Im Jahr 1994 (Strauβ publizierte noch im Hanser Verlag, war noch nicht zu Rowohlt gewechselt wie vor ihn bereits Martin Walser), erschien in Wohnen. Dämmern. Lügen das später dann klar „elektromagnetische“ Erzählen des Botho Strauβ’ noch in einen mystisch-metaphysischen Kokon eingehüllt. Wiewohl es bereits mit Himmelskörpern, „Zeit und Raum“, Meteoriten und anderen in’s Auge fallenden (früh)romantischen Requisiten ausstaffiert auftrat – wobei der, als einsam Erwählte sich präsentierende, Erzähler interessanterweise überall das „Chinesische“ nach Art des damals „angesagten“ Bestsellerautors Fritjof Capra suchte. (Der Tatbestand besass seine sprechende Parallele zur Spezifik des Kafka/Weiss’schen Mozartbildes als eines wesentlich „chinesischen“, wie noch auszuführen sein wird). In Wohnen. Dämmern. Lügen fanden sich Sätze wie die folgenden: „Die Begegnung, sagt Martin Buber, findet nicht in Raum und Zeit statt, sondern Raum und Zeit ereignen sich in der Begegnung… Ich glaube an das Sternenzelt des Gewesenen über uns … Das … ist im gesamten vielleicht nur ein augenblickliches Sternschnuppengewitter im Nachhall eines Kometen, der längst vorübergezogen ist, ein Meteoritenhagel, der in der Atmosphäre unseres Bewusstseins verglüht und in unsere ‚Zeitrechnung‘ eintritt.“Footnote 1 Im gewissen Sinne kann man also folgern, dass Strauβ, auch als Analytiker von modernen Paarverhältnissen, schon immer, ein verspäteter Frühromantiker, primär am „Electrischen“ zwischen Liebenden interessiert gewesen war. Selbstverständlich. Aber vor 2007 geschah dies noch im Sinn sozusagen eines vorwissenschaftlichen Mesmerismus, wie er hier bereits ausführlich vorgestellt wurde. Nach dem Jahr 2007 aber, und nach Strauβ’ Erfahrung mit politisch bewirkter Isolation, gewinnt sein Novellen-Schreiben die Qualität jenes Elektromagnetismus, wie er vor allem durch Maxwell und noch vor Einstein zu einer wissenschaftlichen Disziplin erhoben worden war. Ob, und wenn ja, wie beides zusammenhing, muss wird im Folgenden diskutiert werden. Jedenfalls: „2007 erschien seine erste Novelle.“Footnote 2 Gleichzeitig geriet der Sohn eines Chemikers, Pharmazeuten und Medizinpublizisten, bis dahin der allererste darling der liberalen Medien, ebendort in harten (kultur)politischen Gegenwind á la Strasser.

Wir sind in der glücklichen Lage, hier nicht entscheiden zu müssen, wer damals im Recht war. Unser vom Orientierungspunkt „Dritte Kultur“ bestimmter Blick erkennt dagegen, dass Strauβ seit seinen zeitkritischen Veröffentlichungen zwar nicht die Weltanschauung gewechselt, wohl aber eine neue Novellentechnik in Gebrauch genommen hatte. Darin bewahrheitete sich wieder einmal die Substantialität von Adornos Diktum, dass weniger der Inhalt, sondern vielmehr die Form in literarischen Fragen den Primat haben sollte. Zumal der Übergang ablesbar erscheint an den Texten des Uckermärkers, und das bereits in denen, die noch bei Hanser publiziert wurden. Machen wir die Probe aufs Exempel, veranstalten wir ein Leseexperiment. Wir starten mit dem, was oben bereits ausführlich dargestellt (und in Übereinstimmung mit Strauβ’ Selbstverständnis auch als verpflichtend für ihn angesehen werden kann): Mit eben dem noch mesmeristischen Elektrizitätsverständnis der frühen Romantiker, exemplarisch anwesend bei Ritter wie auch bei E.T.A. Hoffmann. Wie dargestellt, erwuchs bei Ritter daraus die (ungenaue und schwärmerische, wie wir heute wissen) Hoffnung auf ein neues, umfassendes Naturverständnis. Bei dem bedeutenden Erzähler Hoffmann erwuchs daraus ein ganzes galvanistisches Panoptikum; ein nuanciertes Erzählstück des „tierischen Magnetismus“, sichtbar gemacht in der ausserordentlichen Anziehungskraft menschlicher Erotik. „Electrisch“ im prä-Maxwell’schen Sinn ist bei diesem Romantiker all das, worin das Sublim-Romantische sich offenbaren sollte: Die Musik zu allererst, das (möglichst nächtliche) Komponieren, das Musizieren in Gesellschaft oder allein, das Opernerlebnis als individuelle Offenbarung eines Für-Einander-Bestimmt-Seins. Vorzüglich wurde letzteres in Mozart-Opern Ereignis, und trat bei Hoffmann stets mit der Intensität alkoholfreudiges Halluzinierens in Erscheinung. In dieser Welt geht es immer und immer wieder um die besondere Begegnung von füreinander Bestimmten, wie sie dann später auch Botho Strauβ immer wieder variieren wird, freilich weniger alkoholselig gewürzt, doch gleichermassen bacchantisch. In beider Erzählen ist Dionysos durchgehend anwesend. Bei Hoffmann kommt es in der Opernloge zur (durchaus auch physischen) Begegnung mit der verführerischen Donna Anna aus Mozarts Don Giovanni, bewirkt durch eine Auflösung von „Zeit“ und „Raum“ als unabhängig-objektiver Grössen, wie sie sie später dann Einstein physikalisch-mathematisch vollziehen wird. „Alles weist anscheinend darauf hin, dass Hoffmann Zeit und Raum und Naturgesetz als Kategorien des menschlichen Bewusstseins ansprach und die Welt, getreu den Thesen des Novalis, romantisierte.“Footnote 3 Wenn man so will: Hier rückt eine vorweggenommene Einstein’sche Relativierung der beiden, bei Descartes und Kant noch als objektiv-unverrückbar angesehenen Kategorien „Zeit“ und „Raum“ die Liebenden so eng zueinander, wie das romantische Gemüt es nur verlangen konnte. Insbesondere im Weinkeller von Lutter & Wegner, Charlottenstr. 56, Berlin-Mitte ereignete sich dies, als eine sehr irdische Apotheose. Es stimmt ja: „Die Welt, in der das Wunderbare sich vollzieht, ist mit einer Präzision festgelegt, die in der deutschen Literatur ohne Vorbild ist. Im Ritter Gluck Berlin mit den Linden, Tiergarten, Klaus und Webers Zelte, Friedrichstrasse, Opernhaus; Mohrrübenkaffee an Stelle des durch Napoleons Kontinentalsperre mangelnden Bohnenkaffees; Gespräche über die Schuhe der gefeierten Schauspielerin Friederike Bethmann…. Dass der 1787 in Wien begrabene Ritter Gluck 1809 im Berliner Tiergarten spazieren geht; dass sich die Sängerin der Donna Anna zugleich auf der Bühne und in der Theaterloge 23 befindet, dass sie die Donna Anna singt und zugleich auch ist – all das erschliesst sich nur ‚Enthusiasten‘, die an das Wunder glauben. ‚Nur das romantische Gemüt kann eingehen in das Romantische‘ heisst es im Don Giovanni … Es gibt auch noch weitere Schärfebestimmungen. Der Ritter Gluck trägt den Untertitel Eine Erinnerung aus dem Jahre 1809. Die Handlungszeit ist der Spätherbst des bezeichneten Jahres. Veröffentlicht wurde die Erzählung jedoch am 15. Februar in der Leipziger Allgemeinen Musikalischen Zeitung, ein halbes Jahr bevor die Geschichte überhaupt beginnt.“Footnote 4 Derart „romantisierte“ man damals die Welt. Botho Strauβ wird dies noch in den Jahren um 2007 aktualisiert beibehalten. Um diese These textuell „dicht“ zu belegen, noch einige weitere Zitate aus Hoffmanns Werken, jeweils aus Don Juan und Musikalische Leiden. Dort lesen wir, als sich Donna Anna dem Ich-Erzähler nähert: „Ein warmer elektrischer Hauch gleitet über mich her – ich empfinde den leisen Geruch feinen italienischen Parfüms, der gestern zuerst mir die Nachbarin vermuten liess, mich umfängt ein seliges Gefühl, das ich nur in Tönen glaube auszusprechen können … glaube ich Donna Annas Stimme zu hören: ‚Non mi dir bell‘ idol mio!’“Footnote 5 Die spätere und dann so hochgestimmte Liebe des Botho Strauβ zum frühen Griechischen ist bei Hoffmann ebenfalls vorweggenommen, aber eher skeptisch abgedämpft, wesentlich als romantische Spiesserkritik. „Aber treu blieb er sich wenigstens insofern, dass er durchs ganze Stück immer einen halben Takt nachschleppte. Die übrigen äusserten einen entschiedenen Hang zur antiken griechischen Musik, die bekanntlich die Harmonie nicht kennend, im Unisono ging; sie sangen alle die Oberstimme mit kleinen Varianten aus zufälligen Erhöhungen und Erniedrigungen, etwa um einen Viertelton.“Footnote 6 Nach diesen Ergänzungen des Musikkenners Hoffmann, die Realität hinter den Pythagoräischen Thesen zur „Harmonie der Sphärenmusik“ betreffend, wie sie auch bei uns ihre Rolle spielt, noch eine weitere Textprobe aus Hoffmanns Literaturelixieren: „Die Noten wurden lebendig und flimmerten und hüpften um mich her – elektrisches Feuer fuhr durch die Fingerspitzen in die Tasten – … So kam es, dass ich allein sitzen bleib mit meinem Sebastian Bach und von Gottlieb wie von einem spiritus familiari bedient wurde! – Ich trinke!“Footnote 7 Strauβ wird dann weniger trinken, und dennoch, vom immer noch „electrischen“ Feuer des Prometheus begeistert, in kafkaesk intensivem, nächtlichem (?) Schreibakt seine Novellen verfassen.

Mit solchem Exkurs sind wir der Szenerie beim nunmehr „modernsten“ Novellen-Strauβ sehr nahegekommen, als dieser, ein nun selbst „elektrischer Erzähler“, sozusagen selbst kafkagleich ins Maxwell/Einstein’sche Zeitalter hinüberwechselte. Wirkliche Liebe ist immer Übereinstimmung aus fernster Ferne. Das wusste Kafka ebenso, wie es Strauβ und Hoffmann bewusst war; weshalb letzterer abschliessend noch einmal zu Wort kommen soll: „Freilich ist es Röderleins herrliche Nichte, die mich mit Banden an dies Haus fesselt … Wer einmal so glücklich war, die Schlussszene der Gluckschen ‚Armida‘ oder die grosse Szene der Donna Anna im ‚Don Giovanni‘ von Fräulein Amalien zu hören, der wird begreifen, dass eine Stunde mit ihr am Piano Himmelsbalsam“ ist – eine fernmystische Erfüllung wie dann später nur noch beim Paare-Spezialisten Botho Strauβ. Bei beiden Autoren erscheint ausgemacht, dass nur der kalte und platte Spiesser die electrisierende Fernwirkung der Musik nicht wertzuschätzen vermag; ja, dass er ihr anziehend Verderbliches einfach verkennen und denunzieren muss, wenn es aus dem Abgründig-Dionysischen verlockend an den Tag emporsteigt. Dem wahren Musikfreund, mithin dem wahren Romantiker ist seine eigene Musikverfallenheit vielmehr eine Art elektrisch-mesmeristischer Selbst-Entzündung, so gefährlich wie gewünscht, auch wenn sie stets in verzehrendem Aufflammen zu enden droht.Footnote 8 In diesem Sinn ist auch noch Friedrich Nietzsches Flamme-Gedicht, ein Hauptstück seiner so bestrickenden Lyrik, noch genuin frühromantisch zu nennen: „Ja, ich weiss, woher ich stamme,/Ungesättigt gleich der Flamme/Glühe und verzehr’ ich mich./Licht wird alles, was ich fasse,/Kohle alles, was ich lasse,/Flamme bin ich sicherlich.“ Titel des Kunstwerks: Ecce homo.Footnote 9

Weniger flammenmystisch hält es Botho Strauβ in Die Nacht mit Alice, als Julia ums Haus schlich aus dem Jahr 2003 (mithin vor seiner novellistisch-Maxwell’schen Kehre, und noch im Hanser Verlag veröffentlicht). In Strauβens Nacht-Stück mit seinen zwei im Titel genannten Frauen beginnt alles noch mit einer Eröffnung, in der die beschworene frühromantische Fernbeziehung zugleich den damals „angesagten“ Verzicht auf „besitzergreifende“ Erotik enthalten soll. Entsprechend wurde darin verschwommen Frühromantisches unverbunden neben allzu Heutiges plaziert: “Ich bin der, sie ist die. Nie waren wir mein und dein. Aug in Aug sahen wir uns oft aus grosser Ferne an.“Footnote 10 Das kommt so preziös wie graziös daher, nahezu mit fernöstlicher Patina als glänzendem Goldpapier überzogen. Dazu passt glänzend dann auch die quasi taoistische Erlösung aus allzu elektrischer, brennender Liebesverstrickung, wie sie uns danach angeboten wird, – nur, dass diese „Erlösung“ mehr einer Paartherapie, als noch der angestrebten Katharsis gleicht: „Ich hatte das Jackett über die Schulter geworfen, an den Finger gehängt. Keine Ausbrüche mehr, keiner Erschütterungen, weder im Glück noch im Streit. Nur jede Stunde weiter unterwegs, gemeinsam lange gehen, Ende offen …“Footnote 11 Neben dem asiatisch Mystischen in seinem besonderen Verbund mit modischer „Coolness“ steht bei Strauβ der schnöde Versicherungsalltag, aber beides leider doch sehr ungefähr: „Doch bei den Nachbarn kommt der Lärm dieser Liebe jetzt erst an, so dass sie heftig gegen die Wand pochen und darüber nebenan in Streit verfallen. So ist es nun einmal, seitdem der Zeitspalter zwischen die Menschen fuhr und die eine Gegenwart für alle zertrümmerte, in lauter unfügbare Bruchstücke teilte; dass bei den einen etwas längst vorüber und vergangen ist, wenn es die anderen gerade erst erreicht.“ Leider vermag auch die pädagogische Hervorhebung bestimmter Begriffe diese nicht wirklich einleuchtender zu machen, wie heftig dabei auch „romantisiert“ wird. Immerhin, der Leser bekommt demonstriert, dass neben dem Zeitspalter auch die BFA (Bundesversicherungsanstalt für Angestellte, Standort Berlin) existiert, bei Strauβ den taoistischen Begehrlichkeitsverzicht besiegelnd: Das Paar konnte nicht „begreifen, wie man sich nackt so nah sein kann und doch so begehrlos daherreden.“ Nächstes Zitat: „Er sagte in den Spiegel: Du schickst ein formloses Schreiben an die BVA … Die rechnen dir automatisch aus, wieviel du mit sechzig bekommst. Studienzeit angerechnet.“ Dass der Autor nun auch noch kommentierend wiederholt, mithin selbst interpretiert, was der geneigte Leser erkennen soll („Um Versorgungsleistungen geht es, während sie ausführlich und der Scham so fern wie dem Paradies nebeneinander Toilette machen“)Footnote 12 löscht wahrlich alle „Romantisierung“ aus; doch leider ohne umgekehrt jene Spannung zu evozieren, die aus dem Gegensatz von Taoismus und BVA allerdings zu entspringen vermöchte. Dazu bedürfte es eben jener Novellenform, wie sie bei Kafka immer gegenwärtig ist (und doch nie qua Genrereklamation explizit in Anspruch genommen wird). Beim Strauβ der Nacht mit Alice steht noch unverbunden nebeneinander, was Kafka bereits als Unzeitgemässes aussortiert hat: Eben das „alte“ Begehren in Zeiten der modernen BVA-Versorgung. Weder Frieda noch Leni in Kafkas Romanen „begehren“ noch; ihre Laszivität entspringt vielmehr reflexartig aus ihrer hochentwickelten Sensibilität für soziale Dominanz. Dieser Unterschied macht die Differenz. Sie aber wird bei Strauβ lediglich eingezogen, wird ersatzlos ausgelöscht, ohne dass ein wirklich neues Erzählen, wie dann in seiner späteren Bewusstseinsnovelle (Obertitel: Die Unbeholfenen) ins literarische Leben getreten wäre. Erst in der Bewusstseinsnovelle, so scheint es, vollzieht der Uckermärker nach, was der Prager bereits ein Jahrhundert zuvor installiert hatte, indem er nun seinerseits die allzu internet-Affinen als die in Wahrheit „Unbeholfenen“ schildert? Damit gelingt dem Heutigen literarisch-ästhetisch Beachtliches – nachdem politische Unkorrektheit ihn in Zeiten angeblich unbegrenzter Toleranz zur kulturellen Unperson zu verwandeln gedroht (und eben darin auf’s ursprünglich Literarische zurückgeworfen?) hatte. Es ist mithin von eigener Ironie, dass Botho Strauss’ vielleicht gelungenstes Buch den Titel Die Unbeholfenen trägt. Zum ersten Mal sieht hier ein Autor mit fremden Augen auf die gleiche Welt, die er bisher als eher selbst ein Angepasster geschildert hatte. Auf eine Grossstadtwelt, in der alle in ungeheurer, angepasster, scheinbar unangestrengter Fixheit, mit restlos angepasster Geschmeidigkeit zu Gange sind – so wie er selbst es auch einmal gewesen ist? Hat Hendrik Ibsen Recht in seinem Gedicht, ist „Dichten“ tatsächlich „Gerichtstag halten über das eigene Ich“? Dann hätte die durch „political correctness“ motivierte Verbannung in eine imaginierte „rechte“ Ecke hier jemandem tatsächlich zu besserer Literatur verholfen (und hätte sich Martin Mosebergs zitierte Diagnose tatsächlich bewährt).

Das Buch trägt die Gattungsbezeichnung „Novelle“ unter seinem Titel. Wie der gesamte Text, ist bereits die Titelgebung von jener mehrfachen Lesbarkeit ausgezeichnet, die einen in der Tat an die Frühromantik erinnert. Die Unbeholfenen sind nämlich nicht nur jene, denen in unserer Gegenwart nicht geholfen wird. Es sind notabene auch die, die zu ungeschickt gegen die herrschende schlechte Leichtigkeit der Netz-Generation sich stemmen. Es sind ferner alle diejenigen, die nicht mithalten konnten oder wollten im vom Zeitgeist verordneten Rattenrennen um die jeweils smarteste correctness. Nähere Analyse bestätigt den Befund: Deshalb liegt das verwunschene Haus der Gesprächsrunde bei Strauβ in einem öden Gewerbegebiet – und war doch einstmals das eines Zauberers oder eben auch – Henkers gewesen! Die Literaturkritik hat diese Eigenschaft dichtester Symbol- (oder vielleicht auch nur: Zeichenverwebung) selbstverständlich gesehen, aber ganz verschieden bewertet. Interessant erscheint, dass negative Bewertung fast immer mit Strauβ’ politischer Unkorrektheit konnotiert wurde.Footnote 13 Ganz ähnlich die Tendenz, wenn unterstellt wurde, dass Hofmannsthals „Konservative Revolution“ ihre bedeutende und ominöse Rolle spiele.Footnote 14 Strauβ hatte es lediglich gewagt, den Namen des bedeutenden Österreichers zu erwähnen – zudem in ganz anderem und unpolitischem Zusammenhang, der seinerseits für uns noch wichtig werden wird (Sprachzerfall im Brief des Lord Chandos). Ansonsten erwiesen sich vor allem Fritz J. Raddatz’ und Hubert Spiegels Rezensionen als gehaltvoll und interessant. Raddatz nannte in der FAZ vom Sonntag (7. X. 2007) den Text einen „herrlich stilisierten“; salutierte der Gelehrsamkeit des Verfassers, erwähnte einsichtig die Namen von Sartre, Nietzsche, Hölderlin und Valéry, allerdings überkamen selbst ihn „einige Bedenken, wenn Strauβ die Wurzel der gebrandmarkten Übel in der Demokratie zu sehen scheint“Footnote 15 (was so gar nicht im Text steht). Mithin gingen Teile der Kritik glatt an dem thematischen Zentrum des Textes vorbei, das offenbar das einer gewollt monströsen Novelle ist (am Ende gibt die mythisch verwitterte und dann wieder zauberhaft verjüngte Über-Mutter sich dem, selbstironisch als blossen Lust-Sucher dargestellten, Ich-Erzähler hin; ein überraschendes „Falken-Motiv“, vor dem Paul Heyse sich freilich bekreuzigt hätte.

Worum ging es in der Sache? Unter dem erläutert vielschichtigen Titel sammeln sich sechs Personen im beschrieben zwielichtigen Haus, das liegt seinerseits inmitten eines modernen, öden Gewerbegebiets (und war doch einmal das eines Zauberers oder Henkers). Vier Geschwister und zwei sehr ungleiche Liebhaber werden zu einem hochgelehrten, ziselierten, tiefschürfenden und sprachlich verblüffend nuancierten nächtlichen Diskurs zusammengebracht, der die Nähe zum Künstlichen selbstbewusst nie scheut. Ihre ausdifferenzierte Diskursform ist in der Tat die der Frühromantiker. Es geht um das Lernen aus teilweise manieriert vorgetragenen, partiell sehr alt-ehrwürdigen Geschichten aus Neuzeit, Mittelalter und Antike, – wobei selbstverständlich das von den Romantikern verehrte Mittelalter seinen besonderen Akzent erhält. In freiwilliger Isolation, im Verlauf der einen Nacht, die mit einem schwindelerregenden sexuellen Auftritt der ansonsten gar nicht anwesenden mythischen „Grossen Mutter“ endet, entspinnt sich ein oft hellsichtiges, zuweilen somnambules Spiel der Gedanken, Argumente, dozierenden Erzählungen, der spielerischen Beziehungsanbahnungen und ihrer zumeist lakonisch gehaltenen Zurückweisungen. Bedingt durch diese besondere literarisch-gelehrte Diskursform der Geselligkeitsschilderung bei Strauβ, entfaltet sich ein genuin wirkendes „elektromagnetisches“ Feld aus den Beziehungen der Protagonisten untereinander; ein durch Andeutungen, Gesten, neuzeitliche Smartphone-Benutzung und altertümliche Blicke gleichermassen abgestecktes. Alles wird zudem durch eine sämtliche Personen umfassende Erotik grundiert, die „Besitz“ nicht kennt, bzw. nicht kennen soll. Innerhalb dieses Feldes beziehen sich die Protagonisten aufeinander in sorgfältiger symbolischer Ziselierung etwa wie in einem höfischen Zeremoniell, das aber doch eher an das eines Theaterfoyers erinnert. Ein (ironischerweise ziemlich beschränkter) Ich-Erzähler, seine neue Geliebte Nadja, deren drei Geschwister und Nadjas vormaliger Liebhaber Romero unterhalten sich darüber, ob man unsere Zeit als die eines durchweg herrschenden elektronischen „Netzwerks“ bestimmen könne, als eine der Arachnotopie (nach dem griechischen Wort für die Netzhüterin), der freilich jedes direkte kratein (griechisch gleich „herrschen“) scheinbar (oder eben doch tatsächlich?) fern liege. Das Problem ist nicht bedrückende Herrschaft, sondern eher deren Abwesenheit, ohne dass Herrschaft tatsächlich abgeschafft wäre. Man lebt, darin jedenfalls besteht Übereinstimmung, in einer allermodernsten Moderne; in einer umfassend „elektrisierten“ „Netzzeit“, die Herrschaft gar nicht mehr (oder eben ganz total, und deshalb unmerklich geworden?) kennt. „Netzzeit“ anstatt Walter Benjamins „Jetztzeit“. Der verwirrend vieldeutige Zustand der bei Strauβ versammelten Zivilgesellschaft wiederum besitzt seine Vorbilder. Die Metapher bringt es an den Tag, insbesondere die im Sinn von Hans Blumenberg „absoluter Metapher“. In ihr vor allem kondensiert sich der kulturgeschichtliche Verlauf; wird abstrakt-geschichtliche Veränderung zur konkreten. „Das Netz“ ist solch eine Metapher, niemand wird dem Text vorwerfen können, nicht aktuell zu sein. Strauβ beschwört in diesem Bild unsere neueste elektronische „Netz“-Moderne vor allem in Form der sogenannt „sozialen“ Medien. Damit trifft der Autor Wesentliches. Es ist in diesem Zusammenhang bezeichnend, dass der Grossmeister aller Metaphorik, Hans Blumenberg in seiner Metaphorologie von immerhin 2013, den Begriff nicht einmal erwähnt – was umgekehrt nur Strauβ’ geradezu atemlose Modernität unter Beweis stellt. Denn wer heutzutage „das Netz“ sagt, der wird ubiquitär, durch alle soziale Schichten hindurch, also allüberall und ganz unmittelbar verstanden. Der Begriff ist zu einer jener „absoluten Metapher“ avanciert, wie sie Hans Blumenberg (aber bevorzugt in der Vergangenheit) aufgespürt hat. Also: Wo selbst Blumenberg schweigt (aber in dem, was er sagt, kulturgeschichtlich-begrifflich fassbar erscheint), redet Strauβ „poetisch“, also mit der unvermeidbaren Unschärfe des dichterisch gestalteten Diskurses. Seine Entscheidung erscheint angemessen; denn die allermodernste Netzwelt erweist sich bei dem Uckemärker als eine, deren permanente Anwesenheit in ihrer durchgehenden Abwesenheit, deren besondere Realität in ihrer unfassbaren Virtualität besteht. Doch hat das Netzwerk immer schon Entscheidendes bezeichnet; war die Spinne doch bereits das Wappentier jenes zaristischen Geheimdienstes, der in Kafkas Zeiten in Prag mit den (dem Autor unmittelbar benachbarten) „National-Sozialen“ zusammenarbeitete. Mithin: Wenn der Autor Strauβ den allermodernsten Netzbegriff thematisiert, einen, der in seiner Abstraktheit die direkte Machtausübung zu erkennen nicht mehr zulässt, so trifft er darin den aktuellsten Zustand unserer Gesellschaft.

Dazu einen exkursartigen Vergleich, der zeigt: Früher war das tatsächlich noch anders. Botho Strauβ denkt über Deutschland im Zeitalter seiner Digitalisierung nach. Heinrich Heine tat dies in ganz anderer und doch ähnlicher Weise. Der Poet, auch er bekannter Massen ein „entlaufener Romantiker“, reflektierte um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum sein Deutschland, dieses ihm auch im langjährigen Pariser Exil unheimlich nah gebliebene fremde Heimatland, zu Zeiten von dessen Erster Industrialisierung. Die ereignete sich nur wenige Jahrzehnte nach der Frühromantik. Und brachte dennoch eine völlig veränderte Welt zur Darstellung. Im zur Blüte gelangenden Industrie-Kapitalismus war es wiederum die Textilindustrie, die für die Netze zuständig war. Diese Netze waren allerdings noch aus konkretem Stoff, keineswegs bereits elektrisch. Die Textilindustrie hatte, in England jedenfalls, und dort von Friedrich Engels beschrieben, die Landwirtschaft abgelöst; war gerade dabei, die variable Viehhaltung zugunsten monokultureller Schafszucht auszurotten. Das textile Netz, wie es der Webstuhl industriell produzierte, war jetzt zur Bedrohung für den spinnenhaft an ihm arbeitenden Proletarier geworden; der erscheint in ihm gefangen, denn er besitzt es nicht, es verwickelt ihn, mit jedem Tritt in den Webstuhl, nur noch mehr in eine proletarische Existenz, die ihm zum Leben zu wenig, und zum Sterben zu viel zuteilt. „Henri Hein’“, der Pariser Saint-Simonist, wurde seinerzeit der bekannteste Chronist der schlesischen Weberaufstände. Bei ihm diagnostizieren die buchstäblich Verhungernden zugleich den nahenden Tod des Systems, das seinerseits dabei ist, ihnen den Tod zu bringen. Wo nun Strauβ nur noch analysieren und einen unmittelbar Schuldigen nicht mehr benennen kann, bediente sich der exilierte Heine der lyrisch-hymnischen Anklage konkreter Elendszustände. Der Poet Heinrich Heine konnte noch als einer auftreten, der quasi seherisch den „Weltgeist“ hinter sich wusste. Schliesslich hatte der Dichter mit Hegel noch persönlich gesprochen, im preussischen Berlin, unweit von Staatsoper und Italienischer Oper, deren tränenreichen Produkten der strenge Philosoph nach jeder überstandenen Vorlesung süchtig zueilte, wehe dem Studenten, der ihn dabei aufzuhalten wagte. Der nach Berlin gewechselte, nun seinerseits staatstragende Schwabe, ein vormaliger romantisch-revolutionärer Gefährte Schellings wie Hölderlins, beliebte gegenüber dem vermeintlich so lyrischen Dichter aus Paris die Sterne so professoral wie provokativ als einen „Ausschlag am Himmel“ zu bezeichnen. Dabei hüstelte er über seinem seidenen Halstuch. In Heinrich Heines Die schlesischen Weber als modernem Versepos wird dagegen geschrieben stehen: „Im düstern Auge keine Träne,/ Sie sitzen am Webstuhl und fletschen die Zähne:/ Deutschland, wir weben dein Leichentuch,/ Wir weben hinein den dreifachen Fluch -/ Wir weben, wir weben!“ Und ferner: “Das Schiffchen fliegt, der Webstuhl kracht,/ Wir weben emsig Tag und Nacht -/ Altdeutschland, wir weben dein Leichentuch,/ Wir weben hinein den dreifaschen Fluch,/ Wir weben, wir weben!“Footnote 16 Dahinter stand das mythische Bild von den die Lebensfäden webenden (und gegebenenfalls abschneidenden) Parzen, der griechischen Antike entnommen und hier zur „absoluten Metapher“ erhoben, auch wenn der Schöpfer dieses Terminus das „Netz“ im heutigen Sinn noch nicht kannte. Die Tätigkeit der Weber in Heines Gedicht produziert sozusagen elektrische Geschichts-Energie, wie sie die Herrschenden am Ende hinwegfegen wird, doch das eben auch in noch ungenau Saint-Simonistischer Weise, nach Marx’ bekannter Aussage deshalb für die wahre Revolution unbrauchbar, weil gleichsam noch im „mesmeristisch-electrischen“ Aggregatzustand. Auch Heinrich Heine war schliesslich ein Romantiker gewesen. Als solcher ein „deutsches Ereignis“ und zugleich ein „europäischer Skandal“.Footnote 17 Für Karl Marx freilich ein immer noch nicht streng genug Denkender.

Jedem allzu heutig-netzgläubigen Fortschrittsoptimismus wirklich entlaufen erscheint dagegen der Autor „elektrischer“ Novellen Botho Strauβ, wie immer (oder weil?) dessen Modernitäts-Kritik sich unverkennbar als wiederbelebte Frühromantik darbietet. Dass der Autor Strauβ, wenn auch nicht unbedingt sein ironisch angelegter Ich-Erzähler im Text, von eben dort herkommt, freilich mehr aus Jena und weniger aus Heidelberg, daran kann Zweifel nicht bestehen. Vielmehr reiht der Uckermärker sich unverkennbar ein in jene Reihe moderner Erzähler, die in unserem Text für den „electrischen Prometheus“ Kafka in Anspruch genommen werden können, von seiner Sprachgewalt her ebenso, wie von seiner Reflexionsschärfe. „Da unsere Denkgewohnheiten … heute stärker als zu Hofmannthals Zeit von naturwissenschaftlichen Einsichten, etwa der Teilchen-Physik oder Thermodynamik, beeinflusst werden, hat nun auch der einfache Zeitgenosse gelernt, dass dergleichen Zerfallsprozesse sich stets auf eine kritische Grenze beziehen …“, lesen wir bei Strauβ; und schliessen daraus: – Auf eben jene „Grenze“, die als unmöglich zu erreichende gerade auch im Zentrum von Kafkas Metapher bezüglich seines eigenen „stehenden Marschierens“ hockt wie die Spinne im Netz. Zudem das von Strauβ entworfene Epochen-Bild sich mehr und mehr verdichtet: „Sprechen wir zunächst von der symbolischen Erzählung, wie sie unvergleichlich zur deutschen Literatur gehört: Kleist, Novalis, Hofmannsthal. Marionettentheater, Klingsor-Märchen, Chandos-Brief. Solche Dichtung wird wohl immer im Bewusstsein einer Krise oder Peripetie entstehen. Doch wo wäre für uns die Peripetie – oder Erkenntnisschwelle …?“Footnote 18 Die Person, die der Autor Strauβ diese polemische Frage aufwerfen lässt, ist Nadjas abservierter Liebhaber; im novellistischen Feldversuch mit elektrisch aufgeladenen Partikeln also eben jener, der dem naiven neuen Liebhaber der Dame bipolar zugeordnet erscheint. Romero zufolge existiert in unserer vernetzten Gegenwart, bei allem unablässigen und hysterischen Beschwören allgegenwärtigen Krisenbewusstseins, genau umgekehrt lediglich das „Dilemma verlorenen Krisenbewusstseins … Crisis (im Sinne Burckhardts) war etwas, bei dem nichts so blieb, wie’s war, eine tiefe existentielle Gefährdung und Erschütterung von epochalem Ausmass. Aber seine Existenz spürt der Gegenwartsmensch allenfalls noch durch das Soziale. Sonst lebt er geradezu gegen sie abgepuffert …“Footnote 19 Auch darin liegt selbstverständlich eine Spitze gegen den Nebenbuhler verborgen, gerichtet gegen das ihm zugeordnete Elementarteilchen, mit dem zusammen erst Romero das elektromagnetische Feld vervollständigt, in dem wiederum Nadja quasi willenlos-zufällig hin und her bewegt wird. Das ist, übrigens, nicht weit entfernt vom Erzählen etwa Michel Houellebecqs in seinen Elementarteilchen. Freilich der Preis, den der „naturwissenschaftlich objektiv“ gewordene Erzähler Strauβ notwendigerweise entrichten muss, besteht in der ironischen Zurücknahme seiner selbst als poetischer, vormals sogar „auctorialer“ Instanz. Sein Ich-Erzähler erscheint reduziert zum Triebmännchen. Welches dann konsequenterweise der Urmutter verfallen wird im dem grotesk-freudianischen Spektakel eines zweifelsfrei ganz „unerhörten“ inzestuösen Ur-Koitus als des besonderen Umschlagspunkts dieser exemplarischen Novelle. Ob solche Total-Regression, und sie ist es allerdings im Vergleich mit des Textes Fragestellung nach dem „bewusstesten Bewusstsein“, überhaupt in diesen Strauβ-Text noch hineingehört, das ist eine Frage, die sich nur beantworten lässt mit Rekurs auf das Kleist’sche Marionettentheater (wie auch, noch umfassender, auf die gesamte frühromantische Tradition der unendlichen Selbstreflektion). Strauβ weiss um die Unmöglichkeit dieser Aufgabe. Er erinnert deshalb “an ein Wort von Paul Valéry …, der einmal bemerkt habe, Menschen von höherem Bewusstsein würden jeden Augenblick zweifeln, ob sie die Quelle ihrer selbst oder aber bis in die Tiefe des Daseinsgefühls hinein Marionetten wären.“Footnote 20 Hier wiederum gerät, logischerweise, die hoch aktuelle Frage nach der „KI“, der viel beschrieenen „Künstlichen Intelligenz“, ins Erzählspiel, als ein Bericht „vom Zerebralmonster, das eines Tages drohe, sich des Weltthrons zu bemächtigen.“Footnote 21 Auf diese Weise ist in Strauss’ Wissensdiskurs auch noch die „Schwarmintelligenz“ (aus dem ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts im Namen von Frank Schätzig grüssend) zugegen. Ferner, als deren Steigerungsstufe, auch die in unseren Tagen so viel beschworene „KI“ in ihrem bunten Kontext von Pflegerobotern, abgerichteten Delphinen und entschwommenen Balugas, das selbstfahrende Auto in diesem Panoptikum nicht zu vergessen. All diese Angebote finden sich in Strauss’ intellektuellem Supermarkt, neben der „aktuellsten Krisenschwelgerei“ ausgestellt: Nämlich der eines umfassenden „Klimawandels“, welcher uns „partout den verlorenen Glauben an die Letzten Tage ersetzen“ will.Footnote 22 Summa summarum: Durch die jeweils neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnisse abgesichert, als das Werk eines nun wirklich in seiner „Dritten Kultur“ behausten modern-informierten Autors, bei dem immer Werk und Kommentar, Text und Reflexion, Bewegung der Person und deren Kommentierung zuverlässig in eins gehen, entsteht tatsächlich so etwas wie die neue Literatur einer „Dritten Kultur“ vor unseren Leser-Augen. „Sie lebten und bewegten sich ständig als erläuterte Personen, gleichsam als habe ein Kommentar das Werk, auf das er sich bezieht, aufgesogen und verschlungen, dabei aber die Leidenschaft und Heraldik des ursprünglichen Buchs sich selbst zu eigen gemacht.“Footnote 23 Besser könnte es auch ein hoch reflektierter moderner Literaturwissenschaftler, durch die Stahlbäder von Strukturalismus, Postmodernismus samt Dekonstruktion samt „theoriegesteuertem Lesen“ hindurchgegangen, nicht ausdrücken. Dieser nicht zuletzt sprachlich beeindruckende Sprung hinein in eine modernste Literatur (die an die des späten Kafka, nach seiner Begegnung mit der „Relativitätstheorie“, anschliesst), verwirklicht nunmehr bei Strauβ eine „Kunst als Physik“ in genauer Umdrehung der bereits erörterten Ritter’schen Formel. Solche Umstülpung geht freilich nicht ab ohne die Verweisung auf grosse Altvordere. Auf erst Goethe und dann Novalis, daneben selbstverständlich auf Hölderlin und diverse deutsch-romantische Co-Propheten. Goethe: Im beschriebenen Zusammenhang muss der Olympier beschworen werden nicht nur als Dichter der Novelle, dieses selbst schon mythischen Urmusters einer ganzen Literaturgattung. Sondern vor allem als der inzwischen kanonisierte Schöpfer eines weltliterarisch anerkannten „Bildungsromans“, wie daneben auch noch des sog. „Naturwissenschafts-Romans“, eben der legendären Wahlverwandtschaften mit ihren Bezügen auf die damalige schwedische Chemie, in der die Liebe weniger „electrisch“, als vielmehr chemisch entziffert werden soll. Auf diesem Terrain ist der Autor Strauβ habituell zuhause. Nicht zufällig lebt sein gesamtes Werk vom Rückbezug auf nicht nur den Weimaraner, sondern die in der Tat ja so vielfältige deutsche Literatur insgesamt. Vieles, was referiert und reflektiert wird in dieser Bewusstseinsnovelle, beweist intimste Kenntnis sowie ein geradezu literaturalchimistische Sich-In-Eins-Setzen des Uckermärkers mit den bedeutendsten deutschen Dichtern. Hierbei walten verborgene Bezüge noch stärker als die im Text an’s Licht gebrachten. Der Autor setzt beim Leser kommentarlos-elitär voraus, was er selbst im Laufe seines Schreiberlebens an komplex philologisch-geistesgeschichtlich-transdisziplinärem Wissen sich er-lesen wie er-schrieben hat. Denn was seine Figur Albrecht einbringt in den Diskurs, seiner jüngeren Schwester zu helfen in ihrem elektrisierend elektrischen Anziehungskampf inmitten ihrer ihren beiden Liebhaber, bezieht sich zwar auf den berühmten Mann von fünfzig Jahren, aber das eben wiederum begrenzt auf dessen Stellung in Goethes Gesamtproduktion, mithin „strukturell“. Es gilt schliesslich, die „geheimen Attraktoren“Footnote 24 kenntlich zu machen, jene elektromagnetisch-chemischen Gesetze, denen laut Strauβ die Gesamtproduktion des Klassikers gefolgt war. Im Gegensatz zur Bewusstseinsnovelle, die sich um die Mutterimago in der neuesten Netz-Welt dreht, ging es bei Goethe noch „handfester“ zu, drehte sich alles um die erotisch verführende Vaterimago und – tatsächlich um’s Gold. Hier war die Welt sozusagen noch be-greifbar, sagt uns Strauβ. Wenn sich im Rahmen der launischen Liebes-Chemie Hilaria und Flavio als die Protagonisten der Goethe’schen Novelle erst ver- und dann entflechten, ist ihre „electrische“ Gefühlsverstrickung stets zwischen Pol und Gegenpol im frequenzwechselndem Pendeln begriffen. In solchem Frequenzwechsel scheint der Autor Strauβ zuhause: „Dem Sohn des Geliebten gegenüber die Feinste, Nebelhafteste und Keuscheste, schient Hilaria doch immerhin bereit, sich dessen Vater hinter jeder Brunnenschale hinzugeben. Landsitze in dieser tiefen Winterruhe sind das geeignete Labor, um die feinsten Umschwünge des Herzens zu isolieren.“Footnote 25 Um den zitierten Tatbestand zu begreifen, muss der geneigte Leser wissen: Der Weimarer Meister hatte seinerzeit seine Erzählung zugleich für den Wilhelm Meister, aber gegensätzlich auch als Ablösung von den vorhergegangenen Wahlverwandtschaften geschrieben. Die Erzählung entstand zwar als Teil von Wilhelm Meisters Wanderjahren, – war aber auch als versöhnlicher, nun frei-heiterer Gegenentwurf zur Tragik der zuvor abgeschlossenen Wahlverwandtschaften in Angriff genommen worden. Dort, in den Wahlverwandtschaften, resultierte aus der zugrundeliegenden chemischen Unausweichlichkeit der tragische Schluss: Die Protagonistin entleibt sich, und das auch noch durch die Verweigerung aller Nahrungsaufnahme. Harscheres war im Kosmos des genialen Genussmenschen Goethe nicht denkbar. Im Mann von fünfzig Jahren das eudämonistische Gegenteil: Diese „endet nach dem gemeinsamen Besuch Flavios und des Majors bei der Abendgesellschaft der schönen Witwe (und dann in deren Bettstatt, ist zu vermuten, B. N.) … Dabei moralisiert die Geschichte nicht, sondern zeigt auf unterhaltsame Weise, dass auch die Jugend lernen muss, sich im Leben zurecht zu finden, auch im Älterwerden lauern noch Gefahren. Dass der Charme dieser Erzählung auch andere Künstler zu inspirieren vermochte, beweist nicht zuletzt die von Max Liebermann illustrierte Ausgabe von 1922.“Footnote 26

Entscheidend ist in unserem Zusammenhang die erzähltheoretische Strauβ’sche Analyse. Sie geht darauf, dass nicht nur in den Wahlverwandtschaften, sondern auch noch in den Wanderjahren die umfassende Lenkung des Geschehens durch einen allwissenden Erzähler ihre Entsprechung darin fand, dass die Naturwissenschaft in Form der Chemie alles festlegte. Das soll in der frei und „launisch“ angelegten Novelle ganz anders sein. Die Fatalität der chemisch-elektrischen Anziehungskraft wird ausgesetzt, sie darf nunmehr selbst „launisch“ werden.Footnote 27 Das wiederum liegt im Erzähltechnischen, und nicht im Thema Chemie per se begründet. Die Form dominiert den Inhalt, ganz so, wie von Theodor W. Adorno gefordert. In der Novelle herrscht nämlich nicht mehr der allwissende Autor des Bildungsromans. Sondern einer, der das „Beobachtungsfeld ständig verändert. Was der Erzähler bemerkt (zusammenfasst, begutachtet, einwinkt), verändert zugleich das gegenseitige Bemerken der Personen“. So entstehe modernes, variables Erzählen im Sinne der Bewusstseinsnovelle: Das wechselhafte Spiel eines variablen elektromagnetischen Feldes anstelle eines chemisch gedachten Fatums.Footnote 28 Das alles habe seinen „Ursprung“ (das Wort nach Walter Benjamin’scher Art verwendet) in der letzten Moderne, eben in Wien und dort um das Jahr 1900 herum, wo eine Revolution stattgefunden habe, die bis heute unerreicht und eben darum nicht wiederholbar sei, weil sie sich selbst als eine auch heute noch andauernde voraus genommen habe. Nicht einmal ein neues, originäres Krisenbewusstsein vermag daher in unseren Tagen noch zu entstehen, postuliert der Uckermärker. Die Sprache versagt wie zu Hofmannsthals Zeiten; nun aber tut dies auch noch der Blick: „Unser eigenes Lord Chandos-Dilemma beginnt nun damit, dass unsere Sprache so wenig wie unsere Augen das unermessbar Winzige und Theoretische dieser Wirklichkeit erfassen können.“Footnote 29 Unsichtbares, eben Elementarteilchenhaftes bestimme nunmehr die wesentliche Signatur unserer Gesellschaft. Was noch helfen kann, folgert Botho Strauβ, ist ein Erzählen im Geiste einer „Dritten Kultur“, die zur Aufgabe habe, das borniert Zweigeteilte der Snow’schen Welt zu überwinden, gestützt auf die Magie der Metapher. Das nicht mehr sinnlich Erfassbare der neuesten Wirklichkeit vermag immer noch durch das Sinnliche des Erzählens in die Erfahrung eingeholt zu werden, freilich relativiert in Richtung der spezifisch Adorno’schen Überzeugung, dass „eigentlich“ nicht mehr „erzählt werden könne“. Dass es dazu der „Metapher“ bedürfe, und was dieselbe als Erkenntnisgattung zu leisten vermag, hat der Erzähler Strauβ sehr wohl gesehen. Auf Blumenberg und seine Metaphorologie müsse noch ausführlicher einzugehen sein, erkennt er. Doch gerade an dieser Stelle, im Einklang mit seiner sozusagen pflichtgemässen Erwähnung der Bedenken Theodor W. Adornos, verfällt der so avancierte, selbständige, modernitätsbewusste und theoriebeschlagene Erzähler Strauβ einem womöglich unberechtigtem Skeptizismus. Er reagiert an dieser Stelle als einer, der Adorno’sche Gedankengänge sozusagen „zu wörtlich“ genommen haben könnte? „Keine Metapher lässt sich finden für eine solche messbare Gegebenheit. Ja, diese Wirklichkeit ist ein gegen unsere symbolische Sprache fest verschlossenes Reich der Daten: nämlich der Gegebenheiten. Nämlich der Informationen.“Footnote 30 Hierbei verrät der Begriff des Symbols, weshalb Strauβ an der Metapher verzweifelt: Nämlich an der bei ihm mangelnden Erkenntnis, dass, ganz gemäss Walter Benjamins und Theodor W. Adornos Gedankengängen, im modernen Erzählen das Symbolische notwendig ausfällt, – wo beide am Beispiel des Kafka’schen Erzählens entwickelt haben, dass hierin das Allegorisch-Zeichenhafte eines eben nicht mehr „organisch-metaphysischen“, sondern wissenschaftlich-experimentell erschlossenen Zusammenhangs aufscheine. Darauf wird zurückzukommen sein. Die „Antwort“ könnte tatsächlich in der Einbeziehung dessen liegen, was bei aller stupenden Belesenheit in Strauβ’ Diskurs tatsächlich noch zu fehlen scheint: Eben Hans Blumenbergs Konzeption der „absoluten“ Metapher.