Zusammenfassung
Zahlreiche Begriffe aktueller fachdidaktischer und pädagogischer Diskurse sind wohlklingend und entfalten eine erhebliche affirmative Kraft. Zu ihnen zählen allgemeine Haltungen wie ‚Offenheit‘ und ‚Toleranz‘, aber auch komplexe Konzepte wie ‚Transkulturalität‘. Wer deren Geltungsbereich und deren Grenzen diskutieren möchte, befindet sich schnell in der Defensive. Schließlich möchte man ungern in Verdacht geraten, borniert, intolerant oder gegen Transkulturalität zu sein. Und schon gar nicht möchte man sich der Kritik aussetzen, einen westlichen Werteimperialismus zu vertreten.
Access this chapter
Tax calculation will be finalised at checkout
Purchases are for personal use only
Notes
- 1.
Die hier vorgenommene Reihung ist in keinem Fall als Gleichsetzung der genannten Strömungen zu verstehen. Gleichwohl gehen von allen drei Strömungen auf je unterschiedliche Weise Gefahren aus, die in den Verfassungsschutzberichten der Länder jährlich ausführlich dokumentiert werden (vgl. z. B. Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen, 2019). In keinem Fall sollte das entschlossene Vorgehen gegen den einen Extremismus zu einer Verharmlosung anderer Bedrohungen führen.
- 2.
Unter cultural appropriation versteht man die (angeblich) unerlaubte Aneignung von kulturellen Besonderheiten einer (als unterdrückt wahrgenommenen) Gruppe durch Angehörige einer anderen, als dominant wahrgenommenen Gruppe, z. B. das Tragen von Dreadlocks durch weiße Europäerinnen und Europäer (vgl. Plikat, 2021). Unter strategic essentialism versteht man die Zuschreibung von Gruppenmerkmalen oder -interessen gegenüber Individuen aus strategischen Gründen (z. B. zur Durchsetzung von Gruppenrechten) bei gleichzeitiger Ablehnung der Zuschreibung von Gruppenmerkmalen oder -interessen gegenüber Individuen in deskriptiver Perspektive (vgl. ebd.).
- 3.
Welsch (1999, S. 61 f.) geht selbst auf diese Problematik ein und empfiehlt einen vorwiegend deskriptiven sowie zusätzlich einen zwar nicht normativen, aber doch „rekommendativen“ Umgang mit Transkulturalität: „Die Empfehlung lautet, diese Perspektive der Transkulturalität einmal zu erproben – wie eine Brille, die einem neue Dinge und vertraute Dinge anders zu sehen erlaubt.“ (ebd.).
- 4.
Zu einer ausführlichen Diskussion des Kulturrelativismus vgl. Plikat 2017, S. 73–124.
- 5.
Die Szene ist eine Schilderung aus der Perspektive der Dozentin. Im Zentrum einer solchen Schreibaufgabe steht die Vorbereitung auf die B1 Prüfung, nicht jedoch der Inhalt, der beispielsweise die Frage nach dem möglicherweise zu verändernden Geschlecht des Nachbarn aufwerfen würde. Ziel ist, dass die Lernenden ausgehend von dem geschilderten Anlass ihre Sprachkenntnisse in einem kohärenten Text sichtbar machen.
- 6.
Pressemitteilung vom 10.04.2019. Online: https://www.hochschulverband.de/pressemitteilung.html?&no_cache =&tx_ttnews%5Btt_news%5D=311&cHash=654d6bd0a6a747f0b20e53f722978ed5#_.
- 7.
Pressemitteilung vom 14.11.2019. Online: https://www.presseportal.de/pm/51580/4440272.
Literatur
Adorno, T. W. (1973). Studien zum autoritären Charakter. Suhrkamp.
Benedict, R. (1946). Patterns of culture. New American Library.
Boghossian, P. A. (2006). Fear of knowledge. Against relativism and constructivism. Clarendon Press & Oxford UP.
Bredella, L. (1994). Interkulturelles Verstehen zwischen Objektivismus und Relativismus. In K.-R. Bausch, H. Christ & H.-J. Krumm (Hrsg.), Interkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht (S. 21–30). Narr.
Bredella, L. & Christ, H. (Hrsg.) (2007). Fremdverstehen und interkulturelle Kompetenz. Narr.
Bruckner, P. (2006). La tyrannie de la pénitence. Essai sur le masochisme occidental. Grasset.
Bundeszentrale für politische Bildung (Hrsg.) (2011). Beutelsbacher Konsens. https://www.bpb.de/die-bpb/51310/beutelsbacher-konsens. Zugegriffen: 30. März 2022.
Christ, H. (1996). Fremdverstehen und interkulturelles Lernen. Zeitschrift für Interkulturellen Fremdsprachenunterricht, 1(3), 22. https://tujournals.ulb.tu-darmstadt.de/index.php/zif/article/view/733/710. Zugegriffen: 30. März 2022.
Chua, A. (2009). Day of empire. How hyperpowers rise to global dominance – And why they fall. Anchor Books.
Cremer, H. (2019). Das Neutralitätsgebot in der Bildung. Neutral gegenüber rassistischen und rechtsextremen Positionen von Parteien? Deutsches Institut für Menschenrechte. https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-63942-0. Zugegriffen: 30. März 2022.
Derrida, J. (1967). L’écriture et la différence. Éditions du Seuil.
Eckerth, J. & Wendt, M. (Hrsg.) (2003). Interkulturelles und transkulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht. Lang.
Europarat (Hrsg.) (2001). GeR = Gemeinsamer europäischer Referenzrahmen für Sprachen. Lernen, lehren, beurteilen [Niveau A1, A2, B1, B2, C1, C2]. Langenscheidt.
Fäcke, C. (2006). Transkulturalität und fremdsprachliche Literatur. Eine empirische Studie zu mentalen Prozessen von primär mono- oder bikulturell sozialisierten Jugendlichen. Lang.
Fäcke, C. & Meißner, F.-J. (2019). Einleitung. In. Dies. (Hrsg.), Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik (S. 1–16). Narr Francke Attempto.
Fontana, S. (2017). Universelle Frauenrechte und islamisches Recht. Zur Umsetzung von Menschenrechten in einer islamisch geprägten Rechtsordnung. Mohr Siebeck.
Foucault, M. (1979). Sexualität und Wahrheit. Bd. 1. Der Wille zum Wissen. Suhrkamp.
Habeck, R. (2010). Patriotismus. Ein linkes Plädoyer. Gütersloher Verlagshaus.
Habermas, J. (1968). Erkenntnis und Interesse. Suhrkamp.
Horkheimer, M. (1972). Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Fischer.
Hunfeld, H. (2004). Fremdheit als Lernimpuls. Skeptische Hermeneutik, Normalität des Fremden, Fremdsprache Literatur. Alpha Beta & Drava.
Koussens, D. (2015). L’épreuve de la neutralité. La laïcité française entre droits et discours. Bruylant.
Kymlicka, W. (1995). Multicultural citizenship. A liberal theory of minority rights. Clarendon Press & Oxford UP.
Lavagno, C. (2012). Jenseits der Ordnung. Versuch einer philosophischen Ataxiologie. transcript.
Lévi-Strauss, C. (1987 [1952]). Race et histoire. Denoël.
Link, J. (1986). Noch einmal: Diskurs. Interdiskurs. Macht. kultuRRevolution, 11, 4–7.
Lyotard, J.-F. (1979). La condition postmoderne. Rapport sur le savoir. Éditions de Minuit.
Lyotard, J.-F. (1983). Le différend. Editions de Minuit.
Mende, J. (2011). Begründungsmuster weiblicher Genitalverstümmelung. Zur Vermittlung von Kulturrelativismus und Universalismus. transcript.
Ministerium des Innern des Landes Nordrhein-Westfalen (2019). Verfassungsschutzbericht des Landes Nordrhein-Westfalen über das Jahr 2018. https://www.im.nrw/system/files/media/document/file/VS_Bericht_2018.pdf. Zugegriffen: 30. März 2022.
Plikat, J. (2016). Interkulturelle Kompetenz im Gemeinsamen europäischen Referenzrahmen. Ein Modell für die heile Welt der Fremdsprachendidaktik? In M. Bär, W. L. Bernecker & M. Lüning (Hrsg.), Interkulturalität und Mehrsprachigkeit. Beiträge zu Sprache, Literatur und Kultur Spaniens und Lateinamerikas (S. 272–285). edition tranvía.
Plikat, J. (2017). Fremdsprachliche Diskursbewusstheit als Zielkonstrukt des Fremdsprachenunterrichts. Eine kritische Auseinandersetzung mit der Interkulturellen Kompetenz. Lang.
Plikat, J. (2021). Cultural appropriation – (K)ein Thema für die Fremdsprachendidaktik? Language Education and Multilingualism – The Langscape Journal. https://doi.org/10.18452/22331. Zugegriffen: 30. März 2022.
Popper, K. R. (1992 [1945]). Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 1. Der Zauber Platons (7. Aufl.). Francke.
Reinhardt, S. (2016). Politik-Didaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II (6. Aufl.). Cornelsen.
Scruton, R. (2004). The need for nations. Civitas.
Terre des Femmes (2017). Positionspapier von TERRE DES FEMMES – Menschenrechte für die Frau e. V. für ein gesetzliches Verbot des Kopftuchs bei Minderjährigen. https://www.frauenrechte.de/ueberuns/dokumente/tdf-positionen/2475-20-05-2017-positionspapier-von-terre-des-femmes-menschenrechte-fuer-die-frau-e-v-fuer-ein-gesetzliches-verbot-des-kopftuchs-bei-minderjaehrigen. Zugegriffen: 30. März 2022.
The Executive Board American Anthropological Association (1947). Statement on human rights. American Anthropologist, 49, 539–543.
Tibi, B. (2000). Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft. btb.
Tibi, B. (2018). Leitkultur als Grundlage des Zusammenlebens. The European. https://www.theeuropean.de/bassam-tibi/13356-zwei-missglueckte-deutsche-debatten-2000-2017. Zugegriffen: 30. März 2022.
Volkmann, L. (2010). Fachdidaktik Englisch. Kultur und Sprache. Narr.
Welsch, W. (1994). Transkulturalität. Lebensformen nach der Auflösung der Kulturen. In K. Luger & R. Renger (Hrsg.), Dialog der Kulturen. Die multikulturelle Gesellschaft und die Medien (S. 147–169). Österreichischer Kunst- und Kulturverlag.
Welsch, W. (1999). Transkulturalität. Zwischen Globalisierung und Partikularisierung. In A. Cesana (Hrsg.), Interkulturalität – Grundprobleme der Kulturbegegnung (S. 45–72). Gutenberg Universität.
Author information
Authors and Affiliations
Corresponding author
Editor information
Editors and Affiliations
Rights and permissions
Copyright information
© 2022 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature
About this chapter
Cite this chapter
Fäcke, C., Plikat, J. (2022). Lost in Discourse? Ein (selbst-)kritischer Blick auf transkulturelle und kulturrelativistische Diskurse. In: König, L., Schädlich, B., Surkamp, C. (eds) unterricht_kultur_theorie: Kulturelles Lernen im Fremdsprachenunterricht gemeinsam anders denken. Literatur-, Kultur- und Sprachvermittlung: LiKuS. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63782-1_11
Download citation
DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-63782-1_11
Published:
Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg
Print ISBN: 978-3-662-63781-4
Online ISBN: 978-3-662-63782-1
eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)