Zusammenfassung
Unter Digitalisierung wird die Transformation von analogen Daten in solche Formate verstanden, die einer weiteren Algorithmus gesteuerten Bearbeitung prinzipiell offenstehen. Von der Entschlüsselung des menschlichen Genoms über die Anwendung feinkörniger Analysemethoden (etwa PID) bis hin zur Möglichkeit einer gezielten Veränderung (etwa Crispr/Case9) trifft dies in zunehmender Form auch auf die menschliche Natur zu. Entlang dieser Interventionen entbrennt die Frage nach dem moralischen Status der menschlichen Natur stets von neuem. Einerseits bildet sich innerhalb der Bio- und Medizinethik eine Art Pattsituation ab.
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Notes
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Bei der Präimplantationsdiagnostik (PID) handelt es sich um merkmalsorientiertes Screeningverfahren von im Reagenzglas gezeugten Protoembryonen vor der In-Vitro-Fertilisation. Vor dem Hintergrund des Screenings kommt es zu einer Selektion. Konkret wird ein Protoembryo (unter mehreren) aufgrund einer gewünschten genetischen Disposition ausgewählt und im Rahmen der In-Vitro-Fertilisation implementiert. Demgegenüber werden bei Genom Editing (etwa Crispr/Cas) bestimmte Gensequenzen gesucht, entfernt und durch andere ersetzt.
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Im Folgenden werden die Termini „Keimbahneingriff“ und „Keimbahninterventionen“ gleichermaßen auf Methoden der Analyse (etwa PID) wie auch der Bearbeitung (etwa Crispr/Cas) bezogen.
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Den Begriff der „Intuitionspumpe“ beziehe ich von Daniel Dennett, der diese an einer Stelle mit folgenden Worten charakterisiert: „A popular strategy in philosophy is to construct a certain sort of thought experiment I call an intuition pump. … Intuition pumps are cunningly designed to focus the reader’s attention on “the important” features, and to deflect the reader from bogging down in hard-to-follow details. There is nothing wrong with this in principle. Indeed one of philosophy’s highest callings is finding ways of helping people see the forest and not just the trees. But intuition pumps are often abused, though seldom deliberately.“ (Dennett 1984, S. 12).
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Die Modelle von Eric Juengst (2009, S. 28–35) lassen sich – zumindest nach meinem Verständnis – keineswegs hermetisch klar voneinander trennen, sondern eröffnen unterschiedliche Perspektiven auf ein und dasselbe Phänomen.
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Dies entfalte Kant dann umfänglich in seinen Metaphysischen Anfangsgründen der Naturwissenschaften (1786).
- 6.
Nach Schönecker und Wood begründet Kant die These im dritten Abstand von GMS zumindest indirekt dahingehend, dass ein Subjekt, das urteilt, es sei im Urteilen unfrei, ein freies Urteil fällt und sich mit diesem freien Urteil in einen performativen Widerspruch verstrickt.
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Unter den SKIP-Argumenten versteht man ein Akronym aus Spezies-, Kontinuums-, Identitäts- und Potentialitätsargumente. Einen Überblick bietet der Sammelband von Damschen und Schönecker (2002).
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Die Diskurstheorie von Habermas wird an dieser Stelle lediglich in ihrer Grundform aus dem ursprünglich aus dem Jahr 1973 stammenden Aufsatz „Wahrheitstheorien“ (2009) in den Blick genommen. Die späteren Erweiterungen und Modifikationen können für unser Anliegen vernachlässigt werden.
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Besagte Unterscheidung entlehne ich von Spaemann (1996).
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Viertbauer, K. (2022). An den Grenzen der menschlichen Natur. Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Kritik an Keimbahneingriffen von Jürgen Habermas und Michael Sandel. In: Holischka, T., Viertbauer, K., Preidel, C. (eds) Digitalisierung als Transformation?. Digitalitätsforschung / Digitality Research. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65350-0_8
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