Appelle nach einem verantwortungsbewussten Mitteleinsatz, wie sie im Abschn. 15.5 dargestellt werden, widersprechen zwar nicht den Vorstellungen von Gerechtigkeit, sind jedoch in einem überwiegend regulierten Gesundheitswesen alleine nicht zielführend. So fordert auch Bahro et al. (2001) ein neues theoretisches Konzept und votiert damit für ein mehr marktorientiertes – und damit effizienteres – Gesundheitssystem. Seinen Analysen zufolge kann nur eine methodisch neu angepasste, kombinierte Betrachtung von medizinisch Möglichem und den ökonomischen Folgen einen auch gesellschaftlich vermittelbaren Konsens hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit medizinischer Leistungen ermöglichen.
Wie ein gesellschaftlich vermittelbarer Konsens hinsichtlich der Verteilungsgerechtigkeit erreicht, sprich eine gerechte Gesellschaft bzw. ein gerechtes Gesundheitssystem organisiert werden kann, ist eine Frage, mit der sich u. a. auch der politökonomische Philosoph John Rawls befasst. Er zeigte in seiner Theorie vom „Schleier der Ungewissheit“, dass sich durchaus alle Mitglieder einer Gemeinschaft auf gleiche, faire Regelungen einigen können, wenn sie ihr eigenes Risiko nicht kennen – daher der „Schleier der Ungewissheit“. Demzufolge kann es nur in einer Art „Urzustand“ zu einem gerecht konstruierten Zielbild für alle kommen. Denn sobald man die eigenen Vorteile und Risiken kennt, handelt doch jeder selbstoptimierend und nicht mehr gemeinschaftsoptimierend (Rawls 2005; Beivers 2021b).
Dieser Gedanke sollte in die weiteren Überlegungen einfließen und darauf aufbauend sollte versucht werden, ein Zielbild zu erarbeiten. So sollten generell Verteilungs- und Priorisierungsdebatten – bei knappem Impfstoff genauso wie bei der Verteilung knapper Finanzmittel – nicht nur eigennutzbezogen, sondern auch wirtschaftsphilosophisch und zivilgesellschaftlich geführt werden, um zu einer möglichst gerechten Verteilung zu kommen, der dann am Ende auch möglichst viele zustimmen können.
Der US-amerikanische Sozial- und Moralphilosoph Michael Laban Walzer greift die Überlegungen zu einer gerechten Verteilung auch auf und fordert in diesem Kontext keine einfache Gleichheit, sondern eine „komplexe Gleichheit“ (Walzer 2006). Lenk (2013) versucht dabei, die von Walzer kategorisieren Verteilungsprinzipien auf konkrete Anwendungsbeispiele auch im Gesundheitswesen zu übertragen. Er ordnet die Prinzipien nach Walz einzelnen Bereichen und Anwendungsbeispielen zu, womit er versucht, einen prinzipienethischen Ansatz auch im Gesundheitswesen zu verfolgen, um dessen Anwendbarkeit und Plausibilität aufzuzeigen (Lenk 2013; Walzer 2006).
Um nicht allein bei abstrakten „Worthülsen“ zu bleiben, soll versucht werden, die jeweiligen Verteilungsprinzipien u. a. für die Gesundheitspolitik der nächsten Legislaturperiode konkreterer zu machen und einzelne Punkte im Sinne einer „Reformagenda“ zu skizzieren. Dies ist im Detail sicherlich nicht trivial; nicht umsonst spricht Walzer von einer „komplexen Gleichheit“ (Walzer 2006). Daher können die in Tab. 15.1 dargestellten kategorisieren Verteilungsprinzipien unter Bezug auf konkrete Anwendungsbeispiele im Gesundheitswesen helfen eine Agenda zu erstellen:
Tab. 15.1 Verschiedene Verteilungsprinzipien mit Anwendungsbeispielen im Gesundheitswesen. (Quelle: eigene Darstellung, angelehnt an Lenk 2013; Walzer 2006) Das (i) egalitäre Verteilungsprinzip, das im Kontext des Gesundheitswesens impliziert, dass allen Mitgliedern einer Gemeinschaft im Bedarfsfall die gleichen Gesundheitsgüter zukommen, wird schon recht bald auf die gesundheitspolitische Reformagenda gelangen. Konkret geht es hier um die Forderung der Reorganisation des heutigen dualen Krankenversicherungssystems hin zu einer Bürgerversicherung, wie sie von einigen Parteien gefordert wird. Im Kern geht es hier um die Frage, welche Kriterien darüber entscheiden, welchen Versicherungsschutz ein Bürger oder eine Bürgerin wählen kann. Sicherlich gilt es hier eine Debatte zu führen, zumal die einzelnen parteipolitischen Vorstellungen erst skizziert und noch zu wenig ausgearbeitet sind. Diese Debatte hat zwei Ebenen: Zum einen die Frage nach der Neudefinition der Wahlentscheidung (Stichwort: VersicherungspflichtgrenzeFootnote 4) und zum anderen die Klärung der FinanzierungsgrundlageFootnote 5. Betrachtet man die bereits dargestellte erwartete Unterdeckung des Gesundheitsfonds, ist dies ein zentraler Punkt – gerade bei Verteilungsdebatten. Aber nicht nur die Verbreiterung der Einnahmebasis, sondern auch der effiziente Umgang mit den Ressourcen sind in diesem Kontext gesundheitsökonomisch bedeutsam, ebenso wie die Frage, wieviel Versicherungsgedanke (Stichwort: ÄquivalenzprinzipFootnote 6) und wieviel Umverteilung dem Finanzierungssystem der Gesundheitsversorgung zukünftig zugrunde liegen soll: Eine Debatte, die nicht ohne die dargestellten Aspekte der Verteilungsgerechtigkeit geführt werden sollte.
Das nächste Verteilungsprinzip ist die (ii) ausgleichende Gerechtigkeit, wie beispielsweise Gerichte: Wenn die Selbstverwaltung in korporatistischen Verhandlungen bestehen und im Vorteil gegenüber staatlichen Systemen stehen will, gilt es auch hier nachzujustieren. Das fängt bei der Berechnung der GLS-Steigerung an, geht bei der Komplexität der Budgetverträge und der Vergütungssysteme weiter und endet zuletzt beim Sachverstand der zu berufenden Schiedsamtsmitglieder. Diese sollten mehr Unterstützung – vielleicht auch gesundheitsökonomische Schulungen – bekommen, um eine zunehmende Zahl von Schiedsverfahren schnell und gut abwickeln zu können und nicht die Sozialgerichte mit noch mehr Verfahren von anderen wichtigen Projekten abzuhalten. Wie bereits erwähnt können neue Vergütungsmodelle wie Regionalbudgets nicht nur die Komplexität der Budgetverhandlungen, sondern auch Schiedsamtstätigkeiten deutlich vereinfachen und das System damit effizienter machen (Beivers 2021c).
Das (iii) Bedarfsprinzip hingegen unterscheidet nach der Dringlichkeit der Bedürfnisse und hat in den letzten Jahren eine eher untergeordnete Rolle gespielt, v. a. weil dies wahl- und gesellschaftspolitisch sehr heikel ist. Im Kern geht es dabei um die Frage nach dem Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung; diese ist abermals eng mit der Frage nach neuen Vergütungssystemen verknüpft. So existieren neben der Bürgerversicherung, die zumeist als Vollversicherung angedacht ist, auch (ältere) Modelle (Stichwort: Gesundheitsprämie bzw. Kopfpauschale, siehe hierzu im Detail u. a. auch Ernst und Seger 2011), die nur einen „Basisschutz“ solidarisch versichern wollen, alle weiteren, nicht elementaren Leistungen wären dann Bestandteil der eigenverantwortlichen Vorsorge (Stichwort: Zusatzversicherung). Man wird sich dieser Debatte stellen müssen – egal welches Reformkonzept sich durchsetzt: Welche Leistungen sind weiterhin Teil des Leistungskataloges im SGB V und welcher Bereich geht in die Eigenverantwortung? Auch hierzu sollten gesundheitsökonomische Modelle Beiträge für eine sachlich fundierte Diskussion liefern. Elemente wie Patientensteuerung und (salutogenetische) Verhaltensänderungen sollten hier integriert werden.
Zum Verteilungsprinzip der (iv) Tauschgerechtigkeit ist bereits einiges gesagt worden. Im Kern geht es hier um die Frage neuer, verteilungsgerechter Vergütungssysteme und Anreize, wie sie v. a. noch im Abschn. 15.7 angesprochen werden. Auch das (v) Verdienstprinzip bzw. Leistungsprinzip, sprich die Frage, wie Güter oder Positionen aufgrund besonderer Leistungen oder Verdienste verteilt werden sollen, wird das Gesundheitssystem noch länger beschäftigen. Die Diskussion begann zunächst im Bereich der Pflege und hat gerade in Zeiten der Pandemie mit Sonderzahlungen und Freihaltepauschalen eine neue Dimension erhalten. Insbesondere die Ausführungen zur nikomachischen Ethik (siehe Abschn. 15.3) können hier zielführend sein und sollten in derartige Diskussionen mit einbezogen werden.
Das vorletzte Prinzip, das (vi) Nützlichkeitsprinzip, zielt darauf ab, die knappen Güter mit maximalem Nutzen für die Gesellschaft zu verteilen. Diese scheinbar „einfache“ Forderung ist jedoch keinesfalls trivial. Die Gesundheitsökonomie ebenso wie die Gesundheitspolitik muss explizit die Frage nach der (gesellschaftlichen) Bedarfsgerechtigkeit neu stellen und die Versorgungskapazitäten und -strukturen danach neu justieren. Optimierungsansätze, wie beispielsweise eine Bündelung der stationären Versorgungskapazitäten, sind zwar richtig und wichtig, doch müssen diese verstärkt in eine Analyse des „Nutzens für die Gesellschaft“ eingebettet werden. Dazu bedarf es einer Erhebung der Bedarfe, auch unter gesundheitspsychologischen und gesundheitssoziologischen Aspekten, um zu einem ganzheitlichen, akzeptierten Zielbild zu gelangen. Partikularinteressen, wie sie in einem durch Verbände und Körperschaften gesteuerten Gesundheitswesen wie in Deutschland häufig vorzufinden sind, müssen in den Hintergrund treten. Auch darauf gilt es Reformgesetze anzupassen.
Das letzte und wahrschlich bedeutsamste Prinzip ist das (vii) Nachhaltigkeitsprinzip, sprich die Generationengerechtigkeit. Wir bürden den nachkommenden Generationen nicht nur die Last des Klimawandels und des demographischen Wandels auf, sondern nun auch noch die finanziellen Folgen der Pandemie. Deswegen bedeutet effizienter Einsatz von Ressourcen vor allem auch eines: Gerechtigkeit gegenüber der Generation unserer Kinder – der Zukunft unseres Sozialstaates. Oder um John Rawls direkt zu zitieren: „Die Gerechtigkeit ist die erste Tugend sozialer Institutionen, so wie die Wahrheit bei Gedankensystemen.“ (Rawls 2005).