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Einleitung: Der Anspruch der Literatur

Zu einer Poethik der Lebensform

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Die Literatur, der Skeptizismus und das gute Leben

Part of the book series: LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik ((LiLi,volume 3))

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Zusammenfassung

Die Einleitung führt in das Werk Stanley Cavells ein, indem sie dessen Konzeption von Philosophie als einer responsiven Praxis des Lesens entfaltet. Die engagierte Lektüre nach Cavell wird als eine Alternative zum gegenwärtig dominanten literaturwissenschaftlichen Paradigma der Kritik profiliert. Mit seiner originellen Deutung des Skeptizismus erweist sich Cavell als wichtiger Stichwortgeber für die deutsche Forschungsdebatte über das Verhältnis von Literatur und Lebenswissen. Das Kapitel gibt dann einen Überblick über den Aufbau der gesamten Arbeit, die anhand exemplarischer close readings die für Cavells Lektüren entscheidende Veränderung des Selbstverständnisses von Leser/innen als Subjekten nachvollziehbar machen soll. Der thematische Bogen der Arbeit verläuft vom Skeptizismus zum moralischen Perfektionismus und folgt damit einer Entwicklung in Cavells Denken von primär erkenntnistheoretischen zu explizit moralphilosophischen Fragestellungen.

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Notes

  1. 1.

    Siehe z. B.: Eva Weber-Guskar: Finde deine Stimme. In: Süddeutsche Zeitung, 20.06.2018. – Maria-Sibylla Lotter: Das Denken beginnt immer wieder von Neuem – der amerikanische Philosoph Stanley Cavell ist gestorben. In: Neue Zürcher Zeitung, 21.06.2018. – Christian Geyer: Leben am See. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.06.2018. – Nikolaus Halmer: Die Aufwertung des Gewöhnlichen. In: Wiener Zeitung, 29.06.2018. – Siehe auch den Nachruf im Deutschlandradio vom 20.06.2018: Zum Tod des Philosophen Stanley Cavell. Der Meister des Skeptizismus. Wolfram Eilenberger im Gespräch mit Sigrid Brinkmann (2018), https://www.deutschlandfunkkultur.de/zum-tod-des-philosophen-stanley-cavell-der-meister-des.1013.de.html?dram:article_id=420886 (27.04.2021).

  2. 2.

    Siehe den Artikel von Alexandra Kedve: Schildkröten-Jazz – der amerikanische Philosoph Stanley Cavell in Zürich. In: Neue Zürcher Zeitung, 05.01.2007, https://www.nzz.ch/articleESIR5-1.92228 (27.04.2021).

  3. 3.

    Cavells erster Essay-Band, Must We Mean What We Say?, erscheint in den USA im Jahr 1969. Die erste deutsche Sammlung von Aufsätzen Cavells erscheint im Jahr 2001 unter dem Titel Nach der Philosophie. Essays, hrsg. von Ludwig Nagl und Kurt Rudolf Fischer beim Akademieverlag in Berlin.

  4. 4.

    In der vorliegenden Arbeit werden Cavells Texte daher konsequent im amerikanischen Original zitiert. Andere fremdsprachige Texte werden, wo immer es möglich ist, in der deutschsprachigen Übersetzung zitiert.

  5. 5.

    Vgl. Eva-Maria Engelen: Stanley Cavells eigene philosophische Stimme. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 51/2 (2003), S. 341–343; Michael Hampe: Stimm-Bildung. Alltag, Skepsis und Kritik der Kriteriensuche. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 55/2 (2007), S. 321–328.

  6. 6.

    Cavell studierte zunächst Musik an der UC Berkeley und ein Semester lang Komposition an der prestigeträchtigen Juilliard School in New York bevor er sich entschloss, seine Karriere als Musiker zugunsten eines Neubeginns als Philosophiestudent an den Nagel zu hängen. Cavells Musik-Kenntnis zeigt sich in einigen Aufsätzen von Must We Mean What We Say? (siehe insbesondere „Music Discomposed“, in: MWM, 180–212) ebenso wie in seiner Auseinandersetzung mit der Oper in A Pitch of Philosophy. Autobiographical Exercises („Opera and the Lease of Voice“, in: PPA, 129–169). Von der Entwicklung, die ihn veranlasst hat, die Musikerlaufbahn zugunsten der Philosophie aufzugeben, berichtet Cavell in seiner Autobiographie, Little did I know. Excerpts from Memory.

  7. 7.

    Zwischen seiner zunächst angestrebten Karriere als Musiker und seiner schließlich verwirklichten Laufbahn als Leser besteht durchaus ein Zusammenhang: In seiner Autobiographie Little did I know legt Cavell großes Gewicht auf die beeindruckende Fähigkeit seiner Mutter, die Pianistin war, Musik vom Blatt zu spielen – der amerikanische Ausdruck dafür lautet sight-reading. Was das sight-reading, wie Cavell es beschreibt, ausmacht, ist die Fähigkeit zur völligen Hingabe an die Musik, das Vermögen, den eigenen Willen und das Bewusstsein durchlässig zu machen, um sich von der Musik affizieren zu lassen. Dass Cavell nicht dahin gelangt, ebenso gut wie seine Mutter vom Blatt zu spielen, sieht er als durch sein Vermögen, sich für die Worte von Texten durchlässig zu machen, aufgewogen.

  8. 8.

    Dieses Verständnis von Philosophie erweist sich als nicht unähnlich, bedarf aber genauerer Differenzierung von dem, was Richard Rorty unter Bezug auf Derrida als „philosophy as a kind of writing“ bezeichnet. Vgl. Richard Rorty: Philosophy as a Kind of Writing. In: New Literary History 10/1: Literary Hermeneutics (1978), S. 141–160. Die Nähe von Cavells Lektürepraxis zu dem, was sich parallel zu seinen Arbeiten zunächst in Frankreich mit den Arbeiten Derridas, dann auch in den USA mit den „Yale Critics“ als Dekonstruktion etabliert, wird schon sehr früh bemerkt. Cavells Verhältnis zur Dekonstruktion ist auch das Thema der ersten Monographie, die über Cavell erscheint: Michael Fischer: Stanley Cavell and Literary Skepticism. Chicago: The University of Chicago Press 1980. In der vorliegenden Arbeit siehe zum Verhältnis von ordinary language philosophy und Dekonstruktion Kap. 8 („Stimme und Signatur des Denkens“).

  9. 9.

    „[…] I have wished to understand philosophy not as a set of problems, but as a set of texts. This means to me that the contribution of a philosopher – anyway of a creative thinker – to the subject of philosophy is not to be understood as a contribution to, or of, a set of given problems, although both historians and non-historians of the subject are given to suppose otherwise.“ (CR, 3–4).

  10. 10.

    Siehe dafür exemplarisch die Beiträge in den zwei Cavell gewidmeten Ausgaben der Deutschen Zeitschrift für Philosophie, 46/2 (1998) und 55/2 (2007) sowie Constanze Demuth: Beispiele und Sinngestalten. Die Negativität der Alltagssprache nach Cavell, Wittgenstein und Austin. Paderborn 2015.

  11. 11.

    Exemplarisch für die Kulturwissenschaften siehe Elisabeth Bronfen: Stanley Cavell zur Einführung. Hamburg 2009; für die Filmwissenschaften siehe Herbert Schwaab: Erfahrung des Gewöhnlichen. Stanley Cavells Filmphilosophie als Theorie der Populärkultur. Münster 2010.

  12. 12.

    Siehe z. B. PP, 129: „[…] the first virtue of philosophy, or its particular virtue, is that of responsiveness, awake when all the others have fallen asleep.“

  13. 13.

    Antje Korsmeier: Sprache erfahren. Stanley Cavells Vision der Sprache. Würzburg 2006; Herbert Schwaab: Erfahrung des Gewöhnlichen; Urs Hofer: Auf der Suche nach der eigenen Stimme: Stanley Cavells Philosophie als Erziehung von Erwachsenen. Zürich 2016.

  14. 14.

    Einer immer noch eher dürftigen Rezeption im deutschsprachigen Raum steht eine in ihrer Vielfalt kaum mehr zu überblickende Menge von Arbeiten zu Cavell auf Englisch gegenüber, deren vollständige Darstellung den Rahmen dieser Einleitung sprengen würde. Auf die entsprechende Literatur wird deshalb jeweils an Ort und Stelle verwiesen.

  15. 15.

    Zum Thema „Cavell und die Literatur“ siehe vor allem: Richard Eldridge, Bernard Rhie (Hg.): Stanley Cavell and Literary Studies. Consequences of Skepticism. New York/London 2011. David Rudrum: Stanley Cavell and the Claim of Literature. Baltimore 2013. Zu Cavells Verhältnis zur Literaturwissenschaft siehe vor allem: Michael Fischer: Stanley Cavell and Literary Skepticism. Chicago/London 1989. Kenneth Dauber, Walter Jost (Hg.): Ordinary Language Criticism. Literary Thinking after Cavell after Wittgenstein. Evanston, Ill. 2003. Toril Moi: Revolution of the Ordinary. Literary Studies after Wittgenstein, Austin, and Cavell. Chicago/London 2017.

  16. 16.

    Timothy Gould: Hearing Things. Voice and Method in the Writing of Stanley Cavell. Chicago/London 1998.

  17. 17.

    So charakterisiert Cavell die Philosophie z. B. als eine „[…] willingness to think not about something other than what ordinary human beings think about, but rather to learn to think undistractedly about things that ordinary human beings cannot help thinking about, or anyway cannot help having occur to them, sometimes in fantasy, sometimes as a flash across a landscape.“ (TS, 9).

  18. 18.

    So lautet der berühmte Vorwurf von Jürgen Habermas gegenüber Derrida, in: Jürgen Habermas: Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen. Frankfurt a.M. 1988, S. 219–247. Manfred Frank hat dagegen zu Recht kritisch eingewendet, dass es sich beim Unterschied von Philosophie und Literatur nicht um einen „Gattungsunterschied“ handelt. Siehe Manfred Frank: Stil in der Philosophie. Stuttgart 1992, S. 68: „Gegen Habermasens These vom Bestehen eines Gattungsunterschiedes zwischen Literatur und Philosophie richte ich meine erste Gegenthese: Literatur ist keine Gattung, sondern hat Gattungen […].“

  19. 19.

    Für eine Anknüpfung an Cavells Arbeiten zu Shakespeare siehe etwa Sarah Beckwith: Shakespeare and the Grammar of Forgiveness. Ithaca/London 2011.

  20. 20.

    Als romantische Kennzeichen von Cavells Denken können sowohl die „Einbeziehung von Philosophie und Naturspekulation in den literarischen Prozess“ als auch die „Öffnung der Poesie zum Leben hin“ gelten; vgl. Monika Schmitz-Emans: Einführung in die Literatur der Romantik. 4. Aufl. Darmstadt 2016, S. 10. – Zur Bedeutung der Romantik für Cavell siehe Espen Hammer: Die Verwandlung des Alltäglichen. Cavell über Kriterien und Romantik. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 46/2 (1998), S. 267–281.

  21. 21.

    Cavell spricht wiederholt von einem „underwriting of ordinary language philosophy“ durch die amerikanischen Transzendentalisten Emerson und Thoreau vor dem Hintergrund einer ähnlichen Beziehung zu Kants kritischer Philosophie (z. B. in IQO, 170). Wenn Cavell seine Aufmerksamkeit vor allem diesen beiden amerikanischen Romantikern widmet, dann weil er sie innerhalb der amerikanischen Kultur in ihrer philosophischen Bedeutung verkannt sieht. Die Übereinstimmungen zwischen ordinary language philosophy und der deutschen Frühromantik sind aber nicht weniger bedeutsam: Zwischen den Athenäums-Fragmenten von Friedrich Schlegel und Novalis und Wittgensteins Schreibweise in den Philosophischen Untersuchungen bestehen z. B. Affinitäten, die Cavell aufzeigt, indem er Aphorismen von Schlegel und von Wittgenstein ohne Angabe des Autors nebeneinander abdruckt und den Leser auffordert, zu erraten, welche Sätze von wem stammen; siehe: Stanley Cavell: The Investigations’ Everyday Aesthetics of Itself. In: John Gibson, Wolfgang Huemer (Hg.): The Literary Wittgenstein. London/New York 2004, S. 17–33, hier S. 30–31. Zu Übereinstimmungen zwischen dem Stil der Philosophischen Untersuchungen und der Frühromantik siehe auch: Manfred Frank: Stil in der Philosophie, S. 86–115.

  22. 22.

    Heinrich von Kleist: An Wilhelmine von Zenge. Brief vom 22. März 1801. In: ders.: Sämtliche Werke und Briefe. Hrsg. von Helmut Sembdner. 2 Bde. München 2001, Bd. 2, S. 630–636, hier S. 634.

  23. 23.

    Ebd.

  24. 24.

    Das Konzept der „Neubeschreibung“ (redescription) anstelle argumentativer Widerlegung entlehne ich Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a.M. 1992.

  25. 25.

    Zum Begriff der „Metakritik“ vgl. Johann Georg Hamann: Metakritik über den Purismus der Vernunft [1784]. In: ders.: Sämtliche Werke. 6 Bde. Nachdr. der historisch-kritischen Ausgabe von Josef Nadler von 1951. Tübingen 1999, Bd. III: Schriften über Sprache/Mysterien/Vernunft 1772–1788, S. 281–289.

  26. 26.

    Vgl. Espen Hammer: Stanley Cavell. Skepticism, Subjectivity, and the Ordinary. Cambridge/Oxford/Malden 2002, S. 169.

  27. 27.

    Die Frage nach dem Verhältnis von Notwendigkeit und Freiheit oder theoretischer und praktischer Vernunft bildet einen wesentlichen Ausgangspunkt der Kritik der Romantik und des Idealismus an Kants kritischer Philosophie, in der diese „zwei Standpunkte“ unvermittelt neben einander stehen; vgl. z. B. Espen Hammer: Stanley Cavell, S. 163–174. Auch Cavell arbeitet sich entsprechend an dem Problem einer Vermittlung von Notwendigkeit und Freiheit ab; siehe dazu im Kontext dieser Arbeit etwa Abschn. 7.1.7 („Das eigene Schicksal lesen“) sowie Abschn. 10.3.6 („Kant im Kino“).

  28. 28.

    Giorgio Agamben sagt in diesem Sinne vom Begriff der menschlichen „Lebens-Form“: „Er definiert ein Leben – das menschliche Leben –, in dem die einzelnen Formen, Akte und Prozesse des Lebens niemals einfach Fakten sind, sondern immer und vor allem Möglichkeiten des Lebens, immer und vor allem potentielles Sein. Keine Verhaltensweise und keine Form menschlichen Seins wird je von einer spezifischen biologischen Anlage noch von irgendeiner Notwendigkeit vorgeschrieben. Wie auch immer sie der Gewohnheit unterworfen sein mag, sie sich wiederholen und gesellschaftlichem Zwang gehorchen mag, sie behält doch immer den Charakter einer Möglichkeit und setzt also immer das Leben selbst aufs Spiel.“ (Giorgio Agamben: Lebens-Form. In: Joseph Vogl (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt a.M. 1994, S. 251–257, hier S. 251).

  29. 29.

    Die allgemeine Rede von „dem Text“ hier und im Folgenden hat expositorischen Charakter und soll nicht die Differenzen zwischen den unterschiedlichen Textgattungen und Medien unterschlagen, denen Cavell sein Augenmerk widmet und denen in der weiteren Arbeit durchaus Rechnung getragen wird.

  30. 30.

    Anklänge an die Idee der „engagierten Literatur“, die Jean-Paul Sartre in Qu’est-ce que la littérature? (1948) entwickelt, sind durchaus beabsichtigt. Auch wenn Sartre für Cavell kein Referenzautor ist, lässt sich Cavells Philosophie als Versuch einer Vermittlung zwischen analytischer und Existenzphilosophie begreifen, wie er selbst in seinem frühen Aufsatz „Existentialism and Analytical Philosophy“ anhand eines Vergleichs von Wittgenstein und Kierkegaard kenntlich macht (TS, 195–234). Wichtig ist jedoch, zu betonen, dass die Bezeichnung „engagierte Lektüre“ die Implikation des oder der Lesenden in die Lektüre und nicht ein bestimmtes politisches Engagement meint. Die Bezeichnung „engagiertes Lesen“ findet sich auch in Ruth Klügers Essay „Frauen lesen anders“ als ein Ausdruck für die unvermeidliche identifikatorische Komponente einer Lektüre, die „nicht nur Nachvollzug, sondern kreativ ist“ und deren Kern oder Gott „Eros“ ist (Ruth Klüger: Frauen lesen anders. In: dies.: Frauen lesen anders. Essays. München 1996, S. 83–104, hier S. 103). Damit sind wichtige Elemente auch der engagierten Lektüre Cavells bezeichnet.

  31. 31.

    Die ausführlichste Reflexion seiner eigenen Lektüreverfahren unternimmt Cavell in dem wichtigen Aufsatz „The Politics of Interpretation – Politics as opposed to what?“ Dort betrachtet er das Lesen in expliziter Analogie zur therapeutischen Situation, insbesondere was die Bedeutung von Übertragungs- und Gegenübertragungsprozessen betrifft; vgl. TS, 51–54. Siehe dazu ausführlicher im Kontext dieser Arbeit Kap. 6 („Gedanken Lesen“), insbes. Abschn. 6.2.5 („Die Lektüre als Szene der Übertragung“).

  32. 32.

    Beide möglichen Bedeutungen von „abhören“ sind mir hier willkommen: Sowohl die medizinische Bedeutung des Auskultierens, die nahelegt, dass es sich beim Text um einen kranken Körper handelt, der eine Lektüre seiner Symptome erfordert, als auch die geheimdienstliche Bedeutung der Überwachung z. B. eines Telefongesprächs durch einen lauschenden, abwesenden und unbeteiligten Dritten.

  33. 33.

    Eve Kosofsky Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading, or, You’re so Paranoid You Probably Think this Essay is about You. In: dies.: Touching Feeling: Affect, Pedagogy, Performativity. Durham 2003, S. 123–151.

  34. 34.

    Rita Felski: The Limits of Critique. Chicago/London 2015, S. 4.

  35. 35.

    Ebd., S. S. 51.

  36. 36.

    Die „Hermeneutik des Verdachts“ ist bei Ricœur einer „Hermeneutik des Vertrauens“ entgegengesetzt. Der Sache nach trifft Ricœur eine solche Unterscheidung in De l’Interprétation. Un Essai sur Freud, wo er Marx, Nietzsche und Freud als die „Meister“ einer „Schule des Zweifels“ ansieht. (Siehe Paul Ricœur: Die Interpretation. Ein Versuch über Freud. Frankfurt a.M. 1974, S. 45–49). Der berühmte Ausdruck „Hermeneutik des Verdachts“ findet sich allerdings entgegen verbreiteter Meinungen nicht in De l’Interprétation. Vgl. dazu Alison Scott-Baumann: Ricœur and the Hermeneutics of Suspicion. London/New York 2009, S. 62. Scott-Baumann konstatiert eine Ähnlichkeit zwischen Ricœurs Kritik an Extremformen einer Hermeneutik des Verdachts und Stanley Cavells Auseinandersetzung mit dem Skeptizismus: „Cavell’s analysis of scepticism resembles the extreme negative manifestation of Ricœur’s ‚suspicion‘ as a narcissistic ‚denial of existence shared with others‘ […].“ (Ebd., S. 59).

  37. 37.

    Unter die Bezeichnung „New Historicism“ lassen die von Stephen Greenblatt vertretene „Kulturpoetik“ ebenso gruppieren wie der von Joseph Vogl entwickelte Ansatz einer „Poetologie des Wissens“. Vgl. zur Kulturpoetik: Moritz Baßler (Hg.): New Historicism. Literaturgeschichte als Poetik der Kultur. Frankfurt a.M. 1995. Zur Wissenspoetik siehe programmatisch: Joseph Vogl: Für eine Poetologie des Wissens. In: Karl Richter/Jörg Schönert/Michael Titzmann (Hg.): Die Literatur und die Wissenschaften 1770–1930. Stuttgart 1997, S. 107–127. Joseph Vogl: Einleitung. In: ders. (Hg.): Poetologien des Wissens um 1800. München 1998, S. 7–18. Nicolas Pethes: Literatur- und Wissenschaftsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Internationnales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 28/1 (2003), S. 181–231.

  38. 38.

    Zur jüngeren Historisierung einer Ära der Theorie siehe exemplarisch z. B.: D.N. Rodowick: Elegy for Theory. Cambridge, Mass./London 2014. Philipp Felsch: Der lange Sommer der Theorie. Geschichte einer Revolte 1960–1990. München 2015.

  39. 39.

    Felski: The Limits of Critique, S. 2 und S. 6.

  40. 40.

    Herbert Schwaab: Erfahrung des Gewöhnlichen, S. 250.

  41. 41.

    Zur Kritik als einer Haltung, die sich selbst überlebt habe und die nach einer Ablösung von ihren linkspolitischen Ursprüngen zu einem Instrument rechtskonservativer Ideologie geworden sei, vgl. Bruno Latour: Why has Critique run out of Steam? In: Critical Inquiry 30 (Winter 2004), S. 225–248. Anstelle der andauernden Kritik von Fakten, „matters of fact“, fordert Latour eine Neubesinnung auf die Normativität, welche der Bedeutung von Fakten zugrunde liegt und die er „matters of concern“ nennt.

  42. 42.

    Michel Chaouli: Criticism and Style. In: New Literary History 44/3 (Summer 2013), S. 323–344, hier S. 328.

  43. 43.

    Sedgwick: Paranoid Reading and Reparative Reading, S. 130.

  44. 44.

    Siehe Jonathan Lear: Knowingness and Abandonment: An Oedipus for our Time. In: ders.: Open Minded. Working out the Logic of the Soul. Cambridge, Mass./London 1998 S. 33–55, hier S. 34: „Analysis is not essentially a body of esoteric knowledge; it is a peculiar form of mental activity, a peculiar form of speaking and listening, a peculiar form of life. Above all it involves a certain form of listening: listening to oneself, listening to another. And if we listen to the culture with an analytic ear, we can gain insight both into the culture and into our fundamental psychoanalytic myths.“

  45. 45.

    Das Gewicht, das Cavell auf die individuelle Erfahrung legt, ist seine Weise, der Tradition des Empirismus, in der er als ein in der analytischen Philosophie ausgebildeter Denker steht, die Treue zu halten, wenn er z. B. schreibt: „[…] to take an interest in an object is to take an interest in one’s experience of the object, so that to examine and defend my interest in these films is to examine and defend my interest in my own experience, in the moments and passages of my life I have spent with them. This in turn means, for me, defending the process of criticism, so far as criticism is thought of, as I think of it, as a natural extension of conversation.“ (PH, 7). Dass es sich dabei nicht um ein naives Verständnis von Erfahrung im Sinne eines unmittelbar Gegebenen handelt, sondern Erfahrung erstens immer schon begrifflich vermittelt ist und darum zweitens einer kontinuierlichen Ausbildung bedarf, macht Cavell deutlich: „To subject these enterprises and their conjunction to our experience of them – that is, to assess our relation to these enterprises – is a conceptual as much as an experiential undertaking; it is a commitment to being guided by our experience but not dictated to by it. I think of this as checking one’s experience.“ (PH, 10).

  46. 46.

    Mit der Betonung des „Hörens“, des „Tonfalls“, usw. soll nicht die wichtige Differenzierung zwischen mündlicher und schriftlicher Kommunikation eliminiert, wohl aber die Relevanz der Erfahrungsdimension der Lektüre hervorgehoben werden, indem ich die „wörtliche, kommunikative, auf den Akt des Ansprechens zurückverweisende Bedeutung im Begriff des Anspruchs aufnehme“, wie Josef Früchtl vorschlägt in: Josef Früchtl: Die vielen Stimmen der Philosophie. Eine aktuelle Bestandsaufnahme. In: Rüdiger Zill (Hg.): Ganz Anders? Philosophie zwischen akademischem Jargon und Alltagssprache. Düsseldorf 2006, S. 99–122, hier S. 100. Das mögliche Missverständnis, dass Cavells Betonung der „Stimme“, die auch der Rede von einem „Anspruch“ der Literatur sowie vom „Angesprochen-Werden“ durch einen Text zugrundeliegt, eine Missachtung der Differenz von mündlicher und schriftlicher Kommunikation darstellt, wird im Rahmen der Auseinandersetzung mit Derridas Kritik am Phonozentrismus verhandelt; siehe dazu das 7. Kapitel dieser Arbeit.

  47. 47.

    Das vollständige Zitat lautet: „It is the difficulty of seeing the obvious, something which for some reason is always underestimated, habitually perhaps but not solely by critics, even when the art which hosts them is devoted to that seeing, and the artist set against that underestimation.“ (MWM, 310).

  48. 48.

    Vgl zu dieser Bezeichnung der Umkehrung im Verhältnis von Leser und Text Odo Marquard: Schwacher Trost. In: Manfred Fuhrmann/Hans Robert Jauß/Wolfhart Pannenberg (Hg.): Text und Applikation: Theologie, Jurisprudenz und Literaturwissenschaft im hermeneutischen Gespräch. Poetik und Hermeneutik 9. München 1981, S. 117–123, insbes. S. 122.

  49. 49.

    Dass nichtsdestoweniger bedeutsame Affinitäten zwischen Cavell und der Wirkungsästhetik Wolfgang Isers bestehen, möchte ich damit nicht leugnen. Nicht nur erkennt Cavell im Vorwort zu The Senses of Walden einen Einfluss von Isers Studien zum ‚impliziten Leser‘ auf sein Verständnis von der Bedeutung der Leserimplikation für Thoreaus Text an (SW, viii), sondern auch Iser bezieht sich in Der Akt des Lesens auf Cavell und die ordinary language philosophy als eine Anregung zu seiner Phänomenologie der Lektüre; siehe: Wolfgang Iser: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung. München 41994, S. 89–101, insbes. S. 97–98. Einen guten Überblick über Studien zum ‚Leser im Text‘ gibt: Susan R. Suleiman: Introduction: Varieties of Audience-Oriented Criticism. In: dies./Inge Crosman (Hg.): The Reader in the Text. Essays on Audience and Interpretation. Princeton 1980, S. 3–45. Cavell findet erstaunlicherweise jedoch keine Berücksichtigung in diesem Sammelband.

  50. 50.

    Cavells Denken unter dem Gesichtspunkt des Lebenswissens widmet sich einer der wichtigsten deutschsprachigen Sammelbände zu Cavell: Kathrin Thiele/Katrin Trüstedt (Hg.): Happy Days. Lebenswissen nach Cavell. München 2010.

  51. 51.

    Vgl. das Forschungsprogramm auf der Website des ehemaligen DFG-Graduiertenkollegs „Lebensformen und Lebenswissen“ (2005–2014), https://www.gk-lebensformen-lebenswissen.de/?mod=forschungsprogramm (27.04.2021).

  52. 52.

    Zum Leben als einem Phänomen, das wesentlich in einem solchen ‚Zwischen‘ zu verorten ist und daher von der westlichen – im Unterschied zur ostasiatischen Philosophie – in seiner Bedeutung weitgehend verkannt wurde siehe: François Jullien: Philosophie du Vivre [2011]. Paris 2015, insbes. S. 93–144 (Kap. „L’entre de la vie“).

  53. 53.

    Die Objektivierung sowie die damit einhergehende Regulierung von und Herrschaft über das Leben ist Gegenstand der im Anschluss an Foucault unter dem Schlagwort der ‚Bio-Politik‘ geführten Debatten. Siehe dazu überblickshaft: Thomas Lemke: Biopolitik zur Einführung. Hamburg 2007. Zur Unterscheidung zwischen einer Politik über das Leben und einer möglichen anderen Politik des Lebens siehe z. B. Roberto Esposito: Biopolitik und Philosophie. In: ders.: Person und menschliches Leben. Zürich/Berlin 2010, S. 7–28.

  54. 54.

    Vgl. Wolfgang Asholt/Ottmar Ette (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen 2010. Vgl. Christoph Menke: Jenseits von Geistes- und Biowissenschaften. Vier kurze Bemerkungen zu Ottmar Ette: „Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft“. In: ebd., S. 39–44.

  55. 55.

    Ottmar Ette: Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Eine Programmschrift im Jahr der Geisteswissenschaften. In: Wolfgang Asholt/ders. (Hg.): Literaturwissenschaft als Lebenswissenschaft. Programm – Projekte – Perspektiven. Tübingen 2010, S. 11– 38, hier S. 16.

  56. 56.

    Ralph Waldo Emerson: Self-Reliance. In: ders.: Nature and Selected Essays. Hrsg. von Larzer Ziff. New York/Toronto/London 2003, S. 175–203, hier S. 176.

  57. 57.

    Anklänge an die aristotelische Poetik sind berechtigt, soweit diese eine anthropologische Dimension der Mimesis, die nicht als Nachahmung in einem bloß imitativen Sinne missverstanden werden darf, zum Gegenstand hat; vgl. Aristoteles: Poetik. Griechisch/Deutsch. Übs. und hrsg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart 1982. Nicht unrelevant ist aber Foucaults Rede von einer „etho-poetischen“ Funktion von Texten in Anlehnung an Plutarch in: Michel Foucault: Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit Bd. 2. Frankfurt a.M. 1989, S. 21. – Der Neologismus „Poethik“ findet sich auch bei Kathrin Thiele: Werden. Zu einer Poet(h)ik des Lebens. In: Thomas Khurana/Stefanie Diekmann (Hg.): Latenz. 40 Annäherungen an einen Begriff. Berlin 2007, S. 234–239. Darin schreibt sie: „Jede explizite Ontologie wie jede ausbuchstabierte Ethik des Werdens müsste immer Subjektivität im angedeuteten traditionellen Sinne voraussetzen, oder die Entwicklung einer neuen Form derselben wäre, ja müsste ihr zentrales Anliegen sein. Werden aber in der hier gedachten infinitiven Bewegung drückt ethos aus. Michel Foucault nennt dies mit Referenz auf Kant und die antike Rhetorik ‚Haltung‘, dieses ‚etwas‘, das niemals evident werden kann ohne seine Wirksamkeit zu verlieren […].“ (Ebd., S. 235). Siehe zu diesen Konzepten ausführlicher Kap. 10 („Hochzeit als Lebensform“), insbes. Abschn. 10.1.2 („Medium und Moderne“) sowie 10.2.5 („Ästhetik der Existenz und Poethik der Lebensform“).

  58. 58.

    An dieser Stelle läge es eigentlich nahe, ausführlicher auf die philosophischen Hintergründe von Cavells Konzeption der engagierten Lektüre einzugehen, d. h. vor allem auf die Herkunft seines Verständnisses des Skeptizismus und des Alltäglichen aus der ordinary language philosophy. Zur Erklärung dieser Zusammenhänge siehe stattdessen Kap. 2 („Das Leben (mit) der Sprache“).

  59. 59.

    Marcel Proust: Frankfurter Ausgabe. Hrsg. von Luzius Keller. Werke II, Bd. 1: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1. Unterwegs zu Swann. Frankfurt a.M. 42002, S. 552.

  60. 60.

    Womit ihm widerfährt, was Thoreau befürchtet, als er schreibt, dass er nicht erst zum Zeitpunkt seines Todes erfahren wolle, dass er niemals wirklich gelebt habe. Vgl. das berühmte Zitat aus Walden: „I went to the woods because I wished to live deliberately, to front only the essential facts of life, and see if I could not learn what it had to teach, and not, when I came to die, discover that I had not lived.“ (Henry David Thoreau: Walden, or Life in the Woods. In: ders.: Walden, Civil Disobedience and other Writings. Hrsg. von William Rossi. Northon Critical Edition. New York/London 32008, S. 65). Siehe zu Thoreau ausführlicher Kap. 7 dieser Arbeit.

  61. 61.

    Proust: Unterwegs zu Swann, S. 144–145.

  62. 62.

    Proust bezeichnet das Milieu der Prinzessin de Laumes, der späteren Duchesse de Guermantes, in der Swann brilliert, als „jene[] Coterie um die Fürstin des Laumes, in der es für ausgemacht galt, daß man in dem Maße intelligent ist, wie man an allem zweifelt und nichts als wirklich und unbestreitbar ansieht als den persönlichen Geschmack jedes einzelnen“. (Ebd., S. 405).

  63. 63.

    Ebd., S. 358.

  64. 64.

    Ebd., S. 145–146.

  65. 65.

    Zum Verhältnis von Proust und Nietzsche siehe ausführlicher Joshua Landy: Philosophy as Fiction. Self, Deception and Knowledge in Proust. New York 2004.

  66. 66.

    Emerson: „Self-Reliance“, S. 189.

  67. 67.

    Siehe dazu ausführlicher Kap. 8 dieser Arbeit („Stimme und Signatur des Denkens“).

  68. 68.

    Eine Anspielung auf Schillers Briefe über die ästhetische Erziehung des Menschen steckt bereits im Untertitel von Cities of Words, der angibt, dass es sich um Pedagogical Letters on a Register of the Moral Life handelt. Cities of Words ist eine Transkription der Vorlesungen, die Cavell unter dem Titel „Moral Perfectionism“ über einen Zeitraum mehrerer Jahre wiederholt gehalten hat und in denen er einen Text aus der philosophischen oder literarischen Tradition jeweils mit einem Hollywood-Film aus dem für ihn relevanten Kanon der remarriage comedies und der melodramas of the unknown woman parallelisiert bzw. konfrontiert.

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Stricker, B. (2021). Einleitung: Der Anspruch der Literatur. In: Die Literatur, der Skeptizismus und das gute Leben. LiLi: Studien zu Literaturwissenschaft und Linguistik, vol 3. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63857-6_1

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