Kein Zweifel, dass Rolfs Kontakt zu Deutschland während des Krieges seinen Preis hatte. Das Bußgeld in Höhe von 5000 Kronen – was heute etwa 100.000 Kronen (ca. 10.000 €) entspricht – schmerzte vermutlich am wenigsten. Der Verlust von Lizenzeinnahmen erheblich mehr, aber dennoch. Und selbst der Gefängnisaufenthalt im Zusammenhang mit der Anschuldigung auf Landesverrat, bis dem Gericht klar wurde, dass er nicht hätte verhaftet werden dürfen, war zu ertragen. Ist man der Mitwirkung am Bau der gefährlichsten Waffe des Feindes verdächtigt und hält plötzlich einen lumpigen Bußgeldbescheid und ein Schriftstück in der Hand, welches Schwarz auf Weiß belegt, dass man nichts Kriegswichtiges getan hat, dann betrachtet man die Strafe sowie alles andere als geringfügig. Einem Freispruch gleich. Wie Rolf es auch auslegte.

Aber es musste getragen werden, auch mit geradem Rücken und erhobenen Hauptes – und verarbeitet werden musste es auch. In den genau 50 Jahren, die er noch zu leben hatte. Nicht zuletzt sollte das Umfeld eine Erklärung erhalten, Familie, Geschäftsverbindungen, Forschungskollegen. Zudem war die Sache delikat. Denn die komplette Skala war vertreten: von jenen, die befürchteten, die Wahrheit entspräche dem am schlimmsten Denkbaren, bis hin zu denen, die sich weigerten, in der Situation überhaupt etwas Problematisches zu erkennen. Die größte Gruppe befand sich jedoch in der Mitte, all jene, die dem Ganzem gar nicht erst auf den Grund gehen wollten – oder sich nicht trauten –, sondern es als gegeben hinnahmen, dass er Nazi-freundlich gesinnt war. Als in den 1990er Jahren im medizinischen Fachmilieu Norwegens schließlich der Inhalt der Gerichtsdokumente bekannt wurde, war dies für einige ein Schock, für andere fielen die Puzzleteilchen an ihren Platz. Auch wenn Waloscheks Biografie einige Jahre zuvor über einen Teil der Geschehnisse informiert hatte, gab es nur wenige in Norwegen, die das Buch gelesen hatten – es beschränkte sich auf die Familie und eine Handvoll speziell Interessierter. Rolf selbst schickte zwei Exemplare des Buches nach Hause, eines für seinen Bruder Viggo und das andere für seine Schwester Else.

Eine der Theorien, warum er nach Deutschland ging – und die viele, die ihn kannten, für am wahrscheinlichsten halten – lautet, dass ihn die Möglichkeiten dort gelockt haben. Er konnte das Forschungsprojekt seines Lebens durchführen. Er konnte dort hingehen, wo sich die Ressourcen und das nötige Umfeld fanden. Und dann fügt jemand hinzu: politisch naiv, wie Rolf war. Der Preis war jedoch höher, als er es hätte voraussehen können. Vielleicht war es das wert. Oder auch nicht. Und sollte es so gewesen sein, dass er keine wirkliche Wahl hatte, nun, dann wären alle Alternativen schlimmer gewesen, und dessen muss er sich vorab im Klaren gewesen sein. Sagte eine reizvolle innere Stimme „opportunity knocks“, also „die Gelegenheit klopft an“? Oder verwies eine zurückhaltendere Stimme auf das Risiko, indem sie fragte: „Wagst du es?“ Es scheint, als habe sich Erstere lautstärker bemerkbar gemacht.

Aber …

Aber trotzdem, während des Krieges so hin und her zu reisen – wie ist ihm das gelungen? Praktisch betrachtet. Schließlich gab es in Norwegen Reiserestriktionen. Es hieß, es solle Strom, Öl und Kohle gespart werden, damit die Deutschen sie für ihre Transporte nutzen konnten. Und man stelle sich vor, dass in dieser Situation jemand flüchtete und versuchte, mit dem Zug oder Boot nach Schweden oder England zu gelangen. Überall gab es Beschränkungen. Man brauchte „Marken“, um Mehl und Zucker, Kleidung und Schuhe zu kaufen. Hatte man diese nicht, musste man tauschen. „Ich komme ohne Petroleum klar, wenn ich deine Marken für Wollgarn bekomme.“ Der Alltag bestand aus Schwarzmarkt, Verdunklungsgardinen und Kaffeeersatz. Bombenalarm, Luftschutzkeller, deutschen Soldaten in den Straßen und Massenverhaftungen. Und kann man den Nachbarn derzeit eigentlich trauen? Ja, so war es. Das war die Situation im besetzten Norwegen – auch für die junge, fünfköpfige Familie im Stadtteil Røa. In all dem erscheint Rolf als hoch angesehener Forschungsleiter in Deutschland als absurd.

Es gibt nur eine Erklärung dafür, dass Rolf so reisen konnte, wie er es tat: Die Deutschen erlaubten es. Oder noch deutlicher ausgedrückt: Die Deutschen brauchten ihn. Und deshalb erwiesen sie ihm diesen Dienst. Er sollte die Empfindung haben, dass es ihm gut ging. Ich glaube, sie hatten Angst, dass er unter die Kontrolle anderer geraten könnte, Angst, dass er zu den Alliierten überlaufen würde oder mit der Schweiz liebäugelte. Hätten sie mit Repressalien gedroht, hätten sie seine Hilfe womöglich verloren. Stattdessen galt es, alles technologisch so interessant wie möglich darzustellen, damit er guten Willens zustimmte und ohne dass es sein Nationalgefühl mehr als ertragbar kränkte.

Aber Rolf selbst, wo steht er in dem Ganzen? In dieser außergewöhnlichen Zeit. Denn in außergewöhnlichen Zeiten machen Menschen außergewöhnliche Dinge. Alle. Es ist nicht ungewöhnlich, nicht alles preiszugeben. Auch nicht, Dinge zu tun und etwas anderes zu sagen. Es gab immer etwas, das gedeckt werden musste. Wer in der illegalen Arbeit tätig war, durfte nicht wissen, für wen er arbeitete oder wie der Betreffende in Wirklichkeit hieß. Es gab Menschen, die nicht einmal wussten, welcher Organisation sie angehörten, bevor sie außer Landes geflüchtet und in Sicherheit waren. Schweigen war Teil des Einsatzes. Auch weit außerhalb der Widerstandsbewegung und der Geheimdienstmilieus war es üblich, das Reden zu unterlassen. Nicht unbedingt aus Furcht, es könnte weitergetragen werden, sondern aus Rücksicht darauf, dass es für die Betreffenden womöglich am besten sei, nichts zu wissen. Dann konnten sie auch nichts verraten, sollten sie unter Druck gesetzt werden.

Auch Kleinigkeiten wurden wichtig. Ein Elfjähriger beförderte Essen für Juden und Flüchtlinge und später Waffen für eine lokale Einheit der Widerstandsgruppe Milorg. Er sagte es niemandem. Half nur einem älteren Bruder und zwei Onkeln, die als Kuriere tätig waren und einen Helfer benötigten, der kein Aufsehen erweckte. Niemand redete darüber. Das Schweigegelübde wurde aufgehoben. Sie schwiegen aber weiter. 15 bis 20 Jahre lang schwiegen sie. Die Onkel starben. Kurz bevor der große Bruder starb, erzählte er ein bisschen. So konnte zumindest der Jüngste seine Medaille für gute nationale Haltung während der Besatzungszeit entgegennehmen.1 Solcher Geschichten gibt es viele. Jeder waren jedem gegenüber skeptisch. Alle waren vorsichtig. Zwei Brüder konnten es zur Regel machen, jeden Abend etwa zur selben Zeit das Haus zu verlassen. Nach dem Krieg stellte sich dann heraus, dass sie beide – an unterschiedlichen Orten und ohne voneinander zu wissen – unerlaubt Radiosendungen aus London gehört hatten.2 Besser so. Auf der sicheren Seite sein. Niemand machte Aufhebens darum. Es war einfach so. Es war Krieg.

Als er vorüber war, galt es nach vorn zu schauen. Der Krieg war zu Ende. Es herrschte Frieden. Warum über das Gewesene sprechen? Und so dachte sich jeder das Seinige. Über diesen und jenen. Auch über Rolf. Es wurden Fragen gestellt. Selbstverständlich wurden sie gestellt. Sowas tut man einfach nicht! Und es wurden Antworten gegeben. Bereitwillig. Nachbarn und Kollegen. Selbst in der Welt der Forscher nahm man es mit Prämissen nicht so genau, Hauptsache, die Schlussfolgerung war richtig. Letztendlich legte man auch die Fragen beiseite. Das war am sichersten, denn man bedenke nur, wenn …

Nazi oder nicht?

Das Erste, was man über jemanden denkt, der während des Krieges in Deutschland war, ist, dass er Nazi gewesen sein muss. Ausnahme: Er war als Gefangener dort. Obwohl – Gefangener, was ist das? Es ist Krieg. Wenn derjenige zudem noch an etwas arbeitete, das niemand verstand, außer dass es mit Forschung, Strahlen und Atomen zu tun hatte, ja, dann musste er Nazi sein. Oft brauchte es weniger, um diesen Stempel aufgedrückt zu bekommen. Aber parallel zum Dasein in Hamburg hatte Rolf ein Familienleben in Oslo. Nur wenige, die zu dieser Zeit aufwuchsen, wurden derart oft auf einen 16-mm-Film gebannt wie seine Kinder. Wir schreiben Spätherbst 1943, und Rolf tummelt sich mit den Kindern auf dem Abhang vor dem Haus, während der neue Lenkradschlitten in Gebrauch genommen wird. Um sie herum wimmelt es von Erwachsenen und anderen Kindern auf Schlitten und Tretschlitten. Wir schreiben Januar 1944: Er hat den kleinen Rolf gut im Griff, der vor ihm auf seinen ersten Ski steht. Er hält den Jungen fest und fährt in Pflugstellung, wie norwegische Väter es immer getan haben, mit Arild, der groß genug ist, um selbst Stöcke zu verwenden, auf der einen Seite, und Unn, die alleine klarkommt, auf der anderen Seite. Es wird Sommer, der Kriegssommer 1944: Sie baden im Bogstadvannet und im Meer, waten, planschen und bauen Sandburgen. Es wird Herbst: Er hackt Feuerholz, die Kinder sind dabei und stapeln die Scheite auf. Anschließend kehrt er nach Deutschland zurück. Jedes Mal.

Und es wurde Weihnachten, erst einmal, dann ein zweites Mal. Und alle freuten sich darauf, dass Vater nach Hause kam. Alles wie bei einer normalen norwegischen Familie, nur dass sie das nicht waren. Wie absurd muss das gewesen sein: Wenn der Vater nicht bei ihnen war und nicht mit Peter Hase und den Kätzchen Nøste und Trulte im Garten, am Strand oder im Wochenendhaus spielte, dann war er im Land des Feindes. Arbeitete an einem streng geheimen Projekt. Angst und Grauen. Vom Feind persönlich angestellt.

Wie jede andere norwegische Familie lebten die Widerøes in einer Gesellschaft, die die Menschen danach einteilte, ob sie „einer von uns“ waren oder nicht. Das war „der Alltagskrieg“, in dem die Moral und der Charakter des norwegischen Volks getestet wurden, genau so, wie die Historikerin Guri Hjeltnes es geschildert hat:

„Entschieden er oder sie sich für die richtige Seite? Konnten Leute den Mund halten? Waren wir zuverlässig? Hielten Leute Verlockungen stand – zum Beispiel den Vorteilen, die eine Mitgliedschaft in der Nasjonal Samling mit sich bringen konnte, oder die Güter, die sich aus einem Zusammensein und einer Zusammenarbeit mit den Deutschen ergeben konnten? Der Opportunismus blühte. Einstellungen verhärteten sich. Einige bezogen nie Stellung. Etikette und Bezeichnungen für Menschen gab es viele: Wir bekamen Patrioten, Quislinger und Landesverräter, Gestreifte, Überläufer, Kollaborateure, Deutschenmädchen, Kriegsgewinnler, Profiteure, gute Norweger und schlechte Norweger, Widerstandskämpfer, Ruderer. Die Begriffe sendeten Signale starker sozialer Gegensätze zwischen Einzelpersonen und Menschengruppen aus – sowie hinsichtlich einiger der Prozesse, die sich im norwegischen Besatzungsalltag entwickelten.“3

Da war es richtig und angemessen, wenn jemand fragte – oder zumindest den Gedanken hatte: Auf welcher Seite steht Rolf? In einer Zeit, in der jeder jeden überwachte, wäre es seltsamer gewesen, wenn sie nicht gefragt hätten. Die Antwort konnte jedoch „gefährlich“ sein, daher vielleicht besser doch nicht fragen. Das galt auch noch für zwei Generationen nach dem Krieg. Aber was für ein Etikett passt für einen Mann wie Rolf? Ach, wie gern ich ihn selbst fragen würde. Ich bin nur nicht sicher, ob er antworten würde. Die Fragen aber kann ich stellen. Ich will ihn nicht größer machen, als er ist, aber auch nicht kleiner. Also, objektiv und sachlich betrachtet: Was wissen wir über ihn? Nun, der Vater seiner Frau Ragnhild, geborene Christiansen, war Nazi. Das ist dokumentiert. Aber dann? Die Nasjonal Samling soll in Rolfs Haus in Oslo Besprechungen abgehalten haben. Das kann der Wahrheit entspreche, es können aber auch Gerüchte sein. Rolf arbeitete die letzten anderthalb Jahre des Krieges für die deutsche Luftwaffe, gut und schön. Ja. An einem geheimen Strahlenprojekt. Das ist nachweisbar. Aber wissen wir warum? Nach dem Krieg wurde er verhaftet. Bekam ein Bußgeld auferlegt. Müssen wir mehr wissen?!

Ich denke: Die Familie muss auf jeden Fall gefragt werden, und diejenigen, die ihn kannten, sollten doch wissen, wo er eigentlich gestanden hat. War Rolf Nazi? Die Frage ist direkt. Die Antworten ebenso eindeutig (Abb. 6.1).

Abb. 6.1
figure 1

(Foto © Pedro Waloschek)

Rolf und Ragnhild Widerøe in Nussbaumen, Oktober 1992.

Else Widerøe (Schwester):

„Nein, er war kein Nazi, er interessierte sich nur für seine Forschung.“

Louise Reksten (Schwester seiner Frau):

„Nazi? Nein, das war er nicht.“

Egil Reksten (verheiratet mit Louise, der Schwester seiner Frau):

„Nazi? Nein, da habe ich entschieden den Eindruck, dass er das nicht war.“

„Unternahm er etwas, um sich zu verteidigen, die Gerüchte zu widerlegen, dass er Nazi sei?“

„Das weiß ich nicht.“

„War er darüber womöglich erhaben?“

„Ich glaube, das interessierte ihn vielleicht nicht so sehr.“

Wanda Widerøe (Viggos jüngste Tochter):

„Das weiß ich nicht, das war in meiner Kindheit nie ein Thema.“

Turi Widerøe (Viggos älteste Tochter):

„Das weiß ich nicht, aber zumindest arbeitete er mit ihnen zusammen.“

Per Trifunovic (Enkel und Adoptivsohn):

„Ich habe nicht so viel darüber nachgedacht. Aber ich könnte mir nie vorstellen, dass er Nazi war. Und deshalb war es für mich auch nicht so wichtig. Ich weiß nur, was ich gehört habe, dass er mit ihnen zusammengearbeitet hat, um seinem Bruder zu helfen.“

„Sind Sie seinem Bruder Viggo begegnet?“

„Ja. Wir hatten immer Kontakt zu Viggo. Sie hatten immer ein gutes Verhältnis.“

Pedro Waloschek (ehemaliger Informationschef bei DESY , Deutschland):

„Er war kein Nazi. Er begeisterte sich für deutsche Technologie, nicht aber für deutsche Politik.“

Tor Brustad (ehemaliger Professor am Radiumhospital in Oslo und an der NTNU in Trondheim):

„Er war definitiv kein Nazi. Er war von seiner Forschung gefangen genommen.“

Egil Lillestøl (CERN /Professor an der Universität Bergen ):

„Ich betrachte Rolf Widerøe als vollkommen rein. Ein Idealist.“

Finn Aaserud (Leiter des Niels-Bohr-Archivs in Kopenhagen ):

„Nein, er war kein Nazi.“

Søren Bentzen (Professor an der University of Maryland School of Medicine, USA):

„Nein, er war kein Nazi. Er war eine wahre und ambitionierte Forschernatur, ein Internationalist und kein Nazi.“

Olav Aspelund (Physiker, Staatsstipendiat):

„Nein, er war kein Nazi.“

Jan Sigurd Vaagen (Professor an der Universität Bergen , Direktor Norden, Academia Europaea):

„Er trat naiv auf, aber er war kein Nazi.“

Die Schlussfolgerung lautet also, dass ich niemandem begegnet bin, der glaubt, Rolf habe mit Hitler sympathisiert. Keiner, der ihn persönlich kannte, hat gesagt, dass er Nazi war. Nahezu alle anderen Einstellungen und Eigenschaften wurden ihm zugeschrieben, nur nicht, dass er Nazi war. Jedoch bin ich einigen begegnet, die von Rolf lediglich gehört hatten sich zu der Problemstellung nicht positionieren wollten, ebenso wie das Forschungslabor CERN niemanden in Norwegen dazu bringen konnte, die Biografie über Rolf zu rezensieren – obwohl sie von einem verbissenen Nazi-Gegner mit jüdischen Wurzeln geschrieben worden war.

Pedro Waloschek hat mir erzählt, dass auch er erst geglaubt hatte, Rolf müsse Nazi gewesen sein, dann jedoch schnell auf andere Gedanken kam. Auch ich muss einräumen, dass ich Angst hatte herauszufinden, dass er es war. Einer Kindheit in den 1950er Jahren entkommt man nicht unbedarft. Gute Norweger sympathisierten nicht mit Deutschen. Gute Norweger nahmen Abstand. Und hielten diesen ein. Genau genommen. Das Argument – das eine große –, welches dafür spricht, dass er Nazi war, und es lauthals herausschreit, ist der Deutschland-Aufenthalt während des Krieges. Nichts von dem, was Rolf sonst tat oder sagte, deutet darauf hin, dass er ein Nazi-Anhänger war. Weder vor dem Krieg noch währenddessen oder danach. Warum in aller Welt geht man dann aber nach Deutschland? Wenn ich das nur wüsste.

Eine fiktive Fragestunde

Warum verteidigte er sich im Nachhinein nicht? Richtige Kerle reagieren, wenn sie ungerecht behandelt werden. „Hallo, ich bin der Chef! Du brauchst nicht daherzukommen und zu glauben, dass du es besser weißt als ich!“ War er beschämt? Oder fand er, es gäbe nichts, worüber man reden müsse – hatte seine Meinung und das reichte ihm? Es kann viele Gründe dafür geben, nichts zu sagen. Gehörte er zu jenen, die ein Schweigegelübde abgelegt hatten? Gehörte er einer der Geheimdienstorganisationen der norwegischen Widerstandsbewegung an? Zum Beispiel rekrutierte das naturwissenschaftliche Milieu in Oslo viele für die Organisation XU. Die öffentliche Anschuldigung lief jedoch darauf hinaus, dass er auf der anderen Seite gestanden hatte. Die Fragen drehen sich wie das Mahlwerk einer Mühle. Ich möchte hinausschreien:

„Hatten Sie doch etwas zu verbergen? Sie waren also Nazi!? Deutscher Spion? Oder waren Sie auf der Seite der Alliierten? Oder war es überhaupt nicht ‚spektakulär‘? Lediglich von Zufällen geleitet. Bis es vorbei war. Nichts, um darüber nach Hause zu schreiben. Sie waren nur naiv. An der eigenen Forschung interessiert. Trugen Scheuklappen. Binde vor den Augen und den Kopf unterm Arm. Waren dumm. Unverantwortlich. Nun ja, zumindest unbedacht. Bestenfalls.“

Ich verwickle mich in meinen eigenen virtuellen Dialog. Versuche, auch die Antworten zu geben:

„Dachten Sie nicht daran, was Ihre Kinder sagen würden?“

„Ich dachte die ganze Zeit an sie.“

„Nein, Sie dachten nur an sich selbst und an Ihre Forschung.“

„Sie waren doch klein.“

„Unn war sieben, als Sie nach Deutschland gingen. Was hat Sie Ihrer Meinung nach gesagt, wenn die kleinen Brüder nach Papa gefragt haben? Sie waren doch nicht dumm. Sie hatten Nachbarn. Tanten und Onkel. Ich habe mit Ihrem ältesten Sohn Arild gesprochen. Er wirkte auf mich vollkommen ehrlich, versuchte nicht, etwas zu beschönigen, und beantwortete hilfsbereit meine Fragen. Er hat mir erlaubt, das wiederzugeben. Als Sie anfingen, über lange Zeit nach Hamburg zu pendeln, war er erst fünf Jahre alt. Ein bisschen sagte man ihm. Späterhin mehr. Aber nicht alles. Und das, was er zu hören bekam: Wie konnte er wissen, ob es die richtige Version war? Zuerst war es die Kinderversion, die erledigt sich von selbst. Papa muss abreisen und ist eine Weile weg, weil er in einer weit entfernten Stadt etwas Wichtiges zu erledigen hat. Als er älter wurde, bekam Arild die offizielle, die ungefährliche, für das Umfeld formulierte Version, die auch die Auftraggeber hören konnten, wenn der Buschfunk sie erreichte. Oder war es die ‚Mein Junge, ich muss dich vor der Wahrheit beschützen‘-Version? Die Ängstlich-und-frustriert-Version der Mutter? Was hat der Junge draußen eigenständig aufgeschnappt? Bei den Großeltern in Vinderen und Ullern? Vermutlich ein wenig von allem, und dann machte er sich sein Bild, das ab und an mit unangenehmen Fragen kollidierte. Wie damals, als er zur Armee sollte. Nunmehr aber ist er erwachsen, 70 Jahre alt und hat mir erzählt, wie er es sieht. Ich weiß nicht, ob das mit Ihrer Version übereinstimmt, hier aber ist seine – und dieses Gespräch hat wirklich stattgefunden.“

Aus der Sicht des ältesten Sohns Arild

„Es hat mich gewundert , dass Ihr Vater in Norwegen so wenig bekannt ist …“

„Ja, das hat viele Gründe. Er hat in Hamburg gearbeitet – oder sollte man besser sagen, er musste in Hamburg arbeiten. Ich weiß nicht, wie viel Sie darüber gehört haben …“

„Ich weiß, dass er während des Krieges in Deutschland gearbeitet hat.“

„Er hat in Deutschland gearbeitet, und er hat dort nicht freiwillig gearbeitet, aber er meinte, es habe keinen Sinn, wenn auch er ins Gefängnis käme, nur weil er diesen Job in Deutschland nicht machen wolle. ‚Aber ich nehme diesen Job an, dann komme ich mit meiner Forschung ein wenig voran‘, sagte er. Schließlich wussten die Deutschen von ihm. Sie wussten genau, womit er arbeitete, weshalb sie wussten, was für ein Potenzial sie in ihm hatten. Ich erinnere mich nicht, wann es war, ob es 1942 oder 1943 war, da kamen die Deutschen und gaben ihm Bescheid. Sie sagten: ‚Hören Sie zu: Entweder Sie arbeiten in Deutschland für uns oder Sie landen, wie Ihr Bruder, in Deutschland im Konzentrationslager.‘ Da meinte mein Vater, dass – ja, er hat über diese Sache sicher sehr lange nachgedacht – es besser sei, die Stelle anzunehmen. Und er konnte Viggo ein wenig helfen. Er konnte ihn ab und an besuchen.“

„Er war einmal dort, wie ich weiß. Gab es mehrere Besuche?“

„Wir haben nie viel darüber gesprochen. 1945 kehrte er nach Norwegen zurück. Kurz nach Friedensbeginn wurde er verhaftet. Er wurde schlicht und einfach angezeigt, und das ist ja auch verständlich.“

„Er saß 47 Tage in Gewahrsam.“

„Ja, sowas war's. Es waren also nicht ganz zwei Monate? Zu dieser Zeit war er bei Brown Boveri angestellt, und der Direktor riet ihm, in die Schweiz zu gehen.“

Diese Geschichte hatte sich verfestigt. Das dunkle Kapitel des Vaters in der Kurzversion, wie ein erwachsener Sohn, der bestrebt war, sich richtig zu erinnern und es richtig wiederzugeben, es erzählt hat. Aber ich will mehr wissen:

„Wie stehen Sie zu dem, was Ihr Vater während des Krieges getan hat?“

„Darüber wurde später nie gesprochen. Ich persönlich hörte das einzige Mal etwas, als ich Pilot werden wollte und mich im Sommer 1959, da ich norwegischer Staatsbürger war, in Norwegen für die Luftwaffe meldete. Da wurde ich über Verschiedenes ausgefragt, und da fragten sie mich ohne Umschweife – und ich war ein bisschen, was soll ich sagen, ich war ein bisschen …“

„… verwundert?“

„Ja, nicht nur verwundert, ich war schockiert, weil ich nie daran gedacht hatte – wir dachten damals nicht daran.“

„Was hat man da zu Ihnen gesagt?“

„Ja, sie wollten wissen, wie ich zu den Sachen meines Vaters während des Krieges stehe usw. Und ich, ich wusste nur, dass er in Deutschland gewesen ist, weil wir nie darüber gesprochen haben. Danach wurde ich von einem Onkel, dem Mann der Schwester meines Vaters Grethe, informiert, dass es so und so gewesen ist. Aber mit Onkel Viggo habe ich zum Beispiel nie darüber gesprochen, obwohl er mir im Grunde sehr nahestand, denn immer, wenn es ums Fliegen ging, habe ich bei ihm Rat gesucht.“

„Hat Ihr Vater Ihnen etwas über seine Arbeit in Deutschland erzählt?“

„Nein. Nein. Aber. Ich weiß nicht. Ich hätte ihn ja fragen können. Zum Beispiel, als ich aus Norwegen zurückkam, nachdem mein Onkel mich ‚aufgeklärt‘ hatte. Aber ich hatte faktisch nicht das Bedürfnis. Ich hielt es nicht für sonderlich interessant, es zu wissen. Vielleicht wollte ich es am liebsten nicht wissen. Weil ich wusste, dass es Onkel Viggo sehr schlecht ergangen war.“

Überhitzt

Hat Rolf selbst etwas geschrieben oder gesagt, was die Situation erhellen kann? Oder soll das dunkle Kapitel im Dunkeln bleiben? Nun, Rolf hat auch darüber geschrieben und Interviews gegeben. Kurzgefasst: ‚Ich habe von dann bis dann in Deutschland gearbeitet. Ich bin dem und dem begegnet.‘ Einige davon charakterisiert er als Nazis, bei denen er vorsichtig sein musste mit dem, was er erzählte. Und einige als Nazi-Gegner, mit denen er offen reden konnte. Ein Mitarbeiter, der halb Jude war, wurde von der Gestapo verhaftet. Dazu sagte Rolf: „Wir besuchten ihn im Gefängnis und halfen ihm, so gut wir konnten“. Über eine Besprechung in Berlin sagte er: „Die Gestapo war nicht anwesend, sodass wir frei reden konnten.“ Nachdem ihm Informationen über heftige emotionale Reaktionen von Leuten präsentiert wurden, stellte er nur fest: „Aber die Stimmung in Norwegen war damals überhitzt, und nicht immer wurde alles ruhig und gerecht überlegt und beurteilt. Ich grolle nicht und trage keinem etwas nach. Aber damals fand ich es doch recht gut und günstig, daß ich bald danach in der Schweiz meine Arbeit wieder aufnehmen konnte.“4.

So undramatisch kann man es also ausdrücken. Aber erhellend? Nein. Er fuhr mit seinen Gedanken fort:

„Die Verdächtigungen nach dem Kriege haben trotz allem in gewissen Kreisen etwas Nachgeschmack hinterlassen, und ich bin froh, daß es nun vollständig aufgeklärt zu sein scheint. Jedenfalls haben mich die großen Blumensträuße der Königlichen Norwegischen Gesandten, die ich im Jahr 1992 bei verschiedenen Ehrungen erhalten habe, voll überzeugt, daß nun in Norwegen niemand mehr etwas gegen mich hat.“

Ja, so hat er es Pedro Waloschek in seiner Biografie drucken lassen. Heilige Einfalt! Glaubte er selbst daran? Rationalisierung würde ein Psychiater dazu sagen. Aber halt – das ist doch ganz bewusst eine schöne, feine Version zum offiziellen Gebrauch. Die Sonntagsversion. Etwas musste er schließlich sagen, ohne zu viel erklären zu müssen. Leuten, die fragten. Oder nicht fragten. Ausländischen Forscherkollegen bei CERN. Den Direktoren von Siemens, Philips und Brown Boveri. Wenn er Vorträge in Australien hielt, Krebsstationen in den USA besuchte. Journalisten. Der Familie. Und wer weiß wem – mitunter sich selbst. Denn die Reflexionen, die Erkenntnis darüber, was eigentlich geschehen war, Erklärungen und Ausreden, all das wuchs in den genau 50 kommenden Jahren eines langen Lebens schrittweise heran. Zwischen 1946 und 1996. Es wurde zu einer Standardversion, einer Fassung der Geschichte, mit der er leben konnte, einer autorisierten Erzählung über sein Leben, die er allen darbot, die sie hören wollten, bis er selbst daran glaubte.

Verständnisversuche

Niemand kann die Welt mit den Augen eines anderen sehen. Nur der jeweils Betreffende weiß, wo der Schuh drückt. Der weisen Worte gibt es in diesem Bereich viele. Etwas vom exakt gleichen Standpunkt wie ein anderer Mensch zu betrachten, ist physisch unmöglich. Ein Versuch aber erscheint mitunter amüsant. Solche Szenarien können auch die Problematik beleuchten und neue Nuancen liefern. Wertvoll in einem Bild, das lange nur schwarz-weiß war. Zu jenen, die einen energischen Versuch unternommen haben, Rolf zu verstehen, gehört der Däne Søren Bentzen. Ein wahrer Bewunderer, der geradeheraus seine Skepsis hinsichtlich der Behauptung äußert, Rolf sei nach Deutschland gegangen, um seinem Bruder zu helfen. Bentzen ist Experte im Bereich Forschungsethik und Professor an der University of Maryland School of Medicine, USA. 2006 wurde ihm der Widerøe-Preis verliehen. In seiner Rede anlässlich der Preisverleihung überraschte er die Anwesenden:

„In seiner Biografie behauptet Rolf Widerøe, er habe es getan, um seinem Bruder Viggo zu helfen. (…) Das erscheint als ein sehr verständliches und ehrenhaftes Motiv – mein Problem ist, dass ich nicht sicher bin, ob ich ihm glaube. Augenscheinlich muss dies ein schwerer und sehr emotionaler Entschluss gewesen sein, die Erklärung aber ist schlicht und einfach nicht überzeugend, zumindest nicht, was mich betrifft. Es wirkt wie eine zweckmäßige Erklärung – eine Version der Wahrheit, mit der er und andere nach dem Krieg leben konnten. Ich glaube, er wurde von seinem wissenschaftlichen Ehrgeiz getrieben; das war eine Möglichkeit, das zu tun, worin er gut war und was er machen wollte. Den Job in Hamburg anzunehmen, war ‚the only show in town‘, die einzige Möglichkeit, die er sah.“5

Spannender innerer Konflikt

In Verbindung mit diesem Buch bat ich Søren Bentzen, seine Sicht der Dinge zu präzisieren. Zu diesem Zeitpunkt hatte er selbst bereits 20 Jahre im Ausland gearbeitet:6

„Ich halte ihn für eine spannende Person. Die Sache ist: Wäre Rolf Widerøe ‚nur‘ Nazi gewesen, wären wir schnell mit ihm fertig gewesen, denn dann hätte die menschliche Seite seiner Geschichte nichts Besonderes gehabt. Jedoch gibt es guten Grund zu glauben, dass er keineswegs Nazi-freundlich war. Und deshalb ist Rolf Widerøe, so wie ich seine Geschichte sehe, kein Mann, der Opfer seiner eigenen politischen Überzeugung ist, sondern seiner wissenschaftlichen Ambition.“

„Wie begann Ihr Interesse?“

„In den Neunzigerjahren hörte ich Tor Brustads Vortrag über Rolf Widerøe. Ich interessiere mich für Wissenschaftsgeschichte, und etwas an dieser Person fesselte mich. Der Konflikt, auf der einen Seite die eigenen wissenschaftlichen Ziele zu verfolgen, und auf der anderen Seite das zu tun, was in der Gegenwart als richtig und angemessen betrachtet wird. In der Biografie erwähnt er den Aspekt, dem Bruder helfen zu können, als ein Motiv dafür, 1943 die Stelle in Hamburg angenommen zu haben. Das Problem ist, dass die Erklärung ein bisschen zu einfach erscheint, eine Erklärung, die sowohl er als auch sein Umfeld gleichsam akzeptieren konnten. Ich glaube, dass ihn wissenschaftliches Interesse getrieben hat. Dass der Job in Deutschland eine Möglichkeit war, das zu tun, worin er geschickt war und was er realisieren wollte. Ich glaube, das hat ihn geblendet. Er gibt selbst an, politisch wohl naiv gewesen zu sein, und das war er womöglich. Was seine Geschichte für die Menschen der Gegenwart aber relevant macht, ist, dass wir solche Konflikte doch ständig haben. Es gibt eine Reihe von Beispielen in Verbindung mit zum Beispiel Genmanipulation oder pränataler Diagnostik, wo wir das gleiche Dilemma zwischen der Forschung und der ethisch oder gesellschaftlich begründeten Einstellung dahingehend haben, was richtig ist. Widerøe hatte in der Beschleuniger-Physik großen Einfluss, und der Großteil der heutigen Behandlungstechnologien innerhalb der Strahlenbehandlung baut mehr oder weniger direkt auf seinen Entdeckungen auf. Hier haben wir es also mit einem Mann zu tun, der über ein großes Talent verfügt, der hart arbeitet und die persönlichen Zeche dafür zahlt, seine Wissenschaft voranzubringen. Als er während der Besatzung Norwegens vor der Wahl steht, entscheidet er sich für die falsche Lösung – politisch betrachtet.“

Ebenso fasziniert ist Bentzen davon, dass Rolf gegen Ende seines Lebens einen karrieremäßigen Frühling erlebte, als er sich für neue Problemstellungen interessierte. Er wollte die biologische Wirkung der Strahlen verstehen.

„Da nähern wir uns Ihrem Fach?“

„Zu seiner Zeit war Widerøes Beitrag in diesem Bereich äußerst relevant. Es ist interessant, Prinzipien und Methoden eines Bereichs zu nehmen und zu schauen, in welchem Maße sie in einem anderen Bereich anwendbar sind. Ebenso wie die Physik vor und während des Zweiten Weltkriegs ein goldenes Zeitalter erlebte, kam jetzt das goldene Zeitalter der Biologie. Selbst mit dem eigenen Hintergrund in der Physik ist es fachlich attraktiv, den Versuch zu unternehmen, einige der neuen, sich entwickelnden biologischen Prinzipien zu verstehen. Diese Entwicklung durchlief auch Widerøe. In Wirklichkeit landete er bei der Arbeit in der Biologie und Modellen dafür, wie ionisierende Strahlung auf Zellen wirkt, und einige seiner Prinzipien sind noch immer gültig. Man kann sagen, dass er eine Art Vorreiter für sogenannte biologische Feldmodelle war. Sein Beitrag wäre noch größer gewesen, hätte er seine Theorien in englischsprachiger Literatur publiziert. Stattdessen wurden seine Artikel aus dieser Zeit im Großen und Ganzen nur auf Deutsch veröffentlicht, was zur Isolation seines Forschungsbeitrags führte.“

Sich selbst wiederfinden in Rolfs Geschichte

„Hilft es, auf die spezielle Stimmung zu verweisen, die nach dem Krieg in Norwegen herrschte, um zu verstehen, warum er es vorzog, in die Schweiz zu gehen?“

„Ich glaube, zu einem gewissen Grad spiegle ich mich in Widerøes Geschichte wider. Dass man das Land verlässt, in dem man aufgewachsen ist, Familie, Freunde usw., das hat auch seinen Preis. Und den war Widerøe bereit zu zahlen. Allerdings glaube ich, dass er das politische Element möglicherweise unterschätzt hat. Vielleicht ist er ein Beispiel für eine Person mit politischen Scheuklappen. Vielleicht hätte er anders gehandelt, wenn er es gewusst hätte, allerdings bin ich mir da nicht sicher. Ich glaube, für ihn war das eine Möglichkeit, mit dem zu arbeiten, wofür er sich interessierte. Der Preis, den er fachlich dafür bezahlte, war ein verloren gegangenes Renommee. Letztendlich ist es schwer zu wissen, was ihn wirklich getrieben hat. Ich aber meine, in mir selbst etwas von der Antriebskraft wiederzuerkennen, die er gehabt haben muss. Meiner Meinung nach war er derart von seinen wissenschaftlichen Ambitionen bestimmt, dass ihn das schlicht und einfach gelenkt hat. Im Nachhinein hat er versucht, sich zu erklären. Wäre da nicht das spezielle Klima gewesen, das die Besatzung in Norwegen erschaffen hatte, wäre das, was er getan hat, kaum kontrovers gewesen. Um ihn zu verstehen, muss man die Stimmung im Land mit einbeziehen. Den Leuten fiel es schwer, ihm zu vergeben, und es fiel ihnen schwer, zwischen deutscher Nationalität und Nationalsozialismus zu unterscheiden.“

Den Gedanken, dass Rolf Nazi gewesen sein soll, weist Professor Bentzen kategorisch zurück. Er sei begeistert vom Deutschen, nicht aber vom Nationalsozialismus und Hitler-Deutschland gewesen:

„Wie schätzen Sie seine politische Haltung ein?“

„Es deutet nicht viel darauf hin, dass er politisch vom Nationalsozialismus begeistert war. Allerdings bin ich mir ziemlich sicher, dass er vom deutschen Nationalismus und der deutschen Nationalität begeistert war und dass ihn sein früherer Aufenthalt in Deutschland inspiriert hatte. Und das hat selbstverständlich auch dazu beigetragen, dass er in die Schweiz gezogen ist und den Großteil seiner Karriere in der deutschen Kultursphäre gearbeitet hat. Obwohl er sagte, dass er stolz war, Norweger zu sein, gibt es wenig Zweifel daran, dass er Deutschland und die deutsche Kultur mochte. Schließlich hatte er dort studiert und den Großteil seines Erwachsenenlebens verbracht. Auch dahingehend war Widerøe seiner Zeit voraus. Er war zu einer Zeit Internationalist, zu der der Nationalismus in Europa noch sehr deutlich war und vom Zweiten Weltkrieg zudem verstärkt wurde. Ich bin sicher, dass er während und nach dem Zweiten Weltkrieg ein gutes Gewissen hatte, ausgehend jedoch von den Verhältnissen in Norwegen zu dieser Zeit war seine Entscheidung vielleicht nicht die klügste. Er half den Deutschen in keiner, Weise den Krieg auszukämpfen, in Norwegen aber herrschte ein großer Widerwille, ihn anzuerkennen. Im Ausland hingegen sieht man das anders. Ihn traf jedoch die Ironie, dass er hauptsächlich in der deutschen Sphäre anerkannt wurde, während die Welt nach dem Krieg von England und Amerika dominiert wurde. Vielleicht kann man sagen: Hätte er noch ein paar Jahre in Norwegen ausgehalten und die Anstellung in Deutschland abgelehnt – und wäre dann unmittelbar nach dem Krieg in die USA gegangen –, dann wäre sein Einfluss noch größer geworden.“

„Das ist ein Paradox, vor dem Krieg war Deutschland eine Lokomotive Europas.

„Ja, vor dem Krieg war Deutschland kulturell und intellektuell eine führende Nation, nicht nur in den Naturwissenschaften, sondern auch in der Literatur und Kunst. Nach dem Krieg wurde der deutsche Einfluss jedoch reduziert, und viele verließen das Land.“

Bentzen meint, dass Rolf ebenso wie Werner Heisenberg ein Erklärungsproblem hatte. Für Heisenberg ging es darum zu erklären, warum er Deutschland in den 1930er Jahren nicht verlassen hatte. Zusammen mit einer Reihe anderer führender Physiker der Zeit war er in Göttingen tätig, und sehr viele verließen das Land, als das Gesetz erlassen wurde, dass Personen jüdischer Abstimmung nicht im Staatsdienst arbeiten durften. Fast alle seiner Kollegen in Göttingen waren entweder selbst Juden oder verließen die Universität aus Sympathie mit ihren jüdischen Kollegen. Heisenberg war einer der wenigen bedeutenden Physiker, die sich für einen Verbleib in Deutschland entschieden.

„So wie ich das sehe, war auch Heisenberg vermutlich kein Nazi; er war deutscher Nationalist und empfand es als seine Pflicht und vielleicht sein Schicksal, in Deutschland zu bleiben. In seiner Autobiografie sieht man jedoch, wie er das Thema gleichsam umgeht. Er hat ganz eindeutig ein Erklärungsproblem.“

Bentzen verweist auf ein Theaterstück darüber, das er in London gesehen hat.

„Als ich dort lebte, sah ich Michael Frayns Schauspiel über Heisenberg. Es ist die Geschichte vom Besuch Heisenbergs bei seinem alten Freund und Mentor Niels Bohr in Kopenhagen während der deutschen Besatzung Dänemarks. Sie hatten ein enges Verhältnis, fuhren gemeinsam in den Urlaub, Heisenberg kannte Bohrs Familie usw. Während des Krieges besuchte er also Niels Bohr, und es gibt einen berühmten Bericht über einen gemeinsamen abendlichen Spaziergang. Bohr war selbst jüdischer Herkunft. Für ihn war es selbstverständlich äußerst schwierig, einen Wissenschaftler aus Deutschland zu empfangen, während Dänemark besetzt war. Wir wissen nicht genau, worüber sie bei diesem Spaziergang gesprochen haben, wissen jedoch, dass sie, als sie sich trennten, zu Feinden geworden waren. Und sie wurden nie wieder gute Freunde. Der Guardian-Journalist Michael Frayn schrieb das Schauspiel ‚Copenhagen‘, das weltweit vielerorts aufgeführt wurde und als Buch und Fernsehfilm erschienen ist. Für das, was während dieser Begegnung geschehen sein kann, präsentiert er drei verschiedene Erklärungsmodelle. Das Schauspiel ist interessant, auch für Nicht-Physiker.“

Eine Dramatisierung der schicksalhaften Begegnung dieser beiden wurde auch am Nationaltheater in Oslo gezeigt, mit Svein Tindberg als Heisenberg und Sverre Anker Ousdal als Bohr. Eingeleitet wurde das Stück mit den Worten: „Jetzt sind wir alle tot …“ Erst dann konnte man nämlich darüber sprechen. Der ehemalige norwegische Industrieminister und Chef des Forschungsinstituts der Armee Finn Lied, selbst Physiker, war einer von denen, die das Stück sahen. Anschließend berichtete er in einem Artikel darüber und beschrieb auch die Episode, in der Heisenberg zögernd die Einladung Bohrs zum Abendessen annimmt:

„Wie so viele Male zuvor, als Heisenberg Student und Forscher bei Bohr war, unternahmen sie einen Spaziergang, jetzt unter anderem um nicht abgehört zu werden. Was ist passiert? Worüber sprachen die beiden Physiker und Philosophen? Erzählt wird eine Begegnung, die von Schwierigkeiten erfüllt war und in einer mentalen Katastrophe, mit einem heftig aufgewühlten Bohr, endete. Es ist nicht verwunderlich, dass dieser Stoff jetzt dramatisiert und inszeniert wurde.“7

Finn Lied zufolge vermittelte die Vorstellung ein schönes Bild von „einem etwas verträumten und philosophischen Bohr“ sowie „dem jüngeren und präziseren Heisenberg“. In dem Stück treten lediglich drei Personen auf: die beiden Physiker und Bohrs Ehefrau Margrethe, „die Heisenberg gegenüber skeptisch und die oberste Richterin des Stücks ist“. Erstmals aufgeführt wurde es 1998 im Royal National Theatre in London, später dann in Kopenhagen und Stockholm, wobei es Lied zufolge kein gewöhnliches Kulturerlebnis war, was dem Publikum angeboten wurde:

„In den Gesprächen wird das komplette Spektrum der Kernspaltung behandelt, die Wirkung der schnellen und langsamen Neutronen, Probleme hinsichtlich der Herstellung von U235 und Plutonium, der Unterschied zwischen einem Reaktor und einer Bombe etc. (…) Das Ganze spielt sich in einem besetzten Dänemark ab, mit Heisenberg als Vertreter der Besatzungsmacht. Man kann ohne Umschweife sagen, dass dies ein ungewöhnliches Drama ist. Ob Frayn das Rätsel von Heisenbergs Besuch gelöst hat, müssen die Theaterbesucher selbst entscheiden. Ich habe noch Zweifel!“

So weit Finn Lied. Auch er vermeidet solide Schlussfolgerungen. Im Stück äußern sich die Hauptpersonen selbst in schwammigen Redewendungen: „Wenn die Leute nur nach dem bemessen werden sollen, was bemessen werden kann …“, sagt Bohr, woraufhin Heisenberg den Satz für ihn beendet: „… dann brauchen wir eine vollkommen neue Quanten-Ethik.“

„The mad scientist“

Søren Bentzen ist der Meinung, Rolf habe sich nicht groß darum gekümmert, was andere Leute über sein Tun dachten und meinten. Dennoch glaubt er, dass es ein persönliches Dilemma gewesen sein muss.

„Er muss gewusst haben, dass es im Angesicht der Gegenwart schwer sein würde, den Beschluss zu verteidigen. Dennoch geht er. Das ist die Verbindung zu heutigen Forschern, die an Technologien arbeiten, die mitunter missbräuchlich eingesetzt werden könnten. Immer tiefer in ein wissenschaftliches Thema eintauchen zu wollen, erschafft einen grundlegenden Konflikt. Das ist bei der Diskussion über die Stammzellenforschung der Fall, ob die Forscher letztendlich versuchen werden, einen Menschen zu klonen, oder darauf verzichten. Es ist dieses Empfinden vom ‚mad scientist‘, der um jeden Preis den ganzen Weg gehen will, den ihn seine Forschung führt. Ich glaube, ich verstehe Widerøe auf die ein oder andere Weise. Wäre er Nazi gewesen, wäre das, was er getan hat, ebenso beeindruckend, aber ich glaube, die Faszination für die Person an sich wäre weg. Was ihn für mich interessant macht, ist, dass er tut, was er tut, obwohl es politisch nicht opportun ist. Mit einer nationalsozialistischen Überzeugung hätte er nur das getan, was er ausgehend von seiner Ideologie für richtig gehalten hätte, und so sind wir damit eigentlich fertig. Ich glaube, er hat selbst eine Form von Konflikt verspürt und nach dem Krieg den Drang, sich zu rechtfertigen. Dann kommt er mit diesen mehr oder weniger bequemen Erklärungen über den Bruder, und da beginnt man nachzudenken. Denn da hat er eigentlich gehandelt, um sein Ziel zu erreichen, trotz – und nicht aufgrund – des Nationalsozialismus.“

„Wird er in Ihren Augen so menschlicher?“

„Ja, absolut. Zudem war er charismatisch und kräftig. Ich habe ein Bild vom American Institute of Physics gesehen, als er einen Vortrag hält. An der Körpersprache kann man sehen, dass er ein beachtlicher Typ war.“

„Aber was für eine Art von Person war er? Ist er für Sie greifbar?“

„Es gibt flüchtige Schemen, durch die wir gleichsam verstehen, was für ein Mensch er war. Ich glaube wirklich, dass er für die Forschung lebte und atmete. In der Biografie hat er erzählt, wie er im Gefängnis an seiner Beschleuniger-Physik weitergearbeitet hat. Wie er das regelrecht nutzte, um die Welt auszuschließen. Er sagt ‚das war hart für meine Frau, denn wir hatten sehr wenig Geld‘ und solche Sachen. ‚Mir aber ging es gut, denn ich konnte dort im Gefängnis sitzen und an den Dingen arbeiten, die mich interessierten, und ich machte Fortschritte hinsichtlich dem und dem und dem.‘ Er hatte eine vollkommen andere Agenda, und der Konflikt, der sich in dieser seiner Entscheidung verbirgt, macht ihn für moderne Menschen interessant – oder für die, die ihn interessant finden –, gerade weil er diese Entscheidung traf, und so versuchen sie zu verstehen, was ihn eigentlich angetrieben hat. Denn zu dem Zeitpunkt, als ihm die Stelle in Deutschland angeboten wird, charakterisiert er sich selbst als Person. Er hätte sich entscheiden können, in Norwegen zu bleiben und zu sagen: ‚Nein danke, unter diesen Umständen will ich keine Stelle in Hamburg annehmen.‘ Zu dieser Zeit war so gut wie allen klar, dass Deutschland den Krieg verlieren würde, und wäre er mehr politisch-analytisch gewesen, hätte er sich entscheiden können, die Hände in den Schoss zu legen und zu sagen: ‚Nein, nein. Ruhig Freunde. Ich will bis nach dem Krieg warten.‘ Seine Entscheidung ist doch dann am interessantesten, wenn er kein Nazi war. Als Nazi wäre er nur seinen Instinkten gefolgt.“

„Erneut verweisen Sie auf den allgemein gültigen Konflikt?“

„Das ist der eigentliche Kern: Das, was man tun sollte, und das, wovon man irgendeine Form von Gewinn hat, wenn man es stattdessen tut. Ich bin sicher, dass ihn in seiner Gegenwart viele als Nazi betrachteten. Ihm dieses Etikett jedoch aufzudrücken, erscheint mir als ein logischer Kurzschluss – denn für sie war das Zeichen dafür, dass er Nazi war, seine Anstellung in Deutschland, und da wird es zu einer Art sich selbst erfüllender Prophezeiung: Wenn er eine Stelle in Nazi-Deutschland angenommen hat, muss der Mann doch Nazi gewesen sein. Ich glaube, die Geschichte mit dem Bruder kam mit den Jahren als eine gelegene Erklärung hinzu. Das ist etwas, in das sich alle Menschen hineinversetzen können. Jedoch erzählt er die Geschichte in einer grundlegend nichtemotionalen Form, und dass dies der entscheidende Faktor für ihn war, kommt fast wie eine beiläufige Bemerkung daher. Hätte er wirklich Gewissensbisse gehabt, das Stellenangebot aus Hamburg anzunehmen, hätte er mehr Zeit darauf verwendet, sich zu erklären, oder er hätte beschrieben, was für ein persönlicher Konflikt das für ihn gewesen ist.“

„Böswillig könnte man fragen: Wer versuchte hier wen zu benutzen?“

„Das ist zumindest ein interessanter Gedanke, ob er seinen Bruder benutzt oder ob er wirklich versucht hat, ihm zu helfen.“

„Mit dem Gedanken, dass Rolf ein Verräter war, kann rein theoretisch Viggo auch ihn benutzt haben – um sich Vorteile zu verschaffen.“

„Wie auch immer: Das mit dem Bruder ist eine praktisch einfache Erklärung. Aber es ist wie in Frayns Theaterstück: Die Wahrheit erfährt man nie. Selbst jenen, die sich damals inmitten des Geschehens befanden, kann man nicht unbedingt trauen. Denn jeder Einzelne hat das Bedürfnis, eine Version der Wirklichkeit zu finden, mit der er selbst leben kann. Das gilt sowohl für Viggo als auch für Rolf. Im Fall Bohr und Heisenberg sind beide Versionen der Geschichte bekannt, aber vermutlich ist keine ganz korrekt. Ich glaube, beide haben die Geschichte im Nachhinein ein bisschen umgeschrieben.“

„Aber da wir nun spekulieren, lassen Sie uns sagen, er war Nazi. Was wären dann die Konsequenzen gewesen?“

„In Norwegen haben wir ja die Diskussion um Hamsun, zum Beispiel Thorkild Hansens Buch ‚Der Hamsun-Prozess‘ aus den 1970er Jahren. Ich halte das für einen glänzenden Versuch, Hamsun und das, was ihn angetrieben hat, zu verstehen.“

„Hamsun bekam den Nobelpreis und ist als großer Schriftsteller anerkannt. Dennoch tut sich das norwegische Volk schwer, ihn zu akzeptieren. Sowas ist offenbar nicht einfach?“

„Nein, und es hat ja auch den Versuch gegeben, ihn als unzurechnungsfähig einzustufen. In England hatte man den sogenannten Sozialdarwinismus, ein Versuch, eine Art Übermensch-Theorie zu rationalisieren, wobei man selbstverständlich meinte, die Engländer befänden sich auf der höchstmöglichen Entwicklungsstufe. Der Nationalsozialismus war auch in vielerlei Hinsicht eine romantische und antimoderne Bewegung. Es war ein Versuch, zur Natur, den ursprünglichen Werten usw. zurückzukehren. Vieles davon hat damals an die Menschen appelliert, auch ohne dass man unbedingt der Judenverfolgung und den Vernichtungslagern zugestimmt hat. Und da macht Thorkild Hansen einen phänomenalen Job, indem es ihm gelingt, verständlicher zu machen, wie eine Person wie Hamsun eine gewisse Sympathie für einen Teil der Ideen hegen konnte. So etwas hat man während des Krieges natürlich nicht gesehen.“

„Nein, und das ist auch eine eher boulevardmäßige Sichtweise.“

„Aber das war schwer. In Dänemark hatten wir die Turnbewegung, und viele der führenden Akteure flirteten in Wirklichkeit auch mit dem Nationalsozialismus und waren zu einigen der großen Veranstaltungen in Deutschland eingeladen. Nach dem Krieg wurde das zu einem Tabu. Es wurde mit all den dunklen Seiten des Nationalsozialismus verbunden, und das mit ‚gesunder Seele in einem gesunden Körper‘ wurde nahezu illegal. Vieles davon hat einen anstößigen Klang angenommen, weil es mit dem Nationalsozialismus verbunden wird. Wie Wagners Opern. Aber trotzdem kann man Wagner hören. Ich habe hier in den USA einen Freund, der wegen des Zweiten Weltkriegs keine japanischen Autos fahren will. Aber irgendwo muss es doch aufhören?“

Zur richtigen Zeit

Unabhängig davon war Rolfs fachlicher Beitrag bedeutend, sagt Professor Bentzen. Auf die Frage, ob er zu früh dran war, wie es einige dargestellt wissen wollen, das heißt, dass die Technologie noch nicht weit genug vorangeschritten war, um seine Ideen umzusetzen, antwortet Bentzen:

„Nein, er war seiner Zeit nicht voraus, es war genau die richtige Zeit. Er war der richtige Mann zur genau richtigen Zeit – jedoch werden einige hinzufügen: nicht immer am richtigen Ort. Ein Teil des Widerstands gegen ihn war fachlicher Natur, die Leute zweifelten schlicht und einfach an der Wirksamkeit seines Prinzips. Auch in der modernen Zeit habe ich Leute sagen hören, dass es eigentlich verblüffend war, dass es funktionierte. Da zeigte sich Rolf Widerøe jedoch hartnäckig. Letztendlich fand er eine Universität, die ihn mit seinen Ideen arbeiten lassen wollte, und er hielt an ihnen fest. Seine Schwierigkeiten begannen mit seiner Entscheidung während des Krieges. Und das betraf seinen persönlichen Ruf, nicht den fachlichen. Aus rein fachlicher Sicht betrachtet hatte er die richtigen Ideen, und sie kamen zu einem Zeitpunkt, als sie in Reichweite der vorhandenen Technologien waren.“

„Sie meinen, es hat nicht ungewöhnlich lange gedauert, bis seine Theorien umgesetzt wurden, obwohl es mehrere Jahre brauchte, bis die Amerikaner sie aufgriffen.“

„In der Wissenschaftsgeschichte gibt es andere Beispiele für Ideen, denen nie nachgegangen wurde, weil sie jenseits des praktisch Möglichen lagen. Aus der historischen Perspektive heraus betrachtet verging nicht sehr viel Zeit zwischen Widerøes ersten bahnbrechenden Ideen bis hin zu ihrer tatsächlichen Einführung bei der Behandlung von Krebspatienten. In dieser Hinsicht ist die Widerøe-Geschichte fachlich nahezu ein Modellfall. Da ist ein junger talentierter Kerl, der sich gegen die Autoritäten auf dem Gebiet stellt, der, wie sich zeigt, aber wirklich etwas begriffen hat. Ohne Widerøes Ideen wäre die moderne Strahlenbehandlung nicht denkbar.“

Die Bühne steht

Søren Bentzen interessiert sich für den Grund, warum Rolfs persönliches Schicksal die Menschen noch immer beschäftigt, und meint, es sei dem Interessenkonflikt geschuldet mit Politik und Nationalgefühl in der einen Waagschale und Wissenschaft in der anderen:

„Darin entscheidet sich der Wissenschaftler Widerøe, das wissenschaftliche Ziel zu verfolgen, was meiner Meinung nach etwas Großartiges an sich hat.“

„Aber das haben viele getan, zu verschiedenen Zeiten.“

„Das Beispiel Widerøe ist so extrem, weil er kein Deutscher und kein Nazi war und sich dennoch dazu entschied, nach Deutschland zu gehen. Zu einem Zeitpunkt, als der gesunde Menschenverstand und vielleicht jeglicher politischer Opportunismus – vielleicht auch jeglicher karrieremäßiger Opportunismus – in Wirklichkeit dagegensprachen. Die Situation hätte nahegelegt, sich ruhig zu verhalten, in Oslo zu bleiben und abzuwarten, bis die Deutschen den Krieg verloren hätten. Ich glaube, das Angebot, das er bekam, war für ihn sehr verlockend. Das war die Chance, seine Maschine zu bauen.“

„Er ist ja selbst darauf eingegangen, dass die Stimmung in Norwegen nach dem Krieg speziell war. Wie viel Gewicht sollte dem beigemessen werden?“

„Das war eine besondere Atmosphäre, und will man versuchen, die heftige Behandlung zu verstehen, die ihm widerfahren ist, muss man das in die Betrachtung mit einbeziehen. Hinzu kommen der industrielle und kommerzielle Blickwinkel, was bei den Physikern der Zeit nicht sehr willkommen war. Das ist auch kontrovers. Ich glaube, vor allem in der europäischen akademischen Tradition betrachtete man es als beinahe – ja, beinahe nicht stubenrein, dass man versuchte, seine wissenschaftlichen Ideen zu kommerzialisieren und damit Geld zu verdienen. Hinzu kommt, dass das Forschermilieu in der Zeit um den Zweiten Weltkrieg viel elitärer und egozentrischer war, als es heute der Fall ist. Vermutlich wurde ihm also sowohl aufgrund der einzigartigen Umstände mit der deutschen Besatzung Norwegens als auch aufgrund der Intoleranz innerhalb des Fachmilieus heftig mitgespielt.“

„Glauben Sie daher, dass eine jüngere Generation Physiker das anders sehen würde? Dass es ihr leichter fallen würde, seinen Einsatz anzuerkennen, wenn sie sich darüber im Klaren wäre?“

„Das glaube ich in der Tat, denn auch die Physik hat sich verändert. Es sind nicht viele, die heute glauben, Physik sei die einzige Wahrheit, dass man im Buch des Herrn oder im großen Buch der Natur liest, wenn man mit Physik arbeitet. Die postmodernistische Denkweise geht mehr dahin, dass jede physikalische Theorie den ein oder anderen begrenzten Anwendungsbereich hat und dass man ständig neue Schichten aufdecken kann. Es herrscht in Bezug auf die Physik eine offenere Denkweise dahingehend, dass Methoden nützlich sind, weil sie in irgendeinem Zusammenhang die richtige Antwort liefern können. Und diesbezüglich ist die Physik – meiner Meinung nach – weitaus weniger orthodox als viele andere Wissenschaften. Die damaligen Physiker können puristischer und damit auch verurteilender gewesen sein, wenn es darum ging, Widerøes Beitrag perspektivisch einzuordnen. Da, glaube ich, ist es richtig zu sagen, dass es einem modernen Physiker leichter fallen würde, Beiträge anzuerkennen, die mehr angewandte Physik sind. Man ist gezwungen zu sagen, dass Widerøe ein sehr wichtiges Stück Physik geschaffen hat. Der physikalische Kern darin ist erkennbar, gleichzeitig ist die von ihm gefertigte Maschine nützlich, weil sie zur Krebsbehandlung eingesetzt werden kann.“

Man kommt nicht umhin, dass Rolf sowohl zu seiner Zeit als auch später kontrovers gesehen wurde, meint Bentzen:

„Als Tor Brustad die Idee hatte, dass man Widerøe in Norwegen Genugtuung, eine fachliche Anerkennung erweisen sollte, da waren selbst recht enge Kollegen sehr dagegen. Trotzdem fasziniert er noch immer, nicht nur Forscher, sondern uns alle, weil wir uns im tiefsten Inneren in ihn hineinversetzen können. Mehr als die historische Person Widerøe im Detail zu verstehen, hat mich die Entscheidungssituation interessiert, in der er sich befunden hat. Die Bühne war sozusagen vorgegeben. Eine extreme Entscheidung muss getroffen werden, wobei die Umstände so heftig sind, dass die Wahl deutlich wird. Das konzentriert die Problematik wie in einer Oper oder einem Theaterstück.“

„Vielleicht gibt es ebenso gute Gründe, daraus ein Theaterstück zu machen wie über die Begegnung zwischen Bohr und Heisenberg?“

„Ja, in der Tat. Wie bei der Begegnung der beiden in Kopenhagen ist eine Inszenierung dessen denkbar, was Widerøe antrieb. Schließlich handelt es sich um ein Drama mit höchst aktuellem Konfliktstoff.“

Ist freiwillig gleich freiwillig?

Søren Bentzen geht davon aus, dass Rolf freiwillig nach Deutschland gegangen ist, eine reale Wahl hatte, sich in einem Dilemma befand und entschieden hat zu gehen. Der Bruder war ein stellvertretendes Argument. Auch Tor Brustad vom Radiumhospital interessiert sich für dieses Dilemma, wobei die Freiwilligkeit für ihn mehr auf dem Papier steht, mehr ein „freiwilliger Zwang“ war. Rolf musste gehen. Die Frage war, welche Gegenleistungen er aushandeln, wie er die Situation zu seinem Vorteil ausnutzen konnte. Professor Brustad drückt es wie folgt aus:

„Rolf Widerøe war sich im Klaren darüber, wie problematisch es war, 1943 eine Stelle in Deutschland anzunehmen, wo alle Verbindungen zwischen Norwegern und Deutschen mit Argwohn betrachtet wurden. Aber der Bruder saß, mit schwindender Gesundheit, im Konzentrationslager. Auf der anderen Seite sprach viel dagegen, da eine Zusammenarbeit mit den Deutschen von der öffentlichen Meinung Norwegens nicht verstanden würde. Hier befand er sich also in einem Dilemma.“8

Wenn Brustad laut darüber nachdenkt, wie Rolf überlegt haben muss, deutet seine Formulierung Wohlwollen gegenüber Rolf an:

„Er wusste, dass die Entwicklung eines Betatrons mit einer derartigen Energie keine kriegswichtige Bedeutung haben konnte. Und darin wurde ihm im Nachhinein Recht gegeben. Auf der anderen Seite war die öffentliche Meinung sehr dagegen, und die Frage lautete, wie das aufgefasst würde. 1943 war für die deutsche Kriegsführung ein Katastrophenjahr. Am 2. Februar hatten die Deutschen in Stalingrad kapituliert, und als sie später mit Rolf sprachen, befand sich Hitler an allen Fronten auf dem Rückzug, auch in Afrika und Italien. In England bauten die Alliierten das weltgrößte Lager an Kriegsmaterial auf für die Invasion des Festlandes und um Deutschland den Todesstoß zu versetzen. All das wusste er, als er die deutschen Offiziere traf. Für Deutschland gab es keine Rettung. Es gab keinen Zweifel mehr daran, wer letztlich den Sieg davontragen würde; es war nur eine Frage, wann es passieren würde. Er sah ein, dass kaum Zeit sein würde, ein Betatron zu entwickeln. Wenn es ihnen gelingen sollte, müssten sie in der Tat Glück haben. Bedeutung für den Ausgang des Krieges würde es nicht haben, aber mit Kontakten in die neutrale Schweiz könnte er später ein Betatron für die Krebstherapie und die Materialprüfung von Schweißnähten entwickeln, das das zerstörte Europa brauchen würde. Dennoch gab es so starke Gegenargumente, dass er gedacht haben muss, er könne sich darauf nicht einlassen und die Antwort müsse daher Nein lauten. Dann aber war da die Sache, dass er dem Bruder helfen wollte. Dazu könnte er Gelegenheit haben, wenn er nach Deutschland ginge. Und dann hat er bei der deutschen Delegation als Gegenleistung für seinen Einstieg in das Forschungsprojekt ihre Unterstützung beim Gnadengesuch für den Bruder angesprochen.“

So weit Professor Brustads Überlegungen.

Waloscheks Sicht der Dinge

Der Dritte, der sich Rolfs Leben vorgenommen hat – der deutsche Physiker und Biograf Pedro Waloschek – vermittelt hinsichtlich des Warum Rolfs eigene Version und begnügt sich im Großen und Ganzen damit. In Gesprächen mit mir wirkt es, als habe er Rolfs Erklärung anfänglich geglaubt, dass die Aussichten, dem Bruder zu helfen, ausschlaggebend gewesen seien. Gleichzeitig sah er durchaus die technologischen Interessen, die die Deutschen verfolgten und ihn deshalb nach Deutschland holen wollten. Im Vorwort der Biografie, worin Waloschek seine Sicht der Dinge formuliert, stellt er den Deutschland-Aufenthalt während des Krieges einfach und ohne Kunstgriffe dar:

„In der Hoffnung, seinen Bruder Viggo – ein Pionier der Norwegischen Luftfahrt, der sich am Widerstand beteiligt hatte – aus der Haft in Deutschland zu befreien, akzeptierte es Rolf Widerøe im Jahr 1943, seinen Jugendtraum, einen ‚Strahlentransformator‘ oder ‚Betatron‘ in Hamburg zu bauen, mit dem man sehr starke Röntgenstrahlen erzeugen konnte. Einige Spezialisten der Luftwaffe dachten damals daran, mit Röntgenstrahlen Flugzeuge abzuschießen, wovon aber Widerøe nichts wußte und was ihnen dann von seriösen Physikern auch ausgeredet wurde.“9

Als Waloschek die Arbeit an dem Buch beendet hatte, widmete er sich einem Projekt über die generelle Waffenforschung während des Krieges. Hierbei stieß er erneut auf Rolfs Betatron-Bau und deutet nunmehr auch andere Motive als den inhaftierten Bruder an:

„Sein norwegischer Arbeitgeber NEBB war damit auch einverstanden – oder musste damit einverstanden sein. Aber nach den späteren Entwicklungen zu urteilen, waren NEBB und die schweizerische Muttergesellschaft BBC auch selbst sehr interessiert am Bau dieser Art von Beschleunigern. Man kann sogar annehmen, dass Widerøe schon in Oslo, als er an seinen beiden Strahlentransformator-Artikeln arbeitete, die Zustimmung von NEBB hatte, da dies ja doch sehr viel Zeit beansprucht haben muss. (…) Anscheinend hatten die zuständigen deutschen Behörden auch nichts gegen seine weiteren guten Beziehungen zu NEBB und BBC, besonders auch zum größten BBC-Werk.“10

In einem späteren Gespräch gab Waloschek mir gegenüber an, dass er nunmehr zu der Ansicht gelangt sei, der Bruder allein könne nicht die Ursache dafür gewesen sein, dass Rolf während des Krieges nach Deutschland ging.11.

Die Auffassung der Familie

Die Familie hat sich zu seinem Aufenthalt in Deutschland während des Krieges nie öffentlich geäußert. In einem Gespräch in Verbindung mit diesem Buch fasste seine Schwester Else die Situation jedoch wie folgt zusammen:

„Wir sagten: ‚Verstehst du nicht, dass das falsch aufgefasst werden wird?‘ Rolf aber interessierte sich nicht für Politik, er interessierte sich für sein Lebenswerk. Mit ihm zu reden, nützte nichts. Und auf einen erwachsenen Menschen kann man nicht einreden.“12

Was sagte er selbst über das Warum? Wieder und wieder habe ich mir die Tonbandaufnahme von dem Physiker-Interview in Oslo angehört, an dem er im Alter von über 80 Jahren teilnahm. Habe die Abschrift von damals sowie ihre spätere Übersetzung ins Deutsche gelesen. Habe versucht herauszufinden, was er gesagt hat – in und zwischen den Zeilen. Im Interview wurde er direkt gefragt, wie der Deutschland-Aufenthalt zustande kam. Dabei wies er darauf hin, dass er versucht habe, vor Reiseantritt mehr herauszufinden, und gesagt habe: „Ich kann das doch nicht so ohne Weiteres machen, ich muss doch etwas mehr über das Ganze erfahren.“ Als Antwort habe er da erhalten: „Darüber können wir in Berlin sprechen.“ Da, sagte er, hätten sie den Bruder erwähnt:

„Sie deuteten also an, dass es von großer Bedeutung für meinen Bruder sein könne. Mein Bruder, Viggo Widerøe, war ja Direktor der Fluggesellschaft Widerøe, die eingestellt worden war, natürlich, aber er hatte einigen Jungs geholfen, von Norwegen nach England zu gelangen, und das war natürlich entdeckt worden, er wurde verhaftet und in Deutschland zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilt – hartes Zuchthaus. Und sie deuteten da die Möglichkeit an, dass er freikommen könne. Dann fuhr ich runter nach Berlin, und dort sprachen wir viel darüber. Sie wollten in Hamburg ein kleines Betatron bauen, und sie sagten, wenn ich ihnen dabei helfe, dann würden sie ihn freilassen. Dann wollten sie ihr Mögliches tun, damit er freikam. Da sagte ich zu, dass ich dies tun würde. Ich ahnte damals nichts von dem mit Schiebold und dass die Luftwaffe und all das dahinterstand, davon hatte ich keine Ahnung, da es so schrecklich geheim war, mir war nicht erlaubt, etwas davon zu wissen.“

Porträt in den Medien

In einem ganzseitigen Porträt einer Samstagsausgabe der Aftenposten verwendet Rolf bezüglich des Aufenthalts in Deutschland während des Krieges den Ausdruck „von den Deutschen dorthin transportiert“. Es war das einzige richtige Porträt, das jemals in einer norwegischen Zeitung über ihn erschienen ist. Da war Rolf 69 Jahre alt, und das Gespräch wurde von einem erfahrenen Journalisten geführt, der im Laufe seiner Karriere Größen wie Sartre, Adenauer und Golda Meir interviewt hatte. Zu der Zeit, als das Betatron im Osloer Radiumhospital installiert wurde, war er Auslandskorrespondent mit Verbindung zum Internationalen Presseinstitut in Zürich. Das sagt selbstverständlich viel über die Medien aus, die zu dieser Zeit weitaus unkritischer und weniger nachforschend waren als heute, es sagt aber auch etwas darüber aus, wie vollkommen unbekannt Rolf in Norwegen gewesen sein muss, wenn ein Presseschwergewicht ihn so leicht davonkommen lässt, wenn er über seine Zeit in Deutschland spricht – ohne die Möglichkeit anzudeuten, dass es dahingehend andere Sichtweisen geben könnte:

„Das erste funktionsfähige Betatron Europas habe ich während des Krieges in Hamburg gebaut. Ich wurde von den Deutschen dorthin transportiert, um eine solche Maschine für sie zu bauen.“13

„Hatte sie militärische Bedeutung?“

„Absolut nicht! Es war ein Experiment, vollkommen unsicher. Vielleicht dachten sie, es könnte dabei etwas im medizinischen Bereich oder auf anderen Gebieten herauskommen. Das stimmte insoweit, jedoch war die Maschine zu klein für die später festgelegten Anforderungen.“

Zu einem früheren Zeitpunkt des Interviews hatte Rolf noch zwei Sätze über die Zeit in Deutschland gesagt: Dass er 1943 ein deutsches Patent für „die Kollision zwischen hochenergetischen Teilchen“ – sein Stolz – angemeldet habe und dass das Patent „darauf hinauslief, dass man Protonen in zwei Ringen sammelte, wo sie sich in entgegengesetzter Richtung bewegen und in speziellen Anordnungen in Bahnen verlaufen, wo sie kollidieren“. Dem fügte er hinzu: „Die Idee ist im Ursprung norwegisch.“ Das ist wortgetreu alles, was in dem Porträt über die Kriegsjahre gesagt wurde. Eine Journalistengeneration später brenne ich darauf, Anschlussfragen zu stellen. Der Interviewte muss darüber doch mehr zu sagen haben. Warum wollten die Deutschen, dass er für sie arbeitete? Und warum war er dazu bereit? Auf einem anderen Blatt steht, ob ich drauf überhaupt Antworten erhalten hätte.

Bestätigung in der Biografie

Bei der Behandlung des Physiker-Interviews baute Pedro Waloschek in seiner Biografie auf Rolfs eigener Übersetzung der Abschrift der Tonbandaufzeichnung von dem Gespräch auf. Rolf las den Text anschließend gegen und gab ihn frei:

„Was gerade die Luftwaffe mit dem Betatron vorhatte, erzählten sie mir nicht, das erfuhr ich erst später. Jedenfalls habe ich damals nicht gewußt und auch nicht geahnt, daß man Betatrons als Waffe einsetzen könnte oder wollte. Und ich hätte es auch nicht für möglich gehalten. Ganz sicher gab es damals ein wichtiges Argument: Den Vorsprung der Amerikaner auf diesem Gebiet wettzumachen – ganz gleich, was man damit später anfangen könnte.

Offiziell handelte es sich immer um die Entwicklung von besonders guten Röntgengeräten, die man in der Medizin und für die zerstörungsfreie Materialprüfung einsetzen wollte. Bei den Betatrons handelte es sich ja um kleine, relativ handliche Apparaturen, mit denen man die dafür üblichen Hochspannungsanlagen ersetzen konnte. (…)

Ich habe dann also zugesagt, später nach Hamburg zu gehen, oder genauer ausgedrückt, ich wurde mit meiner mehr oder weniger freiwilligen Zustimmung (und offensichtlich auch der meiner Firma NEBB) ‚dienstverpflichtet‘ (…).“14

In einer Videoaufnahme, die Waloschek im Herbst 1992 mit ihm machte, wiederholte Rolf im Großen und Ganzen das Gleiche – mit ein paar kleineren Zusätzen, unter anderem einer einführenden Bemerkung, dass man die spezielle Situation in Norwegen im Frühjahr 1945 nicht vergessen dürfe. Man war auf der Jagd nach Verrätern. Das Interview ist im Wesentlichen eine Variation dessen, und man wird nicht viel klüger daraus, dass es an mehreren Stellen erwähnt wird. Das hängt aber auch damit zusammen, dass der Text hin und her übersetzt wurde und dass die schriftlichen Quellen teilweise auf der Abschrift der Tonbandaufnahme beruhen.15 Das Physiker-Interview in Oslo fand bekanntermaßen auf Norwegisch statt, wurde ins Deutsche übersetzt und in Waloscheks Buch aufgegriffen, das später ins Englische und ins Russische übersetzt wurde. In der Biografie verwendet Rolf den Ausdruck „mit meiner mehr oder weniger freiwilligen Zustimmung“ und schafft somit Raum für Auslegungen. Da er offenbar seine „offizielle“ Version hatte, also eine Erklärung, die er auf Anfrage vorbrachte, ist denkbar, dass er etwas verbarg.

Freiwillig und freiwillig. Was bedeutet freiwillig, wenn der Feind fragt? Und was ist in diesem Fall die Alternative? Hatte er überhaupt eine Wahl? Es war Krieg.

Was aber, wenn seine Schlussfolgerungen ebenso fragend verblieben wie meine? Ist es möglicherweise seine allerbeste Einschätzung, wenn er 40, 50 Jahre später „mit meiner mehr oder weniger freiwilligen Zustimmung“ sagt? Es wäre versöhnlich gewesen, hätte er gesagt, dass er Zweifel hatte, ob er gehen solle. Tor Brustad ist der Meinung, dass er die hatte. Hatte er sie nicht, könnte das an sich Grund genug sein, dass Menschen ihn aus rein moralischer Entrüstung verurteilten.

Verbittert?

Ich nähere mich der Frage der Freiwilligkeit von einer anderen Seite und versuche herauszufinden, ob Rolf über das Geschehene verbittert war. Die Antwort darauf ist aus menschlicher Sicht interessant, wirft aber auch Licht auf die Begründung dafür, nach Hamburg zu gehen. Aus Mangel an Antworten von ihm selbst ist die Familie der erste Ansprechpartner. Zuerst ein Mitglied der Familie der Ehefrau:

Jørgen Holmboe: (Sohn der Schwester seiner Frau, Anna Margarete) (Das Interview fand 2006 statt.)

„Hatten Sie den Eindruck, dass er über die Verhaftung, das Bußgeld und die Behandlung nach dem Krieg verbittert war?“

„Darüber weiß ich nichts. Das war nie ein Thema, und das ist so neu für mich; ich habe erst kürzlich davon erfahren. Aber ich weiß es – ich habe kürzlich mit meinen Eltern darüber gesprochen – und habe gehört, dass es diesbezüglich eine recht – sagen wir – schwierige Familiensituation gab, nicht in der Widerøe-Familie, aber in der Familie meiner Mutter, wo sich die Schicksale im Hinblick auf den Krieg unterschieden und man unterschiedlich beurteilt wurde. Ein anderer Onkel, Egil Reksten, der mit Ragnhilds Schwester Louise verheiratet war, saß in Deutschland in Gefangenschaft. Da war etwas, aber es war nie ein Thema. Mein Vater aber sagte erst kürzlich, dass es direkt nach dem Krieg in Ragnhilds Elternhaus mitunter einige recht schwierige Sonntagsessen gab.“

„Wie verhielt es sich mit dem fehlenden fachlichen Respekt in Norwegen, hat Rolf das beschäftigt?“

„Das hätte ich vermutlich nicht bemerkt. Nein, ich fand, er hat damit gescherzt, mit all seinen Ehrendoktortiteln an verschiedenen medizinischen Fakultäten. Ich hörte ihn einmal sagen: ‚Jetzt habe ich alle erdenklichen Preise bekommen, außer den Nobelpreis, und dafür ist es zu spät.‘ Und da war er vermutlich 75 oder 80 Jahre alt. Ob es etwas zu bedeuten hatte, dass er bei Brown Boveri war, einem Industriebetrieb, nun – es ist doch oft so, dass industrielle Forschung in akademischen Kreisen nicht immer genauso anerkannt ist. Ich weiß nicht, wie viel man da hineinlegen soll, aber im Ausland ist es weitaus anerkannter, dass Forschung auch in der Industrie stattfindet.“

„Meinen Sie damit, dass 1943 in Hamburg das Fachmilieu und die Ressourcen lockten?“

„Ja, die wahrscheinlichste Erklärung ist wohl, dass er – als der Wissenschaftler mit den leichten Scheuklappen, der er war – sich entschied zu gehen, weil dort die Ressourcen und das Milieu waren. Allerdings ist das eine Vermutung meinerseits. Schließlich ist es nicht ganz ungewöhnlich, Teil eines von der Industrie finanzierten Forschungsmilieus zu sein und gleichzeitig eine akademische Verbindung zu haben, allerdings ist das in anderen Ländern üblicher als in Norwegen.“

„Ist es für Norweger problematisch, einem Ingenieur mit Verbindung zur Wirtschaft akademischen Status einzuräumen? Dass sie Patente anmelden, anstatt wissenschaftliche Abhandlungen zu publizieren?“

„Ja, in gewisser Weise. Gleichzeitig aber ist vielleicht die Möglichkeit voranzukommen besser, wenn man ein starkes Industriemilieu im Rücken hat, weshalb es in beide Richtungen gehen kann.“

Rolf Widerøe jr.: (jüngster Sohn, beim Umzug in die Schweiz fünf Jahre alt)

„War es in der Familie spürbar, ob Ihr Vater traurig war, nicht in Norwegen bleiben zu können?“

„Nein, davon merkten wir nichts. Wir wussten, dass Vater zwei, drei Jahre während des Krieges in Deutschland gearbeitet hatte. Es gab Leute in der Schweiz, die sagten, er habe an der Entwicklung der V2-Raketen mitgearbeitet. Aber es war nicht so, dass ich da umgehend zu Vater gegangen bin und gefragt habe, ob das stimmt. Ich ging nicht darauf ein. Ich dachte, wenn es etwas gab, dann würden meine Eltern mir das früher oder später erzählen.“

Er hörte jedoch einmal, dass innerhalb der Familie über seine Mutter ‚die Arme‘ gesagt wurde.

Dann erzählt er vom Professor des Radiumhospitals, der die Unterlagen zum Fall aus dieser Zeit durchgegangen ist und den Vater durch einen Artikel und einen Vortrag auf einer Konferenz in Hardanger rehabilitiert hat:

„Dort waren alle, Mutter, Per, Arild und ich. In diesem Zusammenhang hörte ich, was abgelaufen war. Daneben gab es das Buch von Waloschek, das einige Jahre zuvor erschienen war und uns auch ein Stück weit informiert hatte. Ihre Frage, ob mein Vater es bedauerte, nicht in Norwegen zu arbeiten: Den Eindruck hatten wir keineswegs. Wir fuhren immer nach Norwegen in den Urlaub. Ein oder zwei Mal sagte er, wenn er Rentner würde, wolle er nach Norwegen zurück, um zu sterben. Das war alles, was wir von seiner Sehnsucht nach Norwegen merkten, wenn er das sagte. Wie aufrichtig er das meinte, nun – mit der ganzen Sache während des Krieges und all dem – es beschäftigte ihn wohl mehr, dass er im Grunde auf eine gewisse Art gezwungen gewesen war, Norwegen zu verlassen. Ich glaube, das ging ihm ein bisschen näher als Mutter. Glaube ich.“

„Dass sie das Land wegen des Geredes der Leute nach dem Krieg verlassen mussten?“

„Ja, das glaube ich. Aber es war nicht so, dass ihn das sehr beschäftigte. Keineswegs, denn er war – im Großen und Ganzen – sehr positiv und heiter und zufrieden mit allem, wie es war. Aber es ist nicht das Gleiche, ob man freiwillig geht oder nicht, verstehen Sie?“

„Wie freiwillig, glauben Sie, war es?“

„Hm …“

„Eigentlich? Glauben Sie, er ist freiwillig gegangen?“

„Das kann sein, verstehen Sie? Als er 15 oder 20 Jahre zuvor die Idee für das Betatron und die Aufgabe hatte, die er vor sich sah, und nun die Möglichkeit sah, das umzusetzen … Und er wusste ja auch, dass auch andere sich daran versuchten. Auch in England und den USA hatten Leute begonnen, einen solchen Apparat zu entwickeln. Ich halte das durchaus für eine Möglichkeit.“

„Es passt also zu Ihrem Bild von Ihrem Vater, dass er derart von etwas gefesselt sein konnte?“

„Ja, ja, vielleicht, ja. Er hat sich im Grunde nie für Politik interessiert. Während der Kulturrevolution nach China zu reisen und einen Vortrag zu halten, war für ihn kein Problem. Ganz im Gegenteil fand er es sehr schön, wie es in China lief. In dieser Hinsicht war er unkritisch.“

Bevor er fortfährt, überlegt Rolf jr. Ruft sich die Fragestellung in Erinnerung:

„Ob Vater freiwillig gegangen ist oder nicht, ist schwer zu sagen. Darüber habe ich keine bestimmte Meinung. Aber Sie sollten mit Per sprechen, der von seinem siebten bis zu seinem 24. Lebensjahr bei meinen Eltern gewohnt hat, und mit meinem Bruder Arild, er hat vielleicht einen etwas anderen Eindruck.“

Somit habe ich noch immer keine eindeutige Antwort erhalten und werde weitergeschickt. Und ich glaube nicht, dass es daran liegt, dass die Befragten diplomatisch sein wollen. Ich glaube, sie wissen es schlicht und einfach nicht. Und ich glaube, aus Respekt tragen sie nicht dick auf, wenn sie unsicher sind. Wen ich auch frage, so werde ich gebeten, auch andere zu fragen, weil diese es vielleicht anders sehen. Jeder Einzelne weist es von sich, über das Wahrheitsmonopol zu verfügen.

Dann gehe ich zu jemand, dem eine Gefangenennummer in den Arm eingebrannt ist, der in die Familie eingeheiratet hat. Vielleicht sieht er das Ganze schärfer?

Egil Reksten (verheiratet mit der Schwester der Frau, Louise):

„Ich grübele darüber nach, warum Ihr Schwager im Krieg nach Deutschland gegangen ist. Warum, glauben Sie, hat er das getan?“

„Ich glaube, dass er nicht darüber nachgedacht hat. Er war so in seine eigenen Gedanken vergraben, dass er nicht daran gedacht hat, dass es falsch sein würde. Dort hatte er die Möglichkeit, mit seinem Projekt voranzukommen, so habe ich es zumindest aufgefasst. Das stimmt mit dem überein, wie ich ihn auch später sah. Er war so besessen von dem Gedanken an technische und wissenschaftliche Dinge, dass er sie umsetzen musste. Nein, ich bilde mir ein, dass es so war, dass er derart in seine eigenen Ideen und seine eigene Arbeit vertieft war, dass er für andere Sachen keinen Kopf hatte.“

„Wenn Sie selbst eine geniale Idee gehabt hätten, was hätten Sie getan? Hätten Sie die Idee in Deutschland weiterentwickelt, wenn Sie die Chance dazu bekommen hätten, oder wären Sie dem Strom gefolgt, hätten die Forschung bis auf Weiteres eingestellt und wären ein guter Norweger gewesen?“

„Ja, was hätte ich in einem solchen Fall getan? Ich wäre nach England gegangen und hätte sie von dort aus weiterentwickelt. Allerdings fehlt es mir an der Grundlage zu begreifen, wie ein Forscher wie er das sieht.“

„Aber war es praktisch denkbar, dass Rolf damals nach England gegangen wäre? Außerdem hatte er sein komplettes Studium und viele Arbeitsjahre in Deutschland verbracht; dort hatte er die Kontakte.“

„Ja, das will ich nicht ausschließen. Also, wenn er es absolut gewollt hätte, wäre er wohl nach England gelangt. Einige reisten um die ganze Welt, um dorthin zu kommen. Aber ich glaube, das kam ihm überhaupt nicht in den Sinn.“

Eine Unperson

Einige fragten ganz bewusst nicht, warum Rolf für die Deutschen gearbeitet hat, bildeten sich aber dennoch eine Meinung darüber und sprachen miteinander. Für diese war Widerøe eine Unperson. Bedenke, was er getan hat! Und damit war die Diskussion beendet. Viele Physiker der Universität Oslo und der Norwegischen Wissenschaftsakademie widersetzten sich dem Vorhaben, dass er überhaupt geehrt werden sollte. Einer, der sich das gemerkt hat, ist Rolfs Neffe Aasmund Berner, Professor in der Krebstherapie, in dessen Büro im Osloer Radiumhospital die Biografie und die Doktorarbeit des Onkels stehen. Er berichtet von den Reaktionen, als sein Kollege Tor Brustad in einem Vortrag das Wort für eine Ehrerweisung ergriff:

Aasmund Berner (Sohn von Rolfs Schwester Grethe):

„Zu diesem Zeitpunkt war Onkel Rolf noch am Leben, aber krank, und man rechnete nicht damit, dass er noch lange leben würde. Brustad wünschte sich noch zu Lebzeiten eine Anerkennung, aber das führte zu nichts. Man darf nicht vergessen, dass niemand sonderlich viel von Rolfs Forschung verstand. Das ist das eine. Das andere ist, dass das Forschungsmilieu in Norwegen zu der Zeit, als er inhaftiert wurde, auch noch nicht gereift war. Sie hatten keine Ahnung. Im Gerichtsverfahren stempelten die Professoren des Sachverständigenkomitees es einfach als Unsinn ab. Er sei kein Forscher.“

„Wie konnten sie das sagen?“

„Ich kenne sie nicht, weshalb das Spekulation wäre. Aber es ist denkbar, dass … nun, oft ist es so, dass Personen in bedeutenden Positionen auch Züge von Geltungsdrang aufweisen. Und wenn man der Meinung ist, dass man es am besten weiß, und dann ein Außenseiter daherkommt, und besonders einer, dessen Tun ein wenig verdächtig ist, ja dann … Zum Beispiel wurde eine Büste von Onkel Rolf angefertigt, die im Radiumhospital steht; daraufhin wurden die Physiker in Blindern gefragt, ob man eine Kopie haben wolle, was jedoch verneint wurde. Mir ist das nur peripher bekannt, ich weiß ein bisschen von zu Hause. Es ist auffällig – und obwohl wir hier im Foyer des Radiumhospitals eine kleine Strahlenausstellung haben, so fällt doch auf, dass, wenn ich Rolfs Beitrag aufgreife, ich der Meinung bin, dass er bagatellisiert wird. Ich habe versucht, den Leitern etwas zu sagen, sowohl den ehemaligen als auch den aktuellen, finde aber, sie verschließen die Ohren. Professor Brustad ist eine Ausnahme. Er hat viel für Rolfs Nachruf getan.“16

Der betreffende Vortrag wurde in der Norwegischen Wissenschaftsakademie gehalten, wo Brustad Mitglied ist. Arrangiert wurde die Veranstaltung in Verbindung mit dem 100-jährigen Jubiläum der Entdeckung der Röntgenstrahlen und sie widmete sich Forschern, die das Feld weiterentwickelt hatten.17 Brustad zufolge war Rolf Widerøe vergessen worden, weshalb er vorschlug, ein Komitee einzurichten, das beurteilen sollte, ob die Akademie die Initiative zu einer angemessenen Ehrerweisung für Rolf ergreifen solle. Er begründete das sowohl mit dem Renommee der Akademie als auch damit, „was wir als ihre Mitglieder diesem hervorragenden Wissenschaftler schulden“. Eigenen Aussagen zufolge nahm er mehrfach, schriftlich wie mündlich, Kontakt zur Leitung auf, um den Vorschlag voranzutreiben. Letztendlich erfuhr er, dass der Vorschlag zur Behandlung an „gewichtige“ Akademiemitglieder weitergeleitet worden war, von denen eines den Empfang auch bestätigte. Drei, vier Monate später starb Rolf.

„Der Vorschlag führte zu nichts, und es überrascht mich nicht, wenn der Grund dafür war, dass gewichtige Männer dagegen waren, dass man sich an ihn erinnerte“, so Brustad.

Mitglied oder nicht

25 Jahre zuvor hatte es eine ähnliche Diskussion gegeben. Da hatte es sich darum gedreht, inwieweit Rolf Mitglied derselbigen Wissenschaftsakademie werden könnte. Einflussreiche Kräfte sagten Nein. Einige sagten laut Ja und dass es höchste Zeit und eine Schande sei, dass man das vernachlässigt hatte. Die Norwegische Wissenschaftsakademie war damals wie heute eine ehrwürdige Institution zur Förderung der Wissenschaft und keine Organisation, bei der sich jedermann anmelden konnte. Man wurde eingeladen. Obwohl die gut 150 Jahre alten Statute zwischenzeitlich geändert wurden, heißt es noch immer: „Die Aufnahme norwegischer und ausländischer Mitglieder erfolgt aufgrund einer Einschätzung der Bedeutung des gesamten wissenschaftlichen Einsatzes des vorgeschlagenen Kandidaten auf dem betreffenden Fachgebiet.“ Es wurde nicht weniger dramatisch dadurch, dass Rolf älter und älter wurde. In den Statuten heißt es nämlich auch: „Normalerweise sollen neue Mitglieder nicht älter als 65 Jahre sein. Es erfordert eine besondere Begründung, wenn der Vorgeschlagene älter als 65 Jahre ist.“

Erst 1973 war die Zeit endlich reif, dass Rolf Widerøe zum Mitglied der Wissenschaftsakademie gewählt werden konnte. Da waren seit dem Tod des mächtigen Vorsitzenden des Sachverständigenkomitees, das in Verbindung mit dem Gerichtsverfahren gegen Rolf eingesetzt worden war, sieben Jahre vergangen.18 Als aufgenommenes Mitglied durfte Rolf in der Mathematisch-Naturwissenschaftlichen Klasse einen Vortrag mit dem Titel „Strahlenbiologie und Strahlentherapie“ halten, also sein neues Fachgebiet betreffend. Das war ein bedeutender Erfolg – sowohl für ihn als auch für jene, die sich für ihn eingesetzt hatten –, allerdings änderte es nicht viel, weder innerhalb des Fachmilieus noch außerhalb. Eine Abwandlung des Vortrags hielt er auch im Radiumhospital, zudem wurde er als Artikel in Fra Fysikkens verden19 gedruckt, inklusive der Angabe einer ganzen Reihe wissenschaftlicher Grade und Ehrentitel: „Dr.-Ing.; Dr.-Ing. e. h.; Dr. med. h.c. R.“ sowie mit der Zusatzinformation, dass „Widerøe Prof. emeritus an der E.T.H. Zürich war. Unabhängig davon, ob das nun vom ihm selbst kam oder ein Wunsch des Redakteurs war, zeigte es eindeutig, dass er Akademiker und kein Ingenieur aus der Industrie war.

Professor Aasmund Berner zufolge ist es befremdlich, dass Rolf nicht auch in Norwegen anerkannt wurde, nachdem es an seinem fachlichen Einsatz keinen Zweifel mehr gab. Und man fragt rhetorisch: Wie viel Politik steckt in dem Ganzen?

„Isoliert betrachtet ist es heute schwer zu verstehen, dass man jemanden nicht anerkennt, der, obwohl Krieg ist, mit seiner fachlichen Arbeit fortfährt.“

„Ja, ich verstehe nicht, was das ist.“

„Nicht?“

„Nein. Davon verstehe ich nichts.“

„Man muss den 'Filter' entfernen können, meinen Sie das?“

„Viele waren dazu nicht in der Lage. Sie waren dermaßen davon geprägt. Ich glaube, dass viele unverschuldet verurteilt wurden. Was den Krieg betrifft, gibt es starke Einstellungen, auch heute noch.“20

Viggo, der Held

Ebenso ablehnend, wie das norwegische Milieu nach dem Krieg Rolf gegenüber war, so war man pro Viggo. Er hatte sich als Widerstandskämpfer ausgezeichnet und Heldenstatus erlangt. Gunnar „Kjakan“ Sønsteby, Widerstandskämpfer und Norwegens am höchsten dekorierter Staatsbürger, erzählt, dass Viggo Widerøe zu den Gründern der Widerstandsgruppe Milorg gehört habe:

„Ich hörte sofort von ihm. Wir dachten bereits am 9. April darüber nach, und bei der Gründung von Milorg gehörte er zu den allerersten Pionieren. Zu dieser Zeit traf ich ihn nicht persönlich, das wäre zu riskant gewesen. Je mehr man kannte, desto gefährlicher. Er kannte auch meinen Namen nicht, nur den Decknamen ‚24‘.“21

In einer sogenannten „Akte an das Parlament“ aus dem Jahr 1948 mit dem Titel „Die Regierung und die Widerstandsbewegung während des Krieges“ ist Pilot Viggo Widerøe namentlich in der Gruppe benannt, die an der historischen Sitzung teilgenommen hat, auf der „beschlossen wurde, einen Militärrat zu bilden“.22 „Allerdings wurde er aufgrund des Flüchtlingsverkehrs festgenommen“, sagt Sønsteby. „Und er wurde früh festgenommen. Einige hatten ein bisschen geschwatzt. Er half Flüchtlingen, nach Großbritannien zu kommen. Das gehörte zum Wichtigsten, was man tun konnte, Leute, die raus mussten, nach England oder Schweden zu bringen.“

Viggo hatte sich an etwas beteiligt, das die Deutschen am härtesten bekämpften. Er wurde verhaftet und zum Tode verurteilt. Später wurde das Urteil in zehn Jahre Zuchthaus abgeändert. Er überlebte. Nach dem Krieg wurden er und Sønsteby gute Bekannte. Und um das Ganze richtig einzuordnen, muss man wissen, dass auch Viggos Frau Solveig in der Widerstandsbewegung aktiv war. Sie war eine jener Frauen, die in unmittelbarem Kontakt mit zentralen Teilen der Widerstandsbewegung, im Kreis um Gunnar Sønsteby, arbeiteten. Mit zwei minderjährigen Kindern im Haus gewährte sie britischen Offizieren im Auftrag Norwegens Unterschlupf. Zudem versteckte und pflegte sie den von der „Kompani Linge“ und der Sabotageeinheit „Oslogjengen“ bekannten Birger Rasmussen, als dieser, noch bevor er nach Schweden gelangte, eine Schussverletzung erlitten hatte. Im Nachruf schrieb Sønsteby, dass Solveig „ab Dezember 1942 eine zentrale Person in der Widerstandsbewegung“ war, das heißt fast die komplette Zeit, in der sich ihr Mann in Gefangenschaft befand.23.

Fürsprache von einer Handvoll norwegischer Physiker

Schaut man genau nach, finden sich auch in Rolfs Umfeld norwegische Physiker, die seinen fachlichen Einsatz anerkannten – das muss im Namen der Gerechtigkeit festgestellt werden. Besonders sind dabei die beiden Stipendiaten zu nennen, die Rolf im Sommer 1983 während seines Urlaubs in Norwegen interviewten. Seither hat Jan Sigurd Vaagen seinen Studenten in Bergen in Vorlesungen von Rolfs Betatronen berichtet; und im Rahmen eines kürzlich stattgefundenen Beschleuniger-Seminars an der Academia Europaea widmete er sich in einem Vortrag Rolfs Einsatz. Finn Aaserud war in seiner Position als Leiter des Niels-Bohr-Archivs an Rolfs Rolle im großen wissenschaftshistorischen Szenario interessiert.

Ein anderer Bergenser Professor, der im Nachhinein großen Respekt für Rolfs Beitrag in der Physik geäußert hat, ist Egil Lillestøl vom Forschungszentrum CERN in Genf. Dort hat er regelmäßig Kurse für Physiklehrer gehalten und zudem populärwissenschaftliche Artikel geschrieben, worin Rolf stets vertreten war. Lillestøls Erklärung dafür, warum Rolf während des Krieges tat, was er tat, fasst zusammen, was viele andeuten:

„Er wusste für sich, dass er nichts Falsches tat. Was andere dachten, war ihm nicht wichtig. Ich glaube, Rolf sah forschungsmäßig seine große Chance, machte sein Ding und entschied, von allem abzusehen, was mit dem Krieg zu tun hatte.“24

Auch Odd Dahl hat sich für Rolfs Schicksal interessiert, auch er ein Bergenser. Beide hatten in der Startphase von CERN zusammengearbeitet. Dahls Urteil lautet wie folgt:

„Als der Krieg kam, kehrte er nach Deutschland zurück, um die Arbeit fortzusetzen – nicht aus ideologischer Überzeugung, sondern weil er gänzlich von der Forschung gefangen genommen war. Das brachte ihm nach dem Krieg in Norwegen Schwierigkeiten ein. Er wurde verhaftet, aber einige von uns, die ihn kannten, regelten es stillschweigend so, dass er das Land verlassen konnte. In der Schweiz hat er als Forschungsdirektor von Brown Boveri eine gute Arbeit geleistet, und ich habe mehrfach mit ihm zusammengearbeitet.“25

Es gab noch ein paar weitere. Darunter Gunnar Randers, der lebhafte Astrophysiker und Alsos-Hauptmann, der Rolfs Meinung nach zusammen mit Dahl für seine Entlassung aus dem Gefängnis gesorgt hatte. Es ist derselbe Randers, den die Polizeibehörde Oslo während des Gerichtsverfahrens gegen Rolf ins Sachverständigenkomitee berufen und der im Dagbladet geschrieben hatte, dass Rolf als Landesverräter behandelt werden müsse. Und – es ist derselbe Randers, mit dem Rolf nach dem Krieg hinsichtlich der Gründung eines Forschungsinstituts zum Aufbau des Landes kommuniziert hat. Aber trotz seiner fachlichen Bewunderung übernahm Randers nie die Rolle als jemand, der Rolf rehabilitieren sollte. Mit einem gewissen Recht kann behauptet werden, dass Randers Rolf bezüglich seines Wissens aushorchte, ihm in Verbindung mit dem Verfahren gegen ihn jedoch in den Rücken fiel.

Einige sahen und verstanden also, was für eine Kapazität er war. Allerdings kann man die Norweger, die im Laufe der Jahre Rolfs Sache in seinem Heimatland laut und deutlich vertreten haben, an ein oder zwei Händen abzählen sowie namentlich benennen. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie viel Zeit im Ausland verbracht haben. Randers und Dahl in den USA und Genf. Lillestøl ebenso in Genf. Brustad in den USA. Und das Gespann Aaserud und Vaagen in den USA, England, Dänemark und Russland. Eine Sonderstellung nehmen selbstverständlich die beiden Ausländer ein, die sich besonders für Rolf interessiert haben. Der eine ist der dänische Ethikexperte Søren Bentzen, mit langen Aufenthalten in England und den USA. Der andere ist der Physiker und Biograf Pedro Waloschek, geboren in Wien, aufgewachsen in Argentinien, lange wohnhaft in Italien und England und letztendlich viele Jahre in Deutschland.

„Nach dem Zweiten Weltkrieg zog Widerøe in die Schweiz“ heißt es einfach und ungefährlich in einem Artikel des Store norske leksikon im Internet. Wo sich Rolf während des Krieges aufhielt, ist nicht erwähnt. Geschickt umgangen. Oder wider besseres Wissen. Jedoch ist hinsichtlich seiner Rückkehr nach Norwegen vor dem Krieg – nach einigen Jahren bei AEG in Berlin – zu lesen, dass dies unter anderem geschah, „weil die neuen politischen Verhältnisse nicht nach Widerøes Geschmack waren“. Indirekt also eine Verteidigung. Es finden sich zahlreiche ähnliche lexikalische Artikel.

Nobelpreis, er?

Selbst mehrere Jahrzehnte nach dem Krieg war es suspekt, Rolf gegenüber allzu positiv eingestellt zu sein, denn man bedenke nur, wie man dastand, wenn an den Gerüchten, er sei Nazi gewesen, etwas dran war. In den 1980er Jahren – da war er über 80 Jahre alt – wurde eine Initiative ins Leben gerufen, ihn für den Nobelpreis vorzuschlagen. Ausgangspunkt waren Einzelpersonen der Einrichtung, die heute als Norwegens Technisch-Naturwissenschaftliche Universität (Norges Teknisk-Naturvitenskaplige Universitet) bekannt ist, der NTNU in Trondheim. Zwei, die der Furcht trotzten, mit dem Nationalsozialismus assoziiert zu werden, waren der Professor für Technische Physik Sverre Westin und der Staatsstipendiat Olav Aspelund. Beide schafften Unterlagen herbei und mobilisierten ihre Kontakte. Das Vorhaben fand im norwegischen Physikmilieu jedoch kein Gehör, vor allem nicht in Oslo.

Aspelund hatte anlässlich von Rolfs 80. Geburtstag 1982 einen Artikel im Morgenbladet geschrieben. Im Jahr darauf hatte er zwei Vorträge von Rolf organisiert, einen in Geilo und einen in Oslo. Ein Haken an Aspelunds Widerøe-Engagement war, dass er von Kollegen nicht immer ernst genommen wurde, die meinten, seine Bewunderung für Rolf sei zu übertrieben und kritiklos. Bei einigen bewirkte sein Eifer, Rolf zu ehren, das Gegenteil. Als Aspelund 1971 das Porträt über Rolf in der Aftenposten las, war er Kernphysiker und lebte in Deutschland. Bis dahin hatte er den Namen Widerøe ausschließlich mit der Fluggesellschaft in Verbindung gebracht, nahm nun aber unmittelbar Kontakt zu Rolf auf, wie er mir in einem Interview in Verbindung mit diesem Buch erzählte:

„Ich fand es skandalös, wie er behandelt worden war. Ich meine, das Urteil hätte aufgehoben werden müssen.“26

Er schrieb schließlich eine Empfehlung an die Königlich Schwedische Akademie der Wissenschaften in Stockholm bezüglich des Physik-Nobelpreises für Rolf:

„Das heißt, ich schrieb sie und bekam dann Sven Oluf Sørensen vom Physikalischen Institut der Universität Oslo dazu, sie abzusenden, da er Professor war und ich nicht. Ich versuchte auch mehrere dazu zu bringen, ihn zu nominieren, mein Eindruck war jedoch, dass Rolf eine Unperson sein sollte.“

Andere aber machten sich mit mehr Energie für den Nobelpreis für Rolf stark. Parallel zur norwegischen Initiative tat sich in den 1980er Jahren auch in den USA etwas. 27 Professor Robert Hofstadter von der Stanford University, selbst Nobelpreisträger, nominierte Rolf für den Preis in der Kategorie Physik mit der Einsendefrist 31. Januar 1985. Er schlug eine dreigeteilte Preisvergabe vor, zusammen mit den Amerikanern Kerst und O'Neill. Hofstadters Nominierungsvorschlag war sowohl mit Rolfs Pionierstudien zu den Prinzipien des Teilchenbeschleunigers als auch dem Einsatz für die Technologie zur Krebsbehandlung „zum Besten für die Menschheit“ begründet.28 Der Vorschlag blieb jedoch erfolglos.

1992 startete der Direktor des DESY-Labors in Hamburg eine neue Initiative hinsichtlich einer Nominierung.29 Auch jetzt war Sverre Westin mit von der Partie. Er war der Meinung, rein objektiv könne es keinen Zweifel daran geben, „dass Widerøe vor dem Hintergrund seines einzigartigen Einsatzes in der Beschleuniger-Technologie für einen ganzen oder geteilten Nobelpreis geeignet sei. Schließlich hat er hier einen Einsatz von Weltformat geleistet, auch wenn er meines Wissens keine größeren Entdeckungen innerhalb der Kern- und Teilchenphysik an sich gemacht hat“, wie er an den Direktor schrieb. Letztgenanntes war für viele Anlass zum Einwand, dass Rolf nicht zu einer Entdeckung innerhalb der Physik an sich beigetragen hatte, sondern zur Anwendung physikalischer Gesetze. Sverre Westin zufolge könnte dasselbe über Lawrence gesagt werden, der Rolfs Betatron-Skizze in einem Archiv gefunden und dadurch die Idee für sein Zyklotron entwickelt hatte, das ihm den Physik-Nobelpreis einbrachte: „Soweit mir bekannt ist, gab es damals keine kernphysikalischen Resultate als Grundlage für den Nobelpreis.“30

Sverre Westin sprach die Sache beim Präsidenten der International Union of Pure and Applied Physics (IUPAP)31 an, der einst Vorsitzender des schwedischen Nobelkomitees gewesen war. Dieser glaubte jedoch, es sei zu spät. Natürlich waren viele Jahrzehnte vergangen, seit Rolf seine Theorien aufgestellt und seine Betatrone gebaut hatte. Das könne laut Westin aber kein Hindernis sein, zumal Lars Onsaker fast 30 Jahre, nachdem er seine Theorie vorgelegt hatte, den Nobelpreis für Chemie bekommen hatte. Auch Rolfs Alter sollte eigentlich kein Hindernis sein, obwohl er nunmehr 90 Jahre alt war, denn Trygve Haavelmo hatte mit fast 80 den Nobelpreis für Wirtschaftswissenschaften erhalten. Aber jedenfalls und obwohl er nach guten Argumenten suchte, war er realistisch genug, um an den DESY-Direktor zu schreiben: „Eigentlich befürchte ich, dass keine große Hoffnung besteht, einen Durchbruch für den Vorschlag des Nobelpreises für Widerøe zu erreichen, wenn nicht einmal Hofstadters Vorschlag Gehör fand.“ Und vermutlich handelt es sich dabei um ihre Schlussfolgerung, da nicht bekannt ist, dass irgendeine Nominierung eingereicht wurde.32.

In der Schweiz war der Gedanke allerdings bereits in den 1970er Jahren geäußert worden, als ein Physiker auf einer Veranstaltung in Regie der Technischen Hochschule in Zürich sagte: „Ich wundere mich, dass mein Kollege Professor Widerøe für seine Arbeiten nicht den Nobelpreis erhalten hat.“33

Der dänische Physiker und Mediziner Søren Bentzen wundert sich indessen nicht und sagt im Klartext:

„Er wurde um den Nobelpreis betrogen. Denn der Nobelpreis, den Lawrence bekam, den hätte Widerøe ganz sicher mit ihm teilen sollen. Daran kann kein großer Zweifel bestehen. Wenn Nobelpreise originelle und bahnbrechende Ideen belohnen, hätte Widerøe ganz sicher seinen Teil davon abbekommen müssen. Später erwies Lawrence ihm stets seine Anerkennung. Bei mehreren Anlässen sagte er, dass er Widerøes Abhandlung gelesen und unmittelbar verstanden habe, worin die Idee bestand, die er daraufhin weiterverfolgt hatte. Der Bahnbrecher war jedoch Widerøe. Ihm schlug großer Widerstand entgegen und er traf auf viele Skeptiker, auch unter sehr angesehenen Leuten, die meinten, dies würde niemals funktionieren. Diesen Kampf aber hat er gewonnen. Moderne Beschleuniger-Technologie steht in großer Schuld Widerøes. Und Widerøes Entdeckungen. Sein fachliches Renommee ist unstrittig. In der Radiotherapie und der radiophysikalischen Geschichte ist er ein großer Name.“

Der ehemalige Direktor des IBM-Forschungszentrum in der Schweiz, Karsten Drangeid, sagt dasselbe:

„Widerøe hätte den Physik-Nobelpreis bekommen sollen.“

Eine Teilung des Preises – mit einem oder mehreren der Amerikaner Lawrence, Kerst und O'Neill – wird am häufigsten thematisiert, wenn über einen möglichen Nobelpreis für Rolf gesprochen wird. Lawrence, der das Zyklotron erfand, baute auf Rolfs Doktorarbeit auf. Kerst, der das erste Betatron der Welt konstruierte, baute auf Rolfs Doktorarbeit auf. O'Neill, der die storage ring-Technologie entwickelte, tat dies zeitgleich und unabhängig von Rolf, der 1943 darauf ein Patent anmeldete, dies als seinen großen Stolz betrachtete und aufgrund des Krieges viele Jahre geheim hielt. Erst in den 1950er Jahren wurden auf dieser Technologie basierende Maschinen gebaut, unter anderem bei CERN. O'Neill und Rolf bewunderten einander gegenseitig und trafen sich mehrfach, nachdem ihnen klar geworden war, dass sie parallel an der gleichen Sache gearbeitet hatten.

Nach einigen Jahren erhielt Rolf einen Brief von einer der zentralen Personen in der Beschleuniger-Abteilung des Brookhaven-Labors in den USA, wo man seinetwegen aufgebracht war. In dem Brief wurde angemerkt, dass die Leute sich auf Kerst und O'Neill bezogen und nicht auf Rolf, wenn es um kollidierende Strahlen ging. Weiter hieß es, man habe die Dokumentation überprüft, die die Amerikaner 1956 auf einer Konferenz bei CERN präsentiert hatten, und darin keine Referenz zu Rolf gefunden. Nun habe ein Mitarbeiter einen Artikel verfasst, der all das klarstelle, wolle ihn vor Abdruck jedoch gern Rolf zeigen. In dem Artikel heißt es: „Uns ist kürzlich die Tatsache klargeworden, dass dies weitaus früher von dem vielseitigen Erfinder Rolf Widerøe vorgeschlagen wurde“, dem Mann, der mit seiner Doktorarbeit in den 1920er Jahren die Beschleuniger-Disziplin begründet und während seines Urlaubs 1943 in der Telemark eine große Entdeckung gemacht habe. Und dann folgt die nunmehr legendäre Geschichte, die mit den Worten beginnt: „An einem schönen Sommertag, als ich im Gras liegend die vorbeiziehenden Wolken betrachtete …“

Weiter heißt es in dem Artikel, dass Rolf umgehend ein Patent beantragt habe, dieses aber erst viele Jahre später genehmigt wurde. In der Zwischenzeit habe er die Idee weiterentwickelt und mehrere Vorschläge zur Konstruktion einer Maschine mit „kollidierenden Strahlen“ erstellt. Der Artikel endet mit einem Verweis auf Publikationen, die bestätigen, dass dies der Wahrheit entspricht, sowie der Aussage: „Unserem Eindruck nach kommt Dr. Widerøe ein wesentlicher Teil der Ehre für den Erfolg CERNs mit der ISR-Maschine zu.“34.

Hinter den Kulissen

In einem in den USA erschienenen Buch darüber, was hinter den Kulissen der Nobelpreis-Vergabe abläuft, wird die Nähe zwischen der Forschung von Lawrence und Rolf erwähnt.35 Autor ist ein Wissenschaftshistoriker, wobei das Buch generell kritisch dahingehend ist, wie Einzelpersonen und Gruppen versuchen, den Preis für die eigene wissenschaftliche, kulturelle oder persönliche Agenda zu verwenden. Im Fall von Lawrence wird behauptet, dass „das Komitee ihm den Preis für sein Versprechen gegeben habe, ein Zyklotron zu entwickeln – anstatt den Preis an jemanden zu verleihen, der wirklich eine Entdeckung gemacht hatte –, weil es ihm helfen wollte, die enorme Geldsumme zu beschaffen, die er für die Entwicklung benötigte“.

In einem Kapitel mit der Überschrift „Die Zyklotronisten der Welt vereinen sich“ wird die Diskussion im Vorfeld der Preisvergabe an Lawrence 1939 behandelt. Einer der Kritikpunkte lautet, dass er Teil eines Teams war, viele Assistenten um sich herum hatte und somit nicht allein für die Leistung verantwortlich war. Rolf wird hier als einer seiner Inspiratoren benannt und auch erklärt, in welcher Hinsicht, jedoch ohne ihn als aktuellen Kandidaten zu erwähnen. Die 1930er Jahre werden in dem Buch als eine für die Wissenschaften hektische Zeit beschrieben mit einem Klima, das es nicht leicht machte, Kandidaten zu fördern. In der Zeit vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs gab es wenige Nominierungen, und Hitlers Verbot führte dazu, dass Deutsche nicht infrage kamen. Hervorgehoben wird auch die neue Ära in der Physik, Big Science. Einige meinten zudem, die Europäer Cockcroft und Walton hätten den Preis eher verdient als der Amerikaner Lawrence, und auch sie sollten ihn letztendlich erhalten.

Eingeleitet wird das Buch im Übrigen mit den Worten: „Die Nobelmedaille ist mit menschlichen Schwächen graviert. Sowohl die, die den Preisträger wählen, als auch die, die den Nobelpreis erhalten, sind, ja – sterblich.“ Mit anderen Worten eine Warnung, dass sowohl der Erhalt als auch der Nichterhalt des Nobelpreises falsch sein kann. Ein Nobelpreis ist auch kein endgültiges Urteil über den Forschungseinsatz des Empfängers.

Einer, der einen eventuellen Nobelpreis für Rolf nicht fachlich einschätzen kann, aber eine rein persönliche Beziehung dazu hat, ist sein Enkel und Adoptivsohn Per Trifunovic. Er fasst nüchtern zusammen:

„Er hätte ihn vielleicht bekommen können, wenn der Krieg kein Thema gewesen wäre, wenn er ausschließlich in Norwegen gearbeitet hätte.“

Wäre der Krieg nicht gewesen, dann vielleicht. Aber den Krieg hat es gegeben, und damit war die Sache nicht aktuell. Und hätte es ihn nicht gegeben, ja, dann wäre es noch immer nur ein „Vielleicht“.

Am falschen Ort …

Später erhielt Rolf in dieser Hinsicht Unterstützung von unerwarteter Seite. Finn Lied, kritisch gegenüber Rolfs Tätigkeit in Deutschland während des Krieges, vom Fach Elektroingenieur und in den 1970 Jahren in die Wissenschaftsakademie aufgenommen wie letztendlich auch Rolf, weist den Gedanken eines Nobelpreises für Rolf nicht von sich:

„Es war nicht so unnatürlich, an ihn zu denken. Er war sehr früh aktiv, was Linearbeschleuniger betrifft, die sich seither als ein sehr wichtiges Werkzeug erwiesen haben. Irgendetwas aber sorgte dafür, dass das norwegische Volk ihn nicht in die Arme schloss.“

Lied erinnert sich nicht, inwieweit eine Büste von Rolf für die Universität aktuell war:

„Daran erinnere ich mich nicht. Ich kann mir gut vorstellen: Würde mich heute jemand fragen, ob er eine Statue in Blindern erhalten soll, dann würde ich Nein sagen. Schlicht und einfach, weil man solche Statuen nicht aufstellt. Das wäre unpassend. Nein, keine Statue für Widerøe. Nein, das muss ich sagen, nach fünf Jahren im Krieg bin ich nicht derart sanft geworden, nein. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, in die Angelegenheit involviert gewesen zu sein. Aber ich war in so viele Sachen involviert, dass ich mich möglicherweise auch falsch erinnere.“

„Mir wurde erzählt, dass entweder Sie oder Jens Chr. Hauge damals, als das im Gespräch war, gesagt haben sollen, dass nicht an ihn erinnert werden solle, er keine Statue haben solle.“

„Daran erinnere ich mich nicht. Ich selbst habe mich nicht für ihn und sein Fachgebiet, Beschleuniger, interessiert, das hat mich nie interessiert. Aber er war ein bedeutender Mann. Daran gibt es keinen Zweifel, sehr bedeutend.“

„In welcher Hinsicht?“

„Er war seiner Zeit voraus. Der Beschleuniger, an dem er in Verbindung mit seiner Doktorabhandlung gearbeitet hat, ließ sich mit der damaligen Elektronik nicht realisieren. Später wurde er Berater bei CERN, und die anderen norwegischen Physiker zu der Zeit, wie Tangen und andere, waren im Vergleich zu Widerøe nur kleine Jungs.“

„Hylleraas auch?“

„Nein, Hylleraas war ja Theoretiker. Aber Odd Dahl, er war ein Pionier. Er hatte so entschieden mehr Verständnis für genau die Dinge, mit denen Widerøe arbeitete. Aber es besteht die Gefahr – ich möchte davor warnen –, Widerøe zu irgendeinem Helden zu erheben. Der war er nicht. Er war ein sehr tüchtiger Ingenieur. Aber es war etwas an Widerøe, was für mich nicht greifbar ist. Auf sein Verhältnis zu Deutschland bin ich eigentlich nie eingegangen. Möglicherweise gibt es da einige ungelöste Rätsel. Aber für den Fall, dass er ein reines Gewissen besaß, hat er sich dumm benommen. Der allgemeinen Auffassung zufolge hat er sich zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten. Dass er aber nichts Spezielles falsch gemacht hat; er hat lediglich während des Krieges in Deutschland gearbeitet. Das taten viele Norweger, er war nicht der Einzige. Jetzt ist es anders, jetzt sind wir entspannter. In Bezug auf jene, die nicht an den richtigen Orten waren, haben wir heute nicht mehr das Engagement wie damals. Versuche ich jedoch, mich in diese Zeit zurückzuversetzen, dann war das inakzeptabel.“36

… und am richtigen Ort

Eine Parallele – und ein Kontrast – zu Rolf ist der fünf Jahre ältere Chemiker Odd Hassel, der die „richtigen“ Dinge tat. Aufgewachsen in Slemdal, Studium in Deutschland, Doktortitel in Deutschland, Herausgabe seiner wissenschaftlichen Artikel auf Deutsch. Und dann, als der Krieg kam, fing er an, auf Norwegisch zu schreiben. Er bekam eine Büste in der naturwissenschaftlichen Bibliothek der Universität Oslo in Blindern. Und er bekam den Nobelpreis, den er sich mit einem Briten teilte.

Er ist der Mann, den „Griffen“, der Deutsche Paul Rosbaud, wahrscheinlich als Kurier für den britischen Geheimdienst benutzt hat und den die Amerikaner als Agenten anzuwerben versucht haben sollen. 1943, also etwa zu der Zeit, als Rolf nach Deutschland ging, wurde er verhaftet und ins Gefängnis Grini gebracht, wo er vor Mitgefangenen Vorlesungen hielt. Möglicherweise hatten seine Veröffentlichungen in norwegischer Sprache während des Krieges die Besatzungsmacht provoziert.37.

Über die meisten Norweger ist zu sagen, dass sie nicht genug wissen, um Rolfs Deutschland-Aufenthalt während des Krieges goutieren oder kritisieren zu können. Das gilt sowohl für Fachkollegen als auch für andere. Einer von denen, die zugaben, dass es ihm an Informationen über Rolf fehle, war Haakon Sandvold, der ehemalige Generaldirektor vom Årdal og Sunndal Verk, selbst Diplomingenieur in einem verwandten Fachbereich und über viele Jahrzehnte hinweg zentraler Forschungspolitiker:

„Mir ist nie ganz klar geworden, worin Rolf Widerøes Beitrag bestand. Die Behauptung, dass er Nazi war, habe ich oft gehört, aber ich weiß nicht genug, um das einzuschätzen. Aber er soll wahrscheinlich so daran interessiert gewesen sein, seine Ideen umzusetzen, dass er den Kontakt zu Deutschland suchte.“38

Es war unter anderem dieser Mangel an faktischen Informationen, den Tor Brustad vom Radiumhospital beseitigen wollte. Er hielt es für seine Verantwortung, dafür zu sorgen, dass die Allgemeinheit erfuhr, worin Rolfs fachlicher Einsatz bestanden hat, damit er in der norwegischen Physikgeschichte nicht die „Fußnote“ blieb, zu der er Brustad zufolge geworden war.

Allerdings reichen Belege und Fakten nicht immer aus. Gefühle folgen keinem Fazit. Es half nichts, dass die Formalitäten und Formeln richtig waren. Alle, die damals lebten, wissen das. 1943 ging man nicht nach Deutschland. Nicht ungestraft. Und Rolf hatte während des Krieges dort gearbeitet. An einem Projekt in Regie der Luftwaffe. Wie konnte er? So dumm sein? Ein Großteil der Skepsis ist einem Mangel an Informationen geschuldet. Einige aber wollten nichts wissen. Oder wollten andere nicht das wissen lassen, was sie selbst wussten. Und dort, wo es an Informationen fehlt, entstehen Gerüchte.

Denn nichts ist nur schwarz oder nur weiß. In dem Physiker-Interview sagte Rolf, dass er in einem Artikel als „obskure“ Person bezeichnet worden und er selbst nicht sicher war, was der Autor damit meinte. Laut Wörterbuch bedeutet es „moralisch zweifelhaft“. Nach Meinung vieler war das kaum übertrieben. Selbst nach Tor Brustads Beitrag auf der Röntgenkonferenz 1997 und seinem Artikel in Acta Oncologica im Jahr darauf zögerte das Fachmilieu in Norwegen, sich überzeugen zu lassen. Dass ein eigener Preis mit Rolfs Namen ins Leben gerufen wurde, half auch nicht viel. Die große Anerkennung blieb aus. Die ganze Beweihräucherung im Ausland, die Preise, die Reden, die Ehrenprofessuren – all das nützte wenig. Indem er die Gerichtsunterlagen hervorgegraben hatte, hatte Brustad ihn reingewaschen, und Rolfs kleine Schar norwegischer Anhänger sorgte für einige Artikel an strategischen Stellen. Im Morgenbladet zum 80. Geburtstag, in der Bergens Tidende und der Aftenposten zum 90. Geburtstag. Dennoch: Ein Held wurde er dadurch nicht. In neuerer Zeit wurde er jedoch in die Online-Plattform forskning.no sowie ins Internetlexikon Store norske leksikon aufgenommen. Nach und nach, da die Kriegsgeneration ausstirbt, findet er auch in Norwegen in der Wissenschaftsgeschichte einen Platz. Keinen so bedeutenden, wie es hätte sein können, wären die Umstände andere gewesen, aber einen Platz. Nach und nach wird man fragen: Was hat er getan? In der Bedeutung von: Worin bestand sein Beitrag? Und nicht mehr: Was ist da mit ihm und dem Krieg gewesen?

„Etwas ist“

Einer seiner Mitarbeiter während der 1950er Jahre in der Schweiz, Karsten Drangeid, sagt, er hatte das Gefühl, der Chef wolle nicht über den Krieg sprechen.

„Ich glaube, er hatte es danach schwer, aber er sagte nie etwas darüber. Es gab eine Reihe von Dingen, die ich nicht wusste, bevor ich Waloscheks Biografie las – dass er im Krieg in Deutschland gewesen ist und dass er das getan hat, um seinem Bruder zu helfen. Dass etwas laut Gesetz erlaubt ist, ist nicht gleichbedeutend damit, dass es moralisch akzeptabel ist, und wenn er glaubte, das Leben seines Bruders würde davon abhängen, ob er nach Deutschland ginge oder nicht, dann kann ich mit meinen eigenen Kriegserfahrungen verstehen, dass das für ihn schwer gewesen sein muss.“

Wie viele nach dem Krieg vollumfänglich informiert waren, ist schwer zu sagen. Vielleicht niemand. Viel deutet darauf hin, dass nicht einmal die nächsten Angehörigen alles wussten. Die Geschwister nicht, die Eltern nicht. Die Ehefrau möglicherweise. Ja, die Ehefrau, Vaagen zufolge. Die Kinder aber waren zu klein, als es am schlimmsten stand, zudem kam nie der Tag, an dem sich die Eltern hinsetzten und sagten: Jetzt sollt ihr die Wahrheit über Papas Gefängnisaufenthalt erfahren. Diejenigen, die es am meisten betraf, fanden Wege, mit dem zu leben, was sie wussten – und mit dem, was sie nicht wussten. Dann hörten sie ein bisschen hier und verstanden ein bisschen dort. Details vom Krieg waren nichts, worüber man sprach. Nicht mit denen, die es am meisten betraf, und nicht mit denen drumherum. Mit den Kindern über jemanden, der rehabilitiert werden soll, dem auf die Beine geholfen werden soll, der getröstet werden soll – da setzt man nicht das Schlimme und das Schwere auf die Tagesordnung. Nicht da. Und auch später nicht. Das geschieht im besten Sinne, nicht weil man es unterschlagen will, sondern um damit fertig zu werden. Es hinter sich zu lassen. Mitunter bewusst. Weiterkommen. Der Krieg ist zu Ende.

Was für „Verwirrung“ gesorgt haben muss, weil man nichts wusste oder etwas wusste, aber nicht alles, ist längst verschwunden. Kinder und Kindeskinder, Schwager und Schwägerinnen sowie deren Kinder haben Bruchstücke aufgegriffen, sie weitergegeben und sich ihren Teil gedacht. Jede Generation hat es auf ihre Art und Weise verstanden. Alle wissen, dass da „etwas“ ist, wie Rolfs Adoptivsohn es ausdrückt. Aber keiner weiß ganz genau, was dieses „Etwas“ ist. Interviews mit nahen Familienangehörigen zeigen eigentlich am deutlichsten, über wie wenig sie informiert waren und wie spät sie das erfahren haben, was sie wissen – oft erst nachdem Waloschek und Brustad die Thematik in den 1990er Jahren aufgegriffen hatten:

Per Trifunovic (Enkel und Adoptivsohn):

„Wir sprachen nicht darüber. Ich habe mit Vater nie darüber gesprochen. Und als ich hörte, dass es dieses ‚dunkle Kapitel‘ gab, da bekam ich gleichsam die Erklärung – was der offiziellen Version entsprach –, und dann wurde nichts mehr darüber gesagt.“

„Bekamen Sie die von ihm?“

„Nein, von Mutter.“

„Es war also Ihre Großmutter und Adoptivmutter Ragnhild , die Ihnen von ‚dem dunklen Kapitel‘ erzählen musste?“

„Ja. Ich hatte gehört, dass da etwas mit dem Krieg war. Ich weiß nicht, wo ich es gehört habe. Ich habe nicht so sehr viel daran gedacht, aber ich konnte mir nicht vorstellen, dass er Nazi war. Und deshalb war es für mich auch nicht so wichtig.“

„Wie hat sie das erklärt?“

„Was ich hörte, war, dass Viggo in Norwegen in der Widerstandsbewegung war und in einem Konzentrationslager in Deutschland landete, und dass Vater akzeptiert hatte, für die Deutschen zu arbeiten, damit Viggo im Gefängnis bessere Bedingungen bekam. Vater hatte damit anschließend eigentlich keine Probleme. Er war für kurze Zeit im Gefängnis, dann gab es eine Untersuchung, und dann war er wieder frei. Und dann gingen sie in die Schweiz. Um das Betatron zu entwickeln, aber sonst glaube ich nicht, dass das ein Hindernis war.“

„Aber es gibt eine Gerichtsakte, die besagt, dass er während des Krieges für die Deutschen gearbeitet hat. Er hatte einen Deutschland-freundlichen Artikel geschrieben und er hatte Geld an eine Deutschland-freundliche Organisation gegeben. Und diese beiden Sachen, der Artikel und der Geldbetrag …“

„… das waren sozusagen die Hauptbeweise?“

„Die Zeit und die Stimmung in Norwegen waren damals so: Hatte man mit einem Deutschen gesprochen, dann war man Nazi. Und ist man in Deutschland gewesen, dann war man ganz sicher ein Nazi.“

„Ja, er hat für die Deutschen gearbeitet, aber ich weiß nicht, wie viel Bedeutung das für den Krieg hatte. Allerdings arbeitete er gegen die Überzeugung seiner Landsleute. Das muss man so akzeptieren.“

„Andere hätten vielleicht gedacht: Wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen, dann müssen sie reagieren und das Ganze geraderücken.“

„Ja, die Frage ist doch, wie ungerecht das war – das ist die andere Seite. Ich weiß nicht. Ich weiß nur, was ich gehört habe – und dass er zusammengearbeitet hat, um seinem Bruder zu helfen.“

„Wissen Sie, ob es ihn gequält hat, dass er zu Lebzeiten in Norwegen keine Genugtuung erfuhr?“

„Ich glaube nicht, dass er daran interessiert war. Ich glaube keineswegs, dass er sehr daran interessiert war, hier und da eine Auszeichnung oder einen Doktortitel zu erhalten.“

„International erhielt er viele Ehrungen.“

„Die bekam er. Aber ich glaube nicht, dass er gearbeitet hat, um sie zu erhalten. Das kam einfach. Und wenn es kam, dann war es schön. Da freute er sich. Kam es aber nicht, dann war es in Ordnung, die Auszeichnungen waren nicht die Motivation, um zu forschen.“

„Ist Ihnen jemals der Gedanke gekommen, dass er Doppelspion gewesen sein könnte?“

„Nein, niemals.“

„Sein Verwaltungschef in Deutschland, von dem alle glaubten, er sei Nazi, war nämlich britischer Spion.“

„Aha. Ja, das ist interessant. Nein, das kam mir nie in den Sinn. Es könnte sein, aber ich weiß nicht. Besagten diese offiziellen Untersuchungen, dass er Nazi war, oder …?“

„Nein, darüber steht darin nichts. Heute hören Menschen jeden Tag von Krieg und sind über Landesgrenzen erhaben – er war damals seiner Zeit voraus.“

„Ja, die Welt dachte absolut nicht so. Aber ich glaube, er dachte so. Ich glaube, er ging, weil die Arbeit interessant war. Und die ganze Politik interessierte ihn zu wenig, als dass er die Konsequenzen sah. Und wenn er zudem seinem Bruder helfen konnte, dann ist es verständlich.“

„Haben Sie seinen Bruder Viggo getroffen?“

„Ja. Wir hatten immer Kontakt mit Viggo. Die beiden Brüder hatten immer ein gutes Verhältnis. Und was ich gehört habe, war, dass Viggo in Deutschland in einem Konzentrationslager war und dass Vater akzeptiert hatte, für die Deutschen zu arbeiten, damit er bessere Bedingungen erhielt. In der Familie – also in der Widerøe-Familie in Norwegen – war im Grunde keiner der Geschwister sonderlich am Krieg interessiert. Was ich glaube – wenn das Ihrer Ansicht nach möglich ist zu schreiben – ist, dass er politisch sehr naiv war. Es ist gut möglich, dass es mehr war, als nur zu helfen. Ein Stück Naivität. Er reiste viel und hielt in der ganzen Welt Vorträge. In China war er sehr beeindruckt von Mao. Und bei der Gartenarbeit trug er immer so einen Mao-Anzug. Er sah darin nichts Falsches. Seiner Meinung nach hatte Mao viel erreicht. Was ihn beeindruckte, war sicher, wie sie planten und auf Wissenschaft fokussiert waren. Dass er aber von einem Mao begeistert sein konnte, der so extrem war, deutet darauf hin, dass er sich im Grunde überhaupt nicht für Politik interessierte.“

Auch er verweist auf die anderen, will nicht das Wahrheitsmonopol für sich beanspruchen, und als ich mich für das Gespräch bedanke, sagt er:

„Das ist auch für uns spannend, dass wir ein bisschen nachdenken müssen. Außerdem haben Sie mir viele Informationen gegeben, die ich bisher nicht kannte.“

Es ist symptomatisch: Wenn Mitglieder der Widerøe-Familie interviewt werden, kehrt sich die Situation oft ein wenig um, das heißt, aus der Befragung wird eher ein Dialog. Alle wollen mehr wissen und teilen das, was sie wissen. Bilder sollen vervollständigt werden. Die Nuancen sollen herauskommen. Sprechen Sie mit dem und dem! Vielleicht haben diejenigen eine andere Auffassung. Was das über Rolf aussagt? Dass er eine Person mit vielen Facetten war und dass die Leute unterschiedliche Dinge sahen.

Die Söhne und der Krieg

Es ist interessant, das Bild durch eine Nachfrage bei der Generation zwischen Rolf und dem Enkelkind zu ergänzen, also bei seinen eigenen beiden Söhnen, und zu fragen, welcher Eindruck bei ihnen vom Krieg zurückgeblieben ist. Arild, der Älteste – fünf Jahre alt, als der Vater während des Krieges nach Deutschland ging, und acht Jahre, als sie in die Schweiz zogen –, antwortet wie folgt:

Arild Widerøe (ältester Sohn):

„Hat Ihr Vater Ihnen etwas von seiner Arbeit in Deutschland erzählt?“

„Nein. Nein. Aber, ich weiß nicht, ich hätte ihn ja fragen können. Ich hielt es nicht für sonderlich interessant zu wissen. Vielleicht wollte ich es lieber nicht wissen. Weil ich wusste, dass es Viggo in der Zeit sehr schlecht gegangen war.“

Auch der jüngste Sohn hat nicht gefragt.

Rolf Widerøe jr. (jüngster Sohn):

„Diese ganze Sache mit dem Krieg – ich wusste all das doch nicht, bis 1993 Waloscheks Buch erschien. Ich hatte keine Ahnung davon. Hörte es erst später. Aber ich wusste, dass er in Deutschland gewesen ist. Und als wir hier in die Schweiz kamen, sagte jemand, er hätte mit diesen V1- und V2-Raketen gearbeitet. Aber es war nicht so, dass ich da sofort zu Vater ging und fragte, ob das stimmte. Ich unterließ es einfach. Und dann zeigte sich, dass nichts mit V2 oder V1 gewesen war. Schließlich wusste man hier, dass die Deutschen diese Raketen eingesetzt hatten. Ich habe es von Gleichaltrigen gehört, in der Schule, und sie haben es vermutlich von ihren Eltern gehört, die darüber diskutierten und die von Vater und seiner Arbeit während des Krieges wussten.“

„Und so, wie die Stimmung damals in Norwegen war, haben Sie Verständnis dafür, dass reagiert wurde?“

„Absolut, ja. Ja, dazu sage ich nichts. Nein.“

„Haben Sie als Familie, wenn Sie in Norwegen waren, irgendeine Form von Verdächtigung gespürt?“

„Nein. Nein.“

„Oder Unwillen?“

„Nein. Nie. Nie.“

„Gab es irgendwelche Anzeichen, dass die Familie während des Krieges keinen Besuch von Ihnen haben wollte, weil Ihr Vater in Deutschland war?“

„Nein. Nein.“

„Haben Sie Ihrerseits im Nachhinein irgendwelche Folgen vom Deutschland-Aufenthalt Ihres Vaters während des Krieges erlebt?“

„Vor einigen Jahren herrschte hier in der Schweiz viel Aufmerksamkeit rund um die geheime Überwachung, wobei die Behörden auf Antrag eine Kopie der Mappe zur Verfügung stellen mussten. Ich bat darum – und wissen Sie, was drinstand? Alles Mögliche über meinen Vater, der in China gewesen war und so weiter.“

Rolf jr. verweist auf seine Großmutter, die deutsche Vorfahren hatte. Dass der Vater gut Deutsch sprach, in Deutschland studiert und anschließend viele Jahre dort gearbeitet hatte. Für ihn sei Deutschland vermutlich kein so großes Feindbild gewesen wie für Leute, die noch nie etwas mit Deutschland zu tun gehabt hatten, sagt er. Er hatte dort Freunde. Und viele Bekannte.

Der Letzte in der Familie, dem ich die Frage stelle, ist Egil Reksten:

Egil Reksten (Schwager, verheiratet mit Ragnhilds Schwester Louise): 39

„Wie sehen Sie die Handlungen Ihres Schwagers während des Krieges und die Verhaftung bei seiner Heimkehr? Schließlich sind Sie selbst im Konzentrationslager gewesen.“

„Man kann sagen, dass das, was man hätte tun sollen, zum Beispiel war herauszufinden, ob er etwas direkt Falsches getan hatte. Ich glaube, es gab niemanden, der versucht hat, das herauszufinden. Gab es jemanden?“

„Jetzt, im Nachhinein war Professor Tor Brustad im Zentralarchiv und hat die Verfahrensakten gelesen, worin steht, dass es keine Grundlage für die Anzeige gab.“

„Ich habe ihn nie in irgendeiner Weise als verbrecherisch betrachtet. Das habe ich nicht. So konnte ich das nicht sehen.“

„Brustad zufolge hätte er nicht verhaftet werden dürfen.“

„Nein, das glaube ich auch. Auf der anderen Seite herrschte eine so aufgeheizte Stimmung.“

„Ja, aber wie viel darf man diesem Umstand zuschreiben?“

„Nein, ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll. In einer solchen Situation geschehen Dinge, die man anschließend für ungerecht hält. Und vielleicht liegt darin eine Art Notwendigkeit, ja, eine Art psychologische Notwendigkeit – dass man viel strenger ist, als man es sein sollte, und dass man nicht so viel reflektiert.“

Warum, warum?

Noch einmal. Die große Frage. Nachdem ich mit nahen Angehörigen gesprochen habe. Was brachte ihn dazu, 1943 nach Deutschland zu gehen? Es gibt mehrere Erklärungen. Eine lautet: Weil er von seiner Forschung besessen war und weder nach rechts noch nach links schaute. Das ist die einfachste Erklärung, und viele Familienmitglieder tendieren dazu. Einige rücken jedoch davon ab, wenn man fragt, ob es freiwillig war. Sagen: mehr oder weniger freiwillig. Oder fügen hinzu, dass es Zwangsarbeit war, etwas, wozu er einberufen, also „dienstverpflichtet“ wurde. Andere wie Tor Brustad vom Radiumhospital behaupten, dass er ging, um dem Bruder zu helfen, und fügen hinzu, dass er politisch naiv war. Aber auch Brustad betont, dass die fachlichen Möglichkeiten Rolf reizten. All das kann faktisch der Wahrheit entsprechen – und das gleichzeitig. Dann kommt Søren Bentzen und gewichtet das ein wenig anders. Auch er ist pro Rolf, zieht das mit dem Bruder jedoch in Zweifel und betont stattdessen die sich ergebende Möglichkeit, seinen Traum zu realisieren.

Vielleicht kam Rolf der Gedanke, dass nicht so viele über die Voraussetzungen verfügten, das zu verstehen: nicht das Fachliche, nicht das „Andere“, woraus dies auch immer bestanden hat. Es ist besser, das Ganze für sie einfach zu machen mit der Erklärung, dass er ging, um dem Bruder zu helfen, und dass die Deutschen im Austausch seine Unterstützung beim Betatron erhielten. Dass er Aussichten hatte, dem Bruder zu helfen, daran hielt er fest. Vielleicht dachte er rein objektiv, dass das, was er tat, für den Krieg keine Bedeutung hatte. Was die anderen glaubten und meinten, war nicht so wichtig, da sie keine Ahnung davon hatten. Also entschied er, sich über die öffentliche Meinung und das Gerede der Leute hinwegzusetzen. Tat das, was er für richtig hielt. Seine Schlussfolgerung lautete, dass die Entwicklung eines Betatrons mit der angedachten Energie keinerlei „kriegswichtige“ Bedeutung haben konnte. Diesbezüglich gab man ihm im Nachhinein Recht. Dahingehend Urteile zu fällen, ist jedoch nicht leicht. Wenn alles durchlebt, umgedreht und abgewogen ist – und man Abstand dazu gewonnen hat –, erst dann kann man möglicherweise sehen und sagen, was unterwegs richtig war. Oder vielleicht gerade dann nicht. Das Leben wird nun einmal nach vorn gelebt. Auch im Krieg. Außerdem muss man einkalkulieren, dass nicht über alles gesprochen wurde. Das war ein Teil des „Pakets“ und des Pakts. Damals nicht und seither nicht. Das hatte seine offensichtlichen Sicherheitsgründe, aber auch einige menschliche, die man nicht verachten sollte. Dies in Kombination damit, dass es nach dem Krieg lästig war, über Dinge zu sprechen, denen möglicherweise Nazi-Elemente innewohnten, führt dazu, dass es Dinge gibt, für die sich im Nachhinein schwer eine gute Erklärung finden lässt.

Tor Brustad bezeichnet das als „die Tragödie“ in Rolfs Leben, der Kontrast zwischen dem Erfolg und allem, was draußen in der Welt so gut funktionierte, auf der einen Seite sowie der fehlenden Anerkennung in Norwegen, all dem, was auf den Landesverratsfall zurückzuführen war, auf der anderen Seite. Sein Enkel Per Trifunovic nennt es „das dunkle Kapitel“. Rolf war aus diesem Grund aber kein armer Kerl. Er nutzte die Chance – oder war dazu gezwungen, nun gut. Wie auch immer: Er war über das Gerede der Leute erhaben und nicht daran interessiert, etwas für seinen Ruf zu unternehmen. Das war nicht wichtig. Zumindest waren Brustad zufolge andere Dinge wichtiger:

„Ich glaube, er wusste, dass es vielen nicht gefiel, dass er während des Krieges in Deutschland gewesen ist, selbstverständlich wusste er das. Der Fanatismus jedoch, seine Fähigkeiten auszunutzen, koste es, was es wolle, plus das mit dem Bruder führte dazu, dass er ging. Er wollte für die Realisierung seiner Idee berühmt werden. Und dann kommt das mit dem Bruder dazu, was dazu führt, dass ihm die Deutschen die Möglichkeit auf dem Silbertablett servieren. Dass er sowohl Kontakt zu Siemens als auch Philips, also nicht nur zu Brown Boveri hielt, beweist auch seine Fähigkeit und seinen Willen, dorthin zu gehen, wo es etwas zu holen gab. Dieser ‚Zynismus‘ war ein Teil seines Charakters.“

Man kann weiter fragen: Was ging in seinem Kopf vor, als ihn 1943 Vertreter der Luftwaffe vor seinem Büro ansprachen und ihn im besten Spionagestil baten, sie zu einem Gespräch ins Grand Hotel zu begleiten? Warum begleitete er sie zu Verhandlungen in Berlin? Warum ließ er sich in Hamburg nieder? Hatte er eine Wahl? Täuschte er die Deutschen oder täuschten sie ihn? War er naiv? Blind? Zynisch berechnend? Wer benutzte wen? Wer war wem eine Last oder von Nutzen? Benutzte Rolf Viggo, anstatt zu versuchen, ihm zu helfen – als Ausrede, Deckmantel für etwas anderes? Ist das Motiv, dem Bruder zu helfen, nur eine Entschuldigung? Was machte er während des Krieges eigentlich für Brown Boveri? Was ging eigentlich vonstatten? Das wissen wir nicht, es sind Darstellungen dessen, was die Leute damals dachten, was sie später dachten und was sie denken, wenn sie heute, so lange danach, gefragt werden. Es bedeutet das Ausgraben von Quellenmaterial, Untersuchungen und Analysen. Je mehr man davon erfährt, desto mehr Fragen türmen sich vor einem auf. Zeitweise sind es die Interviewten, die den Interviewer fragen. Und je mehr objektive Fakten ans Licht kommen, desto neugieriger werde ich auf das, was ich nicht weiß. Nicht darauf, was er tat, nicht einmal, für wen er es tat. Sondern warum. Das frage ich mich. Die menschliche Seite des Ganzen. Man könnte es als die psychologische, philosophische, existenzielle Seite bezeichnen. Inmitten des Krieges nach Deutschland zu gehen? Er muss verrückt gewesen sein.

Dann aber schleicht sich das mit dem Bruder wieder hinein. Was einige als Hauptgrund anführen und andere nur ein Ersatzargument nennen. Der Bruder, der ihm in der Kindheit, während der Studienzeit, in den Jahren, als die Familie eine Fluggesellschaft gründete, so nahegestanden hatte. Die beiden, die nach der Schule gemeinsam zum Sognsvann spaziert sind, in der Studentenbude in Karlsruhe Bier getrunken, Skiurlaub in den Alpen gemacht, mit ihren Freundinnen zusammen die Osterferien im norwegischen Gebirge verbracht und deren Kinder zusammen im Sommerparadies der Großeltern am Oslofjord gespielt haben. Und die lange Zeit danach, im Rentenalter, weiterhin jedes Jahr den Urlaub zusammen im Ferienhaus des einen in Spanien verbracht haben.

Ist die Antwort auf das große „Warum“ eine Kombination aus Ursachen? Ist es so menschlich? Dass er von seiner Sache besessen ist und plötzlich die Möglichkeit seines Lebens bekommt? Und dann kann er das möglicherweise damit kombinieren, etwas für seinen Bruder zu tun? Oder ist er so schlau und zynisch, dass er Letztgenanntes verwendet, um Erstgenanntes zu rechtfertigen? Den Gedanken zu Ende zu denken, schmerzt.

Es gibt viele Fragen ohne Antworten. Aber ich glaube, es gibt genug Antworten, um mit berechtigtem Grund zu sagen, dass er nicht mit dem Feind zusammengearbeitet hat. Ein Beleg dafür, dass er im Gegenteil mit den Alliierten zusammengearbeitet hat, habe ich nicht gefunden, den Gedanken aber hatte ich. Zumindest wollten sie ihn gern erwischen, als sich der Krieg dem Ende zuneigte. Das beweisen Dokumente in britischen und amerikanischen Geheimdienstarchiven. Und im Quellenmaterial des norwegischen Zentralarchivs ist die ungeheuerliche Anschuldigung einer Verbindung zum Bau der V2-Rakete auf drei kleine Punkte zusammengeschrumpft, die in einem Bußgeld resultierte. Nirgends aber habe ich direkt etwas gefunden, was darauf hindeutet, dass er als Doppelspion arbeitete, obwohl sein Kontakt Hollnack genau das tat. Oder ist es so zu verstehen, dass man mit dem Feind zusammenarbeitet, wenn man für ihn arbeitet? Viele sind dieser Meinung, es sei denn, man ist Doppelagent. Nationalsozialist – in der Bedeutung Mitglied der Partei Nasjonal Samling – war Rolf nicht. Nationalsozialist aus ideologischer Überzeugung war er auch nicht. Vielmehr war das Gegenteil der Fall. Aus Protest gegen die Situation in Hitler-Deutschland war er zum Jahreswechsel 1932/33 aus Deutschland nach Hause zurückgekehrt.

Hätte er sich geweigert, 1943 nach Deutschland zu gehen, so wie sein Bruder sich geweigert hatte, sich von den Deutschen dirigieren zu lassen, was wäre dann geschehen? Rolf entschied sich für das Gegenteil, also sich ihnen zu fügen. So gesehen wird die Frage danach, wie freiwillig dies geschah, eher zu einer philosophischen und existenziellen Frage als zu einer praktischen und politischen. Es gibt keine anderen Lösungen als jene, auf die man durch Ermessen findet – und dadurch, wie man sich auf all das stützt, was man gehört und gelesen hat. Sowie hinsichtlich einiger Zufälle korrigiert. So wie im Alltag der meisten das eine Ereignis dem anderen folgt. So wie alle, so gut sie können, durch das Geschehen navigieren, während sie zeitgleich einige grundlegende Werte als Ankerketten haben.

Ich habe keinen großen „Masterplan“ für Rolfs Engagement in Deutschland während des Krieges gefunden. Im Nachhinein kann man immer analysieren und versuchen, ein Muster zu erkennen: ob ihn das leitete, was ihn lockte, oder das, was ihn bedrohte. Fakten allein reichen nicht aus, um das zu beurteilen. Aber „neunmalkluges Gerede“ auch nicht. Denn wie viel kann man eigentlich über einen anderen Menschen wissen? Rolfs offizielle Version – und Reaktion – ist bekannt. Herz und Nieren kann niemand untersuchen. Aber ach, wie gern ich hinter die Fassade geblickt hätte. Noch mehr von der Persönlichkeit verstanden hätte, von dem, was ihn bewegte. Denn es liegt etwas bestechend Verlockendes darin, den Krieg einfach „vergessen“ und den eigenen Traum realisieren zu können. Und dann – obendrein – vielleicht einem Bruder in Not helfen zu können. Ja, wenn „opportunity knocks“, wenn sich die Möglichkeit bietet, sie mit beiden Händen zu ergreifen.

Aber man stelle sich vor, wenn er es anschließend wie eine andere berühmte Person gemacht hätte, die eine politisch kontroverse Reise unternommen und die Welt gegen sich aufgebracht hatte: Paul Simon. Der nach Südamerika reiste, mit afrikanischen Musikern spielte und sein großes Graceland-Album aufnahm zu einer Zeit, als das Land wegen seiner Apartheid boykottiert wurde. Was seinen Ruf rettete, war, dass er kleinlaut zugab, naiv gewesen zu sein. Paul Simon hatte es begriffen. Die Welt vergab ihm. Das Album wurde ein Riesenerfolg. Simon herostratisch berühmt. Im wahrsten Sinne des Wortes. Aber Rolf, kleinlaut? Das ist ein ferner Gedanke. Nicht dieser Kerl, nein. Warum sollte er? Aus seiner Sicht gab es nichts, wofür er um Entschuldigung bitten musste.

Der Traum

Er hatte seinen Traum. Der hatte viele Namen. Das Ziel dort vorn. Die Ergebnisse. Und noch mehr Ergebnisse. Verantwortung. Verzicht. „Jetzt muss ich zusehen, das bald hinzubekommen.“ „Das wird von mir erwartet.“ „Ich erwarte das.“ Er hatte eine Vision von dem Großen. Das eines Tages geschehen sollte. Wenn alle Gleichungen aufgehen. Wenn alle Formeln gefunden sind. Glücklich der, der einen Traum hat. Er hätte sich im Apple-Gründer wiedergefunden, der sagte, dass für jene mit einer solchen Besessenheit die einzige Art, gänzlich zufrieden zu werden, darin besteht, an dem festzuhalten, was für sie „the great work“ – die Aufgabe, die zu verrichten sie sich erträumen – ist. Der krebskranke Steve Jobs musste wissen, wovon er sprach, als er zu den Studenten der Abschlussklasse in Stanford sagte: „How to live before you die.“40.

Besserwisserei agiert nicht mit Träumen. Träume und Visionen sind jedoch mehr als Hirngespinste. Sie sagen etwas darüber, welche Art von Leben man leben möchte, und sie können verwirklicht werden. Für einige besteht der Traum darin zu erschaffen. Zu fertigen. Etwas zum Funktionieren zu bringen. Gut auszusehen. Zusammenhänge zu finden. Etwas zu tun, was kein anderer getan hat. Etwas, das nur einem selbst gehört. Das man selbst ausgedacht hat. Das die eigene Handschrift trägt. Einen Tisch zimmern. Einen Roman schreiben. Eine Gardine nähen. Ein Kind bekommen. Ein Festival organisieren. Für andere besteht der Traum aus dem genau Entgegengesetzten – nur zu empfangen, zu erleben, wahrzunehmen, die Dinge geschehen zu lassen und sich im Leben nicht mit Alltagsdingen „abzumühen“.

Träume gehören einem jeden allein. Sie formen einen. Sie entlarven einen. Befreien jedoch nicht. Rolf folgte dem Traum. Seinem Traum. Angereichert mit den Zufällen des Lebens. Deshalb wurde das Leben so, wie es wurde.

***

Das Umfeld sah es nur von außen.

Anmerkungen

  1. 1.

    Fredrikstad Blad, 4. April 2008

  2. 2.

    Ihre Schwester, Maalfrid Sørheim, im Gespräch in Verbindung mit diesem Buch

  3. 3.

    Hjeltnes,Guri: Hverdagsliv, Norge i krig, Bd. 5, Aschehoug 1987, S. 27, separate Ausgabe, Neuausgabe 1990

  4. 4.

    Biografie, S. 106

  5. 5.

    Die Rede wurde auf Englisch gehalten. Hier Übersetzung aus dem Norwegischen.

  6. 6.

    Interview mit Søren M. Bentzen, 22.11.2006

  7. 7.

    Lied, Finn: „Dramaet Copenhagen“, Forskningspolitikk Nr. 1, 2000, Nordisk institutt for studier av innovasjon, forskning og utdanning (Hg.) (ehemals Norsk institutt for studier av forskning og utdanning, NIFU)

  8. 8.

    Im Gespräch in Verbindung mit diesem Buch

  9. 9.

    Biografie, S. 5 (Der Ordnung halber: Beim Gefängnisaufenthalt handelte es sich um Gewahrsam und er dauerte streng genommen 47 Tage.)

  10. 10.

    Waloschek: Todesstrahlen, S. 112

  11. 11.

    15. November 2010

  12. 12.

    Im Gespräch mit mir, 30. November 2006

  13. 13.

    Sinding-Larsen, Henning: „Mange Columbi egg i hans kurv“, in Aftenposten, 17. Juli 1971, Morgenausgabe, S. 11.

  14. 14.

    Biografie, S. 70

  15. 15.

    Videointerview, aufgenommen an zwei Tagen, 22.–23. Oktober 1992

  16. 16.

    Interview in Verbindung mit diesem Buch, 6. November 2006

  17. 17.

    Det Norske Videnskaps-Akademi Årbok 1996. Sitzung 11. Januar

  18. 18.

    Die Initiative war auf den 10. Januar 1973 datiert und unterzeichnet von den Professoren Aadne Ore, Alexis C. Pappas, Nico Norman, Per Finholt und Arnold Nordal.

  19. 19.

    73, 1975 Nr. 2, S. 39–47

  20. 20.

    Im Gespräch, 6. November 2006

  21. 21.

    Interview in Verbindung mit diesem Buch, 5. Januar 2011

  22. 22.

    London 28. Oktober 1941, Jacob Schive an General Fleischer, „Regjeringen og Hjemmefronten under krigen. Aktstykker utgitt til Stortinget“, 1948

  23. 23.

    Birger Rasmussen und Gunnar Sønsteby: Solveig Widerøe, Nachruf, Aftenposten, 25. September 1989

  24. 24.

    Im Gespräch in Verbindung mit diesem Buch

  25. 25.

    Dahl, Odd: Trollmann og rundbrenner, Gyldendal 1981

  26. 26.

    Interview mit mir am 15. Oktober 2009. Er verwendet hier das Wort „Urteil“, da ein unterzeichneter Bußgeldbescheid die Gültigkeit eines Urteils hat.

  27. 27.

    Brief von Robert Hofstadter an Sverre Westin, 23. Januar 1985. Briefe von Sverre Westin an Robert Hofstadter, 8. Januar und 14. Januar 1985

  28. 28.

    Der Vorschlag lautete: „Rolf Wideröe – Nobel Prize for Physics 1984, for pioneering studies of particle acceleration principles, for fundamental and practical discoveries and inventions in the field of particle accelerator technology (a discipline founded by Rolf Wideröe), and for outstanding life-long work concerned with adaption of particle accelerator technology to the requirements of industrial radiography, of nuclear and elementary particle physics, of radio-biology, and of high-energy photon, electron, and pion cancer therapy, and all efforts purposely dedicated to the benefit and to the welfare of mankind.“

  29. 29.

    Brief von Sverre Westin an Bjørn Wiik, 15. Januar 1992

  30. 30.

    Brief von Sverre Westin an Bjørn Wiik, 22. Januar 1992

  31. 31.

    Kai Siegbahn

  32. 32.

    Brief von Sverre Westin an Bjørn Wiik, 20. Januar 1992

  33. 33.

    Gespräch über Elektronenoptik. Teilnehmer: Rolf Wideroe, Enis B. Bas, Giovanni Induni, Lieni Wegmann, Herbert Sprenger, Walter Willy Zürich: ETH-Bibliothek [Prod.], 1974, 2 Tonbandkassetten [DAT] (total 169 Min.) + Beilagen (Typoscript, 91 S., div. Publikationen u. Fotos). Aufzeichnung der Gesprächsrunde in der Phonothek der ETH-Bibliothek, 29. August 1974/Wideroe, Rolf 1902–1996 Elektroingenieur Norwegen/Schweiz/ /BGWFTS/ Tape D 237:1–2. Der Physiker, der über den Nobelpreis sprach, war Enis B. Bas.

  34. 34.

    Blewett, John: „The First Proposal for Colliding Beams“, News and Views, Particle Accelerators, April 1972.

  35. 35.

    Friedman Robert, Marc: The Politics of Excellence. Behind the Nobel Prize in Science, A W. H, Freeman Book, Times Books, Henry Holt and Company, New York, 2001

  36. 36.

    Gespräch in Verbindung mit diesem Buch, 15. Oktober 2009

  37. 37.

    Benum, Edgeir: „En forskerskole bygges. Odd Hassel og strukturkjemien 1925–1943“, Historisk tidsskrift, Bd. 88, S. 639–670, Universitetsforlaget 2009. Vivi Ringnes, viten.no

  38. 38.

    Im Gespräch in Verbindung mit diesem Buch, 14. September 2009. Sandvold (geb. 1921) starb 2010.

  39. 39.

    Im Gespräch, 21. Dezember 2006. Reksten (geb. 1917) starb 2009. (Er kannte Odd Dahl gut, u. a. von seiner Zeit am Chr. Michelsen Institute sowie in Norges Teknisk-Naturvitenskapelige Forskningsråd, NTNF.)

  40. 40.

    „How to live before you die.“ Apple-Gründer Steve Jobs' Rede bei der Abschlussfeier an der Stanford University, Juni 2005, YouTube-Video.