1.1 Historische Entwicklung der Experimentalpsychologie

Dieser kurze Überblick über einige Eckdaten der historischen Entwicklung der Experimentalpsychologie stellt keineswegs den Anspruch, vollständig und für andere Teilbereiche der Psychologie repräsentativ zu sein. Vielmehr soll dieser (sehr) kurze Überblick dem bzw. der Leser:in als grober Überblick dienen, um die grobe historische Entwicklung der modernen Experimentalpsychologie nachvollziehen zu können.

Interessierte Leser:innen, die eine detailliertere Auseinandersetzung mit der historischen Entwicklung des Faches wünschen, seien an die Quellen in diesem Abschnitt verwiesen.

1.1.1 Von Aristoteles zu Wundt

Bevor wir uns die Fertigkeiten der Experimentalpsychologie zu eigen machen, ist es ratsam, einen kurzen Blick in die Vergangenheit zu werfen und zu reflektieren, woher unser Fach eigentlich kommt. Zwar beschäftigten sich bereits Aristoteles (384–322 v. Chr.) und seine Zeitgenossen mit Fragen nach dem „Seelenleben“, worunter auch kognitive und sensorische Funktionen fielen (Hatfield, 2002), von unserer modernen Konzeption mentaler Prozesse und deren Erforschung waren diese Herrschaften jedoch noch weit entfernt.

Viele weitere Persönlichkeiten beschäftigten sich im Laufe der Zeit mit der Psyche, wie etwa Thomas von Aquin, René Descartes, John Locke, John Stuart Mill und Alexander Bain, um nur einige zu nennen. Während die hier genannten Persönlichkeiten ein Y-Chromosom aufzuweisen pflegten, sollen auch die Leistungen früher Psychologinnen nicht verschwiegen werden. So verfasste beispielsweise Elizabeth Ricord bereits um 1840 ein Lehrbuch für Psychologie (Scarborough, 1992). Abseits von Mädcheninternaten hatten weibliche Experimentalpsychologinnen (wie Sie wohl vermutet haben) aber leider einen schweren Stand. An Universitäten wurden Vorläufer der modernen Psychologie im 19. Jahrhundert an einflussreichen philosophischen Fakultäten gelehrt, wie etwa in Schottland und England (Mandler, 2006). In diesen Anfängen der akademischen Psychologie war die primäre Forschungsmethode der Forschenden ihr Sitzfleisch: Erkenntnisse wurden nicht durch systematische und kontrollierte Beobachtungen gewonnen, sondern durch Introspektion, also sog. „Armchair“-Psychologinnen bzw. -Psychologen.

Warum also lernen wir regelmäßig, dass die Psychologie 1879 geboren ist? Nun, diese Aussage alleine ist natürlich eine grobe Vereinfachung der tatsächlichen historischen Umstände. Man hat sich jedoch auf dieses Jahr geeinigt, da Wilhelm Wundt im Jahr 1879 das erste experimentalpsychologische Labor an der Universität Leipzig gegründet hat. Obwohl es bereits zuvor einen akademischen Diskurs zur Psyche an anderen Universitäten gab, brach Wundt mit der Tradition, die Psyche – als Teilbereich der Philosophie – rein introspektiv zu erforschen. Vielmehr strebte er danach, die menschliche Psyche nach dem Vorbild anderer Naturwissenschaften empirisch, systematisch und methodisch rigoros zu beforschen. Mit „methodisch rigoros“ ist gemeint, dass Erkenntnisse nur auf der Basis von gut kontrollierten Experimenten gewonnen werden sollten. Das bedeutet jedoch nicht, dass Methoden wie die Introspektion damals gänzlich aus dem Repertoire der Experimentalpsychologie verschwunden sind. Wilhelm Wundt bediente sich etwa immer noch der „geschulten Introspektion“ von erfahrenen Versuchspersonen.

Durch Wundts Gründung dieses experimentalpsychologischen Labors emanzipierte sich die Psychologie allmählich von der Philosophie, die bis ins 19. Jahrhundert als „Mutter aller wissenschaftlichen Disziplinen“ auch die Lehre des menschlichen Erlebens und Verhaltens beinhaltete. Diese neue Psychologie nach Wundt (und natürlich auch anderen Pionieren) strebte nach jener methodischen Finesse und Präzision, wie sie auch damals schon in der Physik und Physiologie zu finden waren. An dieser Stelle soll auch nicht unerwähnt bleiben, dass frühe Forschung zur menschlichen Wahrnehmung im Rahmen der (Sinnes-)Physiologie betrieben wurde, etwa von Gustav Theodor Fechner (1801–1887), Hermann von Helmholtz (1821–1894) und Ernst Mach (1838–1916), um nur einige zu nennen.

Nach Wundts Gründung des experimentalpsychologischen Labors in Leipzig wurden in weiterer Folge auch an anderen Universitäten Lehrstühle spezifisch für Psychologie begründet. Zu Beginn wurden diese Neugründungen allerdings noch von teils heftigen Disputen darüber begleitet, ob diese neu begründeten Lehrstühle von Philosophen oder mehr naturwissenschaftlich orientierten Forschern besetzt werden sollten. Wie Sie sich bereits denken können, setzten sich Zweitere mehr und mehr durch. Das eigenständige Fach der Psychologie ward geboren.

1.1.2 Behaviorismus und kognitive Wende

Ausgehend von Wundts Laborgründung in Leipzig folgten viele weitere experimentalpsychologische Labore rund um die Welt. Im englischsprachigen Raum geht die wohl bekannteste Laborgründung auf William James an der Harvard University zurück. Auch wenn sich die junge Experimentalpsychologie nun allmählich immer mehr an den Naturwissenschaften orientierte, standen Forscher:innen (damals wie auch heute) vor einer massiven Herausforderung: wie können psychische Phänomene wie Wahrnehmung, Aufmerksamkeit, Gedächtnis etc. mit derselben Präzision gemessen werden, wie die Physik beispielsweise den Luftdruck mit einem Barometer oder eine etwaige Strahlenbelastung mit einem Zählrohr? Wir können nicht einfach ein Gehirn auf einen Doppelspalt schießen und uns dadurch Aufschlüsse über Gedächtnisprozesse erwarten (diese Ethikkommissionen, am I right?). Während man also durchaus in der Lage ist und war, Versuchspersonen auf bestimmte Ereignisse reagieren zu lassen, mussten und müssen mentale Prozesse, die zwischen der Reizpräsentation und der Reaktion vor sich gehen, indirekt erschlossen bzw. durch mehr oder weniger abstrakte Modelle erklärt werden.

Während sich im deutschsprachigen Raum die Gestaltpsychologie als Erklärungsansatz für psychologische Phänomene entwickelte, ging man auf der anderen Seite des großen Teichs einen gänzlich anderen Weg. John B. Watson formulierte 1913 in seinem Aufsatz Psychology as the behaviorist views it die Grundgedanken des Behaviorismus: Zwar ging Watson davon aus, dass menschliches Verhalten letztlich durch Physik und Chemie erklärbar sei (cf. Hatfield, 2002), jedoch sollte sich die Psychologie seiner Meinung nach in der Zwischenzeit mit Reiz-Reaktionsbeziehungen im Sinne Pavlovs klassischer (und später Thorndikes operanter) Konditionierung beschäftigen. Im Gegensatz zu seinen Nachfolgern könnte man Watsons Position noch als sanft bezeichnen. Forscher wie Skinner lehnten gar die Theoriebildung in der Psychologie ab und forderten ein Ende mentalistischer Erklärungen und eine reine Besinnung auf beobachtbare Reiz-Reaktions-Beziehungen. Jegliche Prozesse, die in der sog. Blackbox, also jenem Zwischenschritt zwischen einem Reiz und der Reaktion, vor sich gehen, können nicht beobachtet und daher, so Skinner, gar nicht erst erklärt werden.

Grundsätzlich ist diese Ansicht der Vertreter:innen des Behaviorismus für viele vielleicht nachvollziehbar. Skinner trieb seine Ablehnung mentaler Prozesse jedoch so weit, dass er in seinem Werk Verbal Behavior Sprache und den Spracherwerb mithilfe behavioristischer Mechanismen zu erklären versuchte. Dieses Unterfangen brachte ihm (auf gut Österreichisch gesagt) eine heftige argumentative Gnackwatsche (auf gut Deutsch gesagt „Genickschelle“?) von Noam Chomsky ein und läutete das Ende des Behaviorismus als dominantes Paradigma und den Beginn der kognitiven Wende ein. Die kognitive Wende bezieht sich nicht lediglich auf die (Kognitions-)Psychologie alleine, sondern beschreibt die Kognitionswissenschaften generell. Die Kognitionswissenschaften inkludieren auch Informatik, Linguistik, Neurowissenschaften und Anthropologie. Für die Experimentalpsychologie bedeutete die kognitive Wende eine Kombination zweier vormals scheinbar unvereinbarer Lager: Theorien über den Ablauf geistiger Prozesse werden mit methodisch präzisen Messungen überprüft. Im Gegensatz zum Behaviorismus erlaubt dieser neue Zugang, eine der größten Stärken der (Natur-)Wissenschaften auszuspielen: Vorhersagen auf Basis theoretischer Überlegungen zu tätigen und anhand systematischer Beobachtungen entweder zu bestätigen, zu modifizieren oder zu verwerfen.

1.2 Die Methoden der Psychologie

Wozu dient dieser kurze Überblick über die Geschichte der Psychologie als eigenständige wissenschaftliche Disziplin? Es soll verdeutlicht werden, dass die Psychologie nicht ausschließlich durch die von ihr behandelten Inhalte die Anerkennung als eigenständige Disziplin erlangte, sondern besonders durch die wissenschaftliche Methodik, die sie anwendet. Während es verlockend sein mag, sich ein Pfeifchen anzuzünden und vor dem offenen Kaminfeuer über die Natur des Menschen zu sinnieren, so wenig fundiert sind die daraus resultierenden Schlüsse. Zwar ist es möglich, anhand einer logischen Argumentationskette zum einen oder anderen Schluss zu kommen, allerdings sind diese Schlüsse nur bedingt nützlich, wenn sie einem Test an der Realität nicht standhalten – sofern sie überhaupt überprüfbar sind.

Heute kennen wir in der Psychologie eine Vielzahl von Forschungsmethoden, die sich anhand zweier Dimensionen einordnen lassen:

  1. 1.

    Beobachtungsort (Feld vs. Labor)

  2. 2.

    Art der Daten (qualitativ vs. quantitativ)

1.2.1 Beobachtungsort

1.2.1.1 Feldstudien

Wenn wir eine wissenschaftliche Untersuchung planen, hängt die Wahl des Beobachtungsortes (also jenes Ortes, an dem wir das Verhalten der für uns interessanten Population beobachten wollen) stark von der Fragestellung ab. Während subtile, nicht direkt beobachtbare Phänomene, wie etwa die Funktionsweise des Arbeitsgedächtnisses idealerweise nur unter hochgradig kontrollierten Bedingungen erhoben werden sollten, um ausschließen zu können, dass gefundene Effekte nicht durch zufällige störende Einflüsse zustande gekommen sind, kann man andere Phänomene der menschlichen Psyche nur schwer unter kontrollierten Bedingungen untersuchen. Nehmen wir das Beispiel Mobbing: Abgesehen von etwaigen Pandemien und sozialen Medien sind wir Menschen in der freien Wildbahn recht soziale und kommunikative Trockennasenaffen. Aus diesen sozialen Situationen können positive wie auch negative Dinge entstehen, wie etwa Kooperation, Konkurrenz, Zuneigung und antisoziales Verhalten. All diese (nicht exklusiv) menschlichen Verhaltensweisen entstehen organisch in Situationen und sind daher nicht sonderlich gut dazu geeignet, künstlich in einer Laborsituation untersucht zu werden, sondern in jenen Situationen, in denen sie entstehen. Stattdessen wäre es empfehlenswert, sich die die metaphorischen Gummistiefel anzuziehen, ins Feld zu gehen und direkt in den relevanten Situationen zu untersuchen, wie sich (anti-)soziales Verhalten entwickelt und entfaltet.

1.2.1.2 Laborexperimente

Wie bereits angedeutet, ist dieses „sich entwickeln lassen“ von Situationen nicht dazu geeignet, alle Mechanismen des menschlichen Erlebens und Verhaltens zu studieren. Möchte ich beispielsweise wissen, ob ein subliminaler Reiz (also ein Reiz, der von der Versuchsperson nicht bewusst wahrgenommen wurde) das Verhalten beeinflussen kann, reicht es nicht, einer Person in einer belebten Einkaufsstraße kurz ein Bild von einer Banane zu zeigen, ihr danach hinterher zu schleichen und aufzuzeichnen, ob sie sich früher oder später eine Banane kauft. Selbst wenn sich mehrere Personen, denen ich dasselbe Bild einer Banane gezeigt habe, unmittelbar danach eine Banane kaufen, ist dieser Umstand deshalb einer unbewussten Verarbeitung meines Bildes und einer daraus entstandenen Handlungsaufforderung zuzuschreiben? Möglich. Vielleicht aber auch nicht. Haben die Personen davor eventuell in einer Eisdiele einen Bananensplit-Becher gesehen? Bin ich im Weg einer noch viel größeren Werbung für Bananen gestanden? Wurden Bananen gerade eben von Kanye West als Heilmittel für Größenwahn angepriesen?

Sie sehen, es gibt viele (mehr oder weniger plausible) alternative Erklärungen für die Ergebnisse unseres Bananenexperiments. Will man also zuverlässige Aussagen über die Verarbeitung unbewusster Reize treffen, so muss eine Untersuchung dazu unter Rahmenbedingungen stattfinden, die eine maximale Kontrolle potenzieller Störvariablen erlauben. Hier bietet sich das Labor an: Versuchspersonen werden nur mit jenen Reizen konfrontiert, die für die gegenwärtige Untersuchung von Interesse sind, während andere, störende Einflüsse so gut wie möglich ausgeschaltet oder aber zumindest kontrolliert (z. B. konstant gehalten) werden.

1.2.2 Art der Daten

1.2.2.1 Qualitative Daten

Wenn wir Daten erheben, die auf verbalen bzw. nicht klar numerisch bezifferbaren Werten basieren, sprechen wir von qualitativen Daten. Stellen Sie sich vor, Sie sind daran interessiert, nicht nur herauszufinden, unter welchen Umständen es zu Mobbing kommen kann und wie sich dieses äußert, sondern Sie wollen auch den Gründen bzw. den Motivationen der mobbenden Personen auf den Grund gehen. Diese Frage lässt sich kaum mit einem computergestützten Experiment beantworten. Der direktere und ergiebigere Weg zu einer befriedigenden Antwort ist es, die betroffenen Personen direkt danach zu fragen.

Eine beliebte Methode hierzu ist es, mit den jeweiligen Personen ein Interview zu führen und auf Basis ihrer Angaben Antworten auf die Forschungsfrage zu finden. Führen wir ein Interview mit Betroffenen, so sind wir in erster Linie nicht an Daten interessiert, die wir statistisch verwerten und auf die gesamte Population generalisieren können, sondern eher an der inhaltlichen Auseinandersetzung mit den Angaben der befragten Personen. Das soll natürlich keineswegs bedeuten, dass man mit Daten, die aus Interviews gewonnen werden, keine Statistiken rechnen kann oder soll. Oftmals ist es natürlich relevant, Angaben der Personen in Kategorien einzuteilen und zumindest deskriptivstatistisch darzustellen. Der primäre Fokus qualitativer Daten liegt aber oft nicht in der statistischen Hypothesenprüfung, sondern der Generierung von Hypothesen.

1.2.2.2 Quantitative Daten

Unter quantitativen Daten verstehen wir jene Daten, die einer Variable von Interesse keinen semantischen, sondern einen numerischen Wert zuweisen. Zwar wäre es schön, wenn uns unsere Waage unser Gewicht in blumigen Adjektiven angeben würde (wie etwa „flawless“, wie könnte es anders sein?), realistisch betrachtet ist es aber schon praktisch, wenn wir genau beziffern können, mit welchem Wert wir die quadrierte Lichtgeschwindigkeit multiplizieren müssen, um unsere Ruheenergie berechnen zu können. Langweiler:innen würden wohl einfach „Gewicht“ dazu sagen...

In der Psychologie werden quantitative Daten für eine Vielzahl von unterschiedlichen Fragestellungen verwendet. So könnten wir beispielsweise abzählen, wie häufig Personen auf einen bestimmten Reiz blicken, messen, welche Punktezahl eine Person in einer Testbatterie hat, an wie viele Items sich eine Versuchsperson in einem Gedächtnistest erinnern kann oder auch, wie lange eine Person braucht, um nach dem Auftreten eines Reizes eine Antwort zu geben. Auf letzterem liegt das Hauptaugenmerk dieses Buches.

Quantitative Daten erlauben es uns, statistische Analysen zu rechnen. So können wir zum Beispiel angeben, wie viele Frauen und Männer in einem Experiment teilgenommen haben (Häufigkeiten) und wie alt sie im Schnitt waren (Mittelwert). Diese beiden Maße sind Beispiele für deskriptivstatistische Angaben. Quantitative Daten erlauben es uns aber auch, inferenzstatistische Aussagen über eine Population zu treffen und (mehr oder weniger) präzise Aussagen selbst über nicht erhobene Personen zu tätigen.

Auf Basis der oben dargestellten Eigenschaften qualitativer und quantitativer Daten ist nun (hoffentlich) klar, dass qualitative Daten beschreibend sind bzw. Konzepte abbilden, während quantitative Daten abzählbar und messbar sind.

1.3 Das psychologische Laborexperiment

Verhaltensexperimente an sich sind so intuitiv verständlich, dass die meisten von uns es vermutlich bereits völlig ohne Anleitung geschafft haben, selbst eines durchzuführen. Manch Spaßkanone unter uns hat höchstwahrscheinlich zumindest einmal einer Freundin oder einem Freund einen Reiz gezeigt oder entzogen, nur um zu sehen, wie er oder sie darauf reagiert – und sich daran ergötzt. Ob das nun eine Plastikspinne auf dem Kopfpolster oder ein kurzzeitig entwendetes Handy war, die Logik bleibt die gleiche: Wir wollen beobachten, wie unsere Versuchsperson auf die von uns herbeigeführte Manipulation ihrer Umgebung reagiert.

In der allgemeinpsychologischen Forschung sind oft an Phänomenen interessiert, auf die wir keinen direkten Zugriff bzw. Einblick haben. Manche dieser Phänomene kann man durchaus durch gezieltes Nachfragen bei den betroffenen Personen erfragen. Wenn es zum Beispiel von Interesse ist, warum sich eine Person für einen bestimmten Studiengang eingeschrieben hat, dann ist es zwar nicht möglich, von außen zu erschließen, warum eine Person sich so entschieden hat, man kann jedoch die Motivation dahinter erfragen (sofern sie der Person bewusst ist).

Komplexer wird es allerdings, wenn man beispielsweise die Architektur des Gedächtnisses untersuchen möchte. Hand aufs Herz, wer unter uns könnte durch Introspektion zum Schluss kommen, dass man bei der Suche nach einem roten Tesla (geschickte Produktplatzierung) zunächst Informationen zum Aussehen eines Teslas von Langzeitgedächtnis ins Arbeitsgedächtnis „lädt“, und jene Neuronen, die im visuellen Kortex die Farbe Rot repräsentieren voraktiviert, sodass das Wahrnehmen der Farbe Rot zu einer schnelleren und stärkeren Aktivierung eben jener Neurone führt (vgl. Zhou et al., 2020; Desimone & Duncan, 1995). Selbst ein sehr gut geführtes Interview könnte uns wohl nicht zu dieser Einsicht führen, da Prozesse wie die eben angesprochenen unserem Bewusstsein nicht direkt zugänglich sind. Stattdessen müssen wir auf ausgefeilte experimentelle Designs zurückgreifen, um Fragestellungen wie diese beantworten zu können. In der experimentellen Psychologie sind das zumeist laborbasierte, gut kontrollierte und optional um neurophysiologische Methoden ergänzte Verhaltensexperimente.

Ein Laborexperiment bietet uns zusätzlich ein hohes Ausmaß an Kontrolle möglicher unerwünschter Einflüsse auf die erhobenen Daten. Es ist uns möglich, die Geräuschkulisse zu kontrollieren, die Helligkeit des Raumes konstant zu halten etc. Während wir beispielsweise bei der Beobachtung im Feld nur begründete Annahmen darüber treffen kann, warum wir nun eine bestimmte Verhaltensweise beobachten können oder nicht, ist es uns möglich, im Labor wirklich kausale Zusammenhänge zu testen. Ein besonders relevanter Faktor hierfür ist, dass es im Labor möglich ist, zeitliche Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung zu kontrollieren und zu variieren. Wenn wir zum Beispiel Gruppendynamiken in einem natürlichen Umfeld nur beobachten und selbst keine aktive Manipulation der Situation vornehmen, dann lässt sich eine beobachtete Verhaltensweise nicht mit absoluter Sicherheit auf einen einzigen Auslöser zurückführen. Verhält sich eine Person gerade eben so, weil unmittelbar davor ein auslösendes Ereignis geschehen ist? War die Person bereits zuvor schlecht drauf und zeigt deshalb das beobachtete Verhalten? Es gibt für solche Arten von Beobachtungen im Feld vielerlei potenzielle Erklärungen.

Im Labor (oder auch den oben angeführten privat durchführbaren Versuchen) ist es hingegen möglich, die Quelle eines beobachteten Effekts wirklich auf eine bestimmte experimentelle Manipulation zurückzuführen. Das ist dann möglich, wenn ein bestimmtes Verhalten einer Versuchsperson nur beobachtet wird, wenn eine bestimmte experimentelle Manipulation vorgenommen wurde (Experimentalbedingung) und nicht, wenn keine Manipulation vorgenommen, bzw. eine Kontrollbedingung präsentiert wurde.

1.3.1 Donders mentale Chronometrie

Das Verhaltensexperiment in der Experimentalpsychologie bezeichnet also jene Methode, in der beobachtbares Verhalten von Versuchspersonen auf jedwede experimentellen Manipulationen als Antwortvariable verwendet wird. Anders formuliert: in einem psychologischen Verhaltensexperiment wird die Wirkung systematischer Variationen von inhaltlich relevanten Variablen (unabhängige Variable; UV) auf das Verhalten(abhängige Variable; AV) unserer Versuchspersonen untersucht. Die relevanten AVs sind in einem Verhaltensexperiment sehr oft Reaktionszeiten (RTs für engl. response times) und Fehlerraten (ERs für engl. error rates).

Die Logik, die der verhaltenspsychologischen Methode zugrunde liegt, geht auf Frans Cornelis Donders (1818–1889) zurück. Donders entwickelte eine gleichsam simple, wie auch elegante Methode, um die Dauer mentaler Prozesse zu messen: Die mentale Chronometrie (Donders, 1969).

Am besten formuliert es Donders (1969, S. 418) selbst:

„The idea occurred to me to interpose into the process of the physiological time some new components of mental action. If I investigated how much this would lengthen the physiological time, this would, I judged, reveal the time required for the interposed term.“

Unter physiological time versteht Donders jene Zeit, die zwischen einer Reizpräsentation und einer Reaktion vergeht. Heute wird diese physiological time üblicherweise Reaktionszeit bzw. response time genannt. Auf gut Deutsch spekuliert Donders, dass man, wenn man Versuchsperson sehr einfache, aber leicht unterschiedliche Aufgaben erledigen lässt, die sich lediglich in wenigen mentalen Verarbeitungsschritten unterscheiden, man durch die Differenz der RTs auf die Dauer jener Verarbeitungsschritte schließen kann, die in einer Aufgabe benötigt werden und in der anderen nicht. Das klingt jetzt vermutlich erst einmal sehr kryptisch und auch mein ehemaliger Deutschlehrer kann Ihnen ein Lied von meinem Hang zu kryptischen Ausdrucksweisen singen. Schauen wir uns deshalb jene Aufgaben genauer an, die Donders verwendete.

  1. 1.

    Detektionsaufgabe/a-Aufgabe: Die Versuchspersonen sollten so schnell wie möglich eine Taste drücken, sobald sie einen Reiz sahen.

Donders vermutete in dieser Aufgabe die kürzesten RTs, da lediglich zwei Prozesse für diese Aufgabe notwendig seien:

Detektion → Reaktion

  1. 2.

    Wahlreaktionsaufgabe/b-Aufgabe: Zwei unterschiedliche Reize wurden präsentiert und Versuchspersonen sollten, in Abhängigkeit des jeweiligen Reizes, eine von zwei Reaktionen ausführen.

Teilschritte, die in dieser Aufgabe postuliert wurden:

Detektion → Reizdiskriminierung → Reaktionsauswahl → Reaktion

  1. 3.

    Go/No-Go-Aufgabe/c-Aufgabe: Versuchspersonen sollten lediglich auf einen von zwei präsentierten Reizen reagieren.

Teilschritte dieser Aufgabe:

Detektion → Reizdiskriminierung → Reaktion (oder nicht)

Donders argumentierte, dass man, um die Dauer der Reizunterscheidung zu bestimmen, lediglich RTs aus der a-Aufgabe von RTs aus der c-Aufgabe subtrahieren müsse. Die dahinterliegende Logik ist so simpel wie elegant: a- und c-Aufgabe unterscheiden sich lediglich in einem Teilschritt voneinander. RT Unterschiede zwischen a- und c-Aufgabe sollten also lediglich durch diesen Teilschritt zustande kommen.

Diese Substraktionslogik zieht sich bis heute durch die Experimentalpsychologie: Kongruenzeffekte (u. a. der Stroop-Effekt), Primingeffekte, Validitätseffekt und viele mehr sind simple Mittelwertunterschiede (Kongruenzeffekte = RTsinkongruent minus RTskongruent; Validitätseffekt = RTsinvalide minus RTsvalide). Während man bei Kongruenzeffekten postuliert, dass diese Mittelwertunterschiede mentale oder motorische Konflikte in inkongruenten Bedingungen darstellen, wird beim Validitätseffekt vermutet, dass die längeren RTs in invaliden verglichen mit validen Durchgängen durch eine Neuausrichtung der Aufmerksamkeit zustande kommen. Sie werden noch mehr von diesem Validitätseffekt in Abschn. 6.1 erfahren. Doch wie und warum kommen jetzt ERs ins Spiel? Es wird, wie bereits festgestellt, vermutet, dass manche Bedingungen zusätzliche Teilschritte erfordern (z. B. das Bewältigen mentaler oder motorischer Konflikte in inkongruenten Durchgängen). Durch diese internen Konflikte steigt das Potenzial, fehlerhafte Antworten zu geben. Im Umkehrschluss sollten Bedingungen, die keinen Konflikt verursachen, leichter zu erledigen sein und eine kleinere Fehlerrate zur Folge haben. Wir erwarten also identische Effekte in RTs und ERs: einfachere Bedingung: schnellere (kleinere) RTs und kleinere ERs schwierige Bedingung: langsamere (höhere) RTs und höhere ERs.

Info

Der Fokus im Großteil der Verhaltensexperimente liegt auf den RTs. ERs werden oft nur zur Absicherung gegen sogenannte Speed-Accuracy-Trade-Offs analysiert: Wenn Versuchspersonen in einer Bedingung schnellere RTs, aber höhere ERs und in einer anderen Bedingung längere RTs, dafür niedrigere ERs haben, dann lässt sich nicht ausschließen, dass RT-Unterschiede durch ein strategisches Vorgehen der Versuchspersonen zustande gekommen sind und nicht durch die Wirkung der UV.

Übungsaufgaben

  1. 1.

    Was ist der Unterschied zwischen Feldstudien und Laborexperimenten?

  2. 2.

    Welche möglichen Störvariablen können Sie im Labor kontrollieren, die sich im Feld nicht kontrollieren lassen?

  3. 3.

    Was reflektieren Reaktionszeitdifferenzen in der Logik der mentalen Chronometrie?

  4. 4.

    Wie sollten sich einfachere von schwierigeren Bedingungen in Reaktionszeiten und Fehlerraten unterscheiden?