Wie es ausschaut, herrscht derzeit auf dem Gebiet der Literaturwissenschaft, und noch entschiedener auf dem der Kafka-Deutung, so etwas wie die „Stunde zwischen Hund und Wolf“ (wie sie einst von Christa Wolf in ihrem Geteilten Himmel als weltanschaulicher Lackmustest geschildert worden ist; lang ist das her, der Autorin stand damals die Erkenntnis noch bevor, die ihr Gesinnungsgenosse Georg Lukács im Jahr 1956 bereits gemacht hatte: Dass Kafka doch tatsächlich ein Realist war) – und wie sie heute im neueren Novellenwerk des Botho Strauβ zu finden ist, seitdem der Mann im Jahr 2007 seine erste klassische, und, wie sich zeigen wird, ihrerseits Kleistisch-„electrische“ Novelle geschrieben hat. Der Autor hatte bereits zu Beginn dieses Jahrhunderts, mutwillig-mutig den ideologischen Bereich dessen verlassen, was er als den Dreikant-Raum der Merkel’schen Raute empfunden haben mochte, als den, wie er erfahren musste, scharf bewachten Bereich eines „gutmenschlich“ betreuten Denkens. Im Namen einer romantisch-nationalen Rückbesinnung hatte sich dies ereignet, als eine wahrhaft Unzeitgemässe Betrachtung, nicht so unähnlich denen des Hugo von Hofmannsthal in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg. Danach herrschte im Strauβ’schen Dichter-Haushalt in der Uckermark ein empfindlicher Mangel an jenen Preisen, mit denen man den Hausautor des Berliner Ensembles zuvor noch überhäuft hatte. Akademien, zuvor noch durch weit offene Pforten gekennzeichnet, schlossen sich plötzlich, alles wirkte wie koordiniert. Der eigene Verlag nahm Abstand; ein ideologischer cordon sanitaire wurde um den Abweichler herum errichtet, jede Ansteckung zu verhindern. Das alles war noch lang vor Corona-Zeiten. Doch der Paare, Passanten-Autor Strauβ hatte überraschenderweise eine Rückbesinnung auf die Wirklichkeit, so wie er sie nun sah, gefordert; als ein einsamer Sturmvogel, oder eben als übel krakelende Krähe, je nachdem. Inzwischen freilich sind vergleichbare Rufe nach „Wirklichkeit“ (übrigens nicht allein von Strauβ erhoben, sondern auch im Merkur vom Herbst 2005) bedeutsam angeschwollen. Sie sind womöglich dabei, einen neuen „Bocksgesang“ zu bilden, der aber dann „vernünftig“ insofern ausfiele, weil er ein Zurück zu den hergebrachten philologischen Tugenden fordert, durchaus im Rahmen einer neu zu etablierenden „Dritten Kultur“, die ihrerseits an der experimentellen Vernunft der „Sciences“ teilzuhaben wünscht. Solches gehört seitdem zu Strauβ’ frühromantischer Denkweise, und es prägt neben manchen Romanen insbesondere sein Novellenwerk. Bestimmte Forderungen sind dabei gar nicht so neu, sondern wurden bereits vor rund 130 Jahren von – Friedrich Nietzsche erhoben, überraschenderweise. Wer Strauβ als Parteigänger dieses Philosophen (und Lyrikers!) bezeichnete, würde kaum auf den Widerspruch des vormaligen Theaterdichters stossen. Der Philosoph Friedrich Nietzsche wiederum schrieb in einer historischen Situation, in der es zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte möglich geworden war, die grossen Seuchen zu bekämpfen; also jene biblischen Menschheitsgeisseln unter Kontrolle zu bringen, die von alters her pandemische Verheerungen anzurichten pflegten. Das (geradezu beklemmend aktuelle) Thema hatte seine Auswirkungen auch auf diese zeitkritischen Kopf gezeitigt. In der Mitte der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und in Deutschland geschah dies, in einer Phase des Deutschen Kaiserreichs, von der man ja nun wirklich nicht behaupten kann, der Philosoph hätte sie bewundert. Es gibt zugegebener Massen nicht den Nietzsche; das Besondere an dem Denker aus Sachsen war gerade seine Vielschichtigkeit. Auch gilt der Mann vor allem als Kritiker des Positivismus in jener naturwissenschaftlich so enorm erfolgreichen zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als Virologen wie Koch und Virchow ihre weltweit bedeutsamen Erfolge erzielten.

Der entlaufene Pietist Nietzsche konnte aber noch ganz anders. Es zeigt sich nämlich, dass der angeblich einseitige Positivismus-Kritiker Nietzsche tatsächlich auch einer zu sein vermochte, der auf seinem ureigensten Gebiet der „ersten Kultur“ scharfe und provozierende Urteile im Namen einer „zweiten“ aussprach. Gegenüber den naturwissenschaftlichen Disziplinen Chemie und Physik, damals in epochaler Blüte begriffen, verhielt Nietzsche sich unerwartbar anders als die meisten seiner Zeitgenossen, umso erstaunlicher angesichts der Tatsache, dass etwa Wilhelm Dilthey, der ja seinerseits ebenfalls die Philologie mit den neuen „harten“ Wissenschaften zu versöhnen hoffte, dennoch die neue, avancierte, sich gerade erst in Ansätzen markierende (Atom)physik mit Schaudern wahrnahm, wie gezeigt. Nietzsche seinerseits dachte und schrieb damals entschieden undogmatischer; war unerschrockener, progressiver und insgesamt unvergleichlich kühner in seiner Diagnose als sein jüngerer Zeitgenosse, der wilhelminisch geprägte und staatstragende Philologe Dilthey. In Menschliches, allzu Menschliches, niedergeschrieben in Nizza im Frühjahr 1886, unternahm es der Philosoph, über die „ersten und letzten Dinge“ im Ersten Hauptstück nachzudenken. Er suchte, so die Vorrede, etwas „Drittes.“Footnote 1 Und dieses „Dritte“ wollte der Sachse, wie er ausdrücklich schrieb, als „freier Geist – dies kühle Wort tut in jedem Zustande gut, es wärmt beinahe,“Footnote 2 erringen. Einverstanden. Zumal das gesuchte Dritte entspringen sollte aus der Einbeziehung von – moderner Chemie und Physik, welche letztere Dilthey und anderen wilhelminischen Geistern damals noch metaphysische Eises-Schauer über den Rücken jagte. Gleich der erste Eintrag Nietzsches bemühte sich um eine „Chemie der Begriffe und Empfindungen“, sei diese doch unentbehrlich für die „historische Philosophie …, welche gar nicht mehr getrennt von der Naturwissenschaft zu denken ist, die allerjüngste aller philosophischen Methoden…“Footnote 3 Solche Sätze hätte, wie zu zeigen sein wird, auch Botho Strauβ schreiben können. Denn jede transdisziplinäre Denkbewegung beruht auf ähnlichen Begründungen, wie sie der Denker aus Sachsen bereits vor rund 150 Jahren hat geben können: „Die ganze Teleologie ist darauf gebaut, dass man vom Menschen der letzten vier Jahrtausende als von einem ewigen redet, zu welchem hin alle Dinge in der Welt von ihrem Anbeginne eine natürliche Richtung habe. Aber alles ist geworden; es gibt keine ewigen Tatsachen: so wie es keine absoluten Wahrheiten gibt. – Demnach ist das historische Philosophieren von jetzt ab nötig und mit ihm die Tugend der Bescheidung.“Footnote 4 So wollen auch wir es halten; und das nicht nur im Anstreben der „Dritten Sache“, sondern auch darin, dass unsere Methode sich einem „Neuen Historismus“ verpflichtet sieht, wie dargelegt. Zumal Friedrich Nietzsche etwas weiss, was später auch Hans Blumenberg realisieren wird: „Ehemals war der Geist nicht durch strenges Denken in Anspruch genommen, da lag sein Ernst im Ausspinnen von Symbolen und Formen. Das hat sich verändert; … Wie unsere Künste selber immer intellektualer, unsere Sinne geistiger werden, und wie man zum Beispiel jetzt ganz anders darüber urteilt, was sinnlich wohltönend ist, als vor 100 Jahren: so werden auch die Formen unseres Lebens immer geistiger, für das Auge älterer Zeiten vielleicht hässlicher, aber nur weil es nicht zu sehen vermag, wie das Reich der inneren, geistigen Schönheit sich fortwährend vertieft und erweitert …“Footnote 5 Man muss lediglich fortfahren, den Nietzsche des Menschlich, allzu Menschlichen zu zitieren, und spinnt dabei unvermutet, unverhofft den eigenen theoretische Diskurs fort: „Deshalb gibt es in allen Philosophien so viel hochfliegende Metaphysik und eine solche Scheu vor den unbedeutend erscheinenden Lösungen der Physik…“Footnote 6 Es ist, als ob man Musil läse und als ob der Philosoph Nietzsche vorausahnte, was noch alles an Denkveränderungen durch die Einstein’sche Theorie, die ja damals sozusagen schon vor der Türe stand, bewirkt werden würde. „Auch die Logik beruht auf Voraussetzungen, denen nichts in der wirklichen Welt (der neuen Naturwissenschaften, B. N.) entspricht, zum Beispiel auf der Voraussetzung der Gleichheit von Dingen, der Identität desselben Dings in verschiedenen Punkten der Zeit …“Footnote 7 Deshalb ist bereits bei Nietzsche, und nicht erst bei Einstein, und in beiden Fällen unter Rückbezug auf den griechischen Ursprung des „Atom“-Begriffs, folgendes zu lesen: „Kein Innen und Aussen in der Welt. Wie Demokrit die Begriffe Oben und Unten auf den unendlichen Raum übertrug, wo sie keinen Sinn haben, so die Philosophen überhaupt den Begriff ‚Innen und Aussen‘ auf Wesen und Erscheinung der Welt.“Footnote 8 Von hier ist der Weg zur Kritik am „Alleszermalmer“ Kant nicht mehr weit: „Vielleicht erkennen wir dann, dass das Ding an sich eines homerischen Gelächters wert ist: dass es so viel, ja alles schien und eigentlich leer, nämlich bedeutungslos ist.“ Vielleicht; jedenfalls reitet der schnauzbärtige Friedrich Nietzsche noch vor Einstein und Heisenberg, und ohne jede mathematische Beweisführung, dennoch wohl nicht zufällig im Kapitel Die Zahl, seine schonungslose Abschlussattacke: „Unsere Empfindungen von Raum und Zeit sind falsch, denn sie führen, konsequent geprüft, auf logische Widersprüche … bis an jenes letzte Ende, wo die irrtümliche Grundannahme, jene konstanten Fehler, in Widerspruch mit den Resultaten treten, zum Beispiel in der Atomlehre.“ Man sollte es nicht glauben; und doch wurden diese Überlegungen vor rund anderthalb Jahrhunderten niedergeschrieben. Und dann gelangt der Philosoph auch noch zur Feststellung, dass Masse und Energie ineinander übergehen können, „alles Dingartigen (Stoffliche) in Bewegung aufzulösen“ möglich erscheint.Footnote 9 Derart vermag Friedrich Nietzsches Menschliches, allzu Menschliches als ein Wegbereiter der hier angestrebten „Dritten Kultur“ in Anspruch genommen zu werden; „dürfen wir die Fahne der Aufklärung – die Fahne mit den drei Namen: Petrarca, Erasmus, Voltaire – von neuem weiter tragen. Wir haben aus der Reaktion einen Fortschritt gemacht.“Footnote 10 Das trifft es. In solchen Sätzen würden sich nicht nur Musil und, eingeschränkter, Hofmannsthal und wohl auch Hermann Broch wiedererkennen, sondern als „Freigeist“ gilt der letztzitierte Satz insbesondere für jenen Schriftsteller, der uns im nächsten Absatz beschäftigen wird: Eben für Botho Strauβ.

Von Nietzsche zu Botho Strauβ ist es folglich kein allzu grosser Schritt. Der Essayist und Dramatiker ist selbst weniger ein „entlaufener“ à la Heine, als ein „zugelaufener“ Romantiker, und leider einer, dem im gegenwärtig offiziellen Kultur-Deutschland alles Wohlwollen entzogen scheint. Der Mann hat inzwischen auch seine Erwartungen an das präzisiert, was sich nach der, von ihm bereits im Jahre 2006 beschworenen, nun womöglich näher gerückten „Stunde zwischen Hund und Wolf“ ereignen müsste. “In dieser Konkurrenz gilt es, unser eigenes Bestes aufzubieten, es neu zu bestimmen oder wiederzubeleben: das Differenzierungsvermögen an oberster Stelle, das Schönheitsverlangen, geprägt von grosser europäischer Kunst, Reflexion und Sensibilität – lauter Sinnes- und Geistesgaben, die in den westlichen Gesellschaften der Gegenwart von geringer Bedeutung, geringem Ansehen sind.“Footnote 11 Oder, wenn man das eher möchte, mit Friedrich Nietzsche gesprochen (den ja der junge Kafka ebenso intensiv, wie dann auch Botho Strauβ gelesen haben): Die „Dietriche“ sollten endlich wieder den „Schlüsseln“ ihren angestammten Platz einräumen. Die postmodernen „Dietriche“ haben schliesslich alles, ohne auf die jeweils individuelle Codierung des Schlosses zu achten (insofern gilt diese Formulierung auch und gerade für Kafkas Roman Das Schloss!), „dekonstruktiv“ geöffnet und zu einer Art deuterischem Ausverkauf auf den Markt geworfen. Im Bild zu bleiben: Die Dietriche haben sogar danach getrachtet, die Schlösser ganz generell abzuschaffen; vor allem im „Kasperletheater der Dekonstruktion“, wie Hans Magnus Enzensberger den Vorgang zu klassifizieren vermochte. Dazu später noch mehr. Wie bekannt, wollte die Postmoderne ihre Interpreten an jene Stelle setzen, die legitimerweise allein dem Autor zukommt – jenem Autor, den Roland Barthes bereits im Jahr 1968 für „tot“ erklärt hatte, so wie vor ihm Nietzsche Gott. Bereits vor mehr als zehn Jahren hat man deshalb resümieren können:,,Die unzähligen, ja unzählbaren Deutungen, Interpretationen, Analysen, die in den letzten fünfzig Jahren Kafka gewidmet worden sind, haben unsere Kenntnis über diesen Autor und sein Oeuvre unendlich vermehrt; und doch ist es so, als ob die Werke daraus gleichsam unberührt hervorgegangen wären, als ob wir dem Kern ihres Wesens nicht näher gekommen wären.“Footnote 12 Auch im Jahr 2020, und nachdem sich die „Postmoderne“, die wie eine Sturmflut über das Fach gekommen war, in vereinzelte, kaum noch salzhaltige Brackwassertümpel verlaufen hat, ist dem zitierten Befund nichts Wesentliches hinzuzufügen. Ausser eben die neue Novellistik des Botho Strauβ, weil diese anschliesst an das zentrale Exemplum des elektromagnetischen Feldes in der Maxwell/Einstein’schen Nachfolge. Strauβ, der zuvor modisch-erlesene Beziehungsstücke mit grossem Erfolg auf die Bühne gebracht hatte, auf mainstreambewusste „Paare und Passanten“ seinen immer schon scharf-chicen Blick werfend, begann also im Jahr 2007 damit, „elektrische“ Novellen zu schreiben. Dies geschah, nachdem der Mann aus dem gutmenschlichen Verbund wohlmeinender Theaterschaffender und Flüchtlingsmentoren kritisch fragend ausgebrochen war. Doch nicht um diesen politischen Aspekt soll es uns hier gehen, er wird nur beiläufig erwähnt. Sondern, wie bereits gesagt, um die neuere Novellenproduktion dieses Uckermärkers, zumal diese Titel trägt wie: „Bewusstseinsnovelle“, – wobei dieses „Bewusstsein“ in durchgehender, durchgehaltener Analogie zum elektromagnetischen Paradigma der modernen Physik sich erzählerisch-ästhetisch realisiert. Womöglich ein verblüffender Parallelfall zu Franz Kafka?