10.3.1 Die Leitsätze der Patientensteuerung in Hessen
Die Patientensteuerung in Hessen erfolgt nach dem Paradigma einer zielorientierten, situativ und regional angepassten, verlässlichen und transparenten Steuerung. Diese fünf Leitmotive bedeuten, dass die Patientensteuerung
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zielorientiert an der Behandlungskapazität der Krankenhäuser ansetzt. Diese muss im notwendigen Umfang erweitert und bestmöglich ausgenutzt werden, um für den Rettungsdienst eine verlässliche Aufnahmekapazität in der Region zu bieten. Die Kapazität des Rettungsdienstes darf nicht durch eine „Jagd nach dem letzten freien Bett“ und daraus resultierende weite Fahrten gebunden werden, da dies die Vorhaltung des Rettungsdienstes für die Versorgung von Notfällen aller Art stark beeinträchtigen würde. Zielorientiert heißt aber auch, dass der Fokus dabei auf den Krankenhäusern liegt, die aufgrund ihres Versorgungsauftrages zur Covid-Versorgung beitragen können.
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situativ an die jeweilige pandemische Lage angepasst ist. Dies bedeutet, dass es in der stationären Versorgung keine festgelegten Stufen der Versorgung gibt, sondern z. B. der Anteil der für die Versorgung von Patientinnen und Patienten zur Verfügung stehenden Betten graduell an die Erfordernisse angepasst wird.
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regional an die Belastungssituation in den einzelnen Versorgungsgebieten anknüpft. Da es zwischen den Versorgungsgebieten in Struktur, Leistungsfähigkeit und pandemischer Belastung erhebliche Unterschiede gibt, ist die Steuerung darauf ausgerichtet, diese Unterschiede angemessen abzubilden. Dies bedeutet praktisch, dass die pandemische Lage möglicherweise in einzelnen Versorgungsgebieten schon eine weitgehende Einstellung der elektiven Eingriffe erfordert, während diese in anderen Landesteilen noch möglich sind.
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verlässlich ist; das heißt schließlich, dass die Grundlinien der Patientensteuerung durch das Hessische Ministerium für Soziales und Integration rechtssicher vorgegeben werden und so ein hohes Maß an Handlungssicherheit für alle Beteiligten besteht.
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transparent ist und aufgrund der Abstimmungen, verbindlicher Kommunikation und der Hinterlegung der Bettenkapazitäten aller hessischen Krankenhäuser in IVENA (Interdisziplinärer Versorgungsnachweis) vorgeht. Ergänzend werden den hessischen Krankenhäusern und den an der Sicherstellung der Versorgung mitwirkenden Institutionen täglich umfangreiche Informationen zur aktuellen Situation zur Verfügung gestellt.
10.3.2 Der erste Schritt: Das Sonderkapitel zum Hessischen Krankenhausplan
Die Bewältigung der Pandemie hat sich im Verlauf der Pandemie immer wieder auch den Notwendigkeiten folgend herausgebildet. Nachfolgend soll ein Überblick über die wesentlichen Zwischenschritte gegeben werden.
Ein erster Ansatzpunkt war das vom Kabinett beschlossene Sonderkapitel des Krankenhausplans Hessen.Footnote 3 Es nahm eine Berechnung der für die weitere Bewältigung der Pandemie voraussichtlich benötigten Kapazitäten vor und verteilte diese in Stufen auf die einzelnen Versorgungsgebiete und die Krankenhäuser in den Versorgungsgebieten. Dieses Sonderkapitel galt bis zum 30. September 2020. Daran anschließend wurde es in der Rechtsform eines Erlasses weitergeführt.Footnote 4 Inhaltlich basierte das Sonderkapitel auf dem Paradigma, dass Patientinnen und Patienten in Abhängigkeit von der Schwere des Covid-Verlaufs in den dafür geeigneten Krankenhäusern behandelt werden sollten. Zu diesem Zweck wurden die Krankenhäuser in Versorgungslevel eingeteilt, die von Level 1 (z. B. Universitätsmedizin) bis hin zu Level 4 (Fachkrankenhaus einer anderen Fachdisziplin) reichten. Dabei sollten die Patientinnen und Patienten mit schwerwiegenden Krankheitsbildern möglichst in den Level-1-Krankenhäusern behandelt werden. Je nach Verlauf der Pandemie war die allmähliche Ausweitung der einbezogenen Krankenhäuser geplant.
10.3.3 Der zweite Schritt: Die Anpassung an den bundesrechtlichen Rahmen des § 21 Abs. 1a KHG
Die Vorgehensweise der Patientensteuerung stand allerdings beständig in einer engen Wechselbeziehung mit der für die Krankenhäuser geltenden Regelung zum wirtschaftlichen Ausgleich. Auch wenn keine direkte Beziehung zwischen den wirtschaftlichen Ausgleichsmechanismen und der Einbeziehung in die Covid-Versorgung besteht – etwa dergestalt, dass eine Mitwirkung an der Covid-Versorgung nur dann erwartet werden dürfe, wenn auch ein wirtschaftlicher Ausgleich gewährt wird –, sind die beiden Themen doch eng verbunden. Daher war es notwendig, die Vorgehensweise in Hessen beständig an die sich ändernden bundesrechtlichen Rahmenbedingungen anzupassen.
Infolge der Änderung der in § 21 Abs. 1a und Abs. 4a KHG geregelten Ausgleichszahlungen für Krankenhäuser zum 18. November 2020 war es notwendig, das hessische System der Covid-Versorgung geringfügig zu modifizieren. Die Anspruchsberechtigung im Sinne des § 21 Abs. 1a KHG knüpfte an die Teilnahme am strukturierten System der Notfallversorgung an. Aus diesem Grund wurde es erforderlich, sehr schnell den Notfallstatus der hessischen Krankenhäuser zu erheben. In beispielgebender Zusammenarbeit mit den Krankenhäusern und den Krankenkassen gelang es, den in unterschiedlichen Graden der rechtlichen Verbindlichkeit vereinbarten Staus der strukturierten Notfallversorgung zu erheben und als Basis eines neuen Systems zu verwenden. Einschließlich der diversen Änderungen des bundesweiten Ausgleichssystems nach § 21 Abs. 1a KHG durch Rechtsverordnungen konnten dann insgesamt 77 Krankenhäuser in Hessen als dem Grunde nach ausgleichsberechtigt festgestellt werden. Wie viele dieser Häuser tatsächlich ausgleichsberechtig waren, hing entsprechend der rechtlichen Ausgestaltung des § 21 Abs. 1a KHG auch von den weiteren dort genannten Kriterien (Auslastung der intensivmedizinischen Versorgung, Inzidenz in der Gebietskörperschaft) ab. Insgesamt ist aber festzustellen, dass es gelungen war, die relativ breit und dynamisch auf die Anforderungen reagierend angelegte Organisationsstruktur auch unter den neuen Rahmenbedingungen fortzusetzen.
10.3.4 Der dritte Schritt: Eine gerechte Lastenverteilung zwischen den Krankenhäusern
Der dritte Schritt der Entwicklung der Patientensteuerung in Hessen bestand darin, das Instrumentarium weiter zu verfeinern und damit die unter Punkt a) dargestellten Leitsätze vollständig umzusetzen. Dieser Schritt wurde bereits überlappend zu Schritt zwei in die Wege geleitet.
Konkret heißt dies, dass die Verteilung der prognostizierten Patientinnen und Patienten mit Covid-19 in Hessen wöchentlich bettengenau vom Hessischen Ministerium für Soziales und Integration per Erlass vorgegeben wird. In einer Anlage zum Erlass wird für jedes Krankenhaus festgelegt, wie viele Patientinnen und Patienten mit Covid-19 es bei der prognostizierten Patientenzahl mindestens intensivmedizinisch und/oder normalstationär zu versorgen hat. Entsteht vor Ort ein höherer Bedarf, muss dieser – aufgrund der Behandlungspflicht der Krankenhäuser nach § 5 Abs. 1 S. 1 des Hessischen Krankenhausgesetzes (HKHG) – auch abgedeckt werden. Eine Unterschreitung der Prognose ist in der Praxis aufgrund der wöchentlichen Erstellung der Prognose kaum vorgekommen und könnte dann in Abstimmung mit dem koordinierenden Krankenhaus bewältigt werden.
Der Vorteil dieser Zuteilung der Patientinnen und Patienten liegt in der für alle Beteiligten bestehenden Planungssicherheit und Transparenz. Sowohl die Krankenhäuser als auch der Rettungsdienst wissen, worauf sie sich in der kommenden Woche einzurichten haben und können so entsprechende organisatorische Vorbereitungen treffen und die für alle Seiten ungünstigen Notzuweisungen weitgehend vermeiden.
Rechtlich gesehen handelt es sich dabei um Allgemeinverfügungen, welche die nach § 5 Abs. 2 HKHG bestehende Aufnahmepflicht der Krankenhäuser und die in § 19 Abs. 1 S. 4 HKHG geregelte Pflicht zur umfassenden Erfüllung der Versorgungsaufträge ausformen.Footnote 5 Die Pflicht aller Krankenhäuser zur umfassenden Erfüllung ihres Versorgungsauftrages besteht dabei unabhängig davon, ob von Seiten des Bundes Ausgleichszahlungen erfolgen, da diese auf dem geltenden Hessischen Krankenhausgesetz beruht. Daher besteht für kein an der Notfallversorgung teilnehmendes Krankenhaus und kein Krankenhaus, das über einen umfassenden Versorgungsauftrag in der inneren Medizin verfügt, ein Recht darauf, sich der Behandlung von Covid-Patientinnen und -Patienten zu entziehen. Allerdings strebt das HMSI selbstverständlich einen weitestmöglichen Gleichklang zwischen der Präzisierung der ohnehin bestehenden rechtlichen Verpflichtung nach hessischem Landesrecht und der Ausgleichsregelung des Bundes an. Aus diesem Grund werden Krankenhäuser, die keine Ausgleichszahlung erhalten, zum spätestmöglichen Zeitpunkt in die Verpflichtung einbezogen und, sobald dies möglich ist, wieder aus der Verpflichtung entlassen.
Die Patientensteuerung basiert dabei auf folgenden Grundlagen:
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Die Basis für die Verteilung der Patientinnen und Patienten auf die Krankenhäuser bildet eine vom Universitätsklinikum Frankfurt am Main erstellte Prognose. Dieses Prognose-Instrumentarium entstand auf Basis des Projekts egePAN Unimed im Rahmen des Netzwerks Universitätsmedizin (NUM).Footnote 6 Es wird derzeit vom Land Hessen fortgeführt. Die Prognose wird wöchentlich auf Basis der Daten des Donnerstags erstellt und am Freitagmorgen mit dem Erlass des HMSI übermittelt. Zieldatum der Prognose ist der Freitag der folgenden Woche. Diese Terminfolge wurde bewusst gewählt, um die Operationsplanung für die folgende Woche noch zu ermöglichen und beispielsweise sehr kurzfristige Absagen grundsätzlich planbarer Interventionen oder Eingriffe zu vermeiden.
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In die Erlassregelung werden alle Krankenhäuser einbezogen, die an dem System der strukturierten Notfallversorgung teilnehmen oder den teilnehmenden Krankenhäusern gleichgestellt sind. Dies bedeutet, dass in Hessen derzeit insgesamt 77 Krankenhäuser einbezogen werden. Bei einer steigenden Zahl von behandlungsbedürftigen Personen bleibt die Einbeziehung weiterer Krankenhäuser ausdrücklich vorbehalten.
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Der Maßstab der Verteilung ist zwischen normal- und intensivstationären Betten unterschiedlich ausgeformt. Bei den normalstationären Betten erfolgt die Verteilung allein anhand des Maßstabes der Zahl der aktuell bepflegbaren Betten. Diese Zahl wird tagesaktuell über die IVENA-Sonderlage erhoben. Bei den Intensivbetten erfolgt die Verteilung der Patientinnen und Patienten hingegen nach einem Maßstab, der sowohl die historische Intensivkapazität vor der Covid-19-Pandemie als auch die Zahl der mit der Bonus-Zahlung des Bundes geförderten zusätzlichen Intensivkapazitäten und die tagesaktuelle Zahl der betriebsbereiten Intensivbetten berücksichtigt. In beiden Fällen erfolgt eine begrenzte Modifikation, um die koordinierenden Krankenhäuser in ihrer besonderen Funktion der speziellen Notfallversorgung arbeitsfähig zu halten und damit vollumfänglich die lokoregionäre Versorgungssicherheit zu gewährleisten.
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Die zugrunde liegenden Daten werden der IVENA-Sonderlage entnommen und stehen damit für alle Krankenhäuser in Hessen tagesaktuell zur Verfügung.