Zusammenfassung
Schon zu Lebzeiten wurde Selma Lagerlöf zu einer Sagenerzählerin stilisiert, welche die orale Tradition ihrer Heimat wiederbelebe. Gerade der Kinderbuchklassiker Nils Holgersson eignet sich gut, um zu zeigen, auf welch ausgefeilte orthografische, stilistische und narrative Verfahren die Autorin zurückgreift, um Mündlichkeit zu fingieren. Sie nutzt das Buch aber auch, um in Metaszenen über Phänomene der Mündlichkeit zu reflektieren. Dabei zeigt sich, dass sie das Phänomen einer schriftlich erzeugten Mündlichkeit auf erstaunlich moderne Weise medientheoretisch zu begreifen und in ausgeklügelten intermedialen Konstellationen produktiv zu machen versucht.
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Notes
- 1.
Zur entsprechenden Rezeptionsgeschichte von Lagerlöf als mündlich improvisierender ,Märchentante‘ vgl. das Kapitel „Selma Lagerlöf. Stilisierung als Bewahrerin einer oralen Tradition“ in Katharina Müllers Studie zu Lagerlöfs Vorlesepraktiken (Müller 2018, 125–146).
- 2.
Dies lässt sich nicht zuletzt an den langen Diskussionen über sprachliche Fragen belegen, die Lagerlöf mit den beiden Herausgebern der Lesebuchreihe Alfred Dalin und Fridjuv Berg führte (vgl. stellvertretend Desmidt 1997, 105–109).
- 3.
Die konkrete Entstehungsgeschichte des Buches, die natürlich sehr stark durch seinen Status als Auftragsarbeit geprägt wurde, ist mit einer monografischen Studie (Ahlström 1942) und zwei auf Briefen basierenden Präsentationen (Desmidt 1997; Grönkvist 2013) verhältnismäßig gut dokumentiert. Zwei Studien von Angelika Nix bieten gute deutsche Einführungen (Nix 2002, 149–207, 2012).
- 4.
Übersetzungen aus dem Schwedischen stammen – soweit nicht anders angegeben – von mir, KMW.
- 5.
Aus einer biografischen Perspektive könnte man ergänzen, dass Lagerlöf und Olander zur Zeit der Entstehung des Buches liiert waren und dass Olander von Anfang an in die Konzeption des Textes eingebunden war (Nordlund 2021, 124–148).
- 6.
Katharina Müller hat nachgewiesen, dass dieser Eindruck tatsächlich auf eine Verschränkung von Lautlesen und Schreiben bei Lagerlöf zurückzuführen ist (vgl. Müller 2018, 130–137).
- 7.
Angesichts der Bedeutung, die in diesem Artikel orthografischen und stilistischen Details des Textes beigemessen wird, folgen die schwedischen Zitate bewusst der 1906 und 1907 erschienenen zweibändigen Erstausgabe des Nils Holgersson. Aufgrund der Layout-Vorgaben dieses Sammelbandes konnten hier allerdings nicht alle typografischen Besonderheiten der Erstausgabe wiedergegeben werden, auf die ich im Verlaufe der Argumentation zu sprechen kommen werde. Dies betrifft insbesondere die in der Erstausgabe verwendeten Interpunktionszeichen (vor allem die ungewöhnliche Verwendung der Guillemets).
- 8.
Es wird bewusst auf die schöne Übersetzung von Thomas Steinfeld zurückgegriffen, die versucht, sowohl dem mündlichen Stil wie der eigentümlichen Orthografie des schwedischen Originals gerecht zu werden.
- 9.
Ich verwende den Begriff der Leseszene in Analogie zu dem von Rüdiger Campe geprägten Konzept der Schreibszene, mit dem Campe auf die prekären Versuche aufmerksam macht, mit denen in literarischen Texten versucht wird, den Akt des Schreibens als heterogenes Ensemble von Instrumentalität, Körperlichkeit und Sprachlichkeit auszustellen, zu rahmen und gegebenenfalls zu problematisieren (vgl. Campe 1991). Ausführlich zum Begriff der Leseszene in Analogie und Abgrenzung zur Schreibszene vgl. Müller-Wille 2017, 39–152; Hron/Kita-Huber/Sanna 2020 und insbesondere Pethes 2020.
- 10.
Schon Angelika Nix und Joachim Grage machen in ihren Lektüren auf diese Szene und die Illustration Lybecks aufmerksam. Während Nix den Übergang von Nils vom (passiven) Leser zum (aktiven) Helden des Werkes betont, verweist Grage auf das Modell eines aktiven (staunenden) Lesens, das Lagerlöf indirekt thematisiere. Vgl. Nix 2002, 169; Grage 2021, 102 f.
- 11.
Carl Snoilskys Gedicht „Sveriges Karta“ – das 1904 in die Ausgabe seiner Samlade Dikter aufgenommen wurde – wird hier zitiert nach der Originalausgabe des Nils Holgersson. In der deutschen Ausgabe ist es nicht enthalten.
- 12.
Eine Dokumentation und Abbildungen des Spiels, der die Zitate aus dem Paratext folgen, finden sich auf https://digitaltmuseum.se/021028851639/spel [Zugriff: 23.08.2021].
- 13.
Zu späteren Romanausgaben, die mit Stills aus zeitgenössischen Stummfilmproduktionen illustriert werden, vgl. Bachmann 2012.
Literatur
Primärliteratur
Lagerlöf, Selma: Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige. 2 Bde. Stockholm: Bonniers 1906/1907 (Läseböcker för Sveriges barndomsskolor)
Lagerlöf, Selma: Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige. Stockholm: Bonniers 1949
Lagerlöf, Selma: Brev. Bd. 2 1903–1940. Hg. von Ying Toijer-Nilsson. Lund: Gleerup 1969
Lagerlöf, Selma: Du lär mig att bli fri. Selma Lagerlöf skriver till Sophie Elkan. Hg. von Ying Toijer-Nilsson. Stockholm: Bonnier 1992
Lagerlöf, Selma: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden [schwed. 1906/1907]. Übers. von Thomas Steinfeld. Berlin: Die Andere Bibliothek 2015
Sekundärliteratur
Ahlström, Gunnar: Den underbara resan. En bok om Selma Lagerlöfs Nils Holgersson. Lund 1942
Bachmann, Anne: Souvenirs from the Selma Lagerlöf Silent Film Adaptions. How ,Beautiful‘ Book Editions and Prestige Cinema collaborated in Swedish Visual Culture around 1920. In: Scandinavica 51 (2012) 2, 184–207
Borg, Alexandra/Ulmaja, Nina: Strindbergs lilla röda. Boken om boken och typerna. Stockholm 2019
Boyken, Thomas: Medialität des Erzählens. Die Wiederentdeckung des Buches im Roman. Göttingen 2020 (Ästhetik des Buches 13)
Campe, Rüdiger: Die Schreibszene. Schreiben. In: Hans Ulrich Gumbrecht/K. Ludwig Pfeiffer (Hg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie. Frankfurt/M. 1991, 759–772
Carlsson, Lena: Frihetsliv! Selma Lagerlöf och Sophie Elkan ,två ensamma fruntimmer‘ på resa med kamera. Karlstad 2017
Dal, Björn: 100 år med Nils Holgersson. Selma Lagerlöfs läsebok Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige 1906–2006. Lund 2007 (Universitetsbibliotekets utställningskatalog 47 [7-seitiger Ausstellungsflyer])
Desmidt, Isabelle: Bilden av Nils Holgersson i ett urval av Selma Lagerlöfs brev till Sophie Elkan. Gent 1997 (Studia Germanica Gandensia 41)
Grage, Joachim: Welterkundung im Modus des Staunens. Selma Lagerlöfs Nils Holgersson. In: Nicola Gess/Mireille Schnyder (Hg.): Das staunende Kind. Kulturelle Imagination von Kindheit. Paderborn 2021, 95–110
Grönkvist, Lars: ,Ett landskap, två landskap, det går som en lek, men tjugofyra ...‘. Brev berättar om Selma Lagerlöfs äventyr med Nils Holgersson. Mårbacka 2013
Hron, Irina/Kita-Huber, Jadwiga/Schulte, Sanna (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität. Heidelberg 2020, 101–132
Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900. München 1995
Lötscher, Christine: Die Alice-Maschine. Figurationen der Unruhe in der Populärkultur. Stuttgart 2020 (Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien 6)
Müller, Katharina: Autorenlesungen in Skandinavien um 1900. Baden-Baden 2018 (Literarische Praktiken in Skandinavien 4)
Müller-Wille, Klaus: Sezierte Bücher. H. C. Andersens Materialästhetik. Paderborn 2017 (Zur Genealogie des Schreibens 21)
Nix, Angelika: Das Kind des Jahrhunderts im Jahrhundert des Kindes. Zur Entstehung der phantastischen Erzählung in der schwedischen Kinderliteratur. Freiburg i. Br. 2002
Nix, Angelika: Selma Lagerlöfs Nils Holgersson. Vom Schulbuch zum Welterfolg. In: Anita Schilcher/Claudia Maria Pecher (Hg.): Klassiker der internationalen Jugendliteratur. Bd. 1. Kulturelle und epochenspezifische Diskurse aus Sicht der Fachdisziplinen. Baltmannsweiler 2012, 187–206
Nordlund, Anna: Selma Lagerlöf in the golden age of silent cinema. In: Helena Forsås-Scott/Lisbeth Stenberg/Bjarne Thorup Thomsen (Hg.): Re-Mapping Lagerlöf. Performance, Intermediality and European Transmissions. Lund 2014, 94–116
Nordlund, Anna: Selma Lagerlöf och filmen. Om stumfilmens glansdagar. Mårbacka 2016
Nordlund, Anna: Selma Lagerlöf. Sveriges modernaste kvinna. Mårbacka 2021
Olander, Valborg: Handbok till Nils Holgerssons underbara resa genom Sverige. Stockholm 1918
Pethes, Nicolas: Leseszenen. Zur Praxeologie intransitiver Lektüren in der Literatur der Epoche des Buchs. In: Irina Hron/Jadwiga Kita-Huber/Sanna Schulte (Hg.): Leseszenen. Poetologie – Geschichte – Medialität. Heidelberg 2020, 101–132
Söderlund, Petra: Blodigt rött eller sobert sepiabrunt? Selma Lagerlöf och den bibliografiska koden. In: Mats Malm/Barbro Ståhle Sjönell/Petra Söderlund (Hg.): Bokens materialitet. Bokhistoria och bibliografi. Stockholm 2009, 96–119
Thomsen, Bjarne Thorup: Lagerlöfs litterære landvinding. Nation, mobilitet og modernitet i Nils Holgersson og tilgrænsende tekster. Amsterdam 2007
Weber, Gerd Wolfgang: Selma Lagerlöfs ,dramatisches Erzählen‘. In: Sibylle Schweitzer: Selma Lagerlöf. Eine Bibliographie. Hg. von Gunilla Rising Hinz. Marburg 1990, VII-XXXII
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Müller-Wille, K. (2022). Wundersame Buch-Reisen. Zur Medialität des Erzählens in Selma Lagerlöfs Nils Holgersson (1906/1907). In: Boyken, T., Stemmann, A. (eds) Von Mund- und Handwerk. Studien zu Kinder- und Jugendliteratur und -medien, vol 11. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65017-2_9
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