9.1 Einleitung

Das Comeback des Wolfes nach Deutschland begann im Jahr 2000 mit der ersten nachgewiesenen Reproduktion nach über 150 Jahren (Kluth et al. 2002). Seither wächst der Bestand und Wölfe breiten sich in immer mehr Bundesländern aus (Reinhardt et al. 2019; DBBW 2020a). Wölfe sind in Deutschland und in weiten Teilen der Europäischen Union streng geschützt und als prioritäre Art in Anhang IV der Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie (FFH-RL ) aufgeführt. Mit dem anwachsenden Wolfsbestand nehmen auch die Übergriffe auf Nutztiere in Deutschland von Jahr zu Jahr zu. In einem Punkt sind sich Landwirtschaft, Naturschutz und Politik einig: dass Wolfsübergriffe auf Nutztiere nachhaltig minimiert bzw. soweit es geht verhindert werden sollen. Darüber, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann, gibt es jedoch unterschiedliche Ansichten.

Die meisten Schäden durch Wölfe betreffen erfahrungsgemäß kleine Weidetiere wie Schafe und Ziegen. Die wirtschaftliche Situation der Schäferinnen und Schäfer in Deutschland war bereits vor der Rückkehr des Wolfes extrem angespannt; der Schafbestand und die Zahl der schafhaltenden Betriebe ist, wie in vielen anderen europäischen Ländern, seit Jahrzehnten rückläufig (Linnell und Cretois 2018). Der Großteil der Einnahmen von schaf- und ziegenhaltenden Betrieben kommt aus Zulagen und Zuschüssen für die Landschaftspflege, erst an zweiter Stelle stehen Erlöse aus dem Verkauf von Fleisch; Wolle hat kaum noch eine wirtschaftliche Bedeutung (BLE 2022). Mit der Rückkehr der Wölfe wird die wirtschaftliche Lage von Weidetierhaltenden noch schwieriger. Selbst wenn die Materialkosten von Herdenschutzmaßnahmen in vielen Bundesländern bis zu 100 % gefördert werden (DBBW 2021), so ist der Herdenschutz i. d. R. mit einem erhöhten Arbeitsaufwand verbunden, der noch nicht überall finanziell ausgeglichen wird.

Seit Jahren werden Forderungen immer lauter, dass der Wolfsbestand jagdlich reguliert werden sollte. Als Grund für die Notwendigkeit der Bejagung von Wölfen werden in der Regel Sicherheitsaspekte für den Menschen, die Verringerung von Übergriffen auf Nutztiere und eine verbesserte Akzeptanz von Wölfen angegeben (u. a. AfD 2015; Landkreis Bautzen 2017; CDU/CSU 2018; SMUL 2018; WELT 2018; Deutscher Bundestag 19/584, 19/594). Der entsprechende Druck auf die Politik wird von Jahr zu Jahr stärker. Zumindest jedoch, so die einschlägigen Forderungen, sollten diejenigen Wölfe leichter und schneller zum Abschuss freigegeben werden, die Nutztiere töten. Doch sind solche Maßnahmen wirklich zielführend und helfen sie den betroffenen Weidetierhaltenden unmittelbar und auch längerfristig?

Die Entschärfung von Konflikten zwischen Menschen und Wildtieren sollte evidenzbasiert erfolgen und sowohl menschlichen Werten als auch dem Artenschutz Rechnung tragen (van Eeden et al. 2018a). Der Erhalt der Weidetierhaltung ist, genau wie der Schutz des Wolfes, ein gesamtgesellschaftliches Anliegen. Auch aus Tierschutzgründen ist es geboten, Weidetiere vor Übergriffen durch Beutegreifer zu schützen (§ 3 Abs. 2 TierSchNutzV). Im vorliegenden Beitrag untersuchen wir anhand einer umfassenden Literaturrecherche, ob und unter welchen Bedingungen Wolfsabschüsse wirkungsvoll sind, um Übergriffe auf Nutztiere langfristig zu vermindern. Wir geben einen Überblick über den aktuellen Wissensstand zu folgenden Themen: 1) Warum töten Wölfe überhaupt Nutztiere? 2) Gibt es einen einfachen Zusammenhang zwischen der Anzahl Wölfe und den wolfsverursachten Nutztierschäden, und wie ist die diesbezügliche Datenlage in Deutschland? 3) Wie wirksam sind folgende Managementmaßnahmen hinsichtlich einer nachhaltigen Reduktion von Nutztierschäden: A) eine Bejagung von Wölfen, B) die selektive Entnahme von einzelnen schadensverursachenden Wölfen, C) nicht-letale Herdenschutzmethoden? Abschließend legen wir Empfehlungen zu einem evidenzbasierten und lösungsorientierten Wolfsmanagement in Bezug auf den Wolf-Nutztierkonflikt vor.

9.2 Warum töten Wölfe Nutztiere?

Nicht jeder Wolf tötet Nutztiere, aber jeder Wolf kann es lernen. Wölfe sind große Karnivoren, die sich überwiegend von Huftieren ernähren. Sie töten dabei vor allem die Tiere und Tierarten, die sie am leichtesten überwältigen können. Bei wehrhaften Wildtieren wie Hirschen, Wildschweinen, Elchen oder Bisons sind das vor allem junge, kranke oder alte Individuen. Bei nicht-wehrhaften Arten wie Rehen scheint die diesbezügliche Selektion weniger stark ausgeprägt zu sein (Wagner et al. 2012). Domestizierte Huftiere, insbesondere die kleineren Arten wie Schafe und Ziegen, sind für Wölfe eine besonders einfache Beute, sofern sie nicht geschützt sind. Wölfe lernen u. a. von ihren Eltern, welche Tierarten als Nahrung infrage kommen (Kojola et al. 2004; Fabbri et al. 2018), und können erstaunlich konservativ in ihrer Beutewahl sein. Das bedeutet, nicht jede potenzielle Beutetierart wird von einem Wolf auch sofort als solche erkannt. Die meisten Wölfe in Deutschland töten z. B. keine Rinder, obwohl diese in der Regel nicht gegen Beutegreifer geschützt und somit für Wölfe potenziell verfügbar sind. Trotzdem werden sie von vielen Wölfen nicht als Nahrung wahrgenommen. Das kann sich ändern, wenn ein Wolf z. B. über Nachgeburten oder ein außerhalb der Koppel liegendes Kalb lernt, dass auch Rinder Beutetiere sind. Wölfe sind auch Opportunisten und können so auf Änderungen in der Verfügbarkeit leicht erlegbarer Beutetiere reagieren (Gable et al. 2016, 2017). So gab es von 2012–2017 ein Rudel in der Königsbrücker Heide (Sachsen), dass die dort häufig vorkommenden Biber als Nahrung nutzte (Wauer 2014). Ähnlich werden Wölfe, die gelernt haben, dass Kälber eine leichte Beute sein können, versuchen, auch diese Nahrungsquelle zu nutzen.

In Bezug auf Übergriffe durch Wölfe auf Schafe hat die Erfahrung in Deutschland gezeigt, dass am Anfang einer Schadenskette häufig ungeschützte oder nicht ausreichend geschützte Schafe stehen. Es ist davon auszugehen, dass ein Wolf mit jedem erfolgreichen Übergriff auf ungeschützte/schlecht geschützte Schafe darin bestärkt wird, dies erneut zu versuchen. Solche Schafe sind eine viel einfachere Beute als flinke Rehe oder wehrhafte Wildschweine und Hirsche. Ist der Anreiz erst da, beginnt sich das Schadenskarussell zu drehen. Ein Wolf mit solcher Erfahrung ist eher motiviert, auch bei geschützten Schafen nach einer Schwachstelle im Herdenschutz zu suchen. In der Regel versuchen Wölfe, Hindernisse wie Zäune durch Unterkriechen/Untergraben zu überwinden. Deshalb ist es bei elektrischen Zäunen besonders wichtig, dass die untere stromführende Litze so niedrig ist, dass ein Unterkriechen verhindert wird. Dass Wölfe Zäune springend überwinden, kommt vergleichsweise selten vor (Reinhardt et al. 2012). Sie können das Überspringen jedoch lernen, zum Beispiel an nicht-elektrischen Zäunen oder an nicht korrekt aufgestellten Elektrozäunen. Vielleicht ist an einem Tag ein Zaun nicht unter Strom oder eine Ecke einer Koppel nicht richtig abgespannt und der eigentlich 90 cm hohe Zaun misst dort nur noch 60 cm. Das ist niedrig genug für einen derart motivierten Wolf, einen ersten Sprung zu den Schafen zu wagen. Schließlich kann ein solches Individuum so auch lernen, über elektrifizierte Schafnetze zu springen, die gegenüber anderen Wölfen bei korrekter Installation einen guten Grundschutz bieten. Wölfe, die immer wieder an schlecht geschützten Schafweiden trainieren konnten, sind durch einfache Schutzmaßnahmen deutlich schwieriger abzuhalten als ihre Artgenossen, die keinen solchen Lerneffekt hatten oder sogar an einem korrekt installierten Zaun einen elektrischen Schlag bekommen haben.

Bisherige Erfahrungen aus Deutschland deuten darauf hin, dass Wölfe nicht von ihren Eltern lernen, Zäune zu überwinden, sondern dass es sich hier um einen individuellen Lernprozess handelt. Entsprechende wissenschaftliche Studien zur Untermauerung der Erfahrungswerte liegen bisher noch nicht vor.

Übergriffe auf Nutztiere sind in der Regel weder räumlich noch saisonal gleichmäßig verteilt. Die saisonale Verteilung der Nutztierschäden zeigt vielerorts einen deutlichen Anstieg der Übergriffe auf Schafe im Spätsommer und Herbst (Iliopoulos et al. 2009; FSW 2022). In diesen Monaten haben die schnell wachsenden Wolfswelpen einen besonders hohen Energiebedarf. Gleichzeitig sind die im Frühjahr geborenen Jungtiere der wilden Huftierarten inzwischen herangewachsen und nicht mehr so leicht zu erbeuten wie noch am Anfang des Sommers. Für Wölfe, die Welpen zu versorgen haben, sind daher einfach zu erbeutende Nutztiere besonders attraktiv.

Schaut man sich die räumliche Verteilung der Nutztierschäden auf einer Karte an, findet man Gebiete mit einer erhöhten Anzahl an Übergriffen (sogenannten Prädations-Hotspots) und gleichzeitig Gebiete, in denen es keine oder nur geringe Schäden gibt (z. B. Dondina et al. 2015; Pimenta et al. 2017; Pimenta et al. 2018; FSW 2021; NLWKN 2021). Hotspot-Gebiete sind in der Regel Gebiete mit einem hohen Anteil an nicht oder schlecht geschützten Nutztieren. Die dort lebenden Wölfe haben entsprechend gelernt, diese Nahrungsquelle zu nutzen. Die Wolfsindividuen, für die in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Thüringen Abschussgenehmigungen aufgrund von gehäuften Nutztierschäden erteilt wurden (nicht in allen Fällen wurden die Genehmigungen vollzogen), haben über eine lange Zeit, oft über Jahre Erfahrungen an ungeschützten bzw. nicht korrekt geschützten Nutztieren erwerben können. So überwand der Rüde GW924m in Schleswig-Holstein das erste Mal einen Zaun, der den Vorgaben der dortigen Richtlinie zur Sicherung von Schafen entsprach, nachdem er zuvor 21 Übergriffe auf nicht geschützte Schafe verübt hatte (SH 2021). Auch die nachträgliche Anwendung empfohlener Herdenschutzmaßnahmen (BfN und DBBW 2019) kann zur Verhinderung weiterer Nutztierrisse führen, wie das Beispiel der Ohrdrufer Wölfin (GW267f) in Thüringen zeigt. Dort führte der Einsatz von empfohlenen Schutzzäunen, Beratungen und die Präsenz von Herdenschutzhunden dazu, dass die Schäden durch GW267f in dem Gebiet, das vorher besonders stark betroffen war, bis auf einen Übergriff auf eine ausgebrochene Schafherde auf null reduziert wurden.

9.3 Mehr Wölfe – mehr Nutztierschäden?

Diese Frage ist nicht neu und wurde in der wissenschaftlichen Literatur in den letzten 25 Jahren intensiv diskutiert. Es gibt keinen einfachen Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Nutztierschäden, der Anzahl der Wölfe und der Anzahl der Schafe (Kaczensky 1996; Gervasi et al. 2020). Für einige Großkarnivoren wurde ein Zusammenhang zwischen Nutztierschäden und Prädatorendichte nachgewiesen, für andere nicht (Herfindal et al. 2005; Hobbs et al. 2012; Mabille et al. 2015; Widman und Elofsson 2018; Dalerum et al. 2020). Schäden durch Großkarnivoren sind in hohem Maße kontextabhängig. Häufig bestimmen andere Faktoren als die Größe regionaler Großkarnivoren- und Nutztierbestände das Ausmaß der Schäden (Dalerum et al. 2020). Ein Faktor kann die Nutztierdichte in der Weidehaltung sein (Grilo et al. 2019; Pimenta et al. 2018), ein anderer, ob Großkarnivoren nur sporadisch oder regelmäßig in einem Gebiet vorkommen (Widman und Elofsson 2018; Mayer et al. 2022). Ebenso kann das Nahrungsangebot eine Rolle spielen. Sind wilde Huftiere rar, so ist der Anreiz für Wölfe besonders hoch, Nutztiere als Nahrungsquelle zu nutzen. In erster Linie hängt jedoch das Ausmaß der Schäden vor allem damit zusammen, wie gut oder schlecht Nutztiere vor Übergriffen geschützt sind (Kaczensky 1996; Stahl et al. 2002; Gula 2008; Blanco und Cortés 2009; Imbert et al. 2016; Linnell und Cretois 2018; Pimenta et al. 2018; Kirilyuk und Ke 2020; Mayer et al. 2022). Dies gilt insbesondere für kleinere Nutztierarten wie Schafe und Ziegen. In Gebieten, in denen Wölfe vermehrt größere Nutztiere wie Rinder und Pferde angreifen, trifft dies ebenfalls zu (Álvares et al. 2014; Pimenta et al. 2017; BfN und DBBW 2019). Dort, wo Wölfe immer präsent waren und Herdenschutz traditionell zur guten fachlichen Praxis gehört, ist daher das Schadensniveau oft geringer als in Gebieten, in welche sie erst in den letzten Jahrzehnten zurückgekehrt sind (Gervasi et al. 2021).

Bevor wir uns den Studien zur Wirksamkeit von letalen und nicht-letalen Herdenschutzmaßnahmen im Detail zuwenden, werfen wir einen genaueren Blick auf die Nutztierschäden in Deutschland. Die Daten aus den vergangenen 20 Jahren zeigen, dass in Bundesländern mit vielen Wolfsterritorien tendenziell mehr Übergriffe auf Nutztiere stattfinden (Abb. 9.1). Allerdings zeigen die Daten eine hohe Variabilität. Selbst wenige Wölfe können hohe Schäden verursachen, insbesondere bei kleineren Nutztieren wie Schafen und Ziegen. So waren 2019 die Anzahl der Übergriffe auf kleine Nutztiere in Sachsen und Schleswig-Holstein etwa gleich hoch (DBBW 2020b), und das, obwohl Sachsen mit 28 Rudeln und einem Wolfspaar sehr viel mehr Wölfe hatte als Schleswig-Holstein mit 2 territorialen Einzeltieren. Der Schafbestand in Schleswig-Holstein war ca. dreimal so hoch wie in Sachsen (Statistisches Bundesamt 2021). Allein dem ersten territorialen Wolfsrüden in Schleswig-Holstein (GW924m, Pinneberg) konnten in einem Zeitraum von 15 Monaten mehr als 60 Übergriffe auf Schafe zugeordnet werden (SH 2021). Ebenso gibt es große regionale Unterschiede in Bezug auf die betroffenen Nutztierarten. Zum Beispiel sind in Sachsen Übergriffe auf Rinder im Verhältnis zum Wolfsbestand deutlich seltener als in Niedersachsen oder Brandenburg (Abb. 9.1B), obwohl die Größe der Rinderbestände auf der Ebene der Bundesländer vergleichbar ist. Allerdings ist es möglich, dass die räumliche Verteilung der Rinderherden in Weidehaltung innerhalb der Wolfsgebiete unterschiedlich ist.

Abb. 9.1
figure 1

Übergriffe auf Schafe/Ziegen (A) und auf Rinder (B) für die Jahre 2000–2020 im Verhältnis zur Anzahl Wolfsterritorien in den Bundesländern. Die fünf wolfsreichsten Bundesländer sind farbig dargestellt. Die graue Linie kennzeichnet den durchschnittlichen Zusammenhang zwischen der Anzahl Übergriffe und der Zahl der Wolfsterritorien. Die zugrunde gelegten Daten liefern keine Hinweise, ob und in welchem Umfang die Nutztiere zum Zeitpunkt des Übergriffs durch Herdenschutzmaßnahmen geschützt waren. Nach Angaben der Bundesländer (BB = Brandenburg, MV = Mecklenburg-Vorpommern, NI = Niedersachsen, SN = Sachsen, ST = Sachsen-Anhalt)

Fig. 9.1 Wolf attacks on sheep/goats (A) and on cattle (B) for the years 2000-2020 in relation to the number of wolf territories in the federal states. The five federal states with most wolf territories are shown in colour. The grey line indicates the average relationship between the number of attacks and the number of wolf territories. The underlying data do not provide any indication whether and to what extent livestock were protected by herd protection measures at the time of the attack. According to data of the federal states (BB = Brandenburg, MV = Mecklenburg-Western Pomerania, NI = Lower Saxony, SN = Saxony, ST = Saxony-Anhalt)

Schaut man sich die Entwicklungen der Wolfsbestände und der Nutztierschäden für die fünf wolfreichsten Bundesländern genauer an (Abb. 9.2), so fällt auf, dass die Wachstumskurven sehr unterschiedlich verlaufen. Eine nähere Analyse dieser Daten mithilfe einer linearen Regression mit der Anzahl der Übergriffe in Abhängigkeit von der Anzahl der Wolfsterritorien und dem Bundesland (in Interaktion, Abb. 9.3) verdeutlicht zwei Dinge: 1.) Mit der Zunahme der Wolfsterritorien steigen auch die Übergriffe auf Schafe und Ziegen. Für diesen Zusammenhang gibt es eine hohe Evidenz. 2.) Die Stärke des Anstiegs unterscheidet sich zwischen den Bundesländern erheblich. So hat z. B. Niedersachsen im Vergleich zu Brandenburg mehr als doppelt so viele Übergriffe pro Wolfsterritorium und dementsprechend bei der gleichen Anzahl Wolfsterritorien eine erheblich höhere Schadensbilanz. Die Daten aus Deutschland untermauern somit, dass das Ausmaß der Nutztierschäden nicht allein von der Anzahl der Wölfe abhängt. Auch die Anzahl der vorhandenen Schafe in einem Bundesland hatte keinen nachweisbaren Effekt auf die Anzahl der Übergriffe auf Schafe und Ziegen. Es ist daher zu vermuten, dass die Unterschiede im Schadensniveau zum einen mit der unterschiedlichen räumlichen Verteilung der Schaf- und Ziegenbestände zusammenhängen, vor allem jedoch in der unterschiedlichen Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen in den einzelnen Bundesländern begründet sind.

Abb. 9.2
figure 2

Entwicklung der Anzahl Territorien (A) und der Anzahl Übergriffe auf Nutztiere (B) im Verhältnis zum Jahr der Etablierung des ersten Wolfsterritoriums in den fünf wolfsreichsten Bundesländern

Fig. 9.2 Evolution of the number of wolf territories (A) and the number of attacks on livestock (B) in relation to the year of establishment of the first wolf territory in the five federal states with most wolf territories

Abb. 9.3
figure 3

Die auf Basis der realen Wolfs- und Schadenszahlen in einem Modell geschätzte durchschnittliche Entwicklung der Übergriffe auf Schafe/Ziegen in Abhängigkeit von der Anzahl der Wolfsterritorien pro Bundesland (A) und die Anzahl der Übergriffe auf Schafe pro Wolfsterritorium in den einzelnen Bundesländern (gestrichelte Linie = modellgeschätzte durchschnittliche Anzahl Übergriffe in den fünf wolfreichsten Bundesländern) (B)

Fig. 9.3 The average predicted trend in sheep/goat attacks based on real wolf and damage numbers in a model as a function of the number of wolf territories per state (A) and the predicted number of sheep attacks per wolf territory in each state (dashed line = the predicted model-estimated average number of attacks in the five federal states with most wolf territories) (B)

9.4 Eignung verschiedener Managementmaßnahmen für eine nachhaltige Minimierung von Wolfsübergriffen auf Nutztiere

9.4.1 Bejagung von Wölfen

Als Argument für die Notwendigkeit, Wölfe zu bejagen, wird regelmäßig angeführt, dass dadurch Übergriffe auf Nutztiere reduziert werden können. Schauen wir daher zunächst in Gebiete, in denen der Wolf legal bejagt wird. In Europa sind das innerhalb der EU mehrere Staaten, in denen der Wolf in Anhang V der Fauna-Flora- Habitat-Richtlinie (FFH-RL ) gelistet sind, wie z. B. die baltischen Staaten, die Slowakei, Bulgarien und einige Provinzen Spaniens. Allerdings wird der Wolf nicht in allen Staaten/Provinzen, in denen er dem Anhang V der FFH-RL unterliegt, auch bejagt. In Polen ist der Wolf europarechtlich unter Anhang V der FFH-RL gelistet, national ist die Art jedoch streng geschützt und unterliegt nicht dem Jagdrecht. Jährlich werden in Polen aus Managementgründen, z. B. um einer möglichen Gefahr für die menschliche Sicherheit vorzubeugen oder in Gebieten mit einer deutlichen Häufung von Schäden, einzelne Wölfe per Sondergenehmigung zum Abschuss frei gegeben (Reinhardt et al. 2013). In Staaten, in denen der Wolf in Anhang IV der FFH-RL gelistet ist, sind Abschüsse nur im Rahmen von eng definierten Ausnahmeregelungen erlaubt (European Commission 2021).

Versuche, Nutzierübergriffe mittels einer Wolfs-Abschussquote zu reduzieren, gab es in mehreren Ländern. Betrachtet man die wolfsverursachten Nutztierschäden in Europa, so ist nicht erkennbar, dass in Ländern, in denen der Wolf bejagt wird, die Schäden geringer ausfallen als in solchen, in denen dies nicht der Fall ist (vergleiche Daten in Linnell und Cretois 2018). Fernandez-Gil et al. (2016) zeigten für die spanische Provinz Asturias, dass durch legale Abschüsse die durch Wölfe verursachten Nutztierschäden nicht zurückgingen. In einem Vergleich der verschiedenen Wolfs-Managementsysteme spanischer Provinzen und der Höhe der Nutztierschäden gab es ebenfalls keinen Anhaltspunkt dafür, dass in den Provinzen mit Bejagung die Nutztierschäden reduziert würden. Auch die Höhe des Wolfsbestandes war nicht ausschlaggebend für das Schadensausmaß. Viel entscheidender war die Haltungsform der Tiere (Blanco und Cortés 2009). In Slowenien wurde jährlich eine bestimmte Anzahl Wölfe zum Abschuss frei gegeben, mit dem erklärten Ziel, die Nutztierübergriffe zu reduzieren. Allerdings konnte auch nach 15 Jahren der gewünschte Effekt nicht festgestellt werden (Krofel et al. 2011). Das zeigen auch Linnell und Cretois (2018) in einem Vergleich der Nutztierschäden zwischen Norwegen und Schweden: Pro Kopf tötet ein Wolf in Norwegen etwa 40-mal so viele Schafe wie in Schweden – und das, obwohl nur 7 % des norwegischen Schafbestandes innerhalb des dortigen Wolfsgebietes gehalten werden. In Schweden sind es gut 50 % der Schafherden, die sich innerhalb des Wolfsgebietes befinden. Der Hauptunterschied ist, dass schwedische Schafe hinter Zäunen (meist hinter Elektrozäunen) gehalten werden, während norwegische Schafe frei und ungeschützt weiden.

In den USA ist es noch immer gängige Praxis, Wölfe zu töten, um Übergriffe auf Nutztiere zu verhindern (Bergstrom 2017; Vucetich et al. 2017). Mehrere Analysen von wolfsverursachten Nutztierschäden und Wolfsabschüssen in Nordamerika kommen zu dem Schluss, dass Wolfsabschüsse im Zusammenhang mit Nutztierübergriffen, zwar reaktiv, jedoch nicht präventiv sind (Musiani et al. 2005; Harper et al. 2008; Muhly et al. 2010). Das heißt, je höher die Schäden waren, desto mehr Wölfe wurden erlegt. Dies hatte jedoch keinen längerfristigen Effekt und führte nicht zu einer Reduktion der Schäden, weder im selben Jahr noch im Folgejahr.

Kurzfristig kann das Nachstellen durchaus einen Effekt haben. Dieser kann teilweise sogar dann nachgewiesen werden, wenn die Versuche, einen Wolf zu töten, erfolglos waren (Harper et al. 2008; Vogt et al. 2022). Allein die vermehrte Anwesenheit von Menschen an den betroffenen Weiden kann eine abschreckende Wirkung haben und die Übergriffe auf diesen Weiden vorübergehend reduzieren (Stone et al. 2017). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch eine Untersuchung aus Frankreich (Plisson 2011 zitiert in Grente et al. 2020). In Michigan (USA) führte das Töten von Wölfen auf Farmen mit Nutztierübergriffen zwar in einigen Fällen zu einem Rückgang der Schäden auf diesen Farmen, jedoch stiegen die Schäden auf den benachbarten Farmen gleichzeitig an (Santiago-Avila et al. 2018). Dies spricht für einen Vergrämungseffekt, der das Problem nur räumlich verlagerte, jedoch nicht löste.

Eine weitere nordamerikanische Untersuchung beschäftigte sich mit dem Effekt von Wolfstötungen auf das erneute Wiederauftreten von Nutztierübergriffen über einen Zeitraum von 20 Jahren. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass es [in der Abwesenheit von Herdenschutzmaßnahmen] kaum einen Unterschied gab, ob kein Tier oder mehrere Tiere eines Rudels getötet wurden (Bradley et al. 2015). Laut dieser Studie gab es einen deutlichen Effekt nur dann, wenn das gesamte Rudel eliminiert wurde. Dieser Effekt kam dadurch zustande, dass es mehrere Jahre dauerte, bis sich ein neues Rudel in diesem Gebiet etablierte. Da ein nicht vorhandenes Wolfsrudel auch keine Schäden verursachen kann, ist es genau genommen unzulässig, die Wirksamkeit von Abschüssen als Herdenschutzmethode in einem wolfsfreien Gebiet zu proklamieren (Santiago-Avila et al. 2018), auch wenn der Ausgang für den Tierhalter im Endeffekt der gewünschte war.

Das geplante Entfernen ganzer Rudel ist eine umstrittene Maßnahme, die bei Teilen der Bevölkerung auf große Ablehnung stößt (Eklund et al. 2017) und zudem in Deutschland rechtlich nicht zulässig ist. Zudem ist davon auszugehen, dass es in Gebieten mit flächendeckender Wolfspräsenz nur einige Wochen bis wenige Monate dauert, bis ein vakant gewordenes Territorium von einem neuen Wolfspaar besetzt oder von den Nachbarrudeln übernommen wird (Reinhardt und Kluth 2015).

In einer Meta-Analyse vorhandener Studien stellten Santiago-Avila et al. (2018) fest, dass es bis dato keine wissenschaftlich robuste Studie aus den USA gibt, die belegen konnte, dass das Töten von Wölfen tatsächlich den gewünschten Effekt erzielte, zukünftige Nutztierübergriffe zu verhindern. Solange ungeschützte Nutztiere zur Verfügung stehen, werden neu zugewanderte Wölfe früher oder später ebenfalls dieses Nahrungsangebot nutzen. Seit Jahren fordern daher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von den US-Behörden ein evidenzbasiertes Wolfsmanagement, für das Maßnahmen ausgewählt werden, die nach wissenschaftlicher Datenlage tatsächlich dafür geeignet sind, das gewünschte Ziel zu erreichen (Treves et al. 2016; Bergstrom 2017; Vucetich et al. 2017; Santiago-Avila et al. 2018; van Eeden et al. 2018b).

9.4.2 Selektive Einzelabschüsse von Wölfen

Die Antwort des Menschen auf Konflikte mit Wildtieren bestand lange Zeit darin, schadenstiftende Wildtiere wie Bär, Wolf und Luchs stark zu reduzieren oder ganz auszurotten, wie dies in Deutschland geschah. Inzwischen sind die Wiederkehr und der Schutz von Großkarnivoren jedoch gesellschaftlich gewollt, und im Bereich des Managements dieser Tierarten hat ein Umdenken hin zu selektiven Entnahmen stattgefunden (Swan et al. 2017). Mit „Entnahme“ ist in der Regel die Tötung eines Tieres gemeint. Solche selektiven Tötungen sollen sich gezielt gegen das schadensverursachende Tier richten. In der wissenschaftlichen Literatur gibt es allerdings nur wenige Beispiele zum Einsatz selektiver Wolfsentnahmen als Mittel zur Reduzierung von Nutztierschäden. Eine Studie aus Montana kommt zu dem Ergebnis, dass im Gegensatz zur allgemeinen Bejagung gezielte Entnahmen durchaus einen Effekt auf das Wiederauftreten von Übergriffen haben (DeCesare et al. 2018), ohne dass jedoch genauer ausgeführt wird, wie diese gezielten Entnahmen durchgeführt wurden. Eine aktuelle Studie konnte zeigen, dass in der Schweiz Einzelabschüsse von schadstiftenden Wölfen die Nutztierschäden kurz- und mittelfristig reduzierten (Vogt et al. 2022). Die Autoren schränken jedoch ein, dass die meisten Fälle aus der frühen Besiedlungsrate der Schweiz stammen, es in den betroffenen Gebieten nach den Abschüssen längere Zeit keine Zuwanderung von Wölfen gab und die Ergebnisse daher nicht ohne Weiteres auf Regionen mit flächiger Wolfspräsenz übertragbar sind.

Vor der Entscheidung, eine Abschussgenehmigung für eine streng geschützte Tierart zu erteilen, muss u. a. geprüft werden, ob es eine zumutbare Alternative dazu gibt (FFH-RL Art. 16/§ 45 BNatSchG). In Deutschland wurde im März 2020 der Paragraph 45 des BNatschG, der die Ausnahmen zur Entnahme streng geschützter Arten regelt, um einen Passus für den Wolf ergänzt. § 45a Abs. 2 BNatSchG enthält nun die rechtliche Grundlage speziell für den Abschuss von Wölfen, die Nutztiere trotz zumutbarer Herdenschutzmaßnahmen wiederholt töten und dadurch ernste landwirtschaftliche Schäden verursachen.

Eine fachliche Definition des für Deutschland empfohlenen zumutbaren Herdenschutzes hat das BfN herausgegeben (BfN und DBBW 2019). Zudem erarbeiteten Bund und Länder im Jahr 2021 den „Praxisleitfaden zur Erteilung artenschutzrechtlicher Ausnahmen nach §§ 45 und 45a BNatSchG beim Wolf, insbesondere bei Nutztierrissen“, in dem die formell-rechtlichen Anforderungen für die Entnahme von Wölfen betrachtet werden. Dies beinhaltet eine juristische Betrachtung des Kriteriums „Zumutbarkeit“. Durch dieses Kriterium soll prinzipiell dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit Rechnung getragen werden. Die letztlich heranzuziehenden zumutbaren Alternativen müssen jeweils von den Ländern im Rahmen ihrer Zuständigkeit für den Vollzug des BNatSchG festgelegt werden. Allerdings interpretieren die Bundesländer bisher sehr unterschiedlich, was hinsichtlich des Herdenschutzes als zumutbare Alternative anzusehen ist.

Die rechtliche Voraussetzung für die gezielte Entnahme von Wölfen, die nachweislich empfohlene Herdenschutzmaßnahmen überwinden, ist in Deutschland somit vorhanden. Inwiefern eine solche Entnahme praktikabel und zielführend ist, wurde von Swan et al. (2017) näher beleuchtet. Die Autoren entwickelten hierfür einen konzeptionellen Rahmen, der die empfohlenen Abwägungsschritte für die Entscheidung illustriert. Anhand dieses Konzepts kann überprüft werden, ob eine selektive Tötung tatsächlich die geeignete Methode ist, um das Problem zu lösen. (Abb. 9.4).

Abb. 9.4
figure 4

Evaluation von selektiven Tötungen mod. nach Swan et al. (2017). Die empfohlenen Phasen der selektiven Tötung sind in der oberen Zeile dargestellt, in der Mitte die Fragen zur Durchführbarkeit, und unten sind die Methoden zur Beantwortung der Fragen aufgeführt

Fig. 9.4 Evaluation of selective killing mod. according to Swan et al. (2017). The recommended stages of selective killing are shown in the top row, the feasibility questions are in the middle, and the methods for answering the questions are listed below

Im Folgenden wird dieses Schema am Beispiel eines selektiven Abschusses, der zum Ziel hat, die Nutztierschäden in einem Gebiet zu reduzieren, dargestellt. Grundlage für eine entsprechende Abschussgenehmigung wären in diesem Beispiel wiederholte Übergriffe auf Nutztiere trotz empfohlener Schutzmaßnahmen:

Können die Schäden einem oder wenigen Individuen zugeschrieben werden?

Mit den heutigen molekular-genetischen Methoden ist es gut möglich, das schadensverursachende Tier im Labor zu identifizieren. Jährlich werden im Senckenberg Zentrum für Wildtiergenetik tausende nicht-invasive Proben auf Wolfs-DNA untersucht, über die Hälfte davon sind Tupferproben, die an toten Nutztieren genommen werden. An den Bissstellen hinterlässt der Verursacher Speichel und damit Spuren seines Erbguts. Ein Wolf, der wiederholt Nutztiere tötet, wird bei einem entsprechend angelegten Monitoring selbst dann identifiziert, wenn einzelne Tupferproben nicht funktionieren.

Ist es möglich, das Individuum im Feld korrekt zu identifizieren?

Es ist eine Sache, das Individuum im Labor genetisch zu identifizieren und ihm eine eindeutige individuelle Kennnummer zuzuweisen, und eine andere, dasselbe Individuum in freier Wildbahn zu erkennen. Bei anderen Beutegreifern, die einzeln leben, oder solchen mit einem eindeutigen Fellmuster mag dies gelingen. Bei Rudeltieren wie Wölfen ist es schwierig. Selbst wenn bspw. die Elterntiere auf Fotos für Geübte gut von den Jungtieren zu unterscheiden sind, ist die Situation bei Sichtungen im Freiland eine andere. Die Beobachtung ist oft sehr kurz und meist auf größere Entfernung, die Tiere bewegen sich, die Lichtverhältnisse sind i. d. R. suboptimal. Wenn der betreffende Wolf über keine eindeutigen Kriterien der individuellen Erkennbarkeit verfügt (z. B. mit einem Senderhalsband versehen oder mit einem besonderen eindeutigen körperlichen Merkmal ausgestattet), muss die Entnahme in einem engen zeitlichen und räumlichen Zusammenhang mit dem Schadensereignis vollzogen werden, um die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, das schadensverursachende Individuum zu töten. Nach erfolgreichen Übergriffen versucht es ein Wolf nicht selten an derselben Herde erneut: In einer Untersuchung aus Schweden war das Risiko eines erneuten Übergriffs in einem Umkreis von etwa 1 km in den ersten drei Wochen nach einem Übergriff besonders hoch (Karlsson und Johansson 2010). Es ist daher zielführend, eine Abschussgenehmigung auf einen engen Radius von etwa 1 km um die betroffene Weide und einen Zeitraum von maximal drei Wochen zu begrenzen, um so die Wahrscheinlichkeit zu maximieren, das schadensverursachende Individuum zu töten.

Wird die gezielte Entfernung dieses Tieres das Problem lösen?

Zunächst muss geprüft werden, ob und inwieweit die Nutztiere vor Wolfsübergriffen geschützt waren. Eine Entnahme wird nur dann den gewünschten nachhaltigen Effekt haben, wenn in dem betroffenen Gebiet ein Wolf trotz fachgerecht geschützter Nutztiere gelernt hat, empfohlene Herdenschutzmethoden zu überwinden, und dieses Individuum dann gezielt getötet wird. Somit kommt der Umsetzung effektiver Herdenschutzmaßnahmen eine maßgebliche Rolle zu. Dagegen wird in einem Gebiet mit vielen ungeschützten Nutztieren ein selektiver Abschuss, wenn überhaupt, nur eine kurzfristige Wirkung haben. Hier ist es nur eine Frage der Zeit, bis der nächste Wolf ungeschützte oder schlecht geschützte Nutztiere tötet. In einer solchen Situation bringt nicht die Wolfstötung die gewünschte nachhaltige Reduktion von Schäden, sondern die flächendeckende Anwendung von wirksamen Herdenschutzmaßnahmen.

Können durch die Entnahme unerwünschte Nebeneffekte eintreten?

Mögliche unerwünschte Nebeneffekte eines Abschusses sollten mitbedacht werden, speziell wenn dadurch eine Veränderung der Rudelstruktur herbeigeführt wird. Handelt es sich um ein Elterntier, das Welpen versorgt, wird sich durch den Abschuss der Druck auf das verbliebene Elterntier erhöhen, ausreichend Nahrung für die Welpen herbeizuschaffen. Das verbliebene Elterntier wird versuchen, an möglichst einfach verfügbare Nahrung zu gelangen. Dadurch erhöht sich in einem Gebiet mit ungeschützten Schafen die Wahrscheinlichkeit, dass durch den Abschuss die Schäden sogar zunehmen (Fernandez-Gil et al. 2016; Fabbri et al. 2018).

Kann die Ausrichtung auf eine Einzelentnahme helfen, soziale Ziele zu erreichen?

Verschiedene Bevölkerungsgruppen haben unterschiedliche, teils gegensätzliche Einstellungen gegenüber dem Wolf (Lehnen et al. 2021). Interessengruppen, die direkt und negativ von Wölfen beeinträchtigt werden, fordern häufig eine Bejagung oder vereinfachte Genehmigungsverfahren für Abschüsse (Treves et al. 2013), während naturschutzorientierte Gruppen solchen Maßnahmen kritisch gegenüberstehen (Swan et al. 2017). Im Allgemeinen wird davon ausgegangen, dass die gezielte Entnahme von wenigen Individuen auch bei denjenigen, die eine generelle Bejagung ablehnen, auf größeres Verständnis treffen wird (Linnell 2011; Vogt et al. 2022). Insofern kann die gezielte Tötung eines einzelnen, schadenstiftenden Wolfs ein Kompromiss sein, der beiden Gruppen entgegenkommt.

9.4.3 Nicht-letale Herdenschutzmaßnahmen

Um Übergriffe von Wölfen auf Nutztiere zu reduzieren, sind nicht-letale Herdenschutzmethoden deutlich effektivier als letale Entnahmen (McManus et al. 2014; Miller et al. 2016; Treves et al. 2016; Stone et al. 2017; van Eeden et al. 2018b; Bruns et al. 2020). Farmen in Idaho, USA, die nicht-letale Formen von Herdenschutzmethoden einsetzten, konnten Nutztierübergriffe durch Wölfe dreimal stärker reduzieren als Farmen, welche nur letale Entnahmen anwandten (Stone et al. 2017). Auch die Erfahrungen aus Europa zeigen, dass korrekt angewandte nicht-letale Herdenschutzmaßnahmen den Verlust von Nutztieren durch Großkarnivoren drastisch reduzierten (Linnell und Cretois 2018). Der Effekt ist besonders deutlich, wenn sie gezielt in Prädations-Hotspots eingesetzt werden (Pimenta et al. 2018).

Bewährt haben sich elektrische Zäune, die Kombination von elektrischen Zäunen und Herdenschutzhunden und für frei weidende Schafe eine Behirtung in Kombination mit wolfsabweisenden Nachtpferchen und ggf. Herdenschutzhunden (z. B. Espuno et al. 2004; Salvatori und Mertens 2012; Linnell und Cretois 2018; Ricci et al. 2018; Khorozyan und Waltert 2019; Bruns et al. 2020). Insbesondere bei Rindern ist die Umstellung des Herdenmanagements (Geburtensynchronisation und besonderer Schutz der jungen Kälber) eine weitere erfolgreiche Maßnahme (Breck et al. 2011; Álvares et al. 2014; Pimenta et al. 2017). Als Sofort-Maßnahme sind für einen begrenzten Zeitraum auch rein visuelle Barrieren wie Lappenzäune effektiv (Musiani et al. 2003; Davidson-Nelson und Gehring 2010; Stone et al. 2017; Iliopoulos et al. 2019; Bruns et al. 2020). Inzwischen ist eine Kombination aus Lappen- und Elektrozaun entwickelt worden (sogenannte Turbo-Fladry), durch die Wolfsübergriffe ebenfalls erfolgreich reduziert werden (Lance et al. 2010; Stone et al. 2017). In den zweimal jährlich erscheinenden Carnivore Damage Prevention News (http://www.protectiondestroupeaux.ch/cdpnews/) finden sich viele Fallbeispiele und Erfahrungsberichte aus der Praxis rund um das Thema Herdenschutz.

Allerdings zeigten mehrere Studien, dass insbesondere Elektrozäune häufig nicht korrekt aufgebaut und gewartet werden (Wam et al. 2003 zit. nach Linnell und Cretois 2018; Krofel et al. 2011; Frank und Eklund 2017), wodurch ihre Schutzwirkung eingeschränkt ist. Auch in Deutschland betrifft ein Großteil der wolfsverursachten Schäden nicht oder nicht korrekt geschützte Nutztiere (BfN und DBBW 2019; DBBW 2020b, 2021). So waren in einigen Bundesländern in über 80 % der Wolfsübergriffe auf Schafe keine korrekt angewandten Herdenschutzmaßnahmen vorhanden. Es ist daher unabdingbar, dass Herdenschutzmaßnahmen nicht nur gefördert werden, sondern auch sichergestellt wird, dass sie korrekt angewandt werden (Linnell et al. 2012; Berce und Černe 2020).

Die große Herausforderung besteht darin, Anreize für Tierhaltende zu schaffen, um deren Motivation zu erhöhen, Herdenschutzmaßnahmen korrekt anzuwenden und in Stand zu halten (Linnell und Cretois 2018). Wenn es zu vermehrten Übergriffen auf Nutztiere kommt, brauchen die Betroffenen rasche Abhilfe. Eine sachgerechte Überprüfung der bestehenden Schutzmaßnahmen und die zeitnahe logistische Unterstützung für einen verbesserten Schutz, etwa durch Notfallzaunsets, sollten erste Priorität für amtliche Stellen sein.

9.4.4 Zusammenfassung der Datenlage zur Eignung verschiedener Managementmaßnahmen für eine Minimierung von Wolfsübergriffen auf Nutztiere

Obwohl in vielen Teilen der Welt Großkarnivoren traditionell mit dem Ziel getötet werden, Übergriffe auf Nutztiere zu verhindern (Treves 2019), gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass dadurch die Schäden deutlich verringert werden, es sein denn, der Wolfsbestand wird drastisch reduziert oder ganz ausgelöscht (Bjorge und Gunson 1985; Musiani et al. 2005; Krofel et al. 2011; Linnell und Cretois 2018). Eine generelle Bejagung von Wölfen, ohne sie großflächig auszurotten, ist offensichtlich kein geeignetes Mittel, um Nutztierschäden in Deutschland zu verringern. Getötete Wölfe werden rasch wieder durch Reproduktion oder Neuzuwanderer ersetzt, und auch diese Wölfe werden ungeschützte Weidetiere als Nahrungsquelle entdecken und nutzen, wenn keine geeigneten Herdenschutzmaßnahmen umgesetzt werden.

Auch die häufig geäußerte Idee, bestimmte Gebiete frei von Wölfen zu halten (BSZ 2017; Bauernbund Brandenburg 2018; CDU/CSU 2018), ist nicht zielführend, um Nutztierübergriffe zu reduzieren. Erstens ist dies gegenwärtig mit der rechtlichen Situation unvereinbar (Trouwborst 2018). Zweitens können auch durchwandernde Wölfe erhebliche Schäden an ungeschützten Weidetieren verursachen (Imbert et al. 2016; Mayer et al. 2022). Dies zeigen auch Daten aus Deutschland (vergleiche DBBW 2016–2020; NLWKN 2021; Mayer et al. 2022). Das Schadensniveau kann in einem solchen Gebiet entsprechend hoch bleiben, auch wenn eine Ansiedlung von Wölfen durch kontinuierliche Abschüsse verhindert wird.

Im Gegensatz zu einer undifferenzierten allgemeinen Bejagung des Wolfs kann die gezielte Entnahme von Einzeltieren wirksam sein (Swan et al. 2017). Allerdings haben Einzelfallentnahmen nur dann einen nachhaltigen Effekt, wenn es sich tatsächlich um Individuen handelt, die gelernt haben, funktionstüchtige Schutzmaßnahmen zu überwinden und die sich damit Zugang zu Nutztieren verschaffen, die vor anderen Wölfen in der Region sicher sind. Ansonsten werden auch durch selektive Entnahmen die Schäden, wenn überhaupt, nur vorübergehend verringert (Stahl et al. 2001; Blejwas et al. 2002; Stahl et al. 2002). Zudem ist es sehr schwierig, in der freien Natur ein bestimmtes Individuum sicher zu identifizieren (Linnell et al. 1999; Stahl et al. 2002; Lennox et al. 2018). Dies zeigen auch die bisherigen Erfahrungen aus Deutschland. Selbst in einem Gebiet mit nur einem territorialen Einzelwolf kann sich der Abschuss dieses Tieres als unerwartet schwierig gestalten (Mayer et al. 2022). Um zu gewährleisten, dass mit hoher Wahrscheinlichkeit tatsächlich das schadensverursachende Tier erlegt wird, müssen solche Abschüsse in engem räumlichem und zeitlichem Zusammenhang mit dem Schadensfall stehen (Treves und Naughton-Treves 2005). Sowohl die FFH RL als auch das Bundesnaturschutzgesetz lassen letale Entnahmen nur dann zu, wenn es keine zumutbaren Alternativen gibt. Empfohlene Herdenschutzmaßnahmen werden in aller Regel als zumutbare Alternative betrachtet. In den seltenen Fällen, in denen ein Wolf nachweislich gelernt hat, empfohlene Schutzmaßnahmen zu überwinden, kann eine selektive Entnahme tatsächlich zur Konfliktlösung beitragen.

Die Datenlage der hier ausgewerteten Quellen zeigt eindeutig: Der einzige Weg, um in Koexistenz mit den Wölfen in breiter Fläche eine dauerhafte Reduktion von Schäden an Nutztieren zu erreichen, ist die fachgerechte Umsetzung von Herdenschutzmaßnahmen. Übergriffe auf Nutztiere lassen sich zwar auch dadurch nicht vollständig verhindern. Sie können jedoch durch korrekt angewandte Herdenschutzmaßnahmen deutlich reduziert werden. Die Wirksamkeit von nicht-letalen Herdenschutzmaßnahmen zur Verhinderung von Übergriffen auf Nutztiere ist eindeutig stärker belegt als der Effekt letaler Methoden (Miller et al. 2016; Treves et al. 2016; Eklund et al. 2017; Lennox et al. 2018; Moreira-Arce et al. 2018; van Eeden et al. 2018a, b; Treves 2019). Es gibt daher einen breiten Konsens in der Wissenschaft, dass nicht-letale Methoden zur Verringerung von Nutztierübergriffen durch große Karnivoren nicht nur effektiver, sondern aus ökologischen, rechtlichen und wildtierpolitischen Gründen vertretbarer und gesellschaftlich tolerierter sind als letale Methoden (Bergstrom 2017; Stone et al. 2017; Vucetich et al. 2017; Bruns et al. 2020)

9.5 Der Weg zu einem evidenzbasierten und lösungsorientierten Wolfsmanagement

Wissenschaft und Praxis liefern Daten, Erkenntnisse und Erfahrungen über die gesamte Bandbreite der Managementmaßnahmen, die technisch möglich sind. Jedoch gibt die Wissenschaft nicht vor, was richtig oder falsch, gut oder schlecht ist. So kommt die Wissenschaft nicht per se zu dem Schluss, dass es notwendig oder sogar angemessen ist, Wölfe zu bejagen (Vucetich et al. 2017). Die Antwort auf die Frage, ob Wölfe bejagt werden sollten, ergibt sich aus den Zielen und Wertevorstellungen der Gesellschaft, die in gesetzlichen Regelwerken ihren Widerhall finden. In diesem Text geht es unter anderem um die Frage, ob der Wolf bejagt werden muss, um bestimmte Ziele zu erreichen. Wie gezeigt wurde, ist dies für eine nachhaltige Verringerung der wolfsverursachten Nutztierschäden nicht der Fall.

9.5.1 Klare Zielvorgabe für das Management

Zunächst ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen, was das primäre Ziel einer Managementmaßnahme ist. Dieses sollte klar definiert und dann die dafür passenden Maßnahmen gewählt werden. Auf Basis verfügbarer wissenschaftlicher Erkenntnisse muss bereits vorab evaluiert werden, ob die in Frage kommenden Maßnahmen überhaupt geeignet sind, das Ziel zu erreichen, insbesondere dann, wenn diese auch das Töten von empfindungsfähigen und noch dazu streng geschützten Tieren beinhalten. Um überprüfen zu können, wie wirksam die gewählten Managementmaßnahmen in der konkreten Situation sind, in der sie zum Einsatz kommen, werden Kriterien zur Bewertung des Erfolgs oder Misserfolgs benötigt.

In dem hier dargelegten Beispiel ist das Managementziel eine deutliche und nachhaltige Minimierung der Anzahl von Wolfsübergriffen auf Nutztiere. Das gesamtgesellschaftliche Anliegen, die Weidetierhaltung auch in Wolfsgebieten zu erhalten, lässt sich nur umsetzen, wenn die Tierverluste mit einem vertretbaren Aufwand auf ein Minimum reduziert werden können. Kein Tierbesitzer möchte in der Ungewissheit leben und arbeiten, seine Tiere tot auf der Weide vorfinden zu müssen. Die Tierhaltenden müssen die Gewissheit haben, dass ihre Erwerbsgrundlage durch die Anwesenheit von Wölfen nicht infrage gestellt wird. Sie müssen sich darauf verlassen können, dass die Managementmaßnahmen, die zu einer Minimierung von Wolfsübergriffen auf Nutztiere führen sollen, effektiv sind. Kriterien zur Erfolgskontrolle dieser Managementmaßnahmen können konkrete Werte sein, unter welche die Anzahl der Übergriffe innerhalb einer bestimmten Zeit und Gebietskulisse gesenkt werden sollen (Tab. 9.1). Diese Zielgrößen müssen nicht starr sein. So könnten zum Beispiel in Gebieten, in die Wölfe neu einwandern, für eine Übergangsfrist andere Kriterien gelten als in Gebieten mit jahrelanger Wolfspräsenz. Die gesetzten Zielmarken dienen dem Wolfsmanagement als Erfolgskontrolle. Sie ermöglichen es, gezielt dort nachzusteuern und Ressourcen zu bündeln, wo die anvisierten Zielmarken deutlich verfehlt und damit das Ziel nicht erreicht wurde.

Tab. 9.1 Prinzip eines lösungsorientierten Wildtiermanagements am Beispiel des Wolf-Nutztier-Konfliktes

9.5.2 Geld allein hilft nicht

In Deutschland steigen die jährlichen Ausgaben der Bundesländer für Schadensausgleich wie für Präventionsmaßnahmen stetig an (DBBW Schadensberichte 2016–2021). Dies ist in einer schnell wachsenden Wolfspopulation nicht verwunderlich, da neue Gebiete von Wölfen besiedelt und ein immer größer werdender Personenkreis von Nutztierhaltenden damit konfrontiert wird, ihre Tiere vor Übergriffen schützen zu müssen. Die Ausgaben für Herdenschutz lagen zuletzt um das 10- bis 20-fache höher als die Summen für Schadensausgleich (DBBW 2020b, 2021). Dies zeigt, dass die Bundesländer den Schwerpunkt auf die Prävention der Nutztierschäden legen, was ausdrücklich zu begrüßen ist. Mittlerweile fördern alle Bundesländer mit Wolfsterritorien Herdenschutzmaßnahmen.

Allerdings finden Nutztierübergriffe nicht nur in Gebieten statt, in denen Wölfe durchwandern oder die neu besiedelt werden. Auch in Gebieten, in denen bereits seit mehreren Jahren Wölfe leben, kommt es lokal noch immer zu Übergriffen. Teilweise können Prädations-Hotspots über mehrere Jahre bestehen bleiben. Offenbar ist die Auszahlung von Fördergeldern für Herdenschutzmittel allein nicht ausreichend, um die Anzahl der Übergriffe deutlich zu senken. Diese Erkenntnis ist weder neu noch für Deutschland exklusiv. Eine stichprobenartige Überprüfung von geförderten „raubtierabweisenden“ Zäunen in Schweden ergab das ernüchternde Ergebnis, dass 86 % Prozent der Zäune nicht funktionstüchtig waren (Frank und Eklund 2017). Ähnliche Erfahrungen gibt es auch aus anderen Ländern (Krofel et al. 2011). Also muss neben den finanziellen Mitteln auch die fachliche Expertise für die korrekte Anwendung und Wartung zur Verfügung stehen und die Funktionstüchtigkeit von Schutzmaßnahmen routinemäßig überprüft werden (Linnell et al. 2012; Khorozyan und Waltert 2019b). Idealerweise entwickelt sich unter den Tierhaltenden eine hohe Fachkompetenz und Eigenmotivation, den Herdenschutz effektiv und sicher umzusetzen. Dies geschieht jedoch nicht von heute auf morgen.

9.5.3 Wirksamkeit von Schutzmaßnahmen prüfen

In der Auswertung der wissenschaftlichen Literatur ist deutlich geworden, dass nicht-letale Herdenschutzmaßnahmen, die darauf abzielen, Wölfen den Zugang zu Nutztieren zu verwehren, wirksamer sind als Abschüsse. Dennoch ist davon auszugehen, dass es zwischen den verschiedenen Schutzmaßnahmen Unterschiede in der Wirksamkeit gibt. Voraussetzung für einen Vergleich der Effektivität verschiedener Herdenschutzmethoden sind Daten zur Funktionstüchtigkeit der im Einsatz befindlichen Maßnahmen. Allerdings gibt es bis heute aus Deutschland, abgesehen von kleinen Einzelfallstudien (Hartleb et al. 2017; Kamp 2021), keine aussagekräftigen Untersuchungen dazu, wie viel Prozent der geförderten Herdenschutzmaßnahmen im Einsatz tatsächlich funktionstüchtig sind. Vor dem Hintergrund stetig steigender Ausgaben für Präventionsmaßnahmen und der prekären finanziellen Situation von Schäferinnen und Schäfern ist diese Diskrepanz schwer verständlich. Wenn nicht klar ist, ob die geförderten Herdenschutzmaßnahmen funktionstüchtig angewandt werden, können auch keine Aussagen zur unterschiedlichen Effektivität verschiedener Herdenschutzmaßnahmen getroffen werden. In der Regel werden Angaben zu vorhandenen Schutzmaßnahmen während der Begutachtung von geschädigten Nutztieren aufgenommen. Allerdings ist es im Nachhinein oft schwierig festzustellen, ob die Schutzmaßnahmen zum Zeitpunkt eines Angriffs ordnungsgemäß funktioniert hat. Daher sind stichprobenartige Kontrollen, unabhängig vom Auftreten von Übergriffen, erforderlich, um ausreichende Daten über die Funktionalität von Präventionsmaßnahmen zu erhalten. Dies ist nicht als Kontrolle der Tierhaltenden zu verstehen, sondern notwendig, um die Ursachen von Übergriffen besser beurteilen und in der Folge abstellen zu können. Solche Kontrollen müssen mit viel Fingerspitzengefühl durchgeführt werden, um Misstrauen oder Ressentiments zu vermeiden. Der Zweck der Schadensverhütung und des Schadensausgleichs besteht schließlich darin, Missstände zu mildern und nicht zu verschlimmern. Andererseits sind Kontrollen gerechtfertigt, wenn Präventionsmaßnahmen mit öffentlichen Geldern finanziert werden. Es ist wichtig, dass Nutztierhaltende verstehen, dass das Ziel darin besteht, die wirksamsten Präventionsmaßnahmen zu ermitteln und so die Schäden zu minimieren. Die informierte Zustimmung zu solchen Kontrollen sollte Bestandteil der Finanzierungsunterlagen und der mit den Nutztierhaltenden unterzeichneten Vereinbarungen sein (Rigg 2022).

Einige Bundesländer führen in ihren Schadensstatistiken an, ob bei einem Wolfsübergriff ein „Mindestschutz“ vorhanden war. Der sogenannte Mindestschutz ist ein Kompromiss zwischen dem Aufwand des Tierhalters und der Sicherheit gegenüber Wolfsangriffen. Die Vorgaben für den Mindestschutz sind entsprechend geringer als für den empfohlenen Herdenschutz und unterscheiden sich teilweise zwischen den Bundesländern. In der Regel ist ein Mindestschutz nur bei Schafen, Ziegen und Gatterwild als Voraussetzung für Ausgleichszahlungen im Schadensfall definiert (Details dazu sind in den jährlichen Berichten zu Prävention und Nutztierschäden ausgeführt: https://dbb-wolf.de/mehr/literatur-download/berichte-zu-praevention-und-nutztierschaeden). Die Angabe, ob ein Mindestschutz vorhanden war, sagt nichts darüber aus, ob ein Zaun zum Zeitpunkt des Übergriffs funktionstüchtig war und ob dieser durch den Wolf oder von den Schafen überwunden wurde. Ein technisch funktionstüchtiger Zaun verliert seine Wirksamkeit, wenn die gekoppelte Fläche zu klein ist und die Schafe darin einer potenziellen Bedrohung nicht ausweichen können und ausbrechen.

Um zu verstehen, warum trotz steigender Präventionsausgaben die Nutztierschäden teilweise auch in Gebieten mit jahrelanger Wolfspräsenz nicht zurückgehen, sind Daten zur Funktionstüchtigkeit der geförderten Schutzmaßnahmen notwendig. Erst auf Basis dieser Daten lassen sich Aussagen zu möglichen Unterschieden in der Wirksamkeit verschiedener Schutzmaßnahmen treffen. Zudem kann durch solche Untersuchungen überprüft werden, ob die Verwendung öffentlicher Mittel für die Förderung von fachlich empfohlenen Herdenschutzmaßnahmen eine sinnvolle Investition darstellt (van Eeden et al. 2018b). Empfehlungen dazu, wie entsprechende Untersuchungen mit einem robusten und zuverlässigen Studiendesign entwickelt werden sollten, finden sich bei van Eeden et al. (2018b), Treves (2019), Treves et al. (2019), Louchouarn et al. (2020), Oliveira et al. (2021). Neben der Untersuchung der rein technischen Aspekte des Herdenschutzes ist es ebenso wichtig herauszufinden, wie die Akzeptanz gegenüber Herdenschutzmaßnahmen bei den Tierhaltenden verbessert und deren Eigenmotivation erhöht werden kann. Auch die effektivste Schutzmaßnahme bleibt nutzlos, wenn sie nicht angewandt wird. Nutztierhaltende sollten daher schon in die Konzeption entsprechender Projekte mit eingebunden werden, um sicherzustellen, dass die Fragen untersucht werden, deren Beantwortung für sie am dringendsten ist. Zudem ist bei den Nutztierhaltenden ein Erfahrungsschatz vorhanden, der unersetzbar ist, um pragmatische, lokal angepasste Herdenschutz-Lösungen zu entwickeln und so Nutztierübergriffe von Wölfen langfristig zu minimieren.

9.6 Fazit

Übergriffe von Wölfen auf Nutztiere werden am effektivsten durch die korrekte Umsetzung von nicht-letalen Herdenschutzmaßnahmen nachhaltig verhindert. Die aktuellen Wolfsverordnungen einiger Bundesländer konzentrieren sich im Kontext von Nutztierschäden jedoch vor allem darauf, wann die in den Ländern geltenden Kriterien für einen Abschuss erfüllt sind (BbgWolfVO 2018; SächsWolfMVO 2019; NWolfVO 2020). Allerdings entsprechen diese Abschusskriterien überwiegend nicht den hier erläuterten Voraussetzungen für selektive Abschüsse. Wie anhand der wissenschaftlichen Evidenz aufgezeigt wurde, ist damit den Tierhaltenden nur selten geholfen, insbesondere wenn nicht die schadensverursachenden Tiere erlegt werden. Solche Maßnahmen, wie auch eine immer wieder geforderte generelle Bejagung, mögen vielleicht ein probates Mittel sein, um politischem Druck zu begegnen, sie sind jedoch nach Auswertung der wissenschaftlichen Literatur keine wirksamen Maßnahmen, um Übergriffe auf Nutztiere zu minimieren und den betroffenen Weidetierhaltenden wirklich zu helfen.

Insbesondere die Berufsschäferinnen und Berufsschäfer in Deutschland sind, unabhängig vom Wolf, schon lange in einer extrem schwierigen wirtschaftlichen Lage. Die Rückkehr des Wolfes ist in dieser Situation für einige der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Durch den nun permanent erforderlichen Herdenschutz steigt die ohnehin schon hohe Arbeitsbelastung weiter. Wollen wir als Gesellschaft die Weideschafhaltung auch zukünftig erhalten, muss die wirtschaftliche Lage der Tierhaltenden deutlich verbessert werden, unabhängig davon, ob es Wölfe gibt. Die von einigen Bundesländern inzwischen eingeführte Weidetierprämie ist hier ein Schritt in die richtige Richtung, um den durch den Herdenschutz erforderlichen zusätzlichen Arbeitsaufwand finanziell abzupuffern.

Das Wissen, wie Weidetiere vor Übergriffen durch Wölfe geschützt werden können, und das technische Know-how dafür sind heute auch in Deutschland vorhanden. Die Methoden sind seit Jahrzehnten bekannt, auch wenn sie stets weiterentwickelt und den lokalen Bedingungen angepasst werden sollten. Viele Tierhaltende haben hier inzwischen ein hohes Maß an Fachkompetenz entwickelt. In den nächsten Jahren geht es darum, Wege zu finden, wie die Akzeptanz von Schutzmaßnahmen und die Eigenmotivation der Tierhaltenden, diese anzuwenden, erhöht werden kann. Nur durch einen möglichst flächendeckenden fachgerechten Einsatz von Herdenschutzmaßnahmen kann verhindert werden, dass Wölfe an nicht korrekt geschützten Tieren das Überwinden dieser Maßnahmen erlernen. Die Erfahrung aus den vergangenen 20 Jahren zeigen, dass die reine Finanzierung von Präventionsmaßnahmen nicht ausreicht. Um die Funktionstüchtigkeit der eingesetzten Schutzmaßnahmen zu gewährleisten, ist eine routinemäßige Überprüfung notwendig. Daneben sollte jeder Tierhaltende bei Bedarf auch fachliche Expertise zur korrekten Anwendung der Maßnahmen in Anspruch nehmen können. Vor allem in Gebieten mit Prädations-Hotspots sollte aktiv auf die Tierhaltenden zugegangen werden, damit Herdenschutzmaßnahmen konsequent umgesetzt werden.

Um gezielter als bisher auf die steigende Zahl von Übergriffen auf Nutztiere in Deutschland reagieren zu können, werden dringend Daten zur Funktionstüchtigkeit, Anwendbarkeit und Akzeptanz der eingesetzten Herdenschutzmaßnahmen benötigt. Diese Daten sind zudem die Grundlage für wissenschaftliche Studien zu möglichen Unterschieden in der Wirksamkeit verschiedener Herdenschutzmethoden. Entsprechende Untersuchungen sind nur in enger Zusammenarbeit zwischen Weidetierhaltung und Wissenschaft möglich. Der Weg von einem emotionsbasierten hin zu einem evidenzbasierten Wolfsmanagement führt über wissenschaftlich robuste Daten und Analysen, basierend auf der Fachkompetenz und den praktischen Erfahrungen der Weidetierhaltenden.