel, 2019) zu unterstützen. Es spiegelt damit die Praxis des informellen Informationstransfers wider, was eine Voraussetzung ist, um bei wissensintensiven Tätigkeiten in hochkomplexen Produktionsumgebungen genutzt und akzeptiert zu werden (vgl. Rogalla, 2015).

Grundsätzlich bieten kognitive Assistenzsysteme das Potenzial,

  • die Informationsbeschaffung im Arbeitsprozess zu vereinfachen,

  • den Erfahrungstransfer zu fördern,

  • Kompetenzen bei der Bedienung und Instandhaltung komplexer Anlagen zu stärken

  • und zur Etablierung eines schicht- oder gewerkeübergreifenden, digitalen Informationsaustausches beizutragen.

Langfristig können so Wartungs- bzw. Stillstandzeiten reduziert und Wissen im Unternehmen gehalten werden.

9.2.3 Dokumentation von Erfahrungswissen als Schlüsselherausforderung

Die beschriebene Assistenzlösung gilt es, erfolgreich in Arbeitsroutinen zu integrieren. Ein Schlüsselfaktor ist dabei die Dokumentation von Erfahrungswissen. Die Erfahrungen im Vorgängerprojekt zeigen, dass ein mit nützlichen Inhalten gefülltes System wesentlich zur Akzeptanz beiträgt.

Im Projekt wird unter Erfahrungswissen solches Wissen verstanden, das vor allem bei Tätigkeiten ausschlaggebend ist, bei denen Lösungswege nicht klar vorgegeben werden können oder wo z. B. Störungen eine schnelle Reaktion erfordern. Somit ist Erfahrungswissen besonders in der Instandhaltung von großer Bedeutung (Haase, 2017). Es handelt sich um größtenteils unbewusstes, d. h. implizites Wissen (vgl. z. B. Polanyi, 1985; Gruber, 1999). Im Gegensatz dazu liegt explizites Wissen aufgeschrieben vor und kann durch Instruktion vermittelt werden. Erfahrungswissen unterscheidet einen Mitarbeiter, der etwa schon lange an einer Bestandsanlage arbeitet von einem neuen Mitarbeiter, z. B. durch schnellere Störungsdiagnosen oder insgesamt eine höhere Qualität seiner Arbeitsergebnisse.

Der Transfer von Erfahrungswissen ist untrennbar mit einer praktischen Handlung verbunden (Fischer, 2007). Unter der Eingabe von Erfahrungswissen in ein Assistenzsystem verstehen wir daher im Projekt nicht die Explizierung bzw. „Speicherung“ von Wissen, sondern die Schaffung von geeigneten Rahmenbedingungen für den Transfer von Erfahrungswissen (Fischer, 2007; Haase, 2017). Der Transfer von Erfahrungswissen ist daher kein instruktionaler Prozess. Geeignete Rahmenbedingungen für den Transfer von Erfahrungswissen werden u. a. durch folgende Merkmale gekennzeichnet (vgl. Haase, 2017):

  1. 1.

    Weitergabe von Erfahrungswissen direkt in der Handlungssituation, in der dieses Wissen benötigt wird

  2. 2.

    Erzählen von Geschichten anstelle von Instruktionen (hierdurch wird die Handlungssituation imaginiert und nacherlebbar gemacht; dadurch werden die ‚unbewussten’ Wissensbestände aktiviert)

  3. 3.

    Erhalt der sozialen Einbettung des Wissens, was sich z. B. in einem authentischen Sprech- oder Schreibstil oder im Widerspiegeln von Emotionen zeigt

Zum einen muss also das Assistenzsystem einen solchen Erfahrungstransfer unterstützten. Zum anderen gilt es, die Instandhalter:innen zu befähigen, Erfahrungswissen zu identifizieren und das System in geeigneter Weise damit zu befüllen. Zudem müssen zeitliche Ressourcen hierfür zur Verfügung gestellt werden.

Die Unterstützung der Eingabe von Erfahrungswissen in das Assistenzsystem ist eine Schlüsselherausforderung, aber nicht das einzige Gestaltungsfeld im Einführungsprozess. Kap. 3 enthält einen Überblick zu weiteren Gelingensfaktoren für eine erfolgreiche Einführung eines Assistenzsystems.

9.2.4 Motivation und Einsatzszenario GESA: Wissensmanagement digitalisieren

Die GESA Automation GmbH ist im Süden Sachsen-Anhalts ansässig und arbeitet weltweit im Automatisierungsanlagenbau. Dabei betreut GESA Industriekunden, die sowohl Anlagenbauer als auch -betreiber sind, mit einem Wirkungsschwerpunkt im Bereich der Prozessindustrie (u. a. Chemie, Lebensmittel, Erdöl). Als Entwickler und Implementierer von Anlagensteuerungskonzepten in Bestandsanlagen steht die GESA vor der Herausforderung, zusätzliche Steuerelemente und neue Komponenten wie z. B. Schaltschränke bei Kundenanlagen zu implementieren. Gleichzeitig betreibt GESA selbst Schaltschränke und Prozessanlagen, wobei Wartungsaufgaben anfallen. GESA beschäftigt rund 50 Mitarbeiter:innen.

GESA verfolgt die Vision, langfristig das betriebsinterne Wissensmanagement sowie den Informationsaustausch mit Kunden weiter zu digitalisieren. Auf dem Weg zu dieser Vision soll das Assistenzsystem einen Baustein bilden. Ziel von GESA in EVerAssist ist es daher, das Assistenzsystem schrittweise in interne Prozesse zu integrieren, um dabei Erfahrungen zu Gelingensbedingungen, Aufwänden und Mehrwerten zu sammeln. Perspektivisch können diese Erfahrungen auch für Kundenassistenzsysteme genutzt werden.

Um diese Erfahrungen zu sammeln, kommt das Assistenzsystem zunächst bei typischen Stördienst- und Instandhaltungsprozeduren im sekundären Wertschöpfungsbereich zum Einsatz. Da GESA eigene Prozessanlagen und -systeme betreibt und diese in einem Leitsystem überwacht, zählen Wartungsaufgaben am Notstromaggregat, an der Druckluftversorgung, an CNC-Maschinen oder am Serversystem als Pilot-Einsatzbereiche dazu. Auch im firmeninternen Facility Management kommt das Assistenzsystem in verschiedenen Bereichen der Firmengebäude zum Einsatz, die in Abb. 9.2 abgebildet sind, wie z. B. an der firmeninternen Kläranlage im Außenbereich. Dabei sollen vor allem folgende Mehrwerte erschlossen werden:

Abb. 9.2
figure 2

(Bildquelle: GESA)

Sicht auf die Gebäude der GESA mit Außenanlagen.

  • Digitalisierung der Dokumentation und Vereinfachung des mobilen Dokumentenzugriffs: Die Datenablage für die Dokumentation (Zeichnungen, Handbücher, Bedienungsanleitungen, Wartungs- oder Checklisten) erfolgte bisher konventionell auf Papierbasis bzw. teildigital mit einer klassischen Ordnerstruktur auf einem Rechner. Auch Abnahme- und Testprozesse in der Produktion erfolgen teilweise über Papier-Protokolle und Papier-Checklisten. Diese sollen über das Assistenzsystem digital und mobil verfügbar bzw. umsetzbar sein. Als zusätzlicher Mehrwert wird angestrebt, Wartungshistorien besser nachvollziehbar zu machen.

  • Erfahrungstransfer verbessern: Der Wissenstransfer zwischen Mitarbeitern wird bisher nur zufällig dokumentiert. Die kleinen Tipps und Tricks „vom Kaffeetisch“ sollen während einer Wartungsaufgabe mit dem Assistenzsystem dokumentiert und auch darin wiedergefunden werden.

  • Aufbau einer einheitlichen digitalen Datenablage: Ein Assistenzsystem ist nur so hilfreich, wie es auch in der richtigen Situation die passenden Inhalte anbietet. GESA legt daher einen Schwerpunkt darauf, in Ergänzung zum Assistenzsystem ein firmeninternes DMS-System einzuführen. In diesem wird ein Strukturmodell für die Datenablage aufgebaut. Dieses legt Eigenschaften, Beziehungen und Benennungen von realen Objekten (z. B. Deckenlampen im Fertigungsbereich, Bauteile von Anlagen) fest. Damit sollen Daten vollständig und einheitlich strukturiert, aber auch für Anwender:innen während einer Tätigkeit einfach auffindbar sein.

  • Effizienzsteigerungen: Durch die Digitalisierung verschiedener Tätigkeiten sollen Informationen schneller übermittelt und dadurch Prozessabläufe effizienter gestaltet werden.

GESA verfügte über erste Erfahrungen als IT-Dienstleister für die Implementierung und Betreuung von Assistenzsystemen bei Kunden aus dem Vorgängerprojekt. Betriebsintern kam das System jedoch vor EVerAssist nicht zum Einsatz. Die Rolle von GESA steht daher im Projekt stellvertretend für Unternehmen, die vor einer Einführung des Assistenzsystems und den damit verbundenen Herausforderungen stehen.

9.2.5 Motivation und Einsatzszenario CeH4: Wissensverlust entgegenwirken

Die CeH4 technologies GmbH ist ein Unternehmen mit Sitz in Celle und fünf weiteren Standorten in Deutschland. Das Unternehmen beschäftigt rund 100 Mitarbeiter:innen und betätigt sich im gastechnischen Anlagenbau u. a. von Gasdruckregelanlagen und im Bereich der Verdichtertechnik. Abb. 9.3 zeigt mobile gastechnische Anlagen, die von CeH4 vermietet werden. Ein Teil der angebotenen Services sind Wartung, Instandhaltung und Funktionskontrollen dieser Anlagen bei Kunden, die durch Service-Monteure von CeH4 durchgeführt werden.

Abb. 9.3
figure 3

(Bildquelle: CeH4)

Mobile gastechnische Anlagen bei CeH4.

Für diese Tätigkeiten ist der Einsatz hochqualifizierter Fachkräfte erforderlich. Diese Fachkräfte müssen u. a. die umfangreichen Anforderungen in dem sensiblen Bereich öffentlicher Erdgasversorgung mit einem umfangreichen Regelwerk, komplexer Produktionstechnologie und hohen Sicherheitsbestimmungen erfüllen. CeH4 machte in den vorangegangenen Jahren die Erfahrung, dass bei den Service-Tätigkeiten die Personalfluktuation stieg. Dies wird u. a. darauf zurückgeführt, dass v. a. jüngere Mitarbeitende sich weniger auf einen Arbeitsort festlegen wollen und häufiger den Arbeitsplatz wechseln. Zudem erschwert die Verbindung der Service-Tätigkeit mit mehrtägigen Reisen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, was die Attraktivität dieser Tätigkeit unabhängig von der Bezahlung senkt. Für die offenen Stellen finden sich daher immer weniger Bewerber:innen. Zudem werden in Folge der gestiegenen Personalfluktuation Mitarbeiter:innen häufiger neu eingearbeitet. Die Qualität der Wartungstätigkeiten, die ein umfangreiches Erfahrungswissen erfordern, muss jedoch auf einem hohen Niveau bleiben.

Ziel von CeH4 im Projekt EVerAssist ist es, das Assistenzsystem im Bereich der Service-Montage erfolgreich einzuführen. Dabei soll vor allem die Weitergabe von Erfahrungswissen gestützt werden. Hierdurch soll die hohe Qualität der Tätigkeiten dauerhaft trotz Personalfluktuation gewährleistet werden. Das wertvolle Erfahrungswissen ist u. a. Gerätewissen sowie standortspezifisches Wissen. An den mehrheitlich baugleichen Anlagen unterscheiden sich zum Beispiel Vorgehensweisen bei der Notausschaltung. Langjährig erfahrene Mitarbeiter:innen kennen diese Unterschiede gut. Andere Mitarbeiter sind ebenfalls ausreichend qualifiziert für diese Tätigkeit, verfügen aber über weniger Erfahrung. Dabei kann ein Mitarbeiter sowohl als erfahren wie auch als unerfahren gelten, z. B. je nach Aufgabenspektrum wie etwa die Verdichterwartung oder nach Anlagenspezifik. Ein Beispiel für standortspezifisches Erfahrungswissen ist eine Anlage, an der es Umbauten gegeben hatte. Wegen Platzmangels mussten einige Aggregate über Kopf eingebaut werden, was auf den Betrieb keinen Einfluss hat, aber den Wartungsaufwand erhöht und die Wartungsdauer verdoppeln kann. Im Assistenzsystem sollen dazu Tipps für eine effiziente Arbeitsweise in einfacher Weise eingefügt und somit Kollegen bei künftigen Aufgaben an dieser Anlage schnell und einfach zur Verfügung stehen.

9.3 Betriebsübergreifendes Zielbild für den Einführungsprozess

Die erfolgreiche Einführung der Assistenzlösung bei GESA und CeH4 wird durch folgendes Zielbild charakterisiert: Das Assistenzsystem

  1. 1.

    ist in den Arbeitsalltag integriert, d. h. es wird akzeptiert und eigenverantwortlich sowie selbstständig durch Instandhalter:innen genutzt.

  2. 2.

    ist didaktisch wirksam, d. h. es zeigen sich Lerneffekte bei noch unerfahrenen Mitarbeitenden und es liegt ein mit nützlichen Inhalten bzw. mit Erfahrungswissen gefülltes System vor.

  3. 3.

    ist Teil einer (digitalen) Strategie des Unternehmens, sodass durch den Ausbau der informationstechnischen Infrastruktur weitere Mehrwerte erschlossen werden, wie eine erhöhte Prozesseffizienz in Folge eines durchgehenden Dokumenten- und Wissensmanagements im Anlagenlebenszyklus.

Für die Realisierung sind mehrere Aufgaben zu bearbeiten:

  • Auswahl von Datenhaltungssystemen und deren Integration

  • Auf- oder Ausbau einer geeigneten Ablagestruktur für Assistenzinhalte

  • Hohe Usability der Assistenzfunktionen inkl. der Autorentools

  • Befähigung der Mitarbeitenden für den Wissenstransfer mit dem Assistenzsystem

  • Erarbeitung von Redaktionsprozessen für Assistenzinhalte, die mit den zeitlichen und personalen Ressourcen der KMU zu stemmen sind

  • Auswahl plausibler Pilot-Einsatzszenarien, an denen kurz- und mittelfristige Aufwände und Mehrwerte sichtbar werden

  • Diskussion weiterer strategischer Einsatzszenarien, in denen langfristige Ziele abgesteckt werden und welche die anfänglichen Aufwände rechtfertigen

Die Unternehmen müssen im Einführungsprozess daher an mehreren Baustellen gleichzeitig ansetzen. Dies erfordert in EVerAssist einen Forschungsansatz, der sie bestmöglich dabei unterstützt.

9.4 Forschungsrahmen: Organisationspädagogischer Designforschungs-Ansatz

Wie kann es gelingen, ein kognitives Assistenzsystem erfolgreich in KMU einzuführen und die durch die Unternehmen angestrebten Mehrwerte tatsächlich zu realisieren?

Um diese Frage zu beantworten, ist eine Forschungsperspektive erforderlich, die sich sowohl auf die Einführung (Prozessperspektive) als auch auf die Wirksamkeit des Assistenzsystems als Lerninnovation im Unternehmen (Produktperspektive) bezieht. Die organisationspädagogische Perspektive leistet dies, da sie sowohl Lern- und Erkenntnisprozesse im Einführungsprozess als auch das Assistenzsystem als technologiebasierte Lerninnovation zum Gegenstand hat (Keller et al., 2021; ausführlicher in Kap. 9). Die Prozessperspektive hat im Projekt zunächst Vorrang, da eine erfolgreiche Einführung als Voraussetzung für ein wirksames Assistenzsystem betrachtet wird.

Abb. 9.4 zeigt eine organisationspädagogische und designmethodische Perspektive auf die zwei genannten Gestaltungsaufgaben (Prozess und Produkt). Der Einführungsprozess wird als organisationale Transformation verstanden. Die Grafik veranschaulicht, dass in der Gestaltung der organisationalen Transformation eine ungleich höhere Komplexität zu bewältigen ist als in der Gestaltung von Produkt en oder Services. Wie in Abb. 9.4 veranschaulicht, sind für eine erfolgreiche Gestaltung des Einführungsprozesses folgende Merkmale zu berücksichtigenFootnote 2:

Abb. 9.4
figure 4

(Eigene Darstellung)

Gestaltungsdimensionen aus organisationspädagogischer und designmethodischer Perspektive in Anlehnung an VanPatter, 2020.

  • Hohe Reichweite: Es sind mehrere Tätigkeitsfelder der Unternehmen mit jeweils verschiedenen Interessen (z. B. Leitung Instandhaltung, Planung, IT) involviert. Zudem sind Akteure verschiedener Disziplinen beteiligt, die wie in EVerAssist etwa eine informationstechnische, betriebswirtschaftliche oder didaktische Expertise einbringen.

  • Gemeinsame Verantwortung und Ko-Kreation: Die Instandhalter:innen sind mit verantwortlich für die Entwicklung von Lösungen wie z. B. von Redaktionsprozessen, die für ihr Unternehmen passen. Dabei bringen Wissenschaftler:innen, Designer:innen oder Berater:innen ihre Expertise auf Augenhöhe mit den Mitarbeitenden der Unternehmen in die Ideenentwicklung ein. Das Empowerment aller Akteure zur aktiven (Mit-)Gestaltung wird daher zur Voraussetzung für ein nachhaltig genutztes Assistenzsystem. Leadership erfolgt durch Inspiration und Sinnstiftung.

  • Offener Gestaltungsprozess: Die Einführung des Assistenzsystems ist sowohl eine technische, soziale als auch organisationale Innovation. Dabei sind Ausgangslage und Zielstellung nicht von vorneherein klar zu definieren (Schäffter, 2001): Mit dem Assistenzsystem verändert sich der Austausch von Informationen und das Lernen im Arbeitsprozess. Es handelt sich dabei um einen Kulturwandel, der nicht mit messbaren Kategorien zu fassen ist. Auch ist z. B. immer wieder neu zu klären, welches das wirklich wertvolle Wissen ist, und welche realistischen (zunächst eher qualitativen) Mehrwerte dadurch erreicht werden können.

Es kann zudem davon ausgegangen werden, dass auch die Gestaltung der Assistenzlösung selbst nicht ohne ein organisationales Transformationsdesign gedacht werden kann. Die Anforderungen hierfür werden u. a. aus einer vernetzten digitalen Informationsinfrastruktur hergeleitet (Keller & Weber, 2020), die bei den Unternehmen erst im Entstehen ist. Auch insofern ist das Assistenzsystem Gegenstand organisationalen Wandels und muss komplexitätsorientiert gestaltet werden, damit es akzeptiert wird und langfristig betriebliche Mehrwerte erzeugt.

Die Forschung zu den Gelingensbedingungen des Einführungsprozesses entsprechend der drei genannten Merkmale findet im Rahmen eines organisationspädagogischen Designforschungs-Ansatzes statt (u. a. Weber, 2014a, b, 2017; Keller & Weber, 2020). Der Ansatz folgt dem Paradigma gestaltungsorientierter Forschung, in welchem gleichzeitig praktische Innovationen und theoretische Erkenntnisse generiert werden (Reinmann, 2014). Der Ansatz ermöglicht es damit, die Voraussetzungen für einen erfolgreichen Einführungsprozess zu schaffen, der an den Bedarfen der Unternehmen orientiert, iterativ und kreativ ist. Gleichzeitig werden theoretische Erkenntnisse abgeleitet. In die iterativen Gestaltungszyklen fließen multidisziplinäre Sichtweisen ein, u.a. aus arbeitswissenschaftlichen oder organisationspsychologischen Disziplinen. Damit folgt der Ansatz nicht der gängigen Erkenntnislogik von These, Untersuchung bzw. Experiment und Ergebnis, wie durch vorrangig induktives oder deduktives Schließen zu erwarten wäre. Vielmehr wird der Einführungsprozess mit einer abduktiven Erkenntnishaltung erforscht und gleichzeitig gestaltet (Keller, 2023 i.E.; Reinmann, 2014). Das Ziel der abduktiven Haltung ist es, neue Ansätze und Modellierungen zu entwickeln.

Die folgenden Abschn. 9.59.9 zeigen erste Ergebnisse dieses Forschungsrahmens. Zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels waren die Evaluation der praktischen Wirksamkeiten wie auch die Ableitung einer theoretischen Modellierung noch nicht abgeschlossen.

9.5 Welche Assistenzfunktionen eignen sich für den Wissenstransfer in der Produktion?

Im Projektverlauf zeigte sich, dass die bestehenden Assistenzfunktionen für eine höhere Nutzerfreundlichkeit und den arbeitsintegrierten Wissenstransfer weiterentwickelt werden mussten. Dies setzte das Fraunhofer IFF in einem partizipativen Prozess um. Die folgenden Abschnitte stellen die dabei entwickelten Software-Tools des Assistenzsystems vor. Zudem wird ein Einblick in ausgewählte Entscheidungen bei der nutzerfreundlichen Gestaltung gegeben.

Im Projekt standen die Assistenzfunktionen „Checkliste“ und „Wissensbaustein” im Zentrum. Das Assistenzsystem ist als Webapplikation plattformübergreifend und ortsunabhängig nutzbar. Die Bedienung wurde im Projekt für Tablets ausgelegt, ist aber auch am Laptop nutzbar. Die ausgewählte Hardware, wie z. B. Staub-, Wasser- oder explosionsgeschützte Geräte, bedingt die Einsatzfelder des Systems. Für den Einsatz in Bereichen ohne Netzabdeckung ist ein Offline-Modus in Planung.

9.5.1 User Stories

Die folgenden Grafiken verbildlichen Einsatzszenarien der Assistenzapplikation. Abb. 9.5 zeigt einen erfahrenen Mitarbeiter.

Abb. 9.5
figure 5

(Eigene Darstellung)

Einsatzszenario „Erfahrener Mitarbeiter“.

Abb. 9.6 zeigt einen unerfahrenen Mitarbeiter. Die Nutzer:innengeschichte zu den Abschnitten (A–D) lautet wie folgt:

Abb. 9.6
figure 6

(Eigene Darstellung)

Einsatzszenario „Unerfahrener Mitarbeiter“.

9.5.2 Checkliste

Innerhalb der Assistenzapplikation wird Unternehmen mit dem Tool „Checkliste“ die Möglichkeit geboten, Wartungsprotokolle digital zu definieren und auszufüllen. Checklisten sind untergliedert in Arbeitsschrittgruppen, welche wiederum aus einzelnen Arbeitsschritten bestehen. Abb. 9.7 zeigt einen Ausschnitt einer Checkliste, in der etwa „Kontrolle und Reinigung“ eine Arbeitsschrittgruppe und “Kontrolle des Kühlwassers” ein Arbeitsschritt ist.

Abb. 9.7
figure 7

(Bildquelle: Fraunhofer IFF)

Ausschnitt einer Beispiel-Checkliste zur Verdichterwartung bei CeH4.

Nutzer:innen tragen pro Arbeitsschritt Messwerte ein und bewerten Zustände, z. B. durch eine Sichtprüfung. Zur Dokumentation ihrer Tätigkeit können sie außerdem Fotos aufnehmen oder Kommentare eingeben, die im operativen Workflow weiter genutzt werden: Eingaben im Kommentarfeld werden z. B. gemacht, wenn ein Ersatzteil zu bestellen, ein Bauteil planmäßig nicht vorhanden, oder ein Defekt zu erläutern ist. Checklisten können als Protokolle im Excel-Format exportiert werden.

Zusätzlich sind zu jedem Arbeitsschritt weitere Wissenselemente verfügbar, etwa Tipps von Kolleg:innen, Fotos, Videos oder Links zu anderen Dokumenten wie Bedienungsanleitungen. Infolge dieses Informationszuganges kann auf das Expertenwissen erfahrener Personen während einer Wartungstätigkeit zurückgegriffen werden, was unerfahrenen Mitarbeiter:innen eine enorme Unterstützung bietet.

Die Erstellung einer Checkliste erfolgt über ein Autorentool. Hier können Vorlagen für Checklisten angelegt werden. Innerhalb einer Checkliste legen Autor:innen die Struktur der Checkliste an, verlinken Dokumente und fügen schließlich – während des Einführungsprozesses mit didaktischer Begleitung (Kap. 6) – Tipps und Tricks hinzu. Die schrittweise Erhebung von Erfahrungswissen entlang von Arbeitsschritten schließt dabei an erprobte Vorgehensweisen zur Identifizierung von Erfahrungswissen wie z. B. Job MapsFootnote 3 an.

Das Tool Checkliste unterstützt insgesamt das Lernen im Arbeitsprozess („on the job“). Tipps und Hinweise sind objekt- oder arbeitsschrittbezogen auffindbar und somit in konkrete Arbeitssituationen eingebettet. Dies entspricht dem Prinzip des situierten Lernens (Lave & Wenger, 2009; Haase, 2017: 72 f.).

Für die Umsetzung der Nutzungsoberfläche bestand die Herausforderung darin, nicht nur den Umfang, sondern auch die Komplexität einer Wartungsabfolge in einem schlichten und nutzerfreundlichen Interface zu integrieren. Grundlegend wird daher bei dem Interface viel mit Weißräumen, strukturierten Abständen und harmonischen bzw. analogen Farben gearbeitet. Wichtige Inhalte bzw. aktive Inhalte werden Nutzer:innen durch die festgelegte Grundfarbe blau dargestellt und heben sich somit von der Oberfläche ab, was dem Gesetz der Prägnanz entspricht (Thesmann, 2016: 233 f.). Die Arbeitsschritte in der Checkliste sind nach dem Gesetz der Nähe gestaltet und kategorisiert sowie übersichtlich aufgelistet (ebd: 227 f.). Sowohl die reduzierte Designsprache als auch die ausgewogene Platzierung der einzelnen Abschnitte ermöglichen eine intuitive und nutzerfreundliche Bedienung.

9.5.3 Wissensbaustein

Das Tool Checkliste bietet eine umfangreiche Assistenz, erfordert aber auch Zeit und viel Konzentration bei der Eingabe neuer Inhalte. Um Checklisten auch nach ihrer erstmaligen Erstellung weiter mit Erfahrungswissen anzureichern, werden mit dem Tool „Wissensbaustein“ neue Inhalte schnell und einfach erfasst.

Abb. 9.8 zeigt die Ansicht zur Erstellung eines Wissensbausteins. Nutzer:innen geben einen kurzen Text ein und fügen multimediale Elemente hinzu, z. B. einen Hinweis mit einem Foto. Zudem können sie einen Wissensbaustein als „Erfahrungsgeschichte“, „Tipp“ oder „Achtung“ kategorisieren. Gestalterisch unterscheiden sich die Kategorien durch Farbcodes, damit die Relevanz eines Wissensbausteins schnell eingeordnet werden kann.

Abb. 9.8
figure 8

(Bildquelle: Fraunhofer IFF)

Ansicht zur Erstellung eines Wissensbausteins mit Beispiel-Tipp.

Günstige Rahmenbedingungen zum Transfer impliziten Wissens werden insofern geschaffen, als dass die Nutzer:innen (unterstützt durch die didaktische Prozessbegleitung, Kap. 6) Hinweise im narrativen Charakter eingeben. Der narrative Charakter wird u. a. durch das Einfügen von Fotos, O-Tönen oder Zeichnungen unterstützt. Durch die multimedialen Elemente werden zudem verschiedene kognitive Verarbeitungsmuster aktiviert (vgl. Haase, 2017: 112; Ehrlach & Nakhosteen, 2012). Auf Herausforderungen beim digital gestützten Transfer impliziten Wissens wird in Abschn. 6.1 sowie 6.2 u. a. am Beispiel des in Abb. 9.8 dargestellten Tipps zum O-Ring eingegangen.

Wissensbausteine werden in der Navigation einzelnen Hierarchieelementen (Abschn. 5.5) oder einzelnen Arbeitsschritten innerhalb der Checkliste zugeordnet.

9.5.4 Handlungsempfehlung

Aus dem Vorgängerprojekt lag zudem noch das Tool „Handlungsempfehlung“ (Adler & Eckstein, 2020) vor, das in Zusammenarbeit mit CeH4 entwickelt wurde. Dieses war für Störungsanalysen und -behebungen konzipiert worden und basierte auf einem Entscheidungsbaum. Im Projekt wurde die Weiterentwicklung der Checkliste gegenüber dem Tool „Handlungsempfehlung“ priorisiert.

Aus didaktischer Sicht entstehen bei der Handlungsempfehlung mehrere Herausforderungen: Die Struktur verleitet zu kleinschrittigen Anleitungen. Dies führt zu einem hohen Aufwand in der Erstellung von Handlungsempfehlungen. Zudem suggeriert ein Entscheidungsbaum eine Eindeutigkeit von (Störungs-)Situationen, die in der Praxis häufig nicht gegeben ist. Darüber hinaus kann das selbstbestimmte Arbeiten einschränkt werden, da die Reihenfolge der Schritte vorgegeben ist. Diese Herausforderungen können im Rahmen des Befähigungskonzepts prinzipiell adressiert werden, indem z. B. ein geeignetes Abstraktionsniveau von Tätigkeiten gemeinsam erarbeitet wird. Die Anforderungen an die didaktischen Kompetenzen der Instandhalter erscheinen aber im Vergleich höher als bei Checklisten. Neben dem Einsatz in Störungssituationen können Handlungsempfehlungen potenziell in Anlernprozessen zum Einsatz kommen, in denen kleinschrittige Anleitungen bzw. eine ‚geführte‘ Assistenz gewünscht sind. Im Projekt standen jedoch Tätigkeiten im Fokus, die grundsätzlich auch ohne Assistenzsystem alleine ausgeführt werden können und müssen.

Die Handlungsempfehlung ist für CeH4 für den Einsatz in Stresssituationen weiterhin interessant, da diese Assistenzfunktion – im Gegensatz zur Checkliste – Schritt für Schritt durch die Störung führen würde, beispielsweise bei einem Notfall in der Nacht. Die Checkliste dagegen leitet den Instandhalter bei Ja-/Nein-Entscheidungen nicht direkt zu dem passenden Folgeschritt.

9.5.5 Navigation in Dokumenten

Das Assistenzsystem bezieht Dokumente und Daten aus angrenzenden Systemen. Mit dem Assistenzsystem erstellte Checklisten und Wissensbausteine werden in Datenhaltungssystemen gespeichert und verwaltet. Das Zurechtfinden in der Vielzahl an Dokumenten in der Assistenzapplikation wird über eine Ansicht ermöglicht, die als „Navigation“ bezeichnet wird. Darin wird die jeweilige Hierarchieebene mit den zugehörigen Dokumenten sowie untergeordneten Strukturelementen angezeigt. Die Navigationsansicht ermöglicht optional das Anzeigen von Grafiken, auf denen Referenzpunkte markiert werden. Abb. 9.9 zeigt diese Ansicht mit der Visualisierung einer Deutschland-Karte, auf der Anlagen-Standorte als Referenzpunkte dargestellt sind. Die Grafiken werden durch die Unternehmen selbst ausgewählt. Durch das Tippen auf die Referenzpunkte gelangt man zur nächsten Hierarchieebene. Die Untersetzung der Navigation mit Bildelementen entspricht Grundprinzipien der kognitiven Ergonomie (Schlick et al., 2018: 435 f.). Ziel ist es, die Informationsverarbeitung beim Zurechtfinden in Dokumenten zu vereinfachen und zu erleichtern.

Abb. 9.9
figure 9

(Bildquelle: Fraunhofer IFF)

Beispielhafte Navigationsansicht mit Dokumentenliste.

Das einfache Zurechtfinden ist auch von dem Aufbau einer Navigationsstruktur abhängig, die der Denkweise bzw. dem mentalen Modell der Nutzer entspricht (z. B. Struktur nach Wartungsintervallen oder Baugruppen). Ein Sichtenkonzept ermöglicht die Umsetzung verschiedener Denkweisen. Es wird im Datenhaltungssystem umgesetzt (Abschn. 9.8.2).

Die Umsetzung einer Suchfunktion, die dem Niveau der aus dem privaten Gebrauch bekannten Suchmaschinen (inkl. Volltextsuche) entspricht, war im Projekt nicht realisierbar.

9.6 Wie gelingt es, dass die Mitarbeitenden ein Assistenzsystem mit Wissen füllen?

Eine besondere Herausforderung ist es, wertvolles Erfahrungswissen als solches zu identifizieren. Gerade Instandhalter:innen mit spezifischen Kenntnissen und langjähriger Erfahrung greifen intuitiv auf ihr Wissen zurück, statt sich dieses bewusst in Erinnerung zu rufen. Deshalb ist es für sie oft schwierig, wertvolles Wissen konkret zu benennen (s. Abschn. 2.3).

CeH4 begann im Projekt mit der Eingabe von Erfahrungswissen aufgrund ihrer strategischen Ausrichtung, während GESA mit dem Anlegen einer Ablagestruktur und der Einrichtung der technischen Infrastruktur begann. Insofern sind die folgenden Erfahrungen vor allem bei CeH4 gemacht worden. In der aktuell laufenden Erprobungsphase beginnt die GESA, ihre Checklisten stärker mit Erfahrungswissen anzureichern, und greift dabei auf die Erfahrungen von CeH4 zurück.

9.6.1 Erfahrungen bei der Eingabe von Assistenzinhalten

Bei CeH4 galt es hinsichtlich der Eingabe von Assistenzinhalten zunächst Inhalte zu identifizieren, welche die Assistenz zukünftig beinhalten muss, um Instandhalter:innen als tatsächliche Arbeitserleichterung zu dienen. Als die Instandhalter bei CeH4 zu Projektbeginn offen nach wichtigen Inhalten gefragt wurden, kamen zwar umfangreiche Listen zustande. Um mit der Erstellung von Assistenzinhalten zu beginnen, waren die aufgeführten Themen aber nicht präzise genug. Die Abfrage, welchen Bedarf an Assistenzinhalten es bei den Instandhaltern gibt, musste daher grundsätzlich anders gestaltet werden. Als besonders zielführend stellten sich hier gut vorbereitete, persönliche Gespräche mit zunächst vier Instandhaltern heraus: Vor jedem Gespräch listete die Projektleiterin von CeH4 die Anlagen und Tätigkeiten auf, die der Instandhalter in den drei Wochen vor und nach dem Interview besuchte. So konnte sie gezielt nachfragen, was an den Anlagen und während der Tätigkeiten auffällig war, wozu der Instandhalter Rückfragen hatte oder auf welche nützlichen Hinweise von Kollegen er zurückgreifen konnte.

Für die Ausgestaltung erster Checklisten wurden die zwei erfahrensten Instandhalter zunächst jeweils für einzelne Wochen freigestellt. Dies ermöglichte eine umfassende Einarbeitung in den damaligen Entwicklungsstand der Assistenzfunktionen und die intensive Beschäftigung mit den zu erarbeitenden Assistenzinhalten. Währenddessen stand die Projektleiterin von CeH4 dem jeweiligen Instandhalter für gemeinsame Überlegungen und Rückfragen zur Verfügung. Die EUMEDIAS moderierte zudem Workshops und Online-Meetings, durch welche die Projektleiterin und der Instandhalter ein Vorgehen zur Erstellung von Checklisten erarbeiteten und Möglichkeiten zur Identifikation weiterer Assistenzinhalte sammelten. Eine Herausforderung blieb beispielsweise der Detailgrad der Checklisten. Während der eine Instandhalter sehr umfängliche und detaillierte Checklisten erstellte, formulierte der andere stichwortartige Überschriften je Arbeitsschritt. Hier galt es immer wieder darüber ins Gespräch zu kommen, für wen eine Checkliste geschrieben werden sollte (z. B. erfahrene Instandhalter aus anderen Fachbereichen/ eher unerfahrene Kollegen/ erfahrene Instandhalter aus demselben Fachbereich, die die Anlage nicht kennen). Zudem wurden weitere Instandhalter frühestmöglich um eine Rückmeldung zur Tauglichkeit der erstellten Checklisten gebeten.

Im späteren Projektverlauf war die wochenweise Freistellung der Instandhalter aufgrund ihrer starken Einbindung in das Tagesgeschäft nicht mehr möglich. Es war daher notwendig, dass die Instandhalter selbstständig an den Checklisten weiterarbeiteten und für diese Aufgabe Zeitfenster in ihrem Arbeitsalltag schufen. Einerseits gelang diese selbstständige Arbeitsweise sehr gut. Andererseits war weiterhin die Rückkopplung der Instandhalter mit der Projektleiterin und/oder mit EUMEDIAS wichtig, um Feedback einzuholen, einen Abgleich zwischen den Instandhaltern vorzunehmen oder gemeinsame Überlegungen anstellen zu können. Entsprechende Termine fanden daher bedarfsorientiert statt.

Im selben Zeitraum wurden weitere Instandhalter einbezogen. Für deren Einarbeitung in die Assistenzlösung inklusive Autorentool nahm sich die Projektleiterin jeweils einen Tag Zeit, sodass der Instandhalter anschließend selbstständig weiterarbeiten und an erste, gemeinsam erstellte Inhalte anknüpfen konnte.

Eine Herausforderung ergab sich daraus, dass die Monteure den Umgang mit Schreibprogrammen und den vielen Funktionen und Möglichkeiten nicht gewohnt sind. Das hat zur Folge, dass Änderungen nicht schnell eingegeben werden können. Stattdessen müssen sich die Monteure immer wieder zu einem gewissen Grad neu in das Autorentool einarbeiten, wenn sie es länger nicht genutzt haben. Zudem verlief die anfängliche Erstellung der Assistenzinhalte parallel zu der Weiterentwicklung der Assistenzfunktionen, was die Instandhalter vor weitere Herausforderungen stellte. So war es mit einer alten Version des Autorentools schwierig, den Überblick über umfangreiche Checklisten zu behalten, da beispielsweise beim Verschieben eines Arbeitsschritts dieser aus dem Sichtfeld verschwand oder bei Änderungen wieder ganz nach oben gescrollt werden musste, um diese abspeichern zu können. Es war ein wesentlicher Erfolgsfaktor, dass einer der in dieser frühen Phase involvierten Instandhalter sehr IT-affin ist und beide sehr begeisterungsfähig sind. So konnten sie zum einen mit der eingeschränkten Nutzerfreundlichkeit einer vorläufigen Version des Assistenzsystems inklusive des Autorentools umgehen. Auch brachten sie Geduld und Verständnis dafür auf, dass beides noch nicht voll entwickelt war und sich die Umsetzung ihrer Anforderungen hinauszögerte. Zum anderen konnten sie qualifizierte Rückmeldungen zum jeweiligen Entwicklungsstand geben und eigene Entwicklungsideen einbringen.

Auch die Anreicherung der Checklisten mit Tipps und Tricks stellte sich als Herausforderung dar, da Erfahrungswissen für die erfahrenen Instandhalter oft unbewusst ist. Einer der Instandhalter erinnerte sich deshalb etwa daran, welche Informationen für ihn hilfreich gewesen wären, als er selbst noch unerfahren war. Zudem können Nachfragen oder persönliche Gespräche dabei helfen, Tipps und Tricks als solche zu identifizieren oder zu konkretisieren. Beispielsweise hatte ein Instandhalter als Tipp zunächst nur geschrieben, dass der O-Ring nicht ins Öl fallen gelassen werden sollte. Auf die Nachfrage der Projektleiterin hin, dass das doch logisch sei, erläuterte er, dass der O-Ring oft plötzlich herausfalle und dann schnell im Öl lande. Mit dieser Ergänzung konnte der Tipp dann für unerfahrene Instandhalter aufbereitet werden (s. Abb. 9.8 in Abschn. 5.3).

GESA wollte zunächst Checklisten für Maschinen erstellen, die regelmäßig gewartet werden, um hieran die Erstellung und den Einsatz von Checklisten erproben zu können. Es erwies sich als gutes Vorgehen, dass die Managementbeauftragte, die die Arbeit mit dem PC gewöhnt ist, die Checklisten zunächst vorbereitet, indem sie bestehende Wartungsprotokolle (Papierform oder PDF-Dateien) mithilfe des Autorentools in Checklisten überträgt. Anschließend holt sie den jeweiligen erfahrenen Instandhalter dazu, sodass dessen Erfahrungen direkt in die Erstellung der Checkliste mit einfließen. Beispielsweise ergeben sich hieraus Änderungen der Reihenfolge der Arbeitsschritte oder inhaltliche Anpassungen und Ergänzungen. Diese nimmt die Managementbeauftragte während des Gesprächs im Autorentool vor. Bei der Erstellung der zweiten Checkliste hielt der erfahrene Instandhalter zudem das Tablet in der Hand, um sich parallel die Änderungen aus Nutzersicht ansehen zu können. Diese Erfahrungen zeigten GESA, dass einerseits durch das Zweier-Gespann im Büro schon Checklisten erstellt werden können, die deutlich strukturierter und inhaltsreicher sind als die bestehenden Wartungsprotokolle. Andererseits ist es immer auch notwendig, diesen Stand der Checkliste in der praktischen Verwendung zu prüfen. Dann wird oft ersichtlich, dass die Reihenfolge der Arbeitsschritte neu anzuordnen ist, Arbeitsschritte zusammengenommen werden können oder Formulierungen zu ändern sind. Zudem fallen den Instandhaltern gerade nützliche Tipps und Tricks besser in der Arbeitssituation an der Maschine als im Büro ein.

Zudem zeigen die Erfahrungen, dass bei der Erstellung von Checklisten einige Kniffe und Hürden zu berücksichtigen sind. Zu Beginn ist abzuwägen, in wie viele Arbeitsschritte die Wartungsaufgabe unterteilt werden soll, da so die Checkliste länger und unübersichtlicher wird. Weiterhin zeigte sich erst im Verlauf der Erstellung einiger Checklisten, dass bei GESA zusätzliche bzw. andere Eingabemöglichkeiten als bei den Wartungen von CeH4 erforderlich waren. Die Überarbeitung des Autorentools im Projekt machte es darüber hinaus erforderlich, dass die Checklisten zunächst ohne verlinkte Dokumente erstellt wurden, da diese Funktion erst später hinzukam.

9.6.2 Strategien zur Erstellung von Assistenzinhalten

Nach der Identifikation geeigneter Themen für die Assistenz (Abschn. 6.1) sind diese als Assistenzinhalte auszugestalten. Weil die Tätigkeiten der Instandhalter komplexer Anlagen sehr vielschichtig sind, wird eine logische Struktur und Aufbereitung entsprechender Checklisten nicht sofort ersichtlich. Bei CeH4 probierten die eingebundenen Instandhalter daher zu Projektbeginn zunächst verschiedene Strukturierungs- und Aufbereitungsmöglichkeiten aus, um mit der Assistenz vertraut zu werden und erste Inhalte zu generieren. Hieran schloss sich die moderierte Reflexion dieses intuitiven Vorgehens der Instandhalter an.

Die Moderation erfolgte im Rahmen einer didaktischen Prozessbegleitung, die im Projekt durch die EUMEDIAS durchgeführt wurde. Diese Rolle ist eine wesentliche Komponente bei der Erstellung von Assistenzinhalten. So konnten die Instandhalter und die Projektleiterin von CeH4 gemeinsam mit den didaktischen Prozessbegleiter:innen nach kurzer Zeit drei Schritte zur Erstellung von Checklisten identifizieren, die sich als besonders praktikabel herausgestellt hatten:

  1. 1.

    Struktur, Reihenfolge und Detailgrad der Arbeitsschritte

  2. 2.

    Überarbeitung der Formulierungen bzw. des Schreibstils

  3. 3.

    Eingabe von Tipps & Tricks

Tab. 9.1 zeigt Strategien und Prinzipien zur didaktischen Begleitung bei der Erstellung von Assistenzinhalten, die den Schritten zugeordnet sind. Instandhaltern soll die Erstellung erleichtert werden, sodass diese schneller vonstattengeht und gleichzeitig qualitativ hochwertige Checklisten entstehen. Beispielsweise wurden die Schritte 2 und 3 aus Tab. 9.1 für die Erstellung des Tipps zum O-Ring (s. Abb. 9.8, Abschn. 5.3) angewandt. Durch die Rückfrage der Projektleiterin erläuterte der Instandhalter, was er meinte und das mündlich Gesprochene wurde weitestgehend in den dokumentierten Tipp übernommen.

Tab. 9.1 Strategien zur didaktischen Begleitung bei der Erstellung von Assistenzinhalten

Die didaktische Prozessbegleitung ist eng mit dem Befähigungskonzept (Kap. 7) und der partizipativen Prozessbegleitung (Kap. 9) verwoben, da ihr die Haltung zugrunde liegt, eigene Ideen und Initiativen bei der Erstellung von Assistenzinhalten zu fördern. Es gilt das Empowerment und die Autonomie der Akteure vor Ort für den Wissenstransfer zu fördern.

Im Projekt EVerAssist entwickelten die Instandhalter so beispielsweise die Idee, Arbeitsschritte zum ‚Abhaken’ einzufügen, die als Gedankenstütze dienen, die aber nicht in dem Protokoll landen. Weiterhin beobachteten die Prozessbegleiter:innen eine hohe Eigeninitiative zur Erstellung von Checklisten für weitere Aufgabenfelder und für die Erprobung mit weiteren Kollegen.

9.6.3 Einbettung in Redaktionsprozesse

Die Erstellung von Assistenzinhalten erfolgt nicht losgelöst, sondern ist in Redaktionsprozesse eingebettet. Beispielsweise ist zu definieren, wie und von wem die Erstellung eines Assistenzinhaltes ausgelöst wird, wann und wo Instandhalter:innen Assistenzinhalte erstellen, ob und von wem diese geprüft werden etc. Zudem ist zwischen dem initialen und dem ständigen Redaktionsprozess zu unterscheiden:

  • Beim initialen Redaktionsprozess werden die ersten Assistenzinhalte erstellt und das Unternehmen entwickelt Best Practices und Qualitätsstandards für Assistenzinhalte.

  • Beim ständigen Redaktionsprozess liegt der Fokus dagegen auf der Pflege der bestehenden Assistenzinhalte und dem Umgang mit Wissensbausteinen, Kommentaren etc.

Bis zur Erprobungsphase lag bei GESA und CeH4 der Schwerpunkt auf der Erarbeitung initialer Redaktionsprozesse und Erstellung erster Assistenzinhalte. Die bisherigen Entwürfe der Redaktionsprozesse sind über die WebseiteFootnote 4 einsehbar. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass diese nicht eins zu eins übertragen werden können, sondern unternehmensindividuell angepasst werden müssen.

9.7 Wie gelingt es, Mitarbeitende für die Einführung und Nutzung des Assistenzsystems zu befähigen?

Mit einer Systemeinführung geht immer auch ein unternehmenskultureller Change Prozess einher. Ein Kernelement des Projekts ist daher ein Befähigungskonzept, welches von der EUMEDIAS entwickelt wird. Dieses beinhaltet weitaus mehr als klassische Einweisungen in die Software. Teil davon ist z. B. die Befähigung von Mitarbeitenden für die Rolle der „zentralen Koordination“, die dabei auch zu Multiplikatoren in ihren Unternehmen werden. Das Befähigungskonzept ist mit der partizipativen Prozessbegleitung (Kap. 9) verknüpft, die ebenfalls einen ganzheitlichen Ansatz verfolgt und auf Empowerment ausgerichtet ist.

9.7.1 Vom Schulungs- zum Befähigungskonzept

Hinsichtlich der Nutzung des Assistenzsystems war zu Projektbeginn die Entwicklung eines Schulungskonzeptes geplant, das sich an die Endnutzer:innen des Assistenzsystems und den IT-Support der Anwendungsunternehmen richtet. Bei der Erstellung von Assistenzinhalten zeigte sich schnell, dass nicht die Nutzung der Software, sondern die Identifikation von Wissen und dessen inhaltliche Aufbereitung in Form von Assistenzinhalten eine besondere Herausforderung darstellt. Zudem wurde ersichtlich, dass die Gruppe der Endnutzer:innen heterogen ist, da mit dem Einsatz des Assistenzsystems unterschiedliche Anforderungen an verschiedene Rollen einhergehen. Aus diesen Erkenntnissen ergab sich ein Umdenken hinsichtlich des Schulungskonzeptes. Die Entwickler:innen der Assistenz (IFF) und des Schulungskonzeptes (EUMEDIAS) formulierten als neues Ziel der zu erarbeitenden Qualifikationsmaßnahmen die ‚Befähigung der Nutzer:innen und Unternehmen zur selbstständigen Weiternutzung der Assistenz’. Dies impliziert u.a., dass Nutzer:innen Herausforderungen selbstständig bewältigen oder ihr Handlungsfeld selbstbestimmt gestalten (Weber et al., 2022: 310) und z. B. unternehmensspezifische Redaktionsprozesse selbst erarbeiten (vgl. auch Abschn. 6.3). Ein entsprechendes Befähigungskonzept orientiert sich an Empowerment-Konzepten: Menschen fühlen sich ermutigt, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen oder ihre eigenen Kräfte und Kompetenzen zu entdecken. (nach Herriner, 2006: 16).

Für die genannte Befähigung zur selbstständigen Weiternutzung der Assistenz reicht die bloße Fachkompetenz zur Nutzung der Software nicht aus. Zusätzlich sind Fähigkeiten, sich Neues selbst anzueignen oder andere zu schulen sowie didaktisch-methodische und zwischenmenschliche Kompetenzen von großer Bedeutung. Es erfolgte daher eine neue Schwerpunktsetzung durch die Umbenennung des Schulungskonzeptes in ‚Befähigungskonzept’, worin sich auch die größere Komplexität des Konzeptes widerspiegelt.

Zur Erarbeitung des Befähigungskonzeptes galt es zunächst den Blick zu weiten und die Frage zu stellen, wen die Einführung des Assistenzsystems auf welche Weise betrifft. Hierdurch wird ersichtlich, dass die Einführung einer neuen Technologie einen Veränderungsprozess anstößt, der Teile oder sogar das gesamte Unternehmen auf den Kopf stellt. Denn mit der Nutzung der Technologie ändern sich bestehende oder entstehen neue Prozesse, für die dann entsprechende Arbeitszeiten eingeräumt oder neue Stellen geschaffen werden müssen. Hierdurch verändern sich Jobprofile. Mit der Änderung von Prozessen und Jobprofilen wandelt sich möglicherweise auch die Organisationsstruktur. All das löst soziale Effekte aus, die im besten Fall im Vorhinein, zumindest aber währenddessen so abgefangen werden sollten, dass die Einführung des Assistenzsystems gelingt. Auch diese Aspekte sind in einem Befähigungskonzept zu berücksichtigen.

Durch die Vorstellung, dass das Assistenzsystem vollständig entwickelt und im Unternehmen eingeführt ist, konnten entsprechende zukünftige Redaktionsprozesse entworfen werden (Abschn. 6.3). Daraufhin wurde untersucht, welche Personen bzw. Rollen in diesen Prozessen welche Aufgaben übernehmen. Dies war die Grundlage dafür, die Zielgruppen des Befähigungskonzeptes und deren Soll-Kompetenzen zu definieren, welche im folgenden Abschnitt vorgestellt werden.

9.7.2 Zielgruppen und Soll-Kompetenzen

Für einen Überblick wird im Folgenden ein Auszug der Soll-Kompetenzprofile dargestellt, die als Ergebnis des Projekts vorliegen. Die vollständigen Profile sind über die Projekt-WebseiteFootnote 5 einsehbar.

Die Endnutzer:innen im Feld nutzen das Assistenzsystem, um während einer Wartung oder Instandhaltung Assistenzinhalte abzurufen und Wissensbausteine zu erstellen (Nutzersicht des Assistenzsystems).

Erfahrene Instandhalter:innen sind selbst Endnutzer:innen im Feld, aber aufgrund ihres Know-Hows können sie zusätzlich Checklisten erstellen und die von Kolleg:innen erstellten Checklisten prüfen (Autorensicht des Assistenzsystems).

Die zentrale Koordination organisiert die Assistenzinhalte, z. B. durch die Ablage im Dokumentenmanagementsystem. Sie unterstützt die Instandhalter:innen bei der Erstellung von Assistenzinhalten durch Tipps zur Strukturierung oder sprachlichen Gestaltung und fördert den lebendigen Austausch unter den Nutzer:innen. Außerdem ermöglicht sie gemeinsam mit dem Anbieter der Assistenz die Übertragung der Assistenzinhalte in vorhandene Excel-Protokolle (Arbeitsdokumentation und Prüfprotokollierung).

Der IT-Support ermöglicht die Nutzung des Assistenzsystems durch dessen Einrichtung und Verknüpfung mit den betriebseigenen Datenhaltungssystemen. Er sorgt für den Regelbetrieb durch Betrieb und Wartung der Server-Systeme sowie die Unterstützung der Nutzer:innen des Assistenzsystems.

Die Geschäftsführung und Führungskräfte haben Kenntnisse zu Change- und Projekt-Prozessen, um beispielsweise steuernd eingreifen zu können (sozial, organisatorisch, ressourcentechnisch) oder Potenziale der Partizipation zu erkennen und zu nutzen. Außerdem fördern sie das Engagement der Mitarbeitenden, indem sie beispielsweise die intrinsische Verantwortungsübernahme ermöglichen und stärken oder die Bedeutsamkeit des Veränderungsprozesses dadurch sichtbar machen, dass sie die Aufmerksamkeit aller darauf lenken und das Erzählen positiver Geschichten fördern.

Alle Zielgruppen entwickeln zudem ein Verständnis von digitalem Wissensmanagement, sodass sie z. B. verstehen, inwiefern das Assistenzsystem eine Lösung für das digitale Wissensmanagement im Unternehmen und insbesondere für ihren Aufgabenbereich darstellt.

Der Umfang der Soll-Kompetenzen von Geschäftsführung und Führungskräften sowie zentraler Koordination zeigt, dass auf diese Zielgruppen ein größerer Fokus zu legen ist, als bei Projektbeginn gedacht. Die Geschäftsführung und Führungskräfte schaffen die Grundlage für das eigenverantwortliche und intrinsisch motivierte Handeln ihrer Mitarbeitenden, das letzten Endes zum Erfolg führt. Die Personen, die unterschiedliche Aufgaben der zentralen Koordination übernehmen, vermitteln zwischen Fachdisziplinen (sowie oft auch Hierarchien) und unterstützen die Nutzung des Assistenzsystems. Sie können so als ‚Kümmerer:innen‘ oder ‚Treiber:innen‘ der Einführung fungieren und eine zentrale Rolle für den Projekterfolg spielen. Bereits vor Einführung der Assistenz sollten sie gut im Unternehmen vernetzt sein, über ein hohes Maß an Eigenmotivation verfügen und die Fähigkeit haben, andere zu begeistern.

9.7.3 Befähigungskonzept

Im Rahmen des Forschungsprojektes begleiteten das IFF und die EUMEDIAS die Anwendungsunternehmen mithilfe verschiedener Workshops und Meetings. Beispielsweise wurde so die Erstellung von Checklisten unterstützt (Kap. 6). Die Erfahrungen aus diesen Workshops und Meetings flossen in die Entwicklung eines Befähigungskonzeptes ein, welches die Zielgruppen zur Verbesserung ihrer jeweiligen Kompetenzen befähigt. Tab. 9.2 fasst das Befähigungskonzept zusammen. Eine ausführliche Darstellung ist der Projekt-WebseiteFootnote 6 zu entnehmen

Tab. 9.2 Befähigungskonzept für die Einführung des kognitiven Assistenzsystems

Die Reihenfolge der Befähigungsformate orientiert sich an dem Modell der partizipativen Prozessbegleitung (Abb. 9.2, Abschn. 9.2) mit den Phasen (1)–(4), sodass Synergien entstehen können. Format 1 entspricht der Visionierungsphase (1); die Formate 2-5b entsprechen der Entwicklungsphase (2); Format 6-7 sind sowohl der Entwicklungs-, als auch der Erprobungsphase (3) zugeordnet; die Formate 8a-9 sind Teil der Erprobungsphase, während Format 10 dem reflexiven Roll-Out (4) zugeordnet ist.

Die Struktur des Befähigungskonzeptes ermöglicht es Unternehmen, die Einführung des kognitiven Assistenzsystems systematisch zu planen. Hinsichtlich der inhaltlichen Ausgestaltung fokussiert das Befähigungskonzept die Beteiligung der Mitarbeitenden am Einführungsprozess sowie die Ermöglichung hoher Eigenverantwortung und -initiative, sodass eine erfolgreiche Einführung des Assistenzsystems gelingen kann.

9.8 Strategische Potenziale des Assistenzsystems betriebsindividuell erschließen

Kognitive Assistenzsysteme sind keine Insellösung, sondern werden in eine digitale Informationsinfrastruktur integriert. Neben dem Kompetenzerwerb bzw. Wissenserhalt in der Instandhaltung ergeben sich zusätzliche Mehrwerte erst in Kombination mit weiteren technischen Systemen und organisationalen Veränderungen, wie z. B. dem digitalen Zwilling einer Anlage (vgl. Adler & Eckstein, 2020, Schüller et al., 2022). Welche dieser zusätzlichen Effekte für ein Unternehmen adressiert werden können und sollen, gilt es im Einführungsprozess herauszufinden und die entsprechenden Voraussetzungen dafür zu schaffen.

9.8.1 Einblicke in die Reflexion strategischer Potenziale

In der Anfangs-Phase des Projekts wurde die strategische Reichweite des Assistenzsystems methodisch gestützt diskutiert. Einbezogen wurden ‚betroffene’ Mitarbeitergruppen, z. B. auch aus der Planung oder IT. Ziel war es, Erwartungen und Randbedingungen der Unternehmen transparent zu machen. Dies erfolgte z. B. mithilfe ausgewählter Grafiken (Keller, 2022 i.E.). Abb. 9.10 zeigt eine solche Grafik. Diese visualisiert Stufen der Prozessdigitalisierung im Kontext Industrie 4.0 (Schuh et al., 2017).

Abb. 9.10
figure 10

(Eigene Darstellung nach Schuh et al., 2017)

Verortung des Assistenzsystems in Stufen der Prozessdigitalisierung als Workshopergebnis.

Beispielsweise nahm ein Instandhalter in der Diskussion Bezug zur Stufe „Sichtbarkeit“ und überlegte:

„Für mich ist die Sichtbarkeit, der Austausch von digitalen Informationen, sehr wichtig.“

Er verdeutlichte, dass für ihn der mobile Dokumentenzugriff allein zum erlebbaren Mehrwert werden kann. Die Projektbeteiligten tauschten sich auch darüber aus, dass die Potenziale der Stufen „Sichtbarkeit“ und „Transparenz“ durch die Verfügbarmachung des Erfahrungswissens mit dem Assistenzsystem erreicht werden können. Zu den Stufen „Transparenz“ und “Prognosefähigkeit” wurde durch die Projektleitung der Anwendungspartner außerdem assoziiert:

„Das ist vielleicht etwas, was man daraus [aus den Assistenzinhalten] ableiten kann. Wenn man […] auch weitere Daten gesammelt hat. Das ist ein mögliches Zukunftsthema, wird aber nicht in EVerAssist relevant sein. “

Technologieentwickler:innen bestätigten diesen Gedanken und wiesen darauf hin, dass die Herstellung von Zusammenhängen zwischen Assistenzinhalten und weiteren Daten (wie z. B. Prozessparametern oder Energiebilanzen) ein aktuelles Forschungsthema ist. Zwar würde dieses Feld im Projekt nicht bearbeitet werden. Die in EVerAssist erstellten Assistenzinhalte könnten jedoch in einem künftigen Projekt mit weiteren Parametern in Bezug gesetzt werden. Auch wurde diskutiert, dass KI-gestützte Verfahren die situations- oder nutzeradaptive Anzeige von Handlungsempfehlungen und damit die Nutzerfreundlichkeit in Zukunft weiter verbessern könnten. Im Laufe der Diskussion stellte sich heraus, dass die Stufe “Sichtbarkeit” für alle Beteiligten der wichtigste kurzfristig zu erreichende Mehrwert ist: Der aktuelle Wissensschatz, bislang nur verankert in Dokumenten oder in den Köpfen von Mitarbeitern, wird dann auch im Assistenzsystem zugänglich. Wissen ist damit sofort sichtbar und verfügbar, wenn es benötigt wird.

Gegenstand weiterer Diskussionen in der Visionierungsphase war es, dass GESA den Einführungsprozess von der Vision eines durchgängigen digitalen Wissensmanagements her plant. Das bedeutet, dass für GESA langfristig Einsatzmöglichkeiten des Assistenzsystems an externen Anlagen und bei weiteren Tätigkeiten im Anlagenlebenszyklus, die Abb. 9.11 zeigt, und in der Zusammenarbeit mit Kunden denkbar sind. Dies setzt eine durchgängige digitale Informationsinfrastruktur sowie ein Metamodell zur Organisation der Daten voraus. Die strategische Ausrichtung ist damit insgesamt breiter als bei CeH4. Im weiteren Prozessverlauf wurde deutlich, dass aus Unternehmenssicht das Assistenzsystem selbst als Motivationsfaktor für die Einrichtung der digitalen Informationsinfrastruktur gesehen wird: Dass hiermit sofort Dokumente, Tipps und Tricks mobil zur Verfügung stehen, ist ein erlebbarer Benefit, der motiviert, das digitale Wissensmanagement weiter auszubauen.

Abb. 9.11
figure 11

(Eigene Darstellung)

Anlagenlebenszyklus.

CeH4 hatte bereits im Vorgängerprojekt erlebt, welche Hürden und Potenziale sich durch das Assistenzsystem ergeben. Infolgedessen gingen sie mit einem klaren Fokus in die Diskussion der strategischen Potenziale. Die Reflexion der Einsatzmöglichkeiten des Systems über die Instandhaltung hinaus verdeutlichte, dass im Gegensatz zu GESA Optionen zur neuen Zusammenarbeit mit Kunden auf Basis von Assistenzinhalten nicht zur kurz- oder mittelfristigen Motivation zählten. Dies ist auch auf die gering-dynamische und regulierte Branche des gastechnischen Anlagenbaus zurückzuführen. Jedoch fokussierte CeH4 im Unterschied zu GESA direkt den Einsatz des Systems im Bereich der primären Wertschöpfung. Die kurz- und langfristige Konzentration von CeH4 auf die Instandhaltung als Einsatzfeld verdeutlichte, dass eine hohe inhaltliche Qualität von Checklisten und eine große Anzahl fertiger Checklisten ihr primäres Ziel für den Einführungsprozess ist.

Zusammenfassend hatte die Reflexion strategischer Potenziale im Einführungsprozess mehrere Effekte. So konnten frühzeitig die richtigen technischen Weichen gestellt bzw. Türen für Zukunftsprojekte offengehalten werden. Zudem wurden unterschiedliche Motivations- und Antriebsfaktoren transparent. Darüber hinaus kristallisierten sich für GESA und CeH4 unterschiedliche Schwerpunkte in der Einführung heraus. Die Reflexion strategischer Potenziale hatte auch einen Effekt auf die Zusammenarbeit der Projektpartner. So hätte die im Workshop entstandene Einordnung des Assistenzsystems in die Stufen der Prozessdigitalisierung von wissenschaftlicher Seite aus vorher angenommen werden können. Dennoch führte die gemeinsame Diskussion zu einem besseren Verständnis, auf welche Gelingensbedingungen es bei GESA und CeH4 jeweils wirklich ankommt. Eine weitere Auswirkung war es, dass das Assistenzsystem gemeinsam in einen übergreifenden digitalen Transformationsprozess eingeordnet werden konnte. Die Forschungspartner erhielten für die in der Theorie umfangreich beleuchteten Potenziale, z. B. im Zusammenhang mit dem Konzept des digitalen Zwillings, wertvolle Resonanzen aus der Praxis. Dies förderte eine weitere Klärung der Erwartungen an den Einführungsprozess und ein ‚Ziehen an einem Strang’ aller Projektpartner.

9.8.2 Erfahrungen bei der Erstellung einer strukturierten Datenablage

Die Umsetzung einer Struktur zur Verwaltung von Assistenzinhalten in angrenzenden Datenhaltungssystemen ist in jedem Fall notwendig. Im Projekt wurden dafür erste Schritte getätigt. Aufwände und Umfang dieser Arbeit sind jedoch von der strategischen Ausrichtung abhängig, wie im Folgenden deutlich wird: Da GESA den Aufbau dieser Struktur nutzte, um eine Infrastruktur für ein unternehmensweites Wissensmanagement zu erproben, wurde hier ein entsprechend umfangreicher Ansatz gewählt.

Beide Unternehmen standen zu Beginn des Projektes vor der Herausforderung, dass sie bisher keine Softwarelösungen für eine strukturierte Datenhaltung im Einsatz hatten. Die Integration entsprechender Lösungen war jedoch geplant. In diesen Systemen wurde während des Projekts eine geeignete Ablagestruktur aufgebaut bzw. vorbereitet. Die Navigation im Assistenzsystem (Abschn. 5.5) basiert auf dieser Struktur im Datenhaltungssystem. Ziel der Ablagestruktur ist es daher, dass die Nutzer imit ihrer Denkweise schnell zu den Dokumenten gelangen, die sie benötigen. Dazu kann berücksichtigt werden, dass es je nach Tätigkeitsfeld verschiedene Arten bzw. Denkweisen gibt, in Dokumenten zu navigieren. Die Ablagestruktur kann z. B. einer orts-, funktions-, oder produktbezogenen Sicht auf eine Anlage entsprechen (Adler et al. o.J.).

GESA war zu Projektbeginn bereits in Begriff, eine Kombination aus Microsoft Sharepoint und dem Dokumentenmanagementsystem ecspand einzuführen. Dabei war die Überführung des GESA-Konzepts vom Entity-Relationship-Modell in ein Sharepoint-Datenmodell aufwendig und erforderte wegen technischer Einschränkungen im Sharepoint viele Kompromisse. Die Ablagestruktur wurde mit den verantwortlichen Mitarbeitern abgestimmt. Dabei entstand die Erkenntnis, dass es keine alleinige Struktur gibt, die die Bedürfnisse oder Denkweisen von allen Mitarbeitenden zufriedenstellt.

GESA arbeitete daher mehrere theoretische Modelle zur Ermittlung einer Datenstruktur aus, welche die Nutzung mehrerer Sichten ermöglicht und trotzdem eine Doppelablage von Dokumenten vermeidet. Diskutiert wurden u.a. eine

  • räumliche bzw. örtliche Sicht auf Anlagen,

  • eine technische bzw. funktionsbezogene Sicht auf Anlagen und eine

  • zeitliche Sicht auf Anlagen hinsichtlich Wartungsintervallen.

Technisch gesehen hat sich die GESA für eine flache Ablage (alle Daten auf einer Ebene) und verschiedene Strukturierungen nur über Sichten entschieden. Im Projekt entstanden zwei Sichten. Weitere können nach Bedarf hinzugefügt werden. Abb. 9.12 veranschaulicht das Modell zur Umsetzung einer orts- und funktionsbezogenen Sicht.

Abb. 9.12
figure 12

(Bildquelle: GESA)

Modell zur Umsetzung des Sichtenkonzepts.

Abb. 9.13 zeigt ein Umsetzungsbeispiel in der Software ecspand: Dasselbe Dokument (Bedienungsanleitung für Generator) ist in unterschiedliche Hierarchien eingegliedert, die für eine zeitliche Sicht ("Monatliche Wartungssicht”, linke Seite) und eine örtliche Sicht (“Bauliche Sicht”, rechte Seite) stehen.

Abb. 9.13
figure 13

(Bildquelle: GESA)

Screenshots der durch GESA in der Software escpand erstellen Sichten.

Diese Sichten können im Assistenzsystem aufgerufen werden und ermöglichen die nutzerzentrierte Navigation zu Dokumenten. Alle eventuell zusätzlich benötigten Wartungsdokumente (z. B. Bedienungsanleitung, Wartungshandbuch) inkl. der Checklisten und Wissensbausteine als spezifische EVerAssist-Formate sind einfach und in aktueller Form vor Ort verfügbar. Zudem werden zusätzliche Wege ins Büro gespart.

Damit hat GESA ein Konzept zur Erstellung von nutzerbezogenen und bedarfsgerechten Sichten entwickelt und umgesetzt. Die Durchführung und Dokumentation bisher eher ungeordneter Wartungsvorgänge wurden so vereinheitlicht. Alle Wartungsvorgänge und dafür erforderlichen Daten wurden in einem einheitlichen System zusammengeführt.

Bei CeH4 handelt es sich um Wartungstätigkeiten an größtenteils baugleichen Anlagen, die aber an verschiedenen (Kunden-)Standorten zu finden sind. CeH4 unterscheidet z. B. zwischen folgenden Sichten auf ihre Anlagen:

  • abteilungsbezogene Sichten (z. B. Einkauf, Dokumentation, Planung)

  • Standort-, d. h. ortsbezogene Sicht

  • Geräte-, d. h. objektbezogene Sicht

Zu Projektbeginn stand bei CeH4 noch kein Datenhaltungssystem oder ein Anlagenobjektmodell zur Verfügung, die Einführung eines DMS-Systems war aber ohnehin geplant. Im Projektverlauf stellte sich jedoch heraus, dass sich die Beschaffung dieses Systems aufgrund einer unternehmensinternen Umstrukturierung verzögert. Insofern wurde eine ‚Brückenlösung’ realisiert: Die Assistenzapplikation für CeH4 im Projekt wurde an eine herkömmliche Ordnerstruktur angebunden, in welcher die Dokumente verwaltet werden, die in der Assistenzapplikation angezeigt bzw. genutzt werden. In dieser Lösung ist es allerdings nicht möglich, die Navigation in verschiedenen Sichten umzusetzen. So stand es erstmal im Fokus, eine allgemeingültige Ablagestruktur zu schaffen, in der sich alle Service-Monteure zurechtfinden, auch wenn sie in einem Tätigkeitsbereich (wie z. B. Verdichterwartung) eher unerfahren sind. Zudem wurde die Service-Leitung in die Erstellung der Ordnerstruktur eingebunden, da sie die Dokumente für einen Wartungsauftrag zur Verfügung stellt.

9.8.3 Bedeutung der Reflexion strategischer Potenziale für eine Empowerment-Strategie

Die Reflexion strategischer Potenziale ist eng verzahnt mit dem Befähigungskonzept (Kap. 7) und mit der partizipativen Prozessbegleitung (Kap. 9), die an dem Empowerment der Mitarbeitenden orientiert sind. In dem Dialog zwischen Mitarbeitergruppen wie auch weiteren Projektpartnern werden kurz-, mittel- und langfristige Aufwände und Mehrwerte für verschiedene Tätigkeitsfelder transparent. Das Assistenzsystem wird als strategisches Projekt sichtbar gemacht, das die Informationsverarbeitung im Unternehmen langfristig verändert. Dies hat im Wesentlichen drei Auswirkungen.

Erstens klärt sich in der Reflexion strategischer Potenziale, welche Schritte im Einführungsprozess zunächst angegangen werden, die dann auch von den Mitarbeitenden mitgetragen werden. So ist zu hinterfragen, ob das Unternehmen in erster Linie den Transfer von Erfahrungswissen oder eine höhere Prozesseffizienz durch eine bessere Datendurchgängigkeit anstrebt. Für die Etablierung des digitalen Erfahrungstransfers ist eine umfangreiche didaktische Begleitung erforderlich, in der über einen längeren Zeitraum hinweg immer wieder mit den Instandhaltern gesprochen wird, wie sie Wissen weitergeben und was eigentlich ihr Erfahrungswissen ausmacht (vgl. Kap. 6). Durch die persönliche Begleitung der Eingabe von Wissen durch EUMEDIAS wurde im Projekt erreicht, dass sich die Aufmerksamkeit für die Bedeutung des Wissenstransfers bzw. die Haltung der Instandhalter dazu veränderte. Dies ist Voraussetzung für eine selbstbestimmte Nutzung des Assistenzsystems zum Wissenstransfer auch nach Projektende, bedeutet aber auch einen längeren ressourcenintensiven Prozess. Die Digitalisierung operativer Workflows hingegen, wie z. B. die Digitalisierung von Dokumentationsaufgaben, ist zwar ebenfalls eine Intervention in vertraute Abläufe und erfordert die Akzeptanz der Mitarbeitenden. Die erforderliche Kulturveränderung ist aber weniger tiefgreifend und adressierte Mehrwerte sind daher schneller zu erreichen.

Zweitens führt die Reflexion strategischer Potenziale dazu, nicht aus dem Blick zu verlieren, ob mit den ausgewählten Pilot-Einsatzszenarien relevante Erkenntnisse erzielt werden können. Bei GESA wechselte z. B. nach einiger Zeit der Fokus von dem Einsatz im Facility Managements hin zu dem Einsatz an einer Anlage zur automatisierten Kabelkonfektionierung. Die Tätigkeiten an dieser Anlage sind komplexer als die bisher im Fokus stehenden und eigneten sich daher besser im Hinblick auf die Ausweitung der Nutzung der Assistenz. Der Einführungsprozess ist hier auch ein Lernprozess eines Unternehmens, der nur durch Erproben und Erleben der Assistenzfunktionen gelingt. Insbesondere, wenn das Assistenzsystem zunächst noch technisch weiterentwickelt wird, wie im Fall von EVerAssist, werden die Auswirkungen im Arbeitsprozess erst später vorstellbar.

Zuletzt wirkt die Reflexion strategischer Ziele im Projekt sinnstiftend und gibt Orientierung. In einem Dialog darüber werden Mitarbeiter:innen dafür sensibilisiert, inwiefern sich ihr Aufwand, z. B. bei Verwaltungsaufgaben in der Datenstruktur, langfristig lohnt. Aus einer wissenschaftlichen und übergeordneten Perspektive betrachtet, sind die technischen und sozialen Veränderungen in digitalen Transformationsprozessen enorm komplex (s. Kap. 4; Keller & Weber, 2020). Der Umgang mit Komplexität kann dadurch adressiert werden, dass das ‚große Bild’ für den Einsatz des Assistenzsystems immer wieder neu hinterfragt und hinsichtlich der Sinnhaftigkeit für die Unternehmensstrategie reflektiert wird (Weber, 2018).

9.9 Partizipative Gestaltung des Einführungsprozesses

Dieses Kapitel richtet sich vor allem an Akteure aus Wissenschaft und Praxis, die Einführungsprozesse leiten und begleiten. Es knüpft unmittelbar an partizipative Vorgehensweisen an, die schon in Kapiteln 5, 6, 7 und 8 für die jeweiligen Gestaltungsfelder veranschaulicht wurden. Zudem ist es eine Fortführung der Schilderung des organisationspädagogischen Designforschungs-ansatzes in Kap. 4, da die partizipativen Vorgehensweisen als kollekitve Gestaltungspraktiken darin eingebunden sind. Diese werden in einem Prozessmodell zusammengefasst. Das Modell soll Gestalter:innen des partizipativen Einführungsprozesses als Orientierungshilfe dienen.Footnote 7

9.9.1 Organisationspädagogischer Ansatz der partizipativen Prozessgestaltung

Als Teildisziplin der Erziehungswissenschaft widmet sich die Organisationspädagogik dem Lernen in, von und zwischen Organisationen (Göhlich et al., 2018). Damit werden u. a. die Lernprozesse einzelner Menschen in Organisationen, aber auch die Weiterentwicklung von Unternehmen durch organisationale Lernprozesse verstanden. Der Einführungsprozess eines Assistenzsystems ist ein solcher Lernprozess. Konkret ist das Forschungsprojekt EVerAssist selbst eine „Temporärorganisation“ (Weber, 2005): Ein Lern- und Erprobungsraum mit dem Spezifikum, dass hier Wissensproduktion zwischen wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren stattfindet.

Partizipative Vorgehensweisen sind aus organisationspädagogischer Sicht Kernelement organisationaler Lernprozesse (Weber et al., 2013), und werden als Voraussetzung für selbstorganisiertes Handeln von Organisationsmitgliedern betrachtet (ebd.). Die organisationspädagogische Perspektive versteht den Einführungsprozess zudem als gemeinsamen Suchprozess, in dessen Verlauf Zielkriterien für den Erfolg des Assistenzsystems sowie dessen Integration in die Unternehmensstrategie partizipativ erarbeitet werden (Schäffter, 2001; Weber & Heidelmann, 2020). Partizipation im Modus der „Mitgestaltung“ (Arndtstein, 1969) soll zur eigenverantwortlichen, komplexitätsorientierten (Mit-)Gestaltung in einem transdisziplinären Team befähigen (Weber & Heidelmann 2020). Das bedeutet, dass Instandhalter:innen eigene Ideen z. B. für die Struktur von Checklisten erarbeiten, die sie auch mittragen und die darüber hinaus didaktisch sinnvoll sind. Es bedeutet auch, dass eine partizipative Prozessgestaltung Inhaltsvermittlung und Sensibilisierung einschließt. Etwa kann das Bewusstsein der Mitarbeitenden gezielt dafür gestärkt werden, dass Wissenstransfer immer auch ein sozialer Prozess ist und z. B. das Erstellen von Checklisten ausschließlich alleine im Büro sitzend nicht ergiebig ist. Die partizipative Prozessgestaltung in EVerAssist ist somit untrennbar mit dem Befähigungskonzept (Kap. 7) verzahnt.

Der organisationspädagogische Designforschungs-Ansatz (Kap. 4) ist eine Grundlage dafür, da er das Verstehen der Akteure untereinander trotz verschiedener disziplinärer Hintergründe und Denkschulen als eigene Gestaltungsdimension integriert (Keller & Weber, 2020). Erst wenn dies gelingt, können Ideen für die Nutzung des Assistenzsystems entstehen, die sowohl technisch machbar, didaktisch sinnvoll sowie passend zum Arbeitsprozess im jeweiligen Unternehmen sind und die darüber hinaus den Beteiligten selbst als sinnvoll erscheinen.

9.9.2 Prozessphasen und Methoden

Im Projekt wurde auf Basis der organisationspädagogischen Perspektive eine Systematik für den Einführungsprozess entwickelt (Keller et al., 2021). Abb. 9.14 zeigt vier Kernphasen des Einführungsprozesses als Ausschnitt dieser Systematik: Einer Visionierungsphase (1) folgen die Entwicklungs- und Erprobungsphase ((2)-(3)) sowie der reflexive Roll-out (4). Vor dem Hintergrund zahlreicher Phasenmodelle im Change-Management (Weber 2005: 324f.) knüpft diese Strukturierung an die Bedarfe einer wissenschaftlich begleiteten Prozesseinführung im Kontext von Forschungs- und Entwicklungsprojekten an.

Abb. 9.14
figure 14

(Eigene Darstellung)

Phasen der partizipativen Prozessgestaltung.

In einer vorbereitenden Phase reflektieren die Prozessgestalter:innen (im Projekt ein Team aus Fraunhofer IFF und EUMEDIAS) ihr Verständnis von Beratung und ihre Haltung als Gestalter:innen eines partizipativen Prozesses (Keller et al., 2021).

  1. (1)

    In der Visionierungsphase erfolgt die partizipative Erarbeitung strategischer Potenziale (Kap. 8), die durch das Assistenzsystem erschlossen werden sollen. Dabei wird auch erörtert, inwiefern das Assistenzsystem Teil einer langfristigen Digitalisierungs-Strategie ist. Davon wird abgeleitet, mit welchen Pilot-Einsatzszenarien begonnen wird und welche Pilot-Nutzer:innen einbezogen werden. Die kollektive Klärung und Spezifikation realistischer Ziele im Einführungsprozess unterstützt, dass diese von allen Beteiligten als sinnvoll erachtet bzw. mitgetragen werden.

  2. (2)

    In der Entwicklungsphase werden Vorbereitungen für die Nutzung des Assistenzsystems in den Pilot-Einsatzszenarien getroffen. Hier erfolgt u. a. die Anbindung an technische Systeme sowie die ggf. erforderliche Weiterentwicklung der Assistenzsoftware. Auch werden Endgeräte wie Tablets ausgewählt. Zudem werden Assistenzinhalte eingegeben (Kap. 6) und die Ablagestruktur für diese entworfen und umgesetzt (Abschn. 8.2). Die Zielstellungen werden auf Basis der gemachten Erfahrungen erneut reflektiert bzw. konkretisiert und z. B. Entscheidungen für den Pilot-Arbeitsbereich angepasst. Die Erfahrung zeigt, dass die Aufwände in dieser Phase eher unterschätzt werden.

  3. (3)

    Die Erprobungsphase zielt darauf ab, den Einsatz des Assistenzsystems in einem Pilot-Bereich im Arbeitsalltag zu beobachten, zu evaluieren und z. B. Redaktionsprozesse weiter anzupassen. Hier findet zudem eine Evaluation der Zielstellungen statt. Dies kann z. B. die Erstellung “fünf ‚guter’ Checklisten” sein, die von Mitarbeitern mit geringerer Erfahrung als nützlich empfunden werden.

  4. (4)

    In der Phase des reflexiven Roll-Outs werden die Erfahrungen aus der Erprobungsphase sowie die Evaluation der Nutzenpotenziale partizipativ reflektiert und ausgewertet. Auf Basis dieser Auswertungen werden Entscheidungen für den Einsatz des Assistenzsystems in weiteren Unternehmensbereichen getroffen.

Je nach Phase wechseln Aufgaben der Prozessbegleiter:innen und der empfohlene Methodeneinsatz (vgl. Keller et al., 2021). Aufgabe der Prozessbegleiter:innen ist es, diese kontext- und situationssensibel auszugestalten. U.a. zeigte es sich als erfolgreich, in der frühen Phase die Methode der wertschätzenden Erkundung (Cooperrider et al., 2004) einzusetzen. Diese ermöglicht es u. a., frustrierende wie auch positive Erfahrungen bzw. Vorannahmen zu Assistenztechnologien einzuholen, transparent zu machen und daran anzuknüpfen. Sie wurde etwa in Workshops eingesetzt, in denen die beteiligten Akteure Erfahrungskurven zeichneten. Für die Erprobungsphase eignet sich der Ansatz der transformativen Evaluation (Weber, 2012). Dieser ermöglicht es, kurzfristig (Akzeptanz-)Hürden in der Praxis zu identifizieren sowie das Empowerment der Nutzergruppen weiter zu unterstützen. Erfahrungen werden mit allen beteiligten Akteuren reflektiert, um gemeinsam daraus zu lernen.

9.10 Zusammenfassung und Ausblick

Das folgende Kapitel gibt einen Einblick in die Erprobungsphase und zieht ein Resümee. Zudem wird ein Überblick zur Übertragbarkeit der Technologie gegeben und Lösungsansätze aufgezeigt. Das Kapitel schließt mit weiterführenden Forschungsfragen und Entwicklungsfeldern.

9.10.1 Erste Ergebnisse der Erprobungsphase und Resümee

Der Beitrag hat einen Einblick in die Gestaltungsfelder eines Einführungsprozesses von Assistenzsystemen gegeben, die für eine erfolgreiche Einführung unerlässlich sind. Im Ergebnis ist zu beobachten, dass die Instandhalter in Eigeninitiative sowohl Inhalte eingeben als auch das Assistenzsystem Kollegen zeigen. Es sind je Unternehmen 3 bzw. 10 Checklisten im Umfang von 10–70 Arbeitsschritten entstanden, wobei pro Schritt mehrere Tipps und Tricks erarbeitet wurden. Die Checklisten werden derzeit bei ausgewählten Wartungsaufgaben parallel zu den bisherigen Excel-Protokollen genutzt. Derzeit liegt der Fokus darauf, die Qualität des in den Checklisten eingebundenen Wissens mit den Instandhalter:innen weiterzuentwickeln. Z. B. verständigen sie sich untereinander darüber, ab wann Tipps zu kleinschrittig sind.

Erste Evaluationsergebnisse zeigen: Ein wesentlicher Erfolgsfaktor ist das Empowerment von Mitarbeitenden für den digital gestützten Wissenstransfer. Das bedeutet, dass Mitarbeitende ihre Aufgaben und ihre Verantwortung zur Weitergabe von Wissen erkennen und selbstbestimmt wahrnehmen. Erfahrungsträger:innen erleben und verinnerlichen dann, wie die durch sie dokumentierten Assistenzinhalte ihren Kollegen:innen bei der Bewältigung eher unbekannter oder variantenreicher Tätigkeiten helfen. Dies fördert die Akzeptanz und selbstständige Nutzung des Assistenzsystems im Arbeitsalltag. Die Mitarbeitenden können dann sinnstiftende Geschichten über nützliche Assistenzinhalte erzählen. Erfahrungsträger:innen entwickeln zudem eigene Strategien, wie sie Assistenzinhalte erstellen. Im Ergebnis geben sie eigenverantwortlich ‚gute‘ Assistenzinhalte ein. Letztere sind der wichtigste Faktor für eine nachhaltig genutztes, wirkungsvolles System.

Die Erfahrungen lehren auch, dass die Eingabe von Erfahrungswissen durch die Instandhalter:innen ein zeit- und ressourcenintensiver Prozess ist. Sie werden mit den Herausforderungen des Themas “Wissenstransfer” konfrontiert und erleben dabei: Wissenstransfer bleibt ein Prozess, der durch digitale Tools unterstützt, aber nicht automatisiert werden kann. Das Assistenzsystem ersetzt den persönlichen Austausch zwischen Kollegen nicht.

Auch die Erarbeitung geeigneter Ablagestrukturen wird zum Schlüssel für eine nachhaltige Nutzung, da somit Dokumentensätze kongruent und vollständig verfügbar sind und Assistenzinhalte einfach aufgefunden werden. Dies erfordert aber ebenfalls umfangreiche betriebsspezifische Überlegungen und Vorarbeiten. In diesen Vorarbeiten werden jedoch Weichen für den langfristigen Erfolg gestellt. Ein weiterer Erfolgsfaktor ist es daher, über den gesamten Prozess mit den verschiedenen Mitarbeitergruppen im Dialog über langfristig anvisierte Zielstellungen zu bleiben.

9.10.2 Übertragbarkeit

Die technische Assistenzlösung selbst ist grundsätzlich nicht auf den Einsatz in der Instandhaltung beschränkt. Der Einsatz bei weiteren Tätigkeiten, in der eine Prüfung oder Dokumentation erfolgt und zudem Wissen an Arbeitsschritte oder Objekte annotiert werden soll, ist denkbar. Die Checkliste eignet sich auch als Erinnerungsstütze für wiederkehrende Tätigkeiten. Der Einsatz in der Schichtübergabe ist ebenfalls denkbar. In jedem Fall ist eine Anbindung an Datenhaltungssysteme erforderlich, in denen die Assistenzinhalte verwaltet werden. Dies kann im einfachsten Fall eine einfache klassische Ordnerstruktur auf einem Server sein. In diesem Fall sind jedoch keine unterschiedlichen Sichten (Abschn. 8.2) möglich.

Die Funktionen des Assistenzsystems sind auf die Instandhaltung als Zielgruppe mit hoher Eigenverantwortung und viel Handlungsspielraum ausgelegt. So werden keine linearen Schrittfolgen vorgegeben. Einsatzfelder, bei denen die Mitarbeitenden über nur wenig Handlungsspielraum verfügen, sind ggf. nur eingeschränkt geeignet.

Als Webapplikation ist das Assistenzsystem prinzipiell auf verschiedenen Endgeräten sowie plattformübergreifend nutzbar. Bisher ist die nutzerfreundliche Gestaltung für Tablets zugeschnitten und noch nicht full-responsive umgesetzt. Bei dem Einsatz von Tablets ist zu beachten, dass dies nur in einer sauberen und trockenen Arbeitsumgebung möglich ist. Tätigkeiten mit umfangreicher Schutzausrüstung erscheinen ungeeignet, wenn die Ausrüstung die Handhabung der Geräte erschwert.

Die Bereitschaft zur Eingabe von Assistenzinhalten bzw. zur Nutzung des Systems war im Projekt individuell verschieden. Motivationsfaktoren sind etwa die eigene Entlastung oder eine hohe Motivation, als gesamtes Team gute Ergebnisse zu erzielen. Die familiäre sowie wertschätzende Atmosphäre und eine Vertrauenskultur bei GESA und CeH4 haben wesentlich dazu beigetragen, dass Ängste oder Widerstände zur Weitergabe des Wissens nicht auftauchten. In anderen Fällen kann dies aber ein Grund sein, der die erfolgreiche Nutzung des Systems hindert und ist dann gezielt durch die Prozessbegleitung zu adressieren.

Die Ansätze zur Befähigung und partizipativen Prozessbegleitung sind auf die Einführung digitaler Tools für das Wissensmanagement branchenübergreifend übertragbar. Sie sind jedoch speziell für KMU ausgelegt, die über wenig bis kein Personal für ein HR- oder Wissensmanagement verfügen.

9.10.3 Ausblick

Ein unmittelbar anschließendes Forschungsfeld ist die durchgängige Nutzung von Wissen im Anlagenlebenszyklus, die u. a. durch die Tools “Checkliste” und “Wissensbaustein” realisiert wird. Ziel ist die Interpretation oder Ergänzung der Assistenzinformationen durch verschiedene Gewerke bei einer konsistenten Datenhaltung in einem standardisierten Informationsmodell (Schüller et al., 2022). Bei einem Einsatz der Assistenzfunktionen in weiteren Tätigkeitsfeldern sind jedoch veränderte Anforderungen an die Nutzerfreundlichkeit und an den Funktionsumfang zu erwarten. So ist ggf. die Dokumentationsfunktion auszubauen. Weitere Entwicklungsfelder der in EVerAssist zum Einsatz kommenden Assistenztechnologie sind eine KI-gestützte Anzeige von Assistenzinhalten, die Verknüpfung mit Sensordaten wie auch die Nutzung auf Smartglasses. In Kombination mit Smartglasses kann die Umsetzung von Mixed Reality Konzepten helfen, Anlagenkomponenten zu referenzieren und somit Assistenzinhalte bauteil- oder situationsgerecht einzublenden (Zobel et al., 2018).

Es erscheint zudem vielversprechend, aus den in EVerAssist entwickelten Ansätzen Weiterbildungskonzepte zur Professionalisierung von Prozessbegleitern und “Kümmerern” in der digitalen Transformation abzuleiten (Keller et al., 2021).

Eine Handreichung “Leitlinien für die Personal- und Organisationsentwicklung” als Projektergebnis befindet sich in Vorbereitung.Footnote 8 Darüber hinaus stand zum Zeitpunkt des Verfassens dieser Publikation die Auswertung der Erprobungsphase im Projekt aus. Es ist geplant, die Ergebnisse hierzu separat zu veröffentlichen.

9.10.3.1 Förderhinweis

Dieser Beitrag entstand im Forschungs- und Entwicklungsprojekt “EVerAssist” (FKZ: 02L19A000ff; Laufzeit: 01.04.2020-30.09.2022), das im Rahmen des Programms „Zukunft der Arbeit“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) sowie dem Europäischen Sozialfonds (ESF) gefördert und vom Projektträger Karlsruhe (PTKA) betreut wird. Die Verantwortung für den Inhalt dieser Veröffentlichung liegt bei den Autor:innen.

Der Beitrag bezieht zudem Ergebnisse des Forschungsprojekts CPPSProcessAssist (FKZ 02P14B080-02P14B087; Laufzeit 2015-2019) ein, das durch das Bundesministerium für Bildung und Forschung gefördert wurde.