Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.

John Rawls (1921–2002)

FormalPara Zusammenfassung

Die Corona-Pandemie und die daraus resultierende (Welt-)Wirtschaftskrise reißt tiefe Löcher in das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenkassen – und damit auch in die Krankenhausfinanzierung. Es droht die Gefahr impliziter Rationierung und ein Handeln im Affekt mit Spar-Gesetzen, die schnelle Wirkung entfalten. Die Frage nach der gerechten Allokation knapper Ressourcen stellte und stellt sich in mannigfaltiger Art und Weise. Auch die Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser in der Pandemie führen zu Verteilungseffekten, die kontrovers diskutiert wurden. Im Zwischenfazit scheinen sich sehr unterschiedliche Effekte auf Krankenhausebene abzuzeichnen, die zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht abschließend und mit der nötigen Validität beurteilt werden können. Der effiziente Einsatz knapper Ressourcen hingegen ist eine zentrale Grundlage ökonomischen Denkens und reicht lange zurück: Mit Fragen des gerechten Preises hat sich schon Aristoteles im Rahmen der nikomachischen Ethik beschäftigt. Führende Wohlfahrtsökonomen attestieren, dass keine Konkurrenz zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit existiert. Es ist Zeit für ein Umdenken, für das Etablieren neuer, gerechter Ansätze. Zeit, mit neuen Anreizen Effizienz und Gerechtigkeit gegenüber allen Beteiligten zu verbinden. Zeit, auch wirtschaftsethische und philosophische Ansätze zu integrieren. Zeit für einen neuen, moralisch geformten Ordnungsrahmen auch im Gesundheitswesen, wie es Homann fordert. Klassische, ökonomische Anreize werden sicherlich helfen, greifen aber alleine zu kurz, wie die Historie zeigt. Es ist Zeit anhand von konkreten Verteilungsprinzipien einen neuen, moralisch geformten Ordnungsrahmen zu schaffen. Ein Prinzip ist dabei besonders zentral: Die Generationengerechtigkeit. Deswegen bedeutet effizienter Einsatz von Ressourcen vor allem auch eines: Gerechtigkeit gegenüber der Generation unserer Kinder – der Zukunft unseres Sozialstaates.

The Corona pandemic and the resulting (worldwide) economic crisis are tearing deep holes in the financing system of statutory health insurance – this also applies to hospital financing. There is a danger of implicit rationing and of acting on impulse with austerity laws that have a rapid impact. The question of a fair allocation of scarce resources has arisen and continues to arise in many different ways. The financial compensation for hospitals in the pandemic also leads to distribution effects that have been controversially discussed. At the time being, very different effects seem to be emerging at the hospital level which unfortunately cannot yet be assessed conclusively and with the necessary validity. The efficient use of scarce resources, on the other hand, is a central basis of economic thinking and goes back a long way: Aristotle already dealt with questions of prices within the framework of the Nicomachean Ethics. Leading welfare economists attest that there is no competition between efficiency and distributive justice. It is time for a change in thinking and the establishment of new, just approaches. It is time to combine efficiency and justice for all stakeholders by means of new incentives. Time to also integrate ethical and philosophical approaches. Time for a new, morally shaped regulatory framework also in the health sector, as Homann demands. Classic economic incentives will certainly help, but they alone fall short, as history shows. It is time to create a new, morally shaped regulatory framework based on concrete principles of distribution. One principle is particularly central: intergenerational justice. Therefore, above all, an efficient use of resources means justice towards the generation of our children – the future of our welfare state.

1 Die makroökonomische Ausgangslage: Die Knappheitsdebatte verschärft sich

Vor, während und sicherlich auch nach der Pandemie beschäftigen sich die Gesundheitspolitik und die Gesundheitsökonomie mit den Themen einer bedarfsgerechten Versorgung und Vergütung. In der letzten Zeit prägten vor allem die strukturellen Veränderungsbedarfe der Versorgungslandschaft, der Leistungserbringung sowie der Finanzierungskonzepte den Diskurs (Beivers 2021a, 2021b). Die Strukturen und das Vergütungssystem an die sich wandelnden Bedarfe der Zukunft anzupassen war das Motto. Das Problem ist jedoch: Das kostet zunächst, die positiven Effekte – monetär wie auch versorgungspolitisch – stellen sich erst mittelfristig ein. Die letzten Jahre hätten sehr wohl die (finanziellen) Möglichkeiten geboten Strukturoptimierungen umzusetzen. Historische Überschüsse im Gesundheitsfonds, Rekord bei den Steuereinnahmen, Vollbeschäftigung und steigende Grundlohnsumme (GLS) – all dies bot in den letzten Jahren sehr gute Rahmenbedingungen, um nicht zu sagen eine historisch einmalige Gelegenheit, nötige Strukturreformen umzusetzen und zu finanzieren (Beivers 2021b, Beivers 2021d), ohne dabei Rationierungs- und Priorisierungsdebatten führen zu müssen.

Leider ist diese einmalige Chance eher verspielt worden: Der gesundheitspolitische Kurs war zunächst mehr in Richtung Konsumption statt Investition, betrachtet man die expansiven Reformgesetze. Und dann kam die Corona-Pandemie mit Lockdown und dem Einbruch der Wirtschaftsleistung. Dies führt v. a. dazu, dass die erwartete Zeitenwende mit sinkenden Einnahmen und Finanzknappheit etwa drei Jahre früher als zuvor erwartet eintritt (Augurzky et al. 2021a). Das heißt aber auch, dass die ohne Corona-Pandemie noch verbliebene „Rest-Zeit“ für noch ausständige strukturoptimierende Reformen bei guter Kassenlage nun verloren ist. Gar kann einem das Zitat des römischen Philosophen Seneca in den Sinn kommen: „Es ist nicht zu wenig Zeit, die wir haben, sondern es ist zu viel Zeit, die wir nicht nutzen.“ (Seneca 2011; Beivers 2021a, 2021d). Gemäß der Pressemeldung des Bundesministeriums für Gesundheit vom 5. März 2021 bzgl. der finanziellen Entwicklung in der gesetzlichen Krankenversicherung im 1.–4. Quartal 2020 (d. h. der KV 45-Daten) offenbart sich das wahre Bild (Beivers 2021b, 2021c):

Die Corona-Pandemie und die daraus resultierende (Welt-)Wirtschaftskrise reißt tiefe Löcher auch in das Finanzierungssystem der gesetzlichen Krankenkassen – und damit auch in die Krankenhausfinanzierung. So ist allein im Jahr 2020, in dem der GKV-Spitzenverband gemäß seiner Website noch von einem Grundlohnsummenwachstum von 3,66 % ausgeht, de facto ein Absinken des Wachstums der beitragspflichtigen Einnahmen auf 1,9 % zu beobachten, was zu einem Delta von etwa 4 Mrd. € führt (Wasem 2021).

Parallel dazu summieren sich etwa 12 Mrd. € Ausgaben für Rettungsschirme, von denen rund 10 Mrd. € durch den Bund finanziert wurden (Wasem 2021; Beivers 2021c). Zwar hatten die Krankenkassen – nicht zuletzt aufgrund der Fallzahlrückgänge – im Jahr 2020 einen geringeren Zuwachs ihrer Ausgaben als erwartet, jedoch fehlen ab dem Jahr 2022 ca. 20 Mrd. € jedes Jahr basiswirksam im Gesundheitsfonds (Wasem 2021; Beivers 2021d). Fraglich ist zum jetzigen Zeitpunkt, woher das fehlende Geld kommen soll und welche Reformen zu erwarten sind. Möglich sind Einsparungen bei den Versicherten (z. B. im Leistungskatalog oder vermehrte Zuzahlungen), Einsparungen bei den Leistungserbringern sowie strukturelle Veränderungen (z. B. den Krankenhausstrukturwandel) ebenso wie ein zunehmender Zwang zur Ambulantisierung oder ein neues Vergütungssystem (Beivers 2020a, 2021c).

Der Diskurs wird nun in eine klare Richtung laufen: Nach den Bundestagswahlen im September wird der neue Gesundheitsminister*in das finanzielle Defizit erkennen und zum „schnellen Handeln“ gezwungen sein. Es droht ein affektiertes Handeln mit Spargesetzten. Mehr denn je geht es wieder um die Verteilung knapper Ressourcen (Beivers 2020a). Begriffe aus der Gesundheitsökonomie wie Rationierung und Priorisierung drängen sich dabei sofort auf. Bekannt ist v. a. die politische Diskussion um die implizite wie auch explizite Rationierung. Bei ersterer, d. h. der verdeckten Rationierung, sind Wartelisten für Gesundheitsleistungen, Budgets und Honorierungssysteme aus der gesundheitspolitischen Vergangenheit bekannt (Amelung et al. 2018; Beivers 2021b). Der größte Nachteil einer impliziten Rationierung liegt nach Amelung et al. (2018) v. a. darin, dass keine transparenten Rationierungskriterien offengelegt werden und damit eine Ungleichbehandlung der Patientinnen und Patienten ermöglicht wird, wohingegen bei expliziter Rationierung die Rationierungskriterien explizit genannt werden. So wird Rationierung und die Debatte darum transparent und konsistent. Die Gleichbehandlung von Patienten wird gefördert und Leistungserbringer von Entscheidungskonflikten entlastet, so Amelung et al. (2018), da die Zuteilung von Gesundheitsleistungen objektiviert ist.

Nur dies lässt eine gesellschaftliche Diskussion um eine „gerechte“ Form der Verteilung zu. Daher kommt es trotz aller Spar-Gesetze darauf an, dass darin enthaltene Rationierungsmaßnahmen explizit und nicht implizit erfolgen und auf der Basis einer ethischen und wirtschaftsphilosophischen Analyse beruhen. Dazu soll dieser Artikel einen Beitrag leisten (Beivers 2021b).

2 Verteilungseffekte im Krankenhausmarkt in der Pandemie

Die Frage nach der gerechten Allokation knapper Ressourcen stellte sich auch schon vor der Pandemie in mannigfaltiger Art und Weise – nicht nur, aber gerade auch im Gesundheitswesen. Dies beginnt bei der Verteilung knapper Beitragsmittel der Krankenkassen auf die jeweiligen Leistungserbringer und geht bis hin zu solch schwierigen Fragen, wie „knappe Spenderorgane“ den erkrankten Patientinnen und Patienten in den jeweiligen Transplantationsstationen der Kliniken „zugeteilt“ werden. In einer Situation wie der Covid-19-Pandemie gewinnt dieser Aspekt neues Gewicht und nimmt Verteilungs- und Leistungsgerechtigkeit in den Fokus der Krankenhauspolitik (Beivers 2021b). Mit Beginn des ersten Lockdowns im März 2020 wurden die Krankenhäuser von der Bundesregierung aufgefordert, alle planbaren Eingriffe und Operationen – soweit medizinisch vertretbar – zu verschieben und Kapazitäten für die Behandlung von Covid-19-Erkrankten freizuhalten bzw. aufzubauen (Augurzky et al. 2021b). Und dies hat gewirkt: So zeigen Analysen des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), dass im Jahr 2020 im Vergleich zu 2019 in der Somatik ein deutlicher Rückgang der Krankenhausaufnahmen von 13 % zu beobachten war. Dies gilt auch für den Sommer mit konstantem und vergleichsweise niedrigem Infektionsgeschehen, in dem insgesamt 8 % weniger Fälle behandelt wurden und sich die erwarteten Nachholeffekte nicht eingestellt haben (Mostert et al. 2021). Auch in der zweiten Pandemiewelle brachen während des steigenden Infektionsgeschehens bzw. steigender Auslastung der Intensivkapazitäten durch Covid-19-Patienten die Fallzahlen anderer Erkrankungen ein (Beivers 2020a, 2020b).

Das im Eilverfahren beschlossene Covid-19-Krankenhausentlastungsgesetz zielte auf einen Ausgleich der ausgefallenen Einnahmen (Osterloh 2020), ein Rettungsschirm sollte den Krankenhäusern wirtschaftliche Sicherheit geben. Knapp zwei Jahre nach Ausbruch der Pandemie in Deutschland stellt sich jedoch immer mehr die Frage, ob diese Mittel ausreichend und leistungsgerecht verteilt wurden.Footnote 1 Die bis dato vorliegenden Analysen kommen durchaus zu einem heterogegen Bild und lassen die Frage zu: Waren die Maßnahmen des Gesetzes ausreichend? Oder haben die Krankenhäuser vielleicht sogar zu viel Geld erhalten? (Osterloh 2020; Augurzky et al. 2021b) Eine interne Erhebung der Allianz Kommunaler Großkrankenhäuser e. V. (AKG-Kliniken) zeichnet eine verheerende Bilanz der Corona-Pandemie in den Jahresergebnissen der kommunalen Maximalversorger, wonach im ersten Jahr der Pandemie sich das Jahresergebnis der AKG-Kliniken um durchschnittlich 6 Mio. € verschlechtert hat. Für das Jahr 2021 werden weitere Verschlechterungen der wirtschaftlichen Situation erwartet, was u. a. durch die rückläufigen Ausgleichszahlungen begründet wird (kma online 2021).

Der aktuelle Krankenhaus-Rating-Report 2021 stellt fest, dass im Jahr 2020 die stationären Fallzahlen um 13 % sanken, in den ersten Monaten der Pandemie vorübergehend sogar um 30 % (Augurzky et al. 2021b). Jedoch wurden demnach „zum Glück der Krankenhäuser“ 2020 rund 10,2 Mrd. € für die Einnahmeausfälle der Krankenhäuser in Form von Ausgleichszahlungen ausgezahlt. Gemäß den Analysen des Krankenhaus-Rating-Reports 2021 lagen diese dabei in der Summe höher als die durch die Leistungsreduktion hervorgerufenen Mindererlöse der Krankenhäuser, sodass die Erlöse 2020 bei den somatischen Krankenhäusern durchschnittlich um etwa 3,7 % und bei psychiatrischen und psychosomatischen Kliniken durchschnittlich um etwa 10,8 % zugenommen haben (Augurzky et al. 2021a). Entsprechend dürfte sich die wirtschaftliche Lage der Kliniken in den Jahren 2020 und 2021 im Durchschnitt kurzfristig verbessert haben. Jedoch werden sich ab 2022 vermehrt ökonomische Probleme zeigen (Augurzky et al. 2021b).

Die sich ergebenden Verteilungseffekte näher zu eruieren war u. a. Aufgabe eines Gutachtens des von der Bundesregierung eingesetzten Expertenbeirats (Augurzky et al. 2021a). Dabei wurde versucht, die Folgen der Maßnahmen auf die Krankenhäuser zu evaluieren (Osterloh 2020). Datenbasis zur Abschätzung der Folgen der Covid-19-Pandemie war das Leistungsgeschehen der Krankenhäuser für den Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 31. Dezember 2020.

Zusätzlich wurde eruiert, ob Ausgleichszahlungen die Erlösminderungen der Krankenhäuser aufgrund des Rückgangs der Leistungsmenge ausgleichen konnten (Augurzky et al. 2021b). Besonders spannend für die Diskussion sind die Ergebnisse bzgl. der Folgen der Ausgleichszahlung für die Erlössituation je Krankenhauskategorie. Differenziert nach Bettengröße zeigt sich, dass die Erlöszuwächse mit steigender Einrichtungsgröße geringer ausfielen. Bei den CMI-Klassen ist zu beobachten, dass Häuser mit durchschnittlichem CMI bis zu 0,8 überdurchschnittliche Erlöszuwächse aufwiesen. Krankenhäuser mit einem höheren CMI (über 1,1) zeigten hingegen unterdurchschnittliche Erlöszuwächse auf. Auch wenn die Autoren darauf hinweisen, dass die Analysen nach Untergruppen mit großer Unsicherheit versehen sind, kann dies die aufgestellten Thesen der AKG-Kliniken durchaus stützen (Augurzky et al. 2021b; kma online 2021).

Ein interessantes Bild ergibt sich auch bei der Detailanalyse der psychiatrischen und psychosomatischen Einrichtungen: Bezogen auf alle psychiatrischen und psychosomatischen Krankenhäuser stiegen dort die Brutto-Erlöse im Jahr 2020 um +10,4 bis 10,8 % gegenüber dem Vorjahr an. In Bezug auf die Krankenhausgröße zeigt sich, dass kleinere Krankenhäuser größere erwartete Erlöszuwächse aufwiesen als größere Krankenhäuser. Die Analysen deuten darauf hin, dass sich ein durchaus heterogenes Bild bei der Verteilung von Hilfs-Ressourcen ergeben hat. Daher steht die These im Raum, dass die „falschen“ Krankenhäuer gewonnen haben. Die von der Bundesregierung gut gemeinten Freihaltepauschalen haben ausgerechnet diejenigen Krankenhäuser zu den größten Profiteuren der Krise gemacht, die für die Aufnahme von Covid-Patientinnen und -patienten grundsätzlich am wenigsten geeignet waren – und sind (Baltzer 2021). Dazu zählen kleinere, schon vor der Pandemie schlecht ausgestattete Kliniken mit geringer Auslastung ebenso wie v. a. die psychiatrischen Fachkliniken, in denen im Normalfall weder Beatmungsgeräte noch Intensivkapazitäten vorgehalten werden (Baltzer 2021; Beivers 2021b). Diese Ungleichverteilung bei der Entwicklung der Erlöse erklärt, warum einige, v. a. große Krankenhäuser attestieren, dass die Ausgleichszahlungen aus Bundesmitteln die damit verbundenen Verluste nicht vollständig kompensieren konnten. Dies liegt am Beispiel der kommunalen Großkrankenhäusern insbesondere daran, dass in diesen Kliniken im Regelbetrieb ganz überwiegend schwere und langwierige Fälle behandelt werden. Die Systematik der Ausgleichszahlungen konnte diese Differenzierung nicht in geeigneter Weise abbilden (kma online 2021). Durch die politisch gewollte Zentralisierung der Covid-Versorgung in Krankenhäusern mit ausgewiesener notfall- und intensivmedizinischer Expertise hat sich diese Tendenz im Jahr 2021 weiter verschärft. Mit dem Auslaufen der Ausgleichszahlungen stehen insbesondere die Krankenhäuser unter Druck, die auch heute noch zahlreiche Covid-Patienten auf ihren Stationen versorgen, während sich andere Krankenhäuser schon längst im Regelbetrieb befinden (kma online 2021; Osterloh 2020). Es kann an dieser Stelle sicherlich nicht zufriedenstellen, dass auf der einen Seite von Erlöszuwächsen in der Psychiatrie und Psychosomatik berichtet wird und auf der anderen Seite die Krankenhäuser, die den Löwenanteil der pandemischen Versorgungslast getragen haben, nach der Pandemie angeblich finanziell schlechter dastehen als die anderen. Wäre dem so, wäre dies sicherlich nicht das Ziel des Gesetzgebers gewesen.

Im Zwischenfazit scheinen sich krankenhausindividuell sehr unterschiedliche Effekte abzuzeichnen, die zum jetzigen Zeitpunkt leider noch nicht abschließend und mit der nötigen Validität beurteilt werden können (Beivers 2021b). Da eine genauere empirische Analyse und Validierung derzeit noch nicht möglich ist, gilt es sich diesem Thema verteilungstheoretisch zu widmen und dergleichen Effekte zu diskutieren. Dabei geht es aber um mehr als nur um die Verteilung knapper Ressourcen in bzw. während der Corona-Pandemie, sondern auch um die Verteilung der zunehmend knappen Ressourcen in den u. a. vom demographischen Wandel geprägten Jahren nach der Pandemie.

3 Eine normative, aber auch ordnungspolitische Frage: Welcher Preis bzw. welche Entschädigung wäre denn „gerecht“?

Wie die Analyse der Verteilungseffekte zeigt, besteht ein Diskurs darüber, ob diejenigen, die die Last der Pandemie getragen haben – nämlich die Covid-Schwerpunkt-Krankenhäuser mit ihrem stark beanspruchten ärztlich-pflegerischen Personal –, dafür auch adäquat entlohnt wurden. Zunächst gilt es festzuhalten, dass die Entlohnung im deutschen Gesundheitssystem nicht über Preise, sondern über Vergütungen stattfindet. Deren Höhe werden entweder in korporatistischen Verhandlungen im Rahmen der Selbstverwaltung verhandelt oder durch den Staat – wie in der Corona-Pandemie mit den Freihaltepauschalen geschehen – festgelegt. Fraglich ist ob diese staatliche Festlegung normativ richtig erfolgte. Ist die bloße Berechnung/Abschätzung der Vorhaltekosten und ein Versuch, diese durch Freihaltepauschalen zu finanzieren, eigentlich adäquat? Werden das Risiko und die besondere Schwere der Arbeit in pandemischen Zeiten damit abgefedert? Wie kann es zu einem gerechten Preis für die Arbeit kommen? (Beivers 2020a, 2021b, 2021d)

Mit Fragen des gerechten Preises hat sich schon Aristoteles im Rahmen der nikomachischen EthikFootnote 2 beschäftigt und verweist dabei auf die Unterscheidung zwischen „lustitia Commutativa“ und „lustitia Distributiva“ (Aristoteles 1991a, 2008; Weizsäcker 1998). Er schaffte damit die bis heute in der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie geltende Basis für Gerechtigkeitsdiskussionen. Unter der kommutativen Gerechtigkeit („lustitia Commutativa“) versteht Aristoteles die gerechte Entschädigung für eine hergegebene Sache oder für einen erlittenen Schaden. Im Fokus steht der gerechte Tausch zwischen einander gleichgestellten Tauschpartnern (Weizsäcker 1998; Bahro et al. 2001). So sollte nach Aristoteles ein gerechter Preis die Kosten der Produktion decken und dem Produzenten ein „standesgemäßes Leben“ ermöglichen. Diese „standesgemäße Entlohnung“ ergibt sich aufgrund der Schwere der Arbeit, der notwendigen Qualifikation und der öffentlichen Meinung über den Beruf. Letzteres ist aus der Abgeltung positiver sowie negativer Verantwortung abzuleiten (Aristoteles 1991a, 1991b, 2008).

Diese Analysen liefern keine schnellen Lösungen der aktuellen Problematik, zeigen aber durchaus auf, dass ein rein auf die Ist-Kosten kalkuliertes Vergütungssystem, das ja die Preise im deutschen Gesundheitssystem ersetzt, zumindest aus Sicht der nikomachischen Ethik nicht richtig – sprich gerecht – sein kann, da Parameter wie die „öffentliche Meinung über den Beruf“ sowie die „Abgeltung positiver sowie negativer Verantwortung“ zu wenig berücksichtig werden. Unweigerlich drängen sich in diesem Zusammenhang auch die Gehalts-Diskussionen im Bereich der Pflege auf (Bahro et al. 2001; Weizsäcker 1988, 1981).

Fraglich ist, ob der Preismechanismus dieses Problem besser lösen kann als staatlich administrierte Vergütungssysteme. Dies führt jedoch zu einer ordnungspolitischen Debatte und damit zu dem zweiten nikomachischen Prinzip, der „lustitia Distributiva“, der distributiven Gerechtigkeit. Diese versteht eine gerechte Verteilung von Gütern unter mehrere Personen durch eine übergeordnete Instanz, wie etwa den Staat, und entspricht nach Weizsäcker (1988) der heutigen Verteilungsgerechtigkeit. Systemisch stellt sich daher die Frage, ob das korporatistische deutsche Gesundheitssystem diesem Anspruch genügen kann (Weizsäcker 1988, 1981) oder ob dies nicht ein Plädoyer für mehr preisliche Steuerung ist (Neubauer et al. 2011). In den folgenden Abschnitten wird dieser Gedanken diskutiert.

4 Exogene Schocks und die Frage der Gerechtigkeit: Eine theoretische Annäherung

Die Corona-Krise führte zu einer Art exogenem Schock der Volkswirtschaft als Ganzem und natürlich des Gesundheitswesens ganz im Speziellen. Die Wirtschaftswissenschaften beschäftigen sich schon von Beginn an mit der Vulnerabilität der Märkte und den Auswirkungen sogenannter Schocks. Umso passender erscheint es in diesem Zusammenhang, dass der Begriff des Schocks ursprünglich aus der Medizin stammt, wo selbiger als lebensbedrohliches Zustandsbild für Patienten gilt (Beivers 2020a, 2020b, 2021a).

In der Makroökonomie beschreibt er ein plötzliches, also nicht geplantes und nicht erwartetes massives Ereignis, das die Marktteilnehmer überrascht und auf das sie nicht sofort und angemessen reagieren können. Der Zusammenhang mit der aktuellen Situation drängt sich dabei sofort auf. Umso mehr ist es nun wichtig, adäquat und besonnen zu agieren und vorschnelles Handeln zu vermeiden, um für die Zukunft zu lernen. Der Blick zurück zeigt auf alle Fälle: Ökonomische, auch pandemische Schocks sind der Ökonomie nicht unbekannt, nur waren sie uns scheinbar die letzten Jahre fern. Doch zählt gerade jetzt das Primat der Ökonomie mehr denn je: Mit knappen Mitteln das bestmögliche Ergebnis zu erzielen. Und dieses Primat kommt – wie bereits beschrieben – schnell auf das Gesundheitssystem zu.

Fast alle Protagonisten im Gesundheitswesen fordern dabei eine gerechte Verteilung dieser knappen Ressourcen. Aus (gesundheits-)ökonomischer Sicht sind jedoch mit dem Begriff der Gerechtigkeit Probleme verbunden und eine Definition ist mehr als nur schwierig. Es sind eher die Disziplinen der Philosophie, Soziologie und der Theologie, die sich dieses Themenkomplexes annehmen. Ökonominnen und Ökonomen beziehen sich lieber auf die „Effizienz einer Allokation“ und versuchen, sich rational dem Thema zu nähern. Doch gerade jetzt stellt sich die Frage, ob das noch ausreicht – oder ob wir uns nicht einer breiteren Diskussion stellen müssen (Beivers 2020a, 2021b, 2021d).

Dies betrifft eine ganze Reihe von unterschiedlichen Aspekten: Zum einen sollen die zumeist von Gesundheitsökonomen etablierten Vergütungssysteme die Anreize im Optimalfall so setzen, dass es nicht nur zu einer bedarfsgerechten Versorgung kommt, sondern auch Verteilungsgerechtigkeit und Effizienz erreicht werden. Die jüngsten DRG-Anpassungen sollten auch mehr (Verteilungs-)Gerechtigkeit herstellen, vor allem für die Pflege. Doch ist es mehr als fraglich, ob dies gelungen ist und inwiefern wir hier nicht nach neuen Lösungen suchen müssen. Die große Kontroverse bezüglich der Krankenhaus-Ausgleichszahlungen wurde bereits thematisiert. Zeit also, einen Erklärungsversuch zu unternehmen: Was versteht man unter einer leistungsgerechten Verteilung? (Beivers 2021d)

5 Widerspricht mehr Effizienz der Gerechtigkeit?

Der effiziente Einsatz knapper Ressourcen ist eine zentrale Grundlage ökonomischen Denkens. Vielmehr noch: Es gilt die Ressourcen so einzusetzen, dass ein höchstmögliches Maß an „Nutzen“ erreicht wird (Gossen 1854). Dem schließt sich dann unweigerlich die Frage nach dem „Nutzen für wen und für was“ an. Aber zunächst einen Schritt zurück hin zur Begriffsdefinition: Der Wohlfahrtsökonom v. Weizsäcker definiert Effizienz als eine Maßnahme (des Staates) oder einen Vorgang, die bzw. der dazu führt, „dass der Geldwert des Nutzens der Begünstigten größer ist als der Geldwert des Schadens der Geschädigten“ (Weizsäcker 1998). Dies schließt sich dem Verständnis des Pareto-Optimums (auch Pareto-effizienter Zustand genannt) an, wonach ein effizientes Optimum (bestmöglicher Zustand) als dasjenige bezeichnet wird, in dem es nicht möglich ist, jemanden besser zu stellen oder einen anderen schlechter zu stellen (Wellisch 2000; Holzner 2011).

An dieser Stelle sei aber aus volkswirtschaftlich-methodischer Sicht erwähnt, dass das Pareto-Kriterium zu Problemen führt. Viele Zustände sind nach dem Pareto-Kriterium nicht wirklich vergleichbar. Das kann nach Wellisch dazu führen, dass Politikmaßnahmen komplizierte und praktisch undurchführbare Kompensations-leistungen zwischen Gewinnern und Verlierern erfordern. Eine strikte Anwendung des Pareto-Kriteriums in der Politik würde zum Einfrieren des Status quo führen (Wellisch 2000; Holzner 2011). Jedoch ist nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium eine Politikmaßnahme sinnvoll, wenn sie für mindestens ein Individuum eine Verbesserung bringt und die Verlierer durch die Gewinner kompensiert werden könnten. Dabei muss die Kompensation nur theoretisch möglich sein (Holzner 2011). Somit erfolgt hier eine klare Trennung von Effizienz- und Verteilungsüberlegungen: Nach dem Kaldor-Hicks-Kriterium ist jede Maßnahme allokationseffizient, die den Kuchen vergrößert, auch wenn einzelne Stücke am Kuchen kleiner werden. Vorteile des Kaldor-Hicks-Kriteriums sind, dass es individuelle Präferenzen respektiert, eine klare Trennung von Effizienz- und Verteilungsaspekten erlaubt und eine gute Grundlage/ein gutes Kriterium für Politikmaßnahmen ist (Wellisch 2000; Holzner 2011).

Unbenommen dieser Diskussion sieht v. Weizsäcker das Effizienzkriterium für so gut wie alle wirtschafts- und sozialpolitischen Maßnahmen und für ausschließlich gültig an. Seinen Analysen zufolge besteht keine Konkurrenz zwischen Effizienz und Verteilungsgerechtigkeit, womit die einer universalistischen Ethik entsprechende Gerechtigkeitsidee mit dem Effizienzziel kompatibel ist, so auch Bahro et al. (2001). Von Weizsäcker beklagt vielmehr die wettbewerbs- und fortschrittshemmende Rolle des Staates, was gemäß Bahro et al. der Grund dafür sein kann, dass eine effiziente Ressourcenallokation im Gesundheitswesen nur ungenügend erfolgt (Bahro et al. 2001; v. Weizsäcker 1988, 1998, 1981). Ein weiteres und deutliches Indiz dafür, dass die derzeitigen korporatistisch ausgehandelten oder staatlich administrierten Verfügungen allein nicht zu Verteilungsgerechtigkeit geführt haben (s. auch Neubauer et al. 2011). So attestiert u. a. Bahro et al. (2001) auch, dass durch den Konflikt zwischen den Möglichkeiten des medizinischen Fortschritts auf der einen und der Finanzierbarkeit auf der anderen Seite im zunehmenden Maße Dilemmata entstehen. Neue und teure Entwicklungen im Bereich der pharmazeutischen Industrie sowie der personalisierten Medizin – bei knapper werdenden Mitteln im Gesundheitsfonds – werden diese Debatten zukünftig noch verschärfen und zu reformpolitischen Anpassungsbedarfen in den Nutzenbewertungsverfahren führen müssen (Stichwort: Anpassung des AMNOG-Prozesses). Passend dazu stellen auch Münch und Scheytt fest: „Es ist nicht die Ökonomie, welche die Ethik der Medizin gefährdet, sondern die Medizin gefährdet ethische Grundsätze, wenn sie ökonomische Grundsätze missachtet.“ (Münch und Scheytt 2014)

Wenn die Pandemie überwunden ist, wird man eine Analyse der Kosten-Nutzen-Bilanz staatlich angeordneter Pandemie-Maßnahmen durchzuführen haben – gerade auch im Vergleich zu anderen, im Status quo angewandten „Effizienz-Bewertungsmethoden“ (Bahro et al. 2001) – und dann die Verhältnismäßigkeit prüfen müssen.

Diese anderen „Effizienz-Bewertungsmethoden“ zielen v. a. auf die (Zusatz-)Nutzenbewertungen durch das IQWiGFootnote 3 ab, die mit dem Arzneimittelmarkt-Neuordnungsgesetz (AMNOG) im Jahr 2011 eingeführt wurden (s. § 35a SGB V). Hier wurde festgelegt, dass neu zugelassene Arzneimittel mit neuen Wirkstoffen unmittelbar nach Markteintritt eine Bewertung ihres Zusatznutzens durchlaufen müssen. Die jeweiligen Pharmaunternehmen müssen hierzu ein Dossier vorlegen, das vom IQWiG für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) bewertet wird. Auf dieser Grundlage beschließt der G-BA dann über den Zusatznutzen. Dieser Beschluss dient als Entscheidungsgrundlage dafür, zu welchem Preis der Hersteller das neue Arzneimittel anbieten darf (IQWiG 2019). So wird man nicht nur eine methodische Debatte über die Art der (Zusatz-)Nutzenbewertung führen – wie sie ja bereits seit mehreren Jahren geführt wird. Vielmehr wird man auch die Frage stellen müssen, ob man dergleichen methodische Ansätze der gesundheitsökonomischen Evaluation nicht auch auf andere (Leistungs-)Bereiche des Gesundheitswesens – wie der Krankenhausversorgung – ausweiten soll.

6 Gerechtigkeit und Verteilungsprinzipien im Gesundheitswesen

Appelle nach einem verantwortungsbewussten Mitteleinsatz, wie sie im Abschn. 15.5 dargestellt werden, widersprechen zwar nicht den Vorstellungen von Gerechtigkeit, sind jedoch in einem überwiegend regulierten Gesundheitswesen alleine nicht zielführend. So fordert auch Bahro et al. (2001) ein neues theoretisches Konzept und votiert damit für ein mehr marktorientiertes – und damit effizienteres – Gesundheitssystem. Seinen Analysen zufolge kann nur eine methodisch neu angepasste, kombinierte Betrachtung von medizinisch Möglichem und den ökonomischen Folgen einen auch gesellschaftlich vermittelbaren Konsens hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit medizinischer Leistungen ermöglichen.

Wie ein gesellschaftlich vermittelbarer Konsens hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit erreicht, sprich eine gerechte Gesellschaft bzw. ein gerechtes Gesundheitssystem organisiert werden kann, ist eine Frage, mit der sich u. a. auch der politökonomische Philosoph John Rawls befasst. Er zeigte in seiner Theorie vom „Schleier der Ungewissheit“, dass sich durchaus alle Mitglieder einer Gemeinschaft auf gleiche, faire Regelungen einigen können, wenn sie ihr eigenes Risiko nicht kennen – daher der „Schleier der Ungewissheit“. Demzufolge kann es nur in einer Art „Urzustand“ zu einem gerecht konstruierten Zielbild für alle kommen. Denn sobald man die eigenen Vorteile und Risiken kennt, handelt doch jeder selbstoptimierend und nicht mehr gemeinschaftsoptimierend (Rawls 2005; Beivers 2021b).

Dieser Gedanke sollte in die weiteren Überlegungen einfließen und darauf aufbauend sollte versucht werden, ein Zielbild zu erarbeiten. So sollten generell Verteilungs- und Priorisierungsdebatten – bei knappem Impfstoff genauso wie bei der Verteilung knapper Finanzmittel – nicht nur eigennutzbezogen, sondern auch wirtschaftsphilosophisch und zivilgesellschaftlich geführt werden, um zu einer möglichst gerechten Verteilung zu kommen, der dann am Ende auch möglichst viele zustimmen können.

Der US-amerikanische Sozial- und Moralphilosoph Michael Laban Walzer greift die Überlegungen zu einer gerechten Verteilung auch auf und fordert in diesem Kontext keine einfache Gleichheit, sondern eine „komplexe Gleichheit“ (Walzer 2006). Lenk (2013) versucht dabei, die von Walzer kategorisieren Verteilungsprinzipien auf konkrete Anwendungsbeispiele auch im Gesundheitswesen zu übertragen. Er ordnet die Prinzipien nach Walz einzelnen Bereichen und Anwendungsbeispielen zu, womit er versucht, einen prinzipienethischen Ansatz auch im Gesundheitswesen zu verfolgen, um dessen Anwendbarkeit und Plausibilität aufzuzeigen (Lenk 2013; Walzer 2006).

Um nicht allein bei abstrakten „Worthülsen“ zu bleiben, soll versucht werden, die jeweiligen Verteilungsprinzipien u. a. für die Gesundheitspolitik der nächsten Legislaturperiode konkreterer zu machen und einzelne Punkte im Sinne einer „Reformagenda“ zu skizzieren. Dies ist im Detail sicherlich nicht trivial; nicht umsonst spricht Walzer von einer „komplexen Gleichheit“ (Walzer 2006). Daher können die in Tab. 15.1 dargestellten kategorisieren Verteilungsprinzipien unter Bezug auf konkrete Anwendungsbeispiele im Gesundheitswesen helfen eine Agenda zu erstellen:

Tab. 15.1 Verschiedene Verteilungsprinzipien mit Anwendungsbeispielen im Gesundheitswesen. (Quelle: eigene Darstellung, angelehnt an Lenk 2013; Walzer 2006)

Das (i) egalitäre Verteilungsprinzip, das im Kontext des Gesundheitswesens impliziert, dass allen Mitgliedern einer Gemeinschaft im Bedarfsfall die gleichen Gesundheitsgüter zukommen, wird schon recht bald auf die gesundheitspolitische Reformagenda gelangen. Konkret geht es hier um die Forderung der Reorganisation des heutigen dualen Krankenversicherungssystems hin zu einer Bürgerversicherung, wie sie von einigen Parteien gefordert wird. Im Kern geht es hier um die Frage, welche Kriterien darüber entscheiden, welchen Versicherungsschutz ein Bürger oder eine Bürgerin wählen kann. Sicherlich gilt es hier eine Debatte zu führen, zumal die einzelnen parteipolitischen Vorstellungen erst skizziert und noch zu wenig ausgearbeitet sind. Diese Debatte hat zwei Ebenen: Zum einen die Frage nach der Neudefinition der Wahlentscheidung (Stichwort: VersicherungspflichtgrenzeFootnote 4) und zum anderen die Klärung der FinanzierungsgrundlageFootnote 5. Betrachtet man die bereits dargestellte erwartete Unterdeckung des Gesundheitsfonds, ist dies ein zentraler Punkt – gerade bei Verteilungsdebatten. Aber nicht nur die Verbreiterung der Einnahmebasis, sondern auch der effiziente Umgang mit den Ressourcen sind in diesem Kontext gesundheitsökonomisch bedeutsam, ebenso wie die Frage, wieviel Versicherungsgedanke (Stichwort: ÄquivalenzprinzipFootnote 6) und wieviel Umverteilung dem Finanzierungssystem der Gesundheitsversorgung zukünftig zugrunde liegen soll: Eine Debatte, die nicht ohne die dargestellten Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit geführt werden sollte.

Das nächste Verteilungsprinzip ist die (ii) ausgleichende Gerechtigkeit, wie beispielsweise Gerichte: Wenn die Selbstverwaltung in korporatistischen Verhandlungen bestehen und im Vorteil gegenüber staatlichen Systemen stehen will, gilt es auch hier nachzujustieren. Das fängt bei der Berechnung der GLS-Steigerung an, geht bei der Komplexität der Budgetverträge und der Vergütungssysteme weiter und endet zuletzt beim Sachverstand der zu berufenden Schiedsamtsmitglieder. Diese sollten mehr Unterstützung – vielleicht auch gesundheitsökonomische Schulungen – bekommen, um eine zunehmende Zahl von Schiedsverfahren schnell und gut abwickeln zu können und nicht die Sozialgerichte mit noch mehr Verfahren von anderen wichtigen Projekten abzuhalten. Wie bereits erwähnt können neue Vergütungsmodelle wie Regionalbudgets nicht nur die Komplexität der Budgetverhandlungen, sondern auch Schiedsamtstätigkeiten deutlich vereinfachen und das System damit effizienter machen (Beivers 2021c).

Das (iii) Bedarfsprinzip hingegen unterscheidet nach der Dringlichkeit der Bedürfnisse und hat in den letzten Jahren eine eher untergeordnete Rolle gespielt, v. a. weil dies wahl- und gesellschaftspolitisch sehr heikel ist. Im Kern geht es dabei um die Frage nach dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung; diese ist abermals eng mit der Frage nach neuen Vergütungssystemen verknüpft. So existieren neben der Bürgerversicherung, die zumeist als Vollversicherung angedacht ist, auch (ältere) Modelle (Stichwort: Gesundheitsprämie bzw. Kopfpauschale, siehe hierzu im Detail u. a. auch Ernst und Seger 2011), die nur einen „Basisschutz“ solidarisch versichern wollen, alle weiteren, nicht elementaren Leistungen wären dann Bestandteil der eigenverantwortlichen Vorsorge (Stichwort: Zusatzversicherung). Man wird sich dieser Debatte stellen müssen – egal welches Reformkonzept sich durchsetzt: Welche Leistungen sind weiterhin Teil des Leistungskataloges im SGB V und welcher Bereich geht in die Eigenverantwortung? Auch hierzu sollten gesundheitsökonomische Modelle Beiträge für eine sachlich fundierte Diskussion liefern. Elemente wie Patientensteuerung und (salutogenetische) Verhaltensänderungen sollten hier integriert werden.

Zum Verteilungsprinzip der (iv) Tauschgerechtigkeit ist bereits einiges gesagt worden. Im Kern geht es hier um die Frage neuer, verteilungsgerechter Vergütungssysteme und Anreize, wie sie v. a. noch im Abschn. 15.7 angesprochen werden. Auch das (v) Verdienstprinzip bzw. Leistungsprinzip, sprich die Frage, wie Güter oder Positionen aufgrund besonderer Leistungen oder Verdienste verteilt werden sollen, wird das Gesundheitssystem noch länger beschäftigen. Die Diskussion begann zunächst im Bereich der Pflege und hat gerade in Zeiten der Pandemie mit Sonderzahlungen und Freihaltepauschalen eine neue Dimension erhalten. Insbesondere die Ausführungen zur nikomachischen Ethik (siehe Abschn. 15.3) können hier zielführend sein und sollten in derartige Diskussionen mit einbezogen werden.

Das vorletzte Prinzip, das (vi) Nützlichkeitsprinzip, zielt darauf ab, die knappen Güter mit maximalem Nutzen für die Gesellschaft zu verteilen. Diese scheinbar „einfache“ Forderung ist jedoch keinesfalls trivial. Die Gesundheitsökonomie ebenso wie die Gesundheitspolitik muss explizit die Frage nach der (gesellschaftlichen) Bedarfsgerechtigkeit neu stellen und die Versorgungskapazitäten und -strukturen danach neu justieren. Optimierungsansätze, wie beispielsweise eine Bündelung der stationären Versorgungskapazitäten, sind zwar richtig und wichtig, doch müssen diese verstärkt in eine Analyse des „Nutzens für die Gesellschaft“ eingebettet werden. Dazu bedarf es einer Erhebung der Bedarfe, auch unter gesundheitspsychologischen und gesundheitssoziologischen Aspekten, um zu einem ganzheitlichen, akzeptierten Zielbild zu gelangen. Partikularinteressen, wie sie in einem durch Verbände und Körperschaften gesteuerten Gesundheitswesen wie in Deutschland häufig vorzufinden sind, müssen in den Hintergrund treten. Auch darauf gilt es Reformgesetze anzupassen.

Das letzte und wahrschlich bedeutsamste Prinzip ist das (vii) Nachhaltigkeitsprinzip, sprich die Generationengerechtigkeit. Wir bürden den nachkommenden Generationen nicht nur die Last des Klimawandels und des demographischen Wandels auf, sondern nun auch noch die finanziellen Folgen der Pandemie. Deswegen bedeutet effizienter Einsatz von Ressourcen vor allem auch eines: Gerechtigkeit gegenüber der Generation unserer Kinder – der Zukunft unseres Sozialstaates. Oder um John Rawls direkt zu zitieren: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.“ (Rawls 2005).

7 Implikationen für die Gesundheitsökonomie

Nicht nur, aber gerade auch die pandemische Krise hat die Schwachstellen des deutschen Gesundheitswesens selbst aufgezeigt, v. a. in Bezug auf die (föderale) Organisationsstruktur, die Vergütungssysteme sowie die Personen, die die Entscheidungen treffen: Allesamt waren nicht adäquat auf dergleichen Schocks vorbereitet. Dies führte zu einem Handeln im Affekt – und letztlich zu Ungerechtigkeiten, v. a. bei der Leistungserbringungsvergütung, wie aufgezeigt wurde.

Die Disziplin der Gesundheitsökonomie ist dabei seit jeher geprägt von der Suche nach effizienten Lösungen für das Gesundheitssystem, wie beispielsweise im Bereich bedarfsgerechter Versorgungsstrukturen oder neuer Vergütungssysteme. Auch die Steuerung des Anspruchsverhaltens der Patientinnen und Patienten primär über Kostenbeteiligungen (Stichwort: Praxisgebühr) ist ein Dauerthema. Doch können diese bewährten Ansätze und Methoden der Gesundheitsökonomie in den 2020er Jahren mit den neuen, immensen Herausforderungen (vor dem Hintergrund des digitalen Wandels) noch adäquate Lösungen bieten? Haben wir zwischenzeitlich nicht viel mehr Erkenntnisse, auch aus dem Bereich der Verhaltensökonomie, und sind nicht auch die Rahmenbedingung andere? (Beivers 2017) Alte Debatten über Rationierung und Priorisierung, wie sie in allen Standard-Lehrbüchern der Gesundheitsökonomie zu finden sind, haben jedoch – wie die Analysen zeigen – auch weiterhin ihre Berechtigung. Nur der Kontext ist ein anderer. Zeit für ein Umdenken, für das Etablieren neuer, gerechterer Ansätze. Zeit, mit neuen (Vergütungs-)Anreizen Effizienz und Gerechtigkeit gegenüber allen Beteiligten zu verbinden.

Wie schon im nikomachischen Ansatz von Aristoteles im Kontext gerechter Preise dargestellt müssen Vergütungssysteme nicht nur für den Leistungserbringer gerecht sein, sondern auch aus gesellschaftlicher Perspektive zu Effizienz – und damit letztendlich auch zu Gerechtigkeit gegenüber den Beitragszahlern – führen. Im konkreten Fall bedeutet dies, dass die Anreize – wie bereits erwähnt – so zu setzen sind, dass es nicht nur zu einer bedarfsgerechten Versorgung kommt, sondern auch, dass Effizienz bei der Leistungserbringung ebenso wie Gerechtigkeit gegenüber den Leistungserbringern erreicht wird (Beivers 2021b). Wie Wasem 2020 darstellt, ist auch FairnessFootnote 7 gegenüber den Leistungserbringern zusätzlich anzustreben (Wasem 2020). Hier kann eine weitere, wirtschaftsphilosophische Fundierung der gesundheitsökonomischen Perspektive helfen: Der institutionenethische Ansatz von Karl Homann. Er negiert einen Widerspruch zwischen Ethik und Wirtschaft. Seiner Meinung nach geht es nicht um die Frage eines Interessenausgleichs beider Elemente.

Vielmehr lässt sich seiner Sichtweise folgend die Moral in einer Gesellschaft nicht gegen die Wirtschaft, sondern letztlich nur in und durch die Wirtschaft durchsetzen. Er legt den Fokus auf die institutionellen Rahmenbedingungen des unternehmerischen Handelns und eine indirekte Beeinflussung durch einen moralisch geformten Ordnungsrahmen. Sein Ziel ist es, moralische Normen zu finden, die auf Dauer individuelle Vorteile bieten. Nur so kann der Widerspruch zwischen Moral (Ethik) und Wettbewerb (Ökonomik) überwunden werden. Dies kann eine gute Grundlage für neue Vergütungsmodelle sein (Homann 1990, 1997; Bahro et al. 2001).

So attestiert Homann 1990 auch, dass v. a. Fachleute die Argumente, etwa neue, leistungsgerechte Vergütungsanreize für alle Beteiligten, kritisch prüfen und zusammenstellen sollten. Diese Ergebnisse sollten dann, zusammen mit anderen Vorkehrungen, an die Stelle der Konsensforderung treten. Übertragen auf die Gesundheitspolitik unterstreicht dies erneut die Notwendigkeit, durch Fachleute klare, transparente Regelungen ausarbeiten zu lassen, wie die Rationierung bewerkstelligt werden könnte (Homann 1990; Bahro et al. 2001).

Doch ist der jetzige Weg mit komplexen, korporatistisch besetzten Gremien (Stichwort: Zusammensetzung der Beiräte der Medizinischen Dienste, des Gemeinsamen Bundesausschusses, der Schiedsstellen etc.) der Richtige oder bedarf es nicht mehr Fachleuten aus verschieden Wissenschaftsdisziplinen, die vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Kompetenzen synoptisch zu guten Ergebnissen kommen? So wurde gerade in Zeiten der Corona-Pandemie die Bundesregierung von verschiedenen Seiten gerügt, sie vertraue nur auf nur wenige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus wenigen Disziplinen und mehr Interdisziplinarität sei wünschenswert. Dies kann auch im Gesundheitswesen ein durchaus zu überdenkender Sachverhalt sein.

Auch wenn Homann auf die Gefahr einer „Expertokratie“ bereits vor Jahren hingewiesen hat, gehen Bahro et al. 2001 davon aus, dass es dennoch mittelfristig keine wirklich seriöse Alternative zu wissenschaftlich gesicherten Erkenntnissen in der Medizin, der Pflege- und Therapiewissenschaft ebenso wie der Gesundheitsökonomie und -psychologie geben kann, gerade auch, um aufkeimenden Populismus zu verhindern (Hofmann 1999; Homann 1990; Bahro et al. 2001). Homann und Pies kommen in ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass die Sozialpolitik den Markt produktiver macht, was sie zu der Forderung führt, institutionelle bzw. ordnungspolitische Rahmenbedingungen und somit Anreize zu etablieren, die dazu führen, dass das nutzenmaximierende Verhalten der einzelnen Akteure zum Gesamtnutzen (d. h. der Wohlfahrt) positiv beiträgt (Homann und Pies 1996; Bahro et al. 2001). Homann steht damit für eine ökonomische Ethik, wonach der „systematische Ort der Moral in einer Marktwirtschaft […] die Rahmenordnung“ ist (Homann 1993). Demnach sieht er die „Effizienz in den Spielzügen, die Moral in den Spielregeln“ (Homann und Blome-Drees 1992).Footnote 8

Übertragen auf das Gesundheitswesen könnte dies für Bahro et al. etwa bedeuten, dass gerade präventive und gesundheitsfördernde Maßnahmen als Anreize für die Versicherten verstärkt zum Einsatz kommen sollten und nicht nur niedrigere Prämien oder höhere Selbstbehalte. Dies sollte bei der Etablierung neuer Anreize im Vergütungssystem durch Fachleute mehr betrachtet werden. Capitation-Modelle könnten hier einen neuen Anreiz bieten, die Gesundheit in den Fokus zu stellen (Bahro et al. 2001).

Zusammenfassend kommt Homann zu dem Schluss, dass die Moral einer modernen Gesellschaft nicht im Denkmuster einer individuellen Handlungssteuerung konzipiert werden kann, sondern die Handlungsbedingungen als zentraler Ansatz der Zielerreichung dienen. Durch diese werden Entscheidungen der Individuen geprägt und etwaige Leistungsanreize zum Handeln verarbeitet. Homann vertritt die auch von Bahro et al. geteilte These, dass man der Moral ein „ökonomisches Fundament“ geben müsse, will man ihr zur gesellschaftlichen Geltung verhelfen (Homann 1997, 1998, 1999; Bahro et al. 2001). Eine moderne wirtschaftsethische Konzeption sollte deshalb von einer umfangreichen Anreiz- beziehungsweise Bedingungsethik im Gesundheitswesen ausgehen. Sicherlich helfen dabei auch die klassischen ökonomischen Konzepte und Anreize, sie greifen aber allein zu kurz, wie die Historie zeigt. Vielmehr müssen Anreize gesetzt werden, wie wir sie aus der Verhaltensökonomie und Gesundheitspsychologie kennen (Stichwort: Nudging). Vergessen wir daher nicht die Lehren aus der Krise, seien wir kreativ, besitzen wir den (politischen) Mut und suchen gemeinsamen nach neuen, klugen Lösungen (Beivers 2017). Benötigt werden Anreize, die weit über den Werkzeugkasten der heutigen Gesundheitsökonomie hinausgehen, um das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung, der Patientinnen und Patienten und das Handeln der Leistungserbringer so effizient zu steuern, dass wir es sogar schaffen – trotz dramatischer Mittelknappheit bei der Finanzierungsgrundlage – das System umzukrempeln, effizienter, kostengünstiger und damit zukunftsfähig aber auch gerechter zu machen (Beivers 2020a, 2021b, 2021d).