Alle Forschung zum elektromagnetischen Feld, wie sie bei Maxwell vorliegt und sich dann beim frühen Einstein fortsetzte, begann eigentlich mit dem Mesmerismus. Dass sein „Blutsbruder“ diesem gehuldigt und ihn gar zum elektrischen Prinzip der Generierung von Tragik gemacht hatte, musste den Autor des Verschollenen allerdings beeindrucken. Zumal vor und neben ihm bereits Sigmund Freud (in seinen anfänglichen Therapie-Hoffnungen in Richtung der Hypnose), und in unseren Tagen dann wieder Peter Sloterdijk (Der Wunderbaum) einer vergleichbaren Faszination erlegen waren. Sie alle standen im Bann von Phänomenen, die dann auch aktuell in der „New Age“-Bewegung im letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ihren Ausdruck besessen hatten – wie immer oft auf einem level, der sich heute in der, von Hotels für Touristen vorzüglich im Mittelmeerbereich angebotenen, kollektiven Gymnastik und den damit verbundenen Meditationskursen in verblüffender Massenattraktivität wiederfindet. Franz Kafka selbst hatte bei seinen zahlreichen Kuraufenthalten gelegentlich elektrische Behandlung gegen seine Nervositäten erhalten, eher harmlose und wenig wirksame, wie sein Reisetagebuch berichtet. Der Mesmerismus, oft auch „tierischer Magnetismus“, „animal magnetism“, „magnétisme animal“ geheissen, also in Begriffe gefasst, die sich vom lateinischen „animus“, mithin „Atem“ oder „Geist“ herschreiben, besass seine grösste Konjunktur im 18. Jahrhundert. Doch er wirkte auch nach seiner „Entzauberung“ im Jahr 1784 durch die kritisch-negativ endenden Untersuchungen der Académie Fran͟çaise noch ungebrochen weiter, und dann einflussreich in die frühe Romantik hinein. Im Jahr 1800 feierte Johann Wilhelm Ritter in Wien die Physik als Kunst; verherrlichte darin eine physikalisch noch ganz unbegriffene Elektrizität in deren Nähe zur Poesie als den neu entdeckten Grundstoff des Lebens. Die Poetisierung der Elektrizität war überhaupt eine zentrale Angelegenheit der frühen Romantik, an der Kleist auf seine Art und Weise teilhatte. Er „glaubte“ wohl an Ritters Thesen, und war doch im Befreiungskrieg gegen Napoleon einer, der den avancierten Gebrauch der Elektrizität (in der überlegenen Signaltechnik der Französischen Armee) seinen preussischen Landsleuten realistisch warnend vor Augen führte. In Berliner Zeitungen und folglich mit erheblichem impact geschah dies. Kleist Interesse auch an der naturwissenschaftlichen Seite der Elektrizität schied den Dramatiker ein Stück weit von anderen Frühromantikern wie etwa Achim von Arnim, dessen hymnische Einschätzung der Elektrizität hier dennoch zitiert werden soll, traf sie doch voll ins Zentrum dessen, was auch der Namensgeber Mesmer, im Folgenden vorgestellt, sich einst von diesem neu entdeckten Naturphänomen erhofft hatte. In Arnims (zu Lebzeiten unveröffentlichten) Notizen heisst es: Der Elektrizität „ist nichts verschlossen, und sie ist das Einzige dem nichts verschlossen, sie ist die wahrhaft aufgemachte Thür, die ganze Natur liegt in ihren Armen wie das Kind im Arme der Mutter, sie ist das Einzige was von keinem Wesen gebunden in allen Wesen sich und alle Wesen mit sich emporhebt, keines nimmt sie selbst wahr sondern nur ihre Veränderung denn alles nehmen wir nur in ihr wahr sie ist für diese Materie was Malebranche für die Gedanken als Gott erkannte, worin alle denken, so leben wir in ihr.“Footnote 1 Diese ebenso beistrichlosen wie beispiellosen Passagen in ihrer auch für die damalige Grammatik überraschenden und impulsiven, eben hymnischen gehaltenen Schilderung des neuen Gottes „Electrizität“ eignen sich hervorragend, die Hoffnungen und Verstiegenheiten des „mesmeristischen Zeitalter“ abzubilden. In diesem lebte noch der Dramatiker Heinrich von Kleist, was ihn seinerseits zu einem Blutsverwandten des späteren Franz Kafka machte, zwei mesmeristisch Interessierte unter sich, wenn auch bereits anderen Jahrhunderten angehörig.

1 Franz Anton Mesmer

Der am Bodensee geborene deutsche Arzt und Naturforscher Franz Anton Mesmer, er lebte von 1734 bis 1815, wirkte vor allem in Wien (1768–1778) und Paris (1778–1784). Der Mann hatte die Theorie des „tierischen Magnetismus“ und daneben die Behandlungsform eben des „Mesmerismus“ entwickelt, letzteres eine Vorform der Hypnose, die ihrerseits nach 1840 entdeckt wurde (und am Anfang selbst für Sigmund Freud anziehend war). Mesmer genoss grosse Prominenz, vor allem in der Damenwelt; hatte enormen Zuspruch von Heilungssuchenden und stand auch der literarischen Szenerie der Frühromantik als selbst ein Teil derselben nahe, als poetisch Produzierender im Grenzbereich zwischen Wissenschaft und Kunst. Seine Lehre vom „Animalischen Magnetismus“, auch „Mesmerismus“ genannt, zielte auf eine dem Elektromagnetismus analoge Kraft im Menschen, die es mittels der Hypnose zu aktivieren gelte. Der Mann setzte darauf, die Medizin seiner Zeit zu revolutionieren. Dabei legte er eine quasireligiöse Überzeugtheit an den Tag, die es seinen Gegnern leicht machte, Mesmers angebliche Entdeckung eines zentralen agens im menschlichen Organismus, das der Steuerung von Nerven, Muskeln und Körpersäften gleichermassen dienen sollte, zu kritisieren – und am Ende zu widerlegen. Mesmer griff populäre wissenschaftliche Themen seiner Zeit auf, eben Elektrizität, Gravitation und Magnetismus, und bezog sich in seiner Annahme des Äthers ausdrücklich auch auf Newton als den Entdecker der Gravitation und als Bürgen für die eigene Wissenschaftlichkeit. Der Süddeutsche meinte nämlich, eine universale Grundkraft gefunden zu haben, eben den „tierischen Magnetismus“ als eine Energieform, die dem Wohlbefinden der Menschen als – unsichtbarer, aber alles durchdringender – „Lebensstoff“ heilsam sein sollte. „Eine Art Ebbe und Fluth, welcher der thierische Magnetismus im Körper verursachet“, meinte er entdeckt zu haben.Footnote 2 Es ging ihm mithin um eine dem Elektromagnetismus analoge, aber streng physikalisch damals noch nicht begriffene Kraft, die er im Organismus von Tieren und Menschen vermutete, und die er, wie bereits ausgeführt, „tierischen Magnetismus“ nannte. (Auch diese Methode hat man übrigens später, in Zeiten des „New Age“, als von altindischer oder auch altchinesischer Weisheit zeugend verstehen wollen; von „Prana“ oder „Chi“ ging dann die Rede). Diese versöhnlich-beruhigende Wirkung des Mesmerismus ist auch zu verstehen als Gegenreaktion zu den agitatorischen Erfahrungen der Französischen Revolution; sie besass ihre gesellschaftsutopischen Potentiale im gemeinschaftlichen Erleben eines angenommenen Fluidums, das zu friedlichem gemeinsamen Handeln befähigen sollte. Mesmer selbst befürwortete ausdrücklich die Anwendung seiner Lehre auf gesellschaftliche Verhältnisse. Veröffentlichte im Jahr 1814 sogar einen Verfassungsentwurf für die Schweiz. Zu seiner Zeit begann der Einsatz von Magneten in der Heilkunde üblich zu werden; dieser hatte im gewissen Sinn die zentrale Stellung des Aderlassens übernommen, mithin sozusagen ein Elektromagnetismus der Nerven der anstelle der Hydraulik der Körpersäfte.Footnote 3 Dabei hatte sich Mesmers Dissertation De planetarum influxu von 1764 noch vermuteten kosmischen Einflüssen gewidmet. Danach behandelte der Promovierte (am 28. Juli 1774) die „29-jährige Jungfer Oesterlin“ mithilfe des Magnetismus, ein folgenreiches Debut. Denn ein ganzes Syndrom: Wahnwitz, Wut, Erbrechen und Ohnmachten meinte er an ihr kuriert zu haben, die hysterischen Erscheinungen waren nämlich unter der Kur verschwunden. Mesmer war freilich der vorhergegangenen Periode der Körperströme immer noch insoweit verpflichtet, als er ein allgemeines Lebens-Fluidum, auch „All-Flut“ genannt, unterstellte. Störungen sollten durch das Stocken dieses „Allgemein-Flüssigen“ eben durch den Einsatz von Magneten beseitigt werde. Eben das war neu und brachte ihm Zulauf. Der Mann bezog sich dabei auch auf Isaac Newton, auf dessen Gravitationslehre und auf die Annahme eines allumfassenden Mediums „Äther“, wie ausgeführt ein Versuch, wissenschaftliche Anerkennung zu finden. Das alles ist als Übergang von der Körperhydraulik zum bereits wesentlich sublimeren Prinzip des Elektromagnetismus als einer alles begründenden Matrix anzusehen; bildete freilich nur der Anfang von Mesmers noch folgender, steiler Karriere über viele Jahrzehnte hinweg in den führenden europäischen Kapitalen. Zusammenfassend wurden Theorie und Praxis dieses „Mesmerismus“ zuerst dargelegt bei Karl Christian Wolfart unter eben dem Titel Mesmerismus, im Jahr 1815 in Berlin erschienen. Die Theorie wie Praxis des tierischen Magnetismus zeitigte allerdings eine enorme geistesgeschichtliche Auswirkung. Sie beeinflusste Schellings Naturphilosophie und bewirkte sogar die Errichtung von eigenen Lehrstühlen in Berlin und Bonn im Jahr 1816. Autoren wie Edgar Allen Poe (Die Tatsachen im Fall Waldemar; Mesmerisque Revelations), E. T. A. Hoffmann (Der Magnetiseur) und eben Novalis, Achim von Arnim und der genannte Heinrich von Kleist mit seinen Konter-Dramen Käthchen und Penthesilea sind hier zu nennen,Footnote 4 nicht zu vergessen die gewitzte Despina in Mozarts Cosi fán tutte als ein quirlig-moderner und trollartig bereits mit Magneten kurierender Doktor. Noch Peter Sloterdijks Der Zauberbaum und seine Sphären (1998) gehören in diese Aufzählung hinein.

Der derart umfänglich einflussreiche Meister vom Bodensee, Mesmer also, praktizierte in den Folgejahren eine Scharlatanerie europaweiten Ausmasses; seine Prominenz überstand die französischen Akademieuntersuchungen und deren scharfes Verdikt spielend. Erst Maxwell vermochte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts den Elektromagnetismus wissenschaftlich zu erklären, und damit auch in der Medizin Mesmer endgültig ausser Kurs zu setzen, der dennoch zäh weiterlebte in der Hypnose und in allen ihr verwandten Praktiken, anwesend schliesslich noch in der Modeerscheinungen des „New Age“ als einer „fernöstlichen“ Methode. Teile der Mesmer’schen Theorien wurden abgedruckt in Publikationen zum „New Age“ noch im Jahr 2007.Footnote 5 Darin findet sich ferner der Verweis auf die traditionelle chinesische Medizin und deren Gebrauch des „chi“ samt sogenannter „qigong“-Übungen. Mesmer selbst jedenfalls glaubte, dass nahezu alles Unwohlbefinden auf eine gestörte Balance des Magnetismus im Leib des Menschen zurückgehe. Das hatte er 1779 in seiner Schrift „Mémoire sur la Découverte du magnétisme animal“ auf 88 Seiten und in 27 verschiedenen Thesen niedergelegt. Doch war seine betont mystische und ritualschwangere Behandlungsform von Anfang an umstritten gewesen. Mesmer freilich kurierte ungerührt weiter mithilfe seiner Magneten. Erfreute sich regen Zuspruchs vor allem von Frauen aus den höheren Ständen, behandelte sie eifrig mit Hilfe von künstlichem Somnambulismus und hypnotisch erzeugter Schlafwandlerei. Ferner verwendete der Mann magnetisiertes Wasser; brachte Eisenstangen in Berührung mit diesem Wasser, die dann ihrerseits in Kontakt gebracht wurden mit den kranken Körperteilen des Patienten. Aber auch die blosse Berührung des magnetisierten Eisens durch die Hände der Leidenden sollte Heilung bringen. Während seiner Heilungszeremonie trug der Magnetiseur anspruchsvolle und symbolträchtige seidenschwere Kostüme, verwendete beruhigende, suggestive Musik. All dies fand in den romantisch geprägten Gesellschaftskreisen Österreichs, Deutschlands und Frankreichs grossen Zuspruch. Kleist, wiewohl auf seine Art bereits ein „entlaufener“ Romantiker wie nach ihm dann Heinrich Heine, war mit diesen Phänomenen habituell vertraut. Seine Dramen, wie etwa das Käthchen von Heilbronn als ein Gegenstück zur Penthesilea, wie auch diese selbst sind ohne die Theorien vom „tierischen Magnetismus“ nicht voll zu verstehen. Als solche müssen sie Kafkas Interesse gefunden haben, was sich dann bei diesem in intertextueller Produktivität niederschlug, wie dargestellt.

Hinzu kam das generelle Umfeld. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden die Naturwissenschaften besonders durch Philosophen wie Kant und Schelling beeinflusst. Das galt nicht nur für Deutschland und die deutsche Romantik, sondern europaweit. Dabei erscheint wichtig: Die heutige Trennung in „Zwei Kulturen“ bestand so noch nicht. Vielmehr besassen die Naturforscher fundierte philosophische Kenntnisse, und umgekehrt die Philosophen waren mit dem aktuellen Stand der Naturwissenschaften und der Medizin habituell vertraut. Daher versuchte man auch, Schellings Naturphilosophie gibt ein Beispiel ab, die Identität von Natur und Geist, die Vereinbarkeit von Physik, Metaphysik und Poesie nachzuweisen. Der bereits erwähnte Johann Wilhelm Ritter stand dafür ein, hielt seinen einflussreichsten Vortrag im Jahr 1800 vor der Wiener Akademie der Wissenschaften (wenn man so will, nahezu exakt im Jahr der Geburt der Frühromantik, damit einer ihrer Geburtshelfer). In der Kaiserin Maria Theresia (sie ist in Kafkas Erstling als die gute altösterreichische Köchin und Beschützerin Karls im Hotel „Occidental“ anwesend) genoss diese Denkrichtung allerhöchste Unterstützung. Man versuchte die Kräfte der Natur auf (gern diametral widerstreitende) Prinzipien wie Einheit und Polarität, Analogie und Unterschied, Potenz und Metamorphose, Feuer und Wasser zurückzuführen. Die romantische Naturforschung, wie auch die Literatur schreibenden Romantiker, suchten beide die als ursprünglich angenommene Einheit von Schreiben, Leben und Natur zeitgenössisch erneut zu verwirklichen. Der so überaus sanfte, hoch begabte, dann auch noch früh verstorbene Novalis sah den Dichter dazu berufen, die verloren gegangene Einheit des Menschen mit der Natur wiederherzustellen. In Die Lehrlinge von Sais trifft der, der die göttliche, noch aus ägyptischen Zeiten herstammende Statue enthüllt – auf sich selbst. Dabei verhielt es sich allerdings so, dass vor allem Entdeckungen auf dem Gebiet der Elektrizität Ende des 18. Jahrhunderts neue, grundsätzliche Fragen nach einer Kraft auslösten, die Fernwirkung erzielen und zugleich allen Dingen und Lebewesen innewohnen sollte. Hier besass, es wurde bereits erwähnt, Galvanis Frosch-Experiment seine nicht zu überschätzende Bedeutung. Es ging darum, den bereits toten Froschschenkel wieder ins Zucken zu versetzen, und das durch eine blosse Berührung mit zwei unterschiedlichen Metallen. Der Italiener Luigi Galvani entwickelte an der Universität Bologna daraus die These von einer allen Lebewesen innewohnenden, darum „tierischen“ Elektrizität. Ritter schloss sich ihm damals ausdrücklich an. Der Physiker muss seinerseits als prominentes Bindeglied zur entstehenden Romantischen Schule gelten, war er doch freundschaftlich verbunden mit Novalis, auch mit Friedrich Schlegel und dessen Bruder, stand im vertrauten Verkehr sogar mit Goethe. In seiner Encyklopaedie meinte damals Novalis, entweder sei alles Galvanismus, oder nichts sei Galvanismus. Das meinte auch Kleist, und selbst Goethe stand ja der Romantik und darin Ritter nicht wirklich fern. Allerdings verfolgte der Olympier eine sehr andere Arbeitsweise, weil er immer den experimentellen Befund an den Anfang stellte, egal, ob er mit Licht, Wärme, Gesteinsschichten oder eben mit elektrischen Phänomenen es zu tun hatte. Von der grundlegenden Polarität auch in den Naturwissenschaften Chemie und Physik überzeugt, hatte er die Wahlverwandtschaften geschrieben, und sah sich durch die damals erfolgte Entdeckung der Wärmestrahlen dann auch im nicht sichtbaren Bereich des Farbenspektrums in seinen Polaritäts-Thesen bestätigt. Mithin sind romantische Naturforschung und Naturphilosophie nicht voneinander zu trennen. Ergebnisse aus Experimenten werden zu weltanschaulichen Betrachtungen erweitert, und philosophische Annahmen sollen natürliche Erscheinungen erklären. Darauf beruhen dann auch die Stücke Kleists, nur eben tragisch zugespitzt, weil ihr Autor seit der sog. „Kant-Krise“ sich der Zuversicht beraubt sah, die Harmonie der Welt könnte göttlich garantiert sein. Das eben machte ihn zum „Verwandten“ für einen angehenden Dichter aus Prag, der das Licht in Amerika entdecken wollte. Und der sich dann vor dessen schrittweise erfolgenden, zudem unausweichlichen Verdunkelung nur noch in die Utopie der grossen, weil allvereinigenden, lichtbringenden Mobilmachung zum „Great War“ zu retten vermochte.Footnote 6

2 Maxwells Entdeckungen in seiner Vorläuferschaft zu Einstein

Kafkas Hingezogensein zu Kleist mochte darauf beruht haben, dass auch letzterer mesmeristische Interessen pflegte. An Kafka selbst gelangte das „elektrische Interesse“ dann jedoch entscheidend erst durch die Vermittlung der Einstein’schen Relativitätstheorie – freilich auch, und letzlich ebenfalls bestimmend, durch physikalische Experimente, die sowohl Wirklichkeit wie Wirksamkeit von elektromagnetischen Feldern ad oculos demonstrierten. In Kafkas Prager Gymnasium war dies geschehen, und später dann noch einmal auf seiner (gemeinsam mit Brod unternommenen) Paris-Reise im Jahr 1911. Daraus erst entstanden, wie zu zeigen sein wird, des Junggesellen Blumfelds „kafkaeske“ Bälle: Durch Elektromagnetismus bewegte Objekte in einem elektromagnetischen Feldversuch. Der wiederum war, gerade auch als Jahrmarkt-Spektakel, erheblich älter als Maxwell. Doch erst des Schotten wissenschaftliche Experimente und Abhandlungen machten das elektromagnetische Feld zu einem zentralen Gegenstand der neueren Physik. Das wiederum geschah zu Zeiten, als man dank der Siemens’sche Erfindung des Dynamos in der Lage war, beliebig Licht zu produzieren, was die Sensation auf der Weltausstellung in Paris im Jahr 1900 abgegeben hatte. Die Verbindung zwischen Maxwell und Einstein wiederum lag in ihrem gemeinsamen Interesse an der Beschaffenheit des Lichts. Nicht zufällig schätzte der Berner den Edinburgher als direkten Vorgänger ein. Albert Einstein korrigierte einmal im Gespräch die Unterstellung, dass er auf den Schultern Newtons stünde, dahin gehend. Es sei, wenn überhaupt, James Clark Maxwell, auf dessen Schultern seine Füsse ruhten! In seinem Arbeitszimmer besass der Physiker das Portrait von Maxwell (neben denen von Faraday und Newton, letztere hingen dort gleichberechtigt). Alles Gründe, auf die Bedeutung von James Clerk Maxwell näher einzugehen. Der Schotte lebte von 1831 bis 1879 und wurde weltberühmt durch seine Berechnung der Geschwindigkeit elektromagnetischer Wellen, die er als identisch mit der des Lichtes erkannte. 1865 veröffentlichte er A Dynamic Theory oft the Elektro-Magnetic Field, nachdem er experimentell bewiesen hatte, dass Partikel mit elektrischer Ladung, wenn sie ihre Geschwindigkeit verändern, etwa Elektronen, die abgebremst werden, elektromagnetische Wellen aussenden, die sich dann ihrerseits mit Lichtgeschwindigkeit fortbewegen. So bewies er, dass (nicht nur das sichtbare) Licht in der physikalischen Realität aus elektromagnetischen Wellen bestand. Nachdem Maxwell seine Ideen in mathematische Form gebracht hatte, vermochte er überzeugend zu behaupten, dass elektrische Felder nur zusammen mit entsprechenden magnetischen Feldern zu existieren vermochten. Seine Experimente, vor allem im englischen Cambridge unternommen, demonstrierten, dass elektrische und magnetische Zonen sich als Wellen durch die Luft fortpflanzten. In vier Differenzialgleichungen veröffentlichte der Schotte dann im Philosophical Magazine die These, dass Licht die gleiche Wellenbewegung besässe, wie die elektrischen und magnetischen Phänomene. Titel des Artikels: In Physical Lines of Force. Seine grundlegenden Entdeckungen führten später dazu, dass beispielsweise Hertz seinerseits die Radiowellen entdecken konnte. Maxwells Theorien über die elektromagnetischen Wellen trugen dann auch wesentlich zur Grundlegung der späteren Einstein’schen Relativitätstheorie bei. Darüber hinaus machte der geniale Schotte noch weitere Entdeckungen, die für die spätere Quantentheorie von Niels Bohr und Werner Heisenberg wichtig wurden.

Das alles machte den Edinburgher zu einer der überhaupt wichtigsten Figuren innerhalb der Physik des 19. Jahrhunderts. Seine Arbeiten wurden dann ihrerseits zur Grundlage für Grundlegendes in der allermodernsten Physik. Der Mann führte daneben bestimmte statistische Methoden in die Thermodynamik ein; er legte die Grundlage für die kinetische Gastheorie, das sogenannte Maxwell-Bolzmannsche Verteilungsgesetz. Insgesamt lässt sich festschreiben, dass manche bedeutenden Köpfe in der modernen Physik Maxwells Arbeiten für vergleichbar wichtig wie die von Isaac Newton und Albert Einstein halten. Dass er ein ausserordentlich bedeutender Physiker des 19. Jahrhunderts gewesen ist, steht ausser jeder Frage. Ebenso, dass Einstein Maxwells Bedeutung für die eigene umstürzende Relativitätstheorie uneingeschränkt voll und neidlos-gerecht gewürdigt hat (was dann so umfassend für die Quantentheorie nicht gesagt werden kann).Footnote 7 Soweit eine Würdigung James Clerk Maxwells, dessen Arbeiten zum Phänomen des elektromagnetischen Feldes den Autor Franz Kafka bereits im Physik-Unterricht in seinem Gymnasium, und später dann, als eher ein Unterhaltungsbeitrag, im Pariser Bois de Boulogne erreichten. Hier fand sie statt, die Konstituierung einer „Dritten Kultur“. Wurde das „Kafkaeske“ aus einer frühen Begegnung der beiden Flügel von Snows „Zwei Kulturen“ geboren; erhielt Kafka seine Beschlagenheit in Sachen elektrophysikalischer Erscheinungen gerade auch dort vermittelt, wo sie sich zu leichtfüssig-espritgerechter, „französischer“ Unterhaltung benutzen liess, in Demonstrationen, die ihrerseits eine mindestens hundertjährige Tradition besassen, wie immer ausgeführt mit noch vor-modernen Utensilien.

3 Ritters Poetisierung der noch mesmeristischen Elektrizität in seinen Fragmenten aus dem Nachlasse eines jungen Physikers. Brechts Galilei Galileo, schliesslich Friedrich Dürrenmatts Physiker: Die Physik in der Kunst statt der Physik als Kunst.

Wie aber konnte es überhaupt zu C.P. Snows Diagnose kommen? Wie und warum entwickelte sich das Bezugspaar Naturwissenschaft/Literatur von erkenntnistheoretisch so verheissungsvollen, eben „lebendigen Hieroglyphen“ noch beim Romantiker Ritter zum menschheitsbedrohlichen Tollhaus bei Dürrenmatt? Aber auch, „the other way round“: Wie konnte es dahin kommen, dass noch der geniale Walter Benjamin Ritters Fragmentstück hohe Beachtung und viel Lob schenkte, dennoch aber „Ritters einziges, im engeren Sinne literarisch zu nennendes Werk“ „trotz dieses prominenten Lobs keine literaturwissenschaftliche Aufmerksamkeit erfahren“ hat? Sagt dies nicht auch etwas über die fehlende Rezeption aus, die Kafkas Berührung mit Einstein erfahren hat? Wir werden sehen. Walter Benjamin, der Freund Adornos und andererseits Brechts, hatte die Fragmente Ritters tatsächlich als die „bedeutendste Bekenntnisprosa der deutschen Romantik“ bezeichnet.Footnote 8 In seinen Briefe an den Berliner Jugendfreund und bedeutenden Kabbala-Forscher Gershom Scholem hat der Denker sogar die Ritter’sche Sprachkonzeption als bedeutsam und jedenfalls „erstaunlich“ bezeichnet, ein in der Forschung freilich seltenes Urteil.Footnote 9 Wenden wir uns noch einmal Johann Wilhelm Ritter selbst zu. Der hatte für seinen Akademievortrag in Wien Die Physik als Kunst (wie gesagt im Jahr 1800 und damit in der Blüte der Frühromantik gehalten) noch viel Beachtung und Lob erfahren. Das sollte aber nicht so bleiben. Was auch an ihm selbst und seinem geradezu abseitig zu nennenden, mit zunehmendem Alter sich verstärkenden, starrköpfigen Isolationismus und einer immer zweifelhafter werdenden Spekulationslust lag. Umso nötiger musste ihm die Selbstrechtfertigung erscheinen, zumal ja seine Prominenz keineswegs verloren gegangen war. Kurz vor seinem Tode verfasste der Mann dann noch seine im folgenden vorgestellten Fragmente, schrieb diese anstelle der sozusagen „normalen“ Autobiographie, bzw. der Memoiren, die beide er nicht hinterlassen hat. Ihn reizte wohl mehr das fiktive Spiel mit Lebenselementen; und insgesamt der (romantische) Fragmentcharakter der Texte, was er durchaus und wesentlich mit Franz Kafka teilte. Auch dessen Werk ist durchgehendes Fragment, zudem eines, das durch verschiedenste Publikationsprozesse gegangen und dabei teilweise in seinem Fragmentcharakter verdeckt worden ist, der angestrebten besseren Lesbarkeit halber, ein nicht unbedenkliches, doch verständliches Editionsprinzip. Dem verdankt sich – jedenfalls auch – des Pragers weltliterarische Wirkung, wobei gerade die Romantiker um die rezeptionsfördernde Besonderheit des Fragmentarischen ihrerseits sehr genau Bescheid wussten. Solche Verwandtschaft im Geiste romantischen Denkens erweist sich bei näherem Hinsehen als noch wesentlich intimer, als substanzieller, wesensbestimmender und zugleich hoch spezifisch im philologischen Magnetismus beiderseitiger Anziehung, ohne dass dadurch Franz Kafka zum „Romantiker“ würde, womöglich noch zum „letzten“. Nicht nur Kleist in dem bekannten Aufsatz Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden von 1805/1806, nicht nur Novalis und Schlegel, sondern gerade auch Ritter hat sich interessante Gedanken zum Fragment gemacht, wie sie ihn allerdings der Aufmerksamkeit eines Walter Benjamin wert erscheinen lassen. Der Mann hat nämlich nicht nur Analogie und Potenzierung, sondern daneben auch das Paradoxale selbst durchreflektiert; mit dem einleuchtenden Ergebnis, am Ende den elektrischen Vergleich als den einzig angemessen zu wählen! Was sich spannend liest und geht wie folgt: „Letzteres (das Fragment, B.N.) ist dann das Allermenschlichste, weil man im Leben allaugenblicklich dergleichen trifft, und noch bei Elektrizitäts- und Magnetismus-Erregung der Prozess mit dem Umgekehrten von dem anfängt, womit er endet; … – weil, so, ein allgemeines Naturgesetz dahinter sein muss.“Footnote 10 Man hat das zu verallgemeinern vermocht in folgenden Schlussfolgerungen: „Das Fragment wird mit diesem Vergleich zum literarischen Korrelat des ‚elektrischen‘ Naturgesetzes: Treibt man ein Phänomen ins Extrem, schlägt es, wie bei einer Leidener Flasche (auch „Leydener Flaschen“, B.N.), irgendwann in sein Gegenteil um und erhellt in dieser Negation die vorgängige und letztliche Einheit der Gegensätze.“Footnote 11 (Frappierend genug, haben Ritters Überlegungen über den Prozesscharakter des Paradoxalen ihre Gültigkeit etwa für die Grundanlage des Kafka’schen Process-Romans, legt man dabei zu Grunde, dass dieser wesentlich von – in Prag autochthonen, tschechischen – Antisemiten handelt, die bei Kriegsausbruch, als ein imaginatives Gedankenspiel K.s, die Macht ergreifen und das Abweichend-Jüdische wieder sichtbar zu machen versuchen, mit allen bürokratischen Mitteln. Versuche, die dann auch Hitler anstellen würde: Agenten der zur Macht gelangten Partei der „National-Sozialen“ verhaften erst, dann töten sie Kafkas K. im Vollzug einer gewaltsamen Explosion der Aporien der Assimilation bei Kriegsausbruch, wobei die Gefühle der Beteiligten allerdings „elektrische“ Intensität erreichen).Footnote 12 Im romantischen Fragment als eigenständiger literarischer Form soll ja die Poesie die Wunden heilen, die der Verstand geschlagen hat in der damals noch unmittelbar zurückliegenden Periode einer allzu rationalistischen Aufklärung, und eine „electrisch“-intensive Verbindung soll wieder hergestellt werden zur nahezu mystisch verehrten göttlichen Natur. Für Ritter, und nicht nur für den der Fragmente, existierten noch keine „Zwei Kulturen“, eher im Gegenteil. Der Werdegang seines „Physikers“ besteht im Einswerden mit dem Erforschten als zugleich dessen philosophisch-poetischer Durchdringung. Die narrative Struktur des Erzählstücks (mitsamt seinem fiktiven Herausgeber und danach der, ihrerseits „elektrisch fundierten Semiotik“Footnote 13 des Anhangs) dient dazu, den Autor Ritter vor allzu starker Kritik zu beschützen. „Selbst die scheinbar ganz und gar faktuale Autobiographie in der ‚Vorrede‘ erweist sich bei näherer Betrachtung als Ergebnis einer typischen ‚Romantisierungs‘-Operation, bei der die Grenze zwischen Fiktum und Faktum gezielt durchlässig gemacht werden soll.“Footnote 14 Der Text, als fiktionalisierte Autobiographie Ritters begriffen, steigt auf, auch als eine Distanzierung vom da bereits heftig umstrittenen wissenschaftlichen Ich seines Autors zum objektiveren Er (Ritter erscheint nun durchgehend in der dritten Person), um im letzten Abschnitt im vertrauten Du der Anrede an die (da freilich bereits verstorbenen) Ehefrau zu enden.Footnote 15 „Ein derartiger Rechtfertigungsgestus, ja gar ein gewisses paranoides Moment gehört spätestens seit Rousseau zur Topik autobiographischen Erzählens.“Footnote 16 Eben. In den Fragmenten geschieht es durchaus, dass Ritter sich mitunter in der dritten Person erwähnt und zitiert, was Specht unter die allgemeine Beliebtheit des „Para-doxons“ als Gegen-Meinung oder „Gegen-Erwartung“ in der Goethe-Zeit verbucht (in welchem Zusammenhang auch Clemens Heselhaus’ Anmerkung zu Kleists Paradoxata zu bedenken wäre): „Paradoxe dieser Art sind nicht mehr wirklich Widersprüche, sondern nur noch formale, also scheinbare.; d. h. sie projizieren das Widersprüchliche der Wirklichkeit ins Unendliche und gleichen damit den Widerspruch aus“Footnote 17– was wiederum an die Besonderheit des Kafka’schen Schreibens als „stehendes Marschieren“ und „Ansturm auf die Grenze“ erinnern mag. Als Gefährte Kleists erweist sich somit gerade Johann Wilhelm Ritter als einer, der, wie dann auch Kafka, den Wahrheitsgehalt nur im Paradoxon zu finden vermag. Dabei geht es immer um die „geheimere Werkstätte des Physikers“Footnote 18 als dem einzigen Ort, wo Ideen ohne experimentelle Absicherung und kleinbürgerliche Rücksichten generiert werden dürften, also um die (nun allerdings selbst „romantisierte“) Klause des Gelehrten als Stätte der von Blumenberg entfalteten Licht-Metapher. Dort allein noch „blitzen“ nunmehr die neuen Einfälle auf. Gerade deren potenzielle Absonderung und drohende Isolation ist dem Autor Ritter, und gerade auch in den Fragmenten, keineswegs fremd. Sondern habituell vertraut, und das womöglich am Ende zu sehr. Doch ungeachtet dessen: Erst aus der Summe von freier Kreativität und gesellschaftsbezogener Lebenstauglichkeit ergibt sich für ihn ein Bild des „ganzen Lebens“, das wiederum ausschliesslich in der frühromantischen Form des Fragments erfasst zu werden vermöchte. Denn wo die Er-Form in der traditionellen, sozusagen „klassischen“ Autobiographik die Kongruenz von Ich und gesellschaftlicher Rolle bis ins Resignative hinein besiegeln kann,Footnote 19 da ermöglichen die Ritter’schen Fragmente, qua literarische Form, den umgekehrten Prozess (der aber, wie gesagt, logischerweise auch im kommunikativen Aus der Selbstisolation enden kann). Über Ritters „jungen Physiker“ hat Benjamin Specht deshalb schreiben können: „Am Schluss ist er für seine Mitmenschen, selbst für den (seinerseits fiktiven, von ihm als Autor erschaffenen, B.N.) Herausgeber, gänzlich unverständlich geworden.“Footnote 20 In Ritters Fragmenten steht deshalb der Satz: „Niemand hatte jetzt mehr Zugang in sein Inneres“, während er doch in seinen Forschungen ganz bei sich und der Natur zu sein glaubte.Footnote 21 Damit ergibt sich ein auf seine Weise ebenfalls „kafkaesker“ Zustand, der alles Erkannte sowie Beschriebene im Zustand des Fragmentarischen und sogar der schroffen paradoxalen Widersprüchlichkeit willentlich belässt – aber eben von fast kindlichem Trotz, und weniger von der Sache her bestimmt erscheint. Und doch näherte sich bereits Ritters fiktive „Selberlebensbeschreibung“ (so Jean Pauls Terminus) passagenweise durchaus jenem Zustand, den der entlaufene Kafka-Forscher Theodor W. Adorno so eindrücklich zu formulieren vermochte: „Jeder Satz sagt: ‚Deute mich‘, und keiner lässt es zu“. Denn es verhält sich ja so: Keine Literatur erreicht die Objektivität des Mathematischen. Was John Neubauer über den „Potenzbegriff in der Frühromantik“ formuliert hat: Dass nämlich nur noch in mathematischer Abstraktion, also in, wie Ritter selbst geschrieben hat: „Gleichung durch das Leben selbst“, die Vermittlung des qua Literatur Erkannten zu leisten wäre. „Sie wäre das Ideal desselben“Footnote 22 hat wiederum Ritter selbst erkannt, – um das Paradox des Lebens an sich und eben auch in sich zum Ausdruck zu bringen. Denn insgesamt gelte: Dass „der funktionelle Zusammenhang in mehreren Formeln ausgedrückt werden kann, dass also einem einzigen Inhalt mehrere Erscheinungsformen entsprechen, die ineinander transformiert werden können.“Footnote 23

Eben dieser Wahrheit aber begegneten Brod und Kafka im Jahre 1911/1912, als ihnen Einsteins Mitarbeiter Hopf deutlich machte, welch ein revolutionärer Umsturz des alten Weltbildes in der „Speziellen Relativitätstheorie“ seines Meisters beschlossen läge. Hier wurde eine Umwälzung zu Ende gebracht, die in der Frühromantik und mithin mit Ritters „Electrizitäts“-Emphase begonnen hatte. Der Sachverhalt hatte seine Auswirkungen auf die Literatur, vor allem auf den – seit der Aufklärung unangefochten herrschenden – Roman, Hegels „bürgerlicher Epopoe“, als den bürgerlichen Nachfolger des (griechischen) Epos. Hatte der junge, noch unselbständige Physiker Ritter noch Goethes Wilhelm Meister verschlungen, so verfällt der gereifte Physiker ausgerechnet – auf den Don Quijote, dieser dann vom noch sehr jungen Einstein bevorzugten Lektüre in Berner Tagen. Anstatt des „Bildungsromans“ der „Schelmenroman“; statt der Zuweisung einer geordneten Bahn in der bürgerlichen Gesellschaft (Wilhelm wird wie beschrieben „Wundarzt“), die Auflösung der Gesellschaftsordnung ins Grotesk-Bahnlose hinein – und exakt in dieser Funktion von Ritter selbst reflektiert: „…beide jene Bücher … wechselten ordentlich die Rollen, und Meisters Lehrjahre würden es, die einem höchst komisch und drollig vorkommen könnten, während einem dagegen aus dem Don Quixote überall der dumpfeste, finsterste, schneidende Ernst entgegenkäme.“Footnote 24 Wohl wahr. Dem entspricht, wie wir sehen werden, die Umwandlung, die der Realistische Roman des 19. Jahrhunderts, von Goethes Bildungsroman bis hin zu Gustav Freytags Bürgergemälden, bei Kafka erfahren hat, nachdem der Prager dem neuen Weltbild in Einsteins Relativitätstheorie begegnet war, er sozusagen ins neueste Zeitalter übergewechselt war. Auch Ritters Physiker unterschied bereits spezifische, gesonderte Zeitalter, nämlich „das magnetische, das elektrische und das chemische“Footnote 25, und solche Abfolge wird bei ihm unbegrenzt ausgeweitet, weil auf den gesamten Kosmos bezogen. Es soll der Galvanismus der menschlichen wie „thierischen“ Organe doch tatsächlich aufsteigen zu dem der „Weltkörper“, die ihrerseits ein ganzes „Sternensystem“ bildeten.Footnote 26 Grösser geht es nimmer. Auf diesem Hintergrund wächst Ritters Mesmerismus-Theorie der Status einer umfassenden „Hermeneutik der Natur“Footnote 27 zu. „Der kantische Standpunkt, dass Gott, Freiheit und Unsterblichkeit nicht Gegenstand der Theoretischen Vernunft sein können und lediglich als Postulate der praktischen Vernunft Gültigkeit beanspruchen, wird von Ritter (und später auch von Kafkas „Blutsbruder“ Kleist, B.N.) somit auf ‚naturwissenschaftlichem‘ Wege hintergangen.“Footnote 28 Dabei soll, in einer elektrisch fundierten Semiotik, der Quantensprung zwischen Geist und Materie, Gesetz und Phänomen, Kraft und Wirkung möglich werden, um die Ritter’sche Physik als Kunst zu installieren. All das war dann freilich nicht weit entfernt von einer Selbstüberschätzung wahnhaft-skurrilen Ausmasses, wie sie den Ritter des „Siderismus“ am Ende auszeichnete. Der Mann disqualifizierte sich wissenschaftlich, wenn er am Ende doch tatsächlich glaubte, den berühmten Punkt des Archimedes aufgefunden zu haben; entpuppte sich beklagenswerter Weise als blosser intellektueller Wünschelrutengänger und Pendel-Experimentator.

Und dennoch gelangte Ritter in zwei Fällen zu ganz überraschenden Einsichten, die ihrerseits vermittelten zwischen einerseits der mythisch hergebrachten „Spärenharmonie“, wie sie für Werfels bereits referierte Kafka-Sicht von zentraler Bedeutung war, und andererseits dem durchaus „modernen“ und wissenschaftlich seriösen Phänomen jener Klangfiguren auf elektrisch bestäubten Metallplatten, die der Physiker Ernst Florens Friedrich Chladni im Jahr 1787 der verblüfften wissenschaftlichen Öffentlichkeit vorzustellen vermochte. Werden die Chladni’schen Platten mithilfe des Geigenspiels zum Vibrieren gebracht, bilden sich im losen Staub geometrische Figuren; es entstehen doch tatsächlich gezeichnete Töne im Übergang vom Akustischen ins Eidetische. Damit erwiesen sich physikalische Schwingungslehre und optische Geometrie als kompatibel, wurde die Folgerung legitim: „Ritters Identifizierung von Staub- und Klangfigur ist somit weniger wissenschaftlich waghalsig, als man heute vermuten würde.“Footnote 29 Der Däne Hans Christian Ørsted hatte ja im Jahr 1808 erkannt, dass die Entstehung solcher Figuren eben nicht, wie Chladni es noch angenommen hatte, mechanisch erklärt werden sollte, sondern vielmehr selbst „eine elektrische Wirkung“ verrate.Footnote 30 Das scheinbar gelungene Experiment sprach somit für die damalige Annahme der Frühromantik, wonach alle dynamischen Differenzen auf ein Grundelement der Elektrizität als eines universalen Formprinzips auch da zurückzuführen seien, wo scheinbar nichts Elektrisches im Spiel war, sondern lediglich hergebracht Mechanisches. Von hier aus war dann der Weg nicht mehr weit zur „Literarisierung der Elektrizität“, wie sie bereits Ritter versucht hatte, und wie sie dann via Maxwell und Einstein auch auf den Kafka der hüpfenden Bälle gekommen ist, – auf jenen „electrischen Prometheus“, der diesem Buch seinen Titel gibt. Damit schliesst sich ein Kreis, weil nämlich für jenen späten Ritter, dem Zeichen und Bezeichnetes, Symbol und Bedeutung einerseits nahezu schamanistisch zusammenfielen, andererseits aber auch jene „Sphärenmusik“ „reale“ Existenz gewinnen konnte, die, in Übereinstimmung mit den alten Griechen, auch Johannes Kepler noch statuieren würde – um in ein Weltkonzert einzustimmen, dessen Harmonik den sie erlauschenden Menschen zum Erlöser der Natur bestimmen sollte. „Dabei spielt die Elektrizitätsforschung eine hervorragende Rolle“ – vor allem, weil sie sich „naturgemäss“ auch mit dem Phänomen des Lichts befassen muss. „Indem der Mensch durch sie die Sprache der Natur rekonstruiert, bricht damit die prognostizierte Ära der ‚Physik als Kunst‘ an, in der die Rezeptivität des Menschen ein Ende hat und er zum Schöpfer und Erlöser der Natur wird.“Footnote 31 Newton, Maxwell und danach Einstein werden in solcher Perspektive dann als – freilich wissenschaftlich fundierte, nicht lediglich spekulative – „moderne“ „Erlöser“ der Natur erscheinen. Sie werden über Einsteins Mitarbeiter Ludwig Hopf auf den Kafka von Blumfeld und Schloss einwirken, wie detailliert zu zeigen noch ausssteht.

4 Über die Desillusionierung im Verhältnis von „Literature“ zu „Science“: Von Ritter und Novalis über Brecht zu Dürrenmatt. Werner Heisenbergs Rechtfertigung

Bei Ritter erschien noch ein frühromantischer Optimismus als gegeben, wie er wesentlich aus der Opposition der Romantik zur vorhergehenden Aufklärung entsprungen war: Man wollte wieder glauben, anstatt zu zweifeln, aber das mit naturwissenschaftlicher Begründung. Dennoch bewies Ritters Statuierung der „Electricität“ als der zentralen Kraft im naturwissenschaftlichen Weltgeschehen, wie immer sie in der noch unwissenschaftlichen Gestalt des Mesmerismus bzw. Galvanismus geschah, am Ende ihre strategische Durchschlagskraft. Die Elektrizität und das Licht avancierten zu zentralen Untersuchungsgegenständen gerade in der neueren und neuesten Physik. Das elektromagnetische Feld geriet darin zu einem hoch wichtigen Untersuchungsgegenstand auch noch in der Atomphysik – sozusagen als Einlösung der schon bei Aristoteles gegebenen Einsicht, dass die eine kosmische Grundkraft sich nach Belieben in alles verwandeln kann: Materie in Energie, Energie in Materie, Einsteins für Nichtphysiker dann zentrale Formel. Ganz so wie einst im Mythos der oberste Gott, Zeus etwa als Amphitrion vor Alkmene, um dieses Metamorphose-Geschehen aus Kleists Drama hier aufzurufen. Es klingt trivial, erweist sich bei weiterem Reflektieren aber als „wahr und tief“: Mit der Spaltung, der Teilung des eigentlich Unteilbaren in Form der Uranspaltung hat der Mensch sich (in Form der Atombombe allerdings in perverser Form) zu jenem Neu-Schöpfer der Natur gemacht, von dem die Frühromantik träumte. Die hier ausgewählten Dramen belegen diesen Prozess, machen ihn anschaulich, begründen ihn einerseits geistesgeschichtlich, und als Ereignisse innerhalb der Geschichte der Physik auch komplementär dazu. Dass die Sonne im Mittelpunkt unseres Universums steht; ferner die von der Katholischen Kirche immer noch als Gottes grösstes Schöpferwerk verklärte Erde sich als bloss ein Trabant um diesselbe drehen sollte, wie Kopernikus erkannt hatte, Ptolemäus’ Weltbild ausser Kurs setzend – das machte dann Galileo Galilei mit seinem Fernrohr empirisch-experimentell unabweisbar. Am Beispiel der Jupitermonde geschah dies zuerst, und im Italien der Renaissance, danach dann aber auch in Bertolt Brechts entsprechendem Theaterstück. Brecht hat vom Jahr 1938/1939, angestossen von Otto Hahns Uranspaltung (und danach in immer neuen Fassungen), in seinem genialen Leben des Galilei den Komplex „Verantwortung des Wissenschaftlers im Atomzeitalter“ darzustellen unternommen, als ein seinem innersten Wesen nach notwendiges „work in progress“, also eigentlich unabschliessbar. Mit atemberaubender, jeweils existentiell unterfütterter Bühnen-Präsenz vermochte dies geschehen – und unter ebensolchem Verstoss gegen die eigene Theorie des „Epischen Theaters“, was noch zu diskutieren sein wird. Wobei der Stückeschreiber niemals verkannte, dass des Physikers Befreiungstat samt seiner nur scheinbaren Unterwerfung dabei half, die erneut festgefügte Ordnung der sozialen Bahnen im auf die Renaissance folgenden barocken Absolutismus zu legitimieren. Wo nun, bereits gestützt auf bürgerliches Wirtschaften, der roi soleil die Sonne zu tanzen vermochte zur eigenen Amtseinführung, wie es Ludwig XIV. ja getan hat – mit grosser Anmut, glaubt man den Zeugen am Versailler Hof. Denn die machiavellistische Gleichung: Eine fixe Ordnung der Sterne am Himmel (gern auch hinab bis zum noch immer als unteilbar gedachten Atomkern), sie war immer die beste Garantie für zuverlässige Herrschaft über die Massen gewesen, wie immer diese nun weltlich akzentuiert, nicht mehr primär kirchlich begründet auftrat. Also von Ritter über Brecht zu Dürrenmatt: Ein solcher wissenschafts- wie literaturhistorischer Streifzug vermag zu zeigen, wie die Physik als Kunst sich einschneidend veränderte. Am Ende wird es heissen: „Die Kunst gegen die Physik“. Diese Wendung wiederum verdankte sich der Spaltung des Unspaltbaren, die ihrerseits alle seit den Griechen vorgegebene Ordnung im Kosmos, später dann inklusive des subatomaren Bereichs, ebenso ausser Kraft zu setzen vermochte, wie zuvor schon die neue Möglichkeit einer Judenassimilation im hergebrachten absolutistischen Ständestaat. Die „Emancipation der Jüden“ wiederum hatte ihrerseits in ganz Zentraleuropa, in Altösterreich, dann auch in Musils „Kakanien“ die hergebrachte Gesellschaftsordnung im Sozialen gründlich erschüttert, ja partiell umgestülpt. Statt der festen, vorgegebenen Bahnen nun also jene chaotisch wirkende Freisetzung der Elementarpartikel, die Michel Houellebecq nicht zufällig zum Romantitel erheben wird – ein ambivalenter, paradoxer Vorgang, angesiedelt zwischen begrüssenswerter Liberalisierung einerseits und zerstörerischer Chaotisierung andererseits. Ritters Physiker-Fragmente waren einst durch die Entdeckungen der mesmeristischen „Electrizität“ inspiriert worden. Bemerkenswert erscheint, dass dann auch Brechts Galilei von höchst Aktuellem angeregt wurde: Eben von der 1938/1939 erfolgten Spaltung des Urankerns durch Otto Hahn (dem freilich erst im Jahr 1945 der Nobelpreis dafür verleihen wurde). Die Reihe weiter zu führen: Es gehorchte mithin bereits die Produktion des Brecht’schen Galilei dem gleichen sozialhistorischen Anstoss, wie später dann Dürrenmatts Physiker. Beides zudem im Bewusstsein, dass der frühromantische Herr über die Schöpfung nun zu ihrem potenziellen Totalvernichter avanciert sei. Lesen wir also unter diesen Prämissen Brechts berühmtes Theaterstück; um ihm anschliessend Dürrenmatts polemische Komödie an die Seite zu stellen – als Variationen einer (physikalisch-experimentellen wie zugleich gesellschaftlich-ethischen) Bahn-Auflösung, die ihrerseits Kafka praktisch-sozial in seiner Assimilations-Stellung als altösterreichischer Beamter, wie dann auch (erkenntnis)theoretisch in Einsteins Relativitätstheorie, vermittelt durch Ludwig Hopf, im Jahr 1911 erreichte.

5 Bertolt Brechts Leben des Galilei, oder: Über die Zusammenhänge zwischen den Himmelsbahnen und denen auf Erden. Einsteins überraschend ausführliche Stellungnahme zu Max Brods Galilei

„Was hat Herr Galilei, der Mathematiker ist,

mit der Philosophie zu schaffen?

Bin ich Theologe? Ich bin Mathematiker“

Die beiden obigen Motti, in jener Fassung des Theaterstückes enthalten, die in den Gesammelten Werken, in Brechts Frankfurter Verlag Suhrkamp, zum siebzigsten Geburtstag des da bereits verstorbenen, aber nun weltberühmten Bertolt Brecht erschien,Footnote 32 sie handelt vom Rollen- und somit Bahnkonflikt, in den unvermeidbar gerät, wer „neue Wege geht“. Denn jener Brecht, der sich auch „der arme B.B.“ nannte in Erinnerung an sein vorgeburtliches Dasein in den „schwarzen Wäldern“, und der sowohl der erste künstlerische Repräsentant der DDR, sowie zugleich ihr erster und bedeutendster Oppositioneller gewesen ist, kannte sich in solchen Dilemmata aus. Die zitierten Sätze implizieren die Forderung nach Vermittlung des Widersprüchlichen – ohne dass dabei die besondere, weil paradoxe Natur des zu Vermittelnden verloren ginge. Bertolt Brecht hat sich sehr lange mit dem Galilei-Stoff beschäftigt, länger als mit jedem anderen Stoff innerhalb seines so reichhaltigen Werks, wobei der Beginn wie gesagt in der geglückten Spaltung des Uran-Atoms durch Otto Hahn, geschehen im Jahr 1938/1939, zu sehen ist. Daraus resultierte die erste, die „dänische“ Fassung, bereits 1939 entstanden unter dem Titel Die Erde bewegt sich, bald schon umbenannt in Leben des Galilei. Darauf folgte die „amerikanische“ von 1944 bis 1947, ausgearbeitet in Zusammenarbeit mit dem Schauspieler Charles Laughton. Und schliesslich die „deutsche“ von 1955/1956 erneut mit dem Titel Leben des Galilei. Allein die lange Bearbeitungsdauer belegt Brechts grundsätzliches Interesse an diesem Thema. Das zudem an wortwörtlich explosiver, brennender Aktualität immer nur gewann: Von der Atomspaltung im Labor bis hin zum Atombombenabwurf der USA auf zwei japanische Städte sechs Jahre später, was übrigens den Begriff „Sex-Bombe“ ebenso in die Welt brachte wie die Leiden von Millionen verstrahlter japanischer Menschen. Das war ein bis dato unvorstellbarer Kriegsakt – und die perverse Bewahrheitung des Ritter’schen Junger Physiker-Fragments zugleich, das ja davon ausgegangen war, dass erweiterte Kenntnis der Naturgesetze dazu führen würde, den Menschen in bislang unerhörter Weise zum (bei ihm noch brüderlichen) Herren über die Natur und zum Kenner von deren innersten, energiereichsten Geheimnissen zu befördern.

Diese nun bereits pervertierte Wahrsagung klingt ihrerseits noch in der Selbstanklage Galileis am Ende des Stücks mit: „Ich habe meinen Beruf verraten. Ein Mensch, der das tut, … kann in den Reihen der Wissenschaft nicht geduldet werden.“Footnote 33 Ferner in jenem Plakattext, der die 15. Szene einleitet, wo unmissverständlich geschrieben steht: „Dass es nicht, ein Feuerfall/Einst verzehre noch uns all/Ja, uns all.“Footnote 34 Gleichzeitig liefert Brechts Protagonist seine bahnbrechenden, nun sogar in der Volkssprache Italienisch gehaltenen Discorsi an seinen ehemaligen Lieblingsschüler aus, der im Begriff ist, nach Holland zu reisen und mithin dahin, wo Galileis Fernrohr einst herkam. Mit den folgenden epochalen Sätzen geschieht dies: „So sind Sie nicht mehr der Meinung, dass ein neues Zeitalter angebrochen ist? … Doch. – Gib acht auf dich, wenn du durch Deutschland kommst, die Wahrheit unter dem Rock.“Footnote 35 Solch emanzipatorisches Interesse an der Verbreitung der Wahrheit wird bei Brecht freilich mit Galileis besonderer, so verstörender wie renaissancespezifischer Geschäftstüchtigkeit konfrontiert. Die steht im zeitspezifischen Einklang damit, dass seine Erfindungen die Interessen der aufkommenden bürgerlichen Handelsgesellschaft erfüllen. Die Kaufleute der oberitalienischen Handelsrepubliken sind, ganz im Sinne des Marx’schen Kommunistischen Manifests, hier die revolutionären Subjekte der Geschichte; sind in ihrer historischen Phase ein „Menschheitsferment“ in genau dem Sinn, den Arthur Schnitzler dann, um die Jahrhundertwende, den assimilierten Wiener Juden beilegen würde. Der Kurator im Brecht’schen Stück führt aus, während der Wissenschaftler Galilei sehnsüchtige Blicke nach seinem überladenen Arbeitstisch wirft: „Unsere Kaufleute, die wissen, was besseres Leinen im Kampf mit der Florentiner Konkurrenz bedeutet, hören mit Interesse Ihren Ruf ‚Bessere Physik‘, und wieviel verdankt die Physik dem Schrei nach besseren Webstühlen!“Footnote 36 Insofern hilft die „Mechanik des Universums“, die Galilei dabei ist zu installieren, den genuin frühbürgerlichen Interessen an einer bereits quasi industriellen „Maschinerie“, die neben Galilei auch Descartes, und wesentlich später dann noch La Mettrie mit dem Italiener teilten. Diese „Mechanik des Universums“ erweist sich bei Brecht als die der bürgerlichen Beherrschung der Natur insgesamt: „Wir können nicht Maschinerien für das Hochpumpen von Flusswasser erfinden, wenn wir die grösste Maschinerie, die uns vor Augen liegt, die der Himmelskörper, nicht studieren sollen. Die Winkelsumme im Dreieck kann nicht nach den Bedürfnissen der Kurie abgeändert werden. Die Bahnen fliegender Körper kann ich nicht so berechnen, dass auch die Ritte der Hexen auf Besenstielen erklärt werden.“Footnote 37 Derart bedingen wissenschaftlicher Fortschritt und Handelsbedürfnisse einander; sie bauen mit an jenem eisernen Käfig, den dann das absolutistische Weltbild der Newton und Leibniz bilden wird für alle, die am Ende des 19. Jahrhunderts aus ihm aussteigen werden wollen, eine ganz neue Physik zu begründen, in der die Partikelbahnen eben nicht mehr so harmonisch-gottgewollt verlaufen. Dass der Autor Brecht bereits weiss, was aus der revolutionären Tat Galileis im Verbund mit Hahns damals aktueller Atomspaltung an nunmehr apokalyptischen Menschheitsbedrohungen sich entwickeln wird, das macht den Galilei so vielschichtig; und den Astronomen als dramatis persona so interessant durch Widersprüche.

An dieser Stelle ist es erkenntnisfördernd, Brechts Galilei mit den Erinnerungen eines anderen, „wirklichen“ Physikers zu konfrontieren, mit denen Werner Heisenbergs. Heisenberg war einflussreich mitbeteiligt an Stellung und Entwicklung der (am Anfang immer noch weltweit führenden) deutschen Atomforschung im „Dritten Reich“. Hitlers groteske Einschätzung der Einstein’schen Theorien als unkorrekte „jüdische Physik“ trug dazu bei, neben noch anderen Faktoren, dass das „Dritte Reich“ zu einer funktionierenden Atombombe kam, wiewohl die allererste Atomspaltung ja noch in Deutschland erfolgt war. Heisenberg war nicht nur der Entdecker der berühmten „Unschärferelation“, sondern zugleich ein musikalisch (Klavier) hoch Begabter, darüber hinaus auch ein genuin philosophisch orientierter Kopf. Der Vater dieses Jugendbewegten war schliesslich seinerseits und in nachgerade fanantischer Weise noch ein Kenner der griechischen Philosophie gewesen, mit allem, was im Wilhelminischen Deutschland dazu gehörte. Sein Sohn Werner hat dann nicht nur über Physik und Philosophie geschrieben, während seines Aufenthaltes in den USA, sondern auch die Erinnerungs- und Rechtfertigungsschrift Der Teil und das Ganze herausgegeben. Der Physiker hatte glänzende internationale Verbindungen, nicht nur in das Dänemark von Niels Bohr, sondern eben auch in die USA; war ein einflussreicher Ratgeber der Adenauer-Regierung und ergebener Verehrer von Otto Hahn. All dies prädestinierte ihn, so etwas wie ein Gegenbuch zu Brechts Galilei zu schreiben. Schliesslich war dieser Mann ein bedeutendes Mitglied des „Uranvereins“, wie er im südlichen England des Nachkriegs von den siegreichen Alliierten versammelt worden war. Dazu „gehörten Otto Hahn, Max von Laue, Walter Gerlach, Carl Friedrich von Weizsäcker, Karl Wirtz. Der Gutshof Farm-Hall liegt am Rande des Dorfes Godmanchester, nur etwa 25 Meilen von der alten Universitätsstadt Cambridge in England entfernt … Hier, im Kreise der zehn gefangenen Physiker, besass Otto Hahn durch die Anziehungskraft seiner Persönlichkeit und durch seine ruhige besonnene Haltung in schwierigen Lagen von selbst das Vertrauen jedes einzelnen unserer kleinen Gruppe.“Footnote 38 Man erlebte den Abwurf der ersten Atombombe wie folgt (wobei die Brisanz des Ereignisses die Länge des folgenden Zitats rechtfertigt): „Am Nachmittag des 6. August 1945 kam plötzlich Karl Wirtz zu mir mit der Mitteilung, eben habe der Rundfunk verkündet, es sei eine Atombombe über der japanischen Stadt Hiroshima abgeworfen worden. Ich wollte diese Nachricht zunächst nicht glauben … Ich fand es auch psychologisch unplausibel, dass die mir so gut bekannten Atomphysiker in Amerika alle Kräfte für ein solches Projekt eingesetzt haben sollten, und ich war daher geneigt, lieber den amerikanischen Physikern zu glauben, die mich verhört hatten, als einem Radioansager, der vielleicht irgendeine Art Propaganda verbreitet hatte. Auch sei, so wurde mir gesagt, das Wort ‚Uran‘ nicht vorgekommen.“ Und weiter: „Am tiefsten betroffen war begreiflicherweise Otto Hahn. Die Uranspaltung war seine bedeutendste wissenschaftliche Entdeckung, sie war der entscheidende und von niemandem vorhergesehene Schritt in die Atomtechnik gewesen.“Footnote 39 Nun folgt in Werner Heisenbergs Erinnerungsbuch ein langes und unterschiedlich qualifiziertes Hin und Her über notwendige Verteidigung gegen Hitlers Regime, die Verantwortung des Einzelnen, dem „man nur einen Teil der Verantwortung aufbürden“ könne, und am Ende so etwas wie die Absolution der amerikanischen Physiker, die die Bombe zwar hergestellt hätten, fürchtend, Deutschland (lies: Heisenberg und seine Forschergruppe) würden dieselbe entwickeln, dann aber nicht den Einsatz befohlen hätten (was korrekt, aber wohl nicht zentral war). Kritik an den Physikern verbiete sich also, begründet mit dem schauderhaft realistischen Argument: „Denn wir haben ja auch die schrecklichen Dinge, die von unserer Regierung getan worden sind, nicht verhindern können.“Footnote 40 Dennoch lässt sich Heisenberg, man sollte es nicht glauben, mit Brecht nicht so einfach und „progressiv“ widerlegen – was dem Galilei des Stückeschreibers seinen exzeptionellen Rang verleiht, nota bene.

Also wie denn nun? Brechts Stück ist, zu seinem Segen, nicht so plakativ-eindeutig, wie es manche Deutungen seines „Epischen Theaters“ befürchten lassen könnten. Sein Galilei ist Held und Schurke zugleich; wissenschaftlicher Heros und verfressener Schneckengourmet in einem. Dass er für die „parteiliche Wissenschaft“ der vormaligen DDR so gar nicht in Anspruch genommen werden konnte, belegt neuere Forschung überzeugend.Footnote 41 Vielmehr gilt: „Ähnlich wie in der Quantenmechanik die Interaktionsweise von Quantenphänomenen nicht mehr durchgängig unter Rekurs auf den klassischen Teilchenbegriff beschreibbar ist, so ist für Brechts Dramentheorie der deterministische Entwurf des Plots unter Rückgriff auf in ihrer Kausalrelevanz streng fixierbare Charaktere obsolet.“Footnote 42 Touché! Solche hochwichtige Erkenntnis, von Ulrich Sautter mit souverän „drittkulturellem“ Blick bereits im Jahre 1995 herausgestellt,Footnote 43 schlägt eine so breite wie tragfähige Brücke zu unserer Thematik. Brecht selbst hat, Heinz Ludwig Arnold zufolge, die Schuld Galileis, im Jahr 1947 unter dem frischen Eindruck des US-amerikanischen Atembombenabwurfs auf japanische Grossstädte verschärft herausgearbeitet: „Galileis Verbrechen kann als die ‚Erbsünde‘ der modernen Naturwissenschaft betrachtet werden … Die Atombombe ist sowohl als technisches als auch als soziales Phänomen das klassische Endprodukt seiner wissenschaftlichen Leistung und seines sozialen Versagens.“Footnote 44 Brechts oben paraphrasierte Einsichten wurden, übrigens, niedergeschrieben, bevor die Sowjetunion ihrerseits die Atombombe entwickelt hatte. Insgesamt sprach sich Brecht, so im Aphorismus Kein Weltbild machen, gegen das geschlossene „Weltbild“ aus. Denn: „Es ist die ganze Welt, die ein Bild erzeugt, aber das Bild erfasst nicht die ganze Welt. Es ist besser, die Urteile an die Erfahrungen zu knüpfen, als an andere Urteile, wenn die Urteile den Zweck haben sollen, die Dinge zu beherrschen.“Footnote 45 So steht es auch im Buch der Wendungen aus dem Jahre 1934, Me-Ti erklärt es uns. Dieser fiktive Chinese bei Brecht wünscht ebenso wenig ein-deutig zu sein, wie dann Kafkas Beamten im Schloss noch eindeutig fixierbar erscheinen werden. Zumal in dem Brecht’schen Historienstück der Charakter des Galilei ein Stück weit seinem Autor gleicht, als einer, der alles andere als monogam und auch wenig an geistigem Eigentumsrecht interessiert gewesen ist. So wenig wie bei Kafka, geht es also auch in diesem Exemplar des „epischen Theaters“ gar nicht nur „objektiv“ zu, und die Beamten der Kurie erinnern bei Brecht mit ihrer Theoriedominanz schon ein wenig an die Statthalter der nun herunter gegangen „Postmoderne“ mit ihrem „theoriebestimmten Lesen“. Im Jahr 1934 diskutierten Walter Benjamin (im dänischen Svendborg auf Sommerbesuch) mit dem dort exilierten Stückeschreiber auch Franz Kafka. Dabei erwies sich der Augsburger, zum Erstaunen des Berliners, als ein genuiner Kenner des Kafka’schen Werks. Lobte des Pragers gute und eindringliche Bilder, mit denen dieser die Missgeschicke der Kleinbürger erfasse, tadelte aber die in seinen Augen „falsche Tiefe“, aus der gar nichts zu Vorschein komme. Behauptete dann doch tatsächlich, dass an Kafkas Process-Darstellung der K. Verfolgenden ablesbar sei, dass aus der Tscheka „eine der Gestapo gleichende Geheimorganisation, die Andersdenkende verfolgt und ermordet,“ noch werden würde, also wie Hannah Arendt und Heinrich Blücher Nationalsozialismus und Stalinismus zusammensehend!Footnote 46 Damit wurde Brecht Kafkas Darstellung der seinen K. verfolgenden Geheim-Organisation im Prag des Weltkriegsbeginns verblüffend gerecht.Footnote 47 So wie sein Sarkasmus im Leben des Galilei ohnehin die Grenzen des DDR-spezifischen „Sozialistischen Realismus“ sprengte, indem er letzteren geradezu denunzierte im totalitären Diskursstil der Kardinäle gegenüber dem Astronomen: „Man könnte versucht sein zu antworten, dass ihr Rohr, etwas zeigend, was nicht sein kann, ein nicht sehr verlässliches Rohr sein müsste, nicht?“Footnote 48 Woraus folgt: Der sozialistische Stückschreiber Brecht war eben nicht kompatibel mit dem „Realismus“-Konzept und dem „parteilichen“ Wissenschaftsbegriff seiner DDR, die ihrerseits das Phänomen Kafka allenfalls nur annähernd zu begreifen vermochte – sehr anders als manche tschechischen Kollegen in Liblice bei der epochalen Kafka-Konferenz des Jahres 1963. An dieser Stelle verquickte sich die utopische, geradezu staatsgefährdende Potenz von Kafka-Lektüre auf verzwickte Weise mit der wahrhaft Aristotelischen „Potentia“, wie sie gerade im Galilei-Stoff schlummert(e). In ihrem Sinne konnte in des „armen B.B.“ epochalem Galilei der Held nicht nur das damals neueste Weltbild durch seine Fernrohr-Schau begründen – er konnte es zugleich durchsichtig machen für die notwendig kommende Kritik daran, die dann eben nicht nur philosophisch, sondern zusätzlich mit den Mitteln der jeweils neuesten Physik zu leisten war! Dieser Held war einer, weil er sich nicht als „Held“ gerierte, sondern sich als angreifbar darstellte. Dabei geht es immer um den Bahnbegriff, um die Ordnung am Himmel sowie um die innerhalb der atomaren Welt. Selbstverständlich ist Brechts Galilei der Aufklärer, der den Himmel entgöttert, solange man ihn lässt, und er ist das auch noch, als er aus Angst vor dem Schicksal der Giordano Bruno, also dem Tod auf dem Scheiterhaufen der Inquisition, widerrufen hat. Einer, der am Ende in der frommen Obhut seiner zur Nonne gewordenen Tochter lebt (deren Ehe er zuvor rabiat verhindert hat; das motivierte die Frau in ihrem Aufpasseramt). Aber auch einer, von dem man sagen muss: Solange dieser Mann lebte, wie immer vorzüglich vom Schneckenverzehr, blieb er der Revolutionär, der, dem eigenen Ende nah, die Wahrheit doch noch nach Holland schmuggeln lässt. Brechts Galilei ist derjenige, dessen Lehre schliesslich paradoxal darin siegen wird, dass sie von der gegnerischen Kirche übernommen wird. Das Ptolemäische Weltbild war nicht mehr zu halten, das des Kopernikus wird endlich auch von der Kirche anerkannt, der zum Zeitpunkt von Galileis Entdeckungen auch noch ein Physiker als Papst vorstand – und das neue Weltbild avancierte dann seinerseits zum Dogma des Vatikans und des folgenden aufgeklärten Absolutismus.’ Denn auch Galileis Weltbild besitzt noch die gewünschte Regelmässigkeit der Bahnverläufe; es sind sozusagen nach Vorschrift kreisende Planeten und Monde, die Galilei nun empirisch zu beobachten vermag mithilfe seines bahnbrechenden, profitbringenden, schnell legendär gewordenen Fernrohrs (er hat es übrigens, und auch noch vom von ihm verhinderten Mann seiner Tochter, aus Amsterdam erhalten und unverzüglich plagiiert – freilich die Farbe des Etuis wurde geändert, das dann doch). Mithilfe dieses Diebstahls macht der revolutionäre Astronom sogar der Kirche klar, dass die kreisenden Jupiter-Monde gegen die ptolemäische Glas-Sphären-Annahme nicht nur verstossen, sondern diese für immer ausser Kraft setzen. Selbst die Kirche unter ihrem damaligen Physiker-Papst kann folglich das Neue am Himmel nicht mehr leugnen. Worauf man sich dann einigt, ist die alt-neue Regelmässigkeit der Planeten- und Mondbahnen; diese garantiert weiterhin die Ordnung am Himmel wie auf Erden, gibt zudem ein verpflichtendes Modell ab für die sozialen Rollen im bevorstehenden Absolutismus. Der Himmel verbleibt auf diese Weise das unverändert gottgewollte Spiegelbild der irdischen Ordnung; und vice versa. Die Kirche behält ihre Machtstellung, der Papst seine physikalischen Einsichten, und Galilei behält, anders als Giordano Bruno, sein Leben. Dieser hatte ja auch nicht verbrannt werden müssen, weil er Kopernikus unterstützte; sondern weil er ein ebenso absurdes, wie zentrales Dogma der römischen Kurie nicht mehr anerkannte. Insofern leitete nicht die Entdeckung der Jupitermonde, sondern eher die Nicht-Benutzung des Lateinischen durch Galilei jene soziale Umwälzung ein, von der selbstverständlich auch der Stückeschreiber noch träumte, allen Erfahrungen mit dem „real existierenden Sozialismus“ zum Trotz. Sowieso darf ja bezweifelt werden, ob der „Schneckenfresser“ Galilei (so im Stück sein enttäuschter Ziehsohn Andrea) überhaupt an einer Sozialrevolution interessiert war. Er lebt als Überzeugungstäter sein gutes Leben; und gleicht darin schon ein wenig dem Brecht der Dreigroschenoper, dessen Revolutionsbegriff ja sehr fragwürdig war, zurückhaltend formuliert.Footnote 49 Galilei begründet das Zeitalter Newtons und Leibniz’, also den aufgeklärten Absolutismus; und der war wesentlich angewiesen auf (und bestand in seinem, wenn man so will, Glut-Kern) aus geregelten, vorgegebenen, nicht auswechselbaren Bahnen. Das war so in der Astronomie, wie in der Physik, im sozialen Leben ebenso, wie in der kirchlichen Rechtfertigung desselben. Das Newton/Leibniz’schen Weltbild wurde bereits hier gegründet. Dessen innerste, alles bestimmende Kernvorstellung; seine Essenz, seine strukturelle Wesenhaftigkeit, sein politisches Geheimnis und seine Verführungskraft für konservative, autoritär geprägte Geister aber war – das Geregelte in der sozialen Ordnung, dann noch im „Ständestaat“ des Brecht’schen Zeitgenossen Ortega y Gasset unter Franco Mitte des vergangenen Jahrhunderts angestrebt, – eben die unbedingte „Ordnung“. An der aber wirkt Brechts Galilei auf seine Weise allerdings mit. Er ist darin als ein bürgerlicher Revolutionär zu verstehen in Zeiten, in denen das Bürgertum noch den Kompromiss mit der feudalen Obrigkeit suchte, und noch für lange Jahrhunderte suchen musste. Wie Descartes war Galilei, und das auch bei Brecht, übrigens ein Fan der „Maschine“, wie schon angedeutet. Die aber liebt man ihrer Regelmässigkeit, Stetigkeit und geordneten Bewegung willen, der spätere „mechanistische Determinismus“ etwa eines La Mettrie war bereits Galilei nicht fremd. Deshalb – und darin liegt die Genialität des Brecht’schen Leben des Galilei – haben selbst der Revolutionär Galilei und der Reaktionär Barberini, eine strikt konservative Eminenz wie sein Freund und Kollege Bellarmin, eines gemeinsam: Die Vorliebe für geregelte, überschaubare, nicht abrupte, deshalb vorhersehbare und beruhigende Bahnverläufe. Diese Vorliebe wird dann, wie gezeigt, in Deutschland bis hin zu Wilhelm Dilthey reichen. In einer Schlüsselszene von Brechts Stück geschieht das folgende: Die beiden Eminenzen unterhalten sich jovial mit Galilei, alle drei wissen, sie sind eigentlich Widersacher, aber doch verbunden durch einen genuinen Ordnungswunsch. Den hegt selbst Galilei, weil er als Wissenschaftler seiner Epoche es gar nicht anders vermag. Alles, was der Mann theoretisch entwickelt, selbst das, was er siegreich gegen das ptolemäische Weltbild einwenden und empirisch durch das Fernrohr beweisen kann, bewegt sich im Bann der einen grossen Entdeckung Newtons, nämlich der Gravitation. Die wiederum kann man womöglich als eine „Vorgängerin“ der elektromagnetischen Maxwell/Einstein-Welt darin sehen, dass auch sie unsichtbar und fernwirkend existiert, immer in der Lage, selbst auf grosse Entfernungen ihre Attraktion zu entfalten. Jedenfalls kommt es zur Begegnung der drei Hauptcharaktere und zu folgendem Dialog Barberini-Galilei: „Freund Galilei … Ihr denkt in Kreisen und Ellipsen und in gleichmässigen Schnelligkeiten, einfachen Bewegungen, die eurem Gehirn gemäss sind. Wie, wenn es Gott gefallen hätte, seine Gestirne so laufen zu lassen? (Er zeichnet mit dem Finger in der Luft eine äusserst verwickelte Bahn mit unregelmässiger Geschwindigkeit). Was würde dann aus euren Berechnungen?“ „Galilei: Eminenz, hätte Gott die Welt so konstruiert – (er wiederholt Barberinis Bahn) – dann hätte er auch unsere Gehirne so konstruiert (er wiederholt dieselbe Bahn), so dass sie eben diese Bahnen als die einfachsten erkennen würden. Ich glaube an die Vernunft.“Footnote 50

Was man auch so lesen kann: Bereits hier, noch vor Beginn von Newtons Zeitalter, lässt Brechts Genie eine potenzielle Kollision mit der kommenden Welt der Atomphysik erahnbar werden, festgemacht am völlig veränderten Bahnbegriff. Schliesslich hatte der Stückeschreiber die Hahn’sche Atomspaltung mitsamt der Möglichkeiten, die daraus erwuchsen, und eben auch der zutiefst bedrückenden, mit der für ihn charakteristischen Sensibilität registriert, und sehr nachdenklich durchreflektiert. Stets ging es mithin um den Bahnbegriff; der erweist sich als die zentrale Metapher, welche allein die „Lesbarkeit der Welt“ ermöglichen kann, insbesondere, wenn es um eine Vermittlung der „Zwei Kulturen“ geht – an dieser Stelle jenen Buchtitel Hans Blumenbergs zu erwähnen, der uns noch weiter beschäftigen wird. „Fast schon in Kuhnscher Diktion – Thomas Kuhn hat sein berühmtes Buch (über den ‚Paradigmawechsel‘, B.N.) erst 1962 veröffentlicht – zeigt Brecht hier, auf welche Weise die konservative Erwartungshaltung die eigene Wahrnehmungs- und Handlungsweise vorprägt“, dabei die Kollision von Weltbildern und Paradigmata auf die Bühne bringend (wie immer er diese, siehe sein Me Ti, als geschlossene selbst keineswegs schätzte).Footnote 51 Dennoch verwirft Brechts Galilei die „ontologische Unterlegenheit der Natur“ und sichert so deren grundsätzliche Erkennbarkeit; wobei allem organischen Werden von nun an eine unwandelbare, mathematische Gesetzmässigkeit unterstellt wird.Footnote 52 Doch soll stets, das macht Galileis Grundforderung aus, die Sinneswahrnehmung der Reflexion vorausgehen. Das Fernrohr soll wichtiger sein als der Bibeltext. Das wiederum aber nicht in Form eines reflexionslosen Positivismus. Sondern so selbstreflexiv, dass bereits in des Brecht’schen Galilei Denken jene „Subjektivierung“ zur Stelle ist, die später durch die Heisenberg’sche Unschärferelation erneut ins Spiel kommen wird. (Und von der Galilei noch nicht, der Autor Brecht aber sehr wohl wissen konnte.) Denn: „Zugleich erscheint die durch empirische Wahrnehmung begründete Erkenntnis als prozessualer Bestandteil des zu Erkennenden.“Footnote 53 Dabei zielt der Stückeschreiber in seiner Kritik der Kirche auf eine allgemeine Kritik von „Obrigkeit“; sieht im immer stärker herausgestellten Scheitern Galileis ein Verbrechen, „das er als ‚Erbsünde der modernen Naturwissenschaften‘ begreift, wobei die Atombombe als ‚klassisches Endprodukt‘ dieses Versagens zu sehen sei.“Footnote 54 Zudem war Brecht überzeugt, seine Kunst wissenschaftlich zu betreiben; er reklamierte eine „Isomorphie der Arbeitsgebiete“ für sich, die für ihn sogar eine besondere Nähe seiner Erkenntnisinteressen zur modernen Atomphysik bedeutete.Footnote 55 In solche Szenerie spielte freilich auch das faktisch Erlebte hinein. Es gelangten ihrerseits jene Geschehnisse aus der Groβstadt Berlin zur Geltung, in deren Zwanziger-Jahre-Chaos der spätere berühmte Autobiograph und Kraus-Schüler Elias Canetti erleben muβte, wie gegenüber dem dominanten und cool-„revolutionären“ Brecht der Dreigroschenoper selbst sein Idol Karl Kraus zum servilen Plauderer herabsank, den neuen Star hofierend bis zur Selbstaufgabe. Selbst Bertolt Brecht war folglich keine eindeutig revolutionäre Grösse; der die Wahrheit mit List verbreiten wollte, wurde zuweilen selbst das Opfer eines beneidenswerten Listenreichtums (und verfertigte Werbesprüche, klassisch gereimte, um in den Besitz eines attraktiven Cabriolets zu gelangen).

Hier wiederum hat jene Kritik ihren Platz, die Hans Blumenberg nicht nur in Die Lesbarkeit der Welt an der Haltung von Brechts Galilei geübt hat. „Denn bei Galilei findet sich keine Spur für eine symbolische Intention mit ausgreifendem Prinzipiencharakter, wie Blumenberg schlüssig gezeigt hat,“ meinen auch die Autoren des Brecht-Handbuchs.Footnote 56 Sein Bestehen auf eindeutig-sinnlicher Wahrnehmung komme Galilei dabei ins Gehege und verhindere jede notwendige Theoriebildung; ein Zusammenhang übrigens, den Brecht vor dem Hintergrund der Heisenberg’schen „Unschärferelation“ doch tatsächlich selbst geahnt habe, infolge Ulrich Sautter.Footnote 57 „Blumenberg … legt dar, dass es vielmehr gerade die Bindung an die Anschaulichkeit ist, welche die Erkenntnis Galileis in Frage stellt und problematisch werden lässt.“Footnote 58 Ferner, wie bereits angedeutet: Im Gegensatz zu Giordano Bruno war Galileis Leben wohl nie ernsthaft in Gefahr. Der Mann hatte Unterstützer selbst im Vatikan, und der Pantheismus Brunos war dem leidenschaftlichen Weichtieresser zu seinem Glück vollständig fremd. Denn es war entscheidend Brunos Pantheismus, seine Vorstellung von einem unendlichen Universum, das viele erdähnliche Welten umfassen könnte, wodurch sich Gott im Akt der Schöpfung vollständig erschöpft habe (was die scholastische Orthodoxie aber nur Christus zugestand, aus welchem Grund auch immer) – diese aparte theologische Spezialität bewirkte, dass die Kirche im Fall Brunos zur Exekution geschritten war. So wie die, nun von einem Physiker als Papst geleitete, Kirche zu Galileis Zeit umgekehrt peu à peu anerkannte, dass Kopernikus gegen Ptolemaeus Recht gehabt hatte; Galileis trotziger Ausruf „Eppur si moueve“ mithin die Wahrheit aussprach. Bruno dagegen war noch ein wahrhaft Widerständiger gewesen, quittierte der Mann doch das eigene Todesurteil mit der geschliffenen Sentenz, die ihn verurteilende Kirche träfe ihren Beschluss mit grösserer Furcht, als er denselben entgegennähme! Hinzu kommt, dass Brechts breite und „gerechte“ Darstellung der menschlichen Schwächen Galileis als Gourmet, Plagiator und auch noch notorischen Rotweinliebhaber ja dazu dienen sollte, eine ihrerseits bloss „kulinarische“ Identifikation des Zuschauers mit dem „Helden“ zu verhindern.

Bevor ein Blick auf die Rezeption des Brecht’schen Stückes dieses Kapitel abzuschliessen vermag, der notwendige Hinweis auf die immanenten Grenzen des Brecht’schen „Epischen Theaters“ selbst; insbesondere, wo dieses die Darstellung einer historisch-astronomisch- Zeitenwende unternahm. Nicht bei Brecht, nur bei Shakespeare läge das wirklich tragende Modell eines Theaters vor, befand nämlich Peter Brook in Der leere Raum, „das Brecht und Beckett einschliesst, aber über beide hinausgeht.“Footnote 59 Das mochte sich so verhalten haben. Brecht sah sich ganz gewiss als einen Autor, der die Wissenschaftlichkeit seines (in diesem Fall ja auch noch genuin astronomischen) Themas auf künstlerische Weise so einzuholen unternahm, wie gleichzeitig umgekehrt Ernst Bloch in Leipzig das Künstlerische auf wissenschaftliche Art. Eben dies machte sich gerade bei der Rezeption des Galilei-Stückes bemerkbar. Manfred Wekwerth hat gemeint: „Die Rettung kam von einer Seite, die Schiller für den Schwund der Naivität verantwortlich macht: die Wissenschaft. Wollte die Kunst wieder naiv werden, musste sie nicht ‚zur Idee aufsteigen.‘“Footnote 60 Diese Erkenntnis zielte im Übrigen auf das, was auch hier unternommen wird: Die Konstitution einer „Dritten Kultur“, wo diese die hergebrachte Spaltung in „Erste“ und „Zweite Kultur“ zu überwinden trachtet. Dass solches Bemühen sich der Legitimation durch neueste Atomphysik zu bedienen sucht, erscheint nur logisch; bereits damals bei Brecht, heute erst recht. Zumal, wie im Brecht-Jahrbuch ebenfalls vermerkt, im Zuge der Durchsetzung der sog. „Postmoderne“ in den 90-er Jahren, damals folgender Prozess einsetzte: „Das Problem des Galilei scheint den Rezensenten zunehmend unverständlicher zu werden.“Footnote 61 Im Zeichen des aufkommenden „anything goes“ und der heiteren Herrschaft verspielt-autistischer Inszenierungen entstand ein „Galilei für alle“. „Für Deutschlehrer zum Mitmurmeln, für Schüler zum Bekichern. Um die ewige Aktualität Galileis braucht niemandem bange zu sein, wenn sogar die katholische Kirche inzwischen meint, ihre Fehler von damals noch korrigieren zu müssen.“Footnote 62 Gerhard Preusser, der dies bemängelte, sah in Brechts Stück selbst die Ethik als Verkaufsargument dargestellt. In „postmoderner Polemik deutet sich hier bereits erstmals eine ‚thematische Langeweile‘ an und ein explizites Unverständnis der Brecht’schen Intention, die in den späteren Jahren immer deutlicher hervortreten.“Footnote 63 Es entstanden Inszenierungen, bei denen der Zuschauer nie mehr auch nur „in die Nähe einer Vermutung gelangt, worauf der Autor eigentlich hinauswill (vom Regisseur nicht zu reden).“Footnote 64 Wir alle haben diese Erfahrung im zurückliegenden halben Jahrhundert gemacht. Die jede Ernsthaftigkeit lustvoll abgelegt hatten, erblickten selbst in Brechts Galilei nichts anderes mehr als „eine Mär aus den Kindertagen des Kopernikanischen Weltbilds“Footnote 65 – was nur noch einmal belegt, wie vergeblich der Versuch von Elinor S. Shaffer gewesen war, ausgerechnet die „Postmoderne“ und eine neue „Dritte Kultur“ unter’s gleiche Dach einzuquartieren. Da war der Untermieterkrieg programmiert!

„Und sollen wir etwa von vorn anfangen?“ fragt, folgerichtig entgeistert, das hier vielfach bemühte Brecht-Handbuch angesichts der ausführlich registrierten Defizite. Warum denn nicht? Eben deshalb bedarf es ja einer neuen, einer „Dritten“ Kultur. Denn dass die Farce als Theatergenre keine wirklich tragende Antwort war auf den Kriegs-Einsatz der Atomspaltung zu bieten vermochte, eben weil die Physik die Ethik womöglich für immer ausser Kraft gesetzt haben könnte, das lehrt uns der Schweizer Stückschreiber (und Kriminalroman-Autor) Friedrich Dürrenmatt als sich anbietender Schlusspunkt dieses Kapitels. Bereits der Kulturphilosoph Klaus Heinrich war im Gespräch mit dem Regisseur Tragelehn der Meinung gewesen, dass Brecht im tiefsten davon überzeugt gewesen war, „dass Galileische Physik die Ethik ausser Kraft setzt“.Footnote 66 Damit sind wir an einem hoch interessanten Punkt angekommen, wo mit Blick auf die ethische Wertung des Galilei doch tatsächlich auch noch Albert Einstein (und mit ihm Max Brod) zu Wort kommen müssen. Seit der geschilderten Begegnung in Prag hatte Max Brod versucht, mit dem Physikgenie Kontakt zu halten, was nicht einfach war bei beider Emigrations-Schicksal samt Einsteins immer nur anwachsender Berühmtheit. Mit dem bedeutenden Verkaufserfolg des Brod’schen Tycho Brahe (im Kriegsjahr 1917 waren an die 32.000 Exemplare verkauft, im Jahr 1920 dann konnte der Verlag an die 52.000 zählen, die gerade im Druck waren), ein belletristischer Erfolg also sondergleichen für den Autor Brod, wuchsen dessen Bemühungen, mit Einstein in intensiveren Kontakt zu gelangen. Es war ein mutmachender Erfolg, auch darauf begründet, dass dieses Buch womöglich Brods überzeugendster historischer Roman war, von ihm selbst so empfunden und gegenüber dem Verleger Kurt Wolff jedenfalls gefeiert, und auch das einzige Romanwerk aus Brods Feder, das heute in Kindlers Literaturlexikon zu finden ist. Sein Autor unternahm es also über längere Zeit hinweg vergeblich, von Einstein eine Stellungnahme ausgerechnet zu der Frage zu erhalten – ob denn der Kepler des Buches womöglich der Relativitäts-Theoretiker „selbst sei“? Diese Anfrage muss Einstein verstört (oder gar belustigt) haben und kam wie folgt zustande: Der deutsche Chemiker W. Nernst hatte Brods Buch gelesen und seinen Bekannten Einstein darauf aufmerksam gemacht: „Dieser Kepler, das sind Sie.“Footnote 67 Einstein hatte daraufhin, zögerlich von Anfang an, Brods Tycho Brahe gelesen, später wohl auch Kafkas Schloss. Dann aber die Festlegung eher vermieden, auch wenn es sein enger Freund Max Born samt dessen Frau Hedwig waren, die ihn dazu aufforderten. Der Roman sei, so der Spezialist für Relatives, „interessant“; und von einem Mann geschrieben, der zweifelsfrei die Tiefen der menschlichen Seele kenne. Er habe den Verfasser einmal in Prag getroffen, das sei freilich schon länger her.Footnote 68 Einsteins literarisches Urteil über den Verfasser fiel dann doch ähnlich harsch aus, wie später sein Verdikt gegen Kafkas Schloss, letzteres wird noch zu berichten sein. Zwar, der Physiker liess sich vorerst, mit Blick auf Brods Tycho und auf die (für ihn offenbar nicht sonderlich engagierende Frage), ob er für Kepler „Modell gestanden habe“, nicht aus der Reserve locken. Ganz anders freilich dann, als es um Galilei ging! Bei dieser Gelegenheit legte Einstein tatsächlich „Zeugnis ab“. Nach jahrelangem Schweigen zwischen den beiden Männern hatte Brod, inzwischen eher unglücklich im Exil in Tel Aviv, erneut zu Einstein Kontakt gesucht, und zwar nunmehr durch die Übersendung seines in Israel geschriebenen Galilei-Romans. Es ging ihm in erster Linie gar nicht um Literarisches. Was der ehemalige Prager damals wirklich wollte, war eine Möglichkeit, aus Tel Aviv ins amerikanische Exil zu wechseln, unter anderem mit dem Vorhaben begründet, dort an einer (vorzüglich kalifornischen) Universität ein Kafka-Archiv zu etablieren. Einstein, sonst ein eifriger und grosszügiger Helfer in solchen Fragen, verweigerte sich. Zunächst. Nicht aber mehr, als es dann konkret um Galilei ging. Den hatte Brod als einen Volksfreund und leidenschaftlichen Aufklärer portraitiert, dazu eine avancierte Form des Erzählens gewählt: Neben den hergebracht allwissenden Erzähler wurde die emotionsgeladene und sehr authentische wirkende Stimme Galileis gestellt, geradezu als „Innerer Monolog“. Dazu bezog Einstein, nunmehr detailliert, fair und erstaunlich offenherzig, nun tatsächlich Stellung. Hier ging es für das Genie ganz offenbar um ein tua res agitur. Albert Einstein pries zunächst einmal Brods Fähigkeit, durch Einsicht ins Innere der Personen Geschichte zu präsentieren, zudem noch lang zurück liegende. Galilei als Person, den habe er sich freilich anders vorgestellt. Kein Zweifel, dass dieser Mann in hervorstechender Weise an der Wahrheit interessiert gewesen sei. Aber dass Brods Galilei gegen alle Widerstände nun gerade auch die Volksmassen in ihrem oberflächlichen und wankelmütigen Bewusstsein erreichen wollte, so seine letzten Jahre wegwerfend, das verstehe er, Einstein, überhaupt nicht. Zumal Galileis erzwungener Widerruf doch Dinge betroffen hätte, über die damals jeder Interessierte hätte informiert sein können. Auch verstehe er nicht, dass sich der Wissenschaftler in die „Höhle des römischen Löwen“ begeben habe, um mit Klerikern und „anderen Politikern“ zu diskutieren. Nun aber kam Albert Einstein zur eigenen Sache; sie soll hier (wie immer in englischer Übersetzung Gordins) wortwörtlich zitiert werden: „Certainly I cannot imagine that I would have undertaken such a thing in defence of relativity theory. I would think: the truth is incomparably stronger than I, and it seems to me laughable and quixotic to want to defend it with sword and Rocinante.”Footnote 69 Dieser Kritiker hatte eben einst, in Bern in seiner transdisziplinären Diskussionsgruppe, auch im Don Quichotte über des schwerttragenden Ritters Pferd „Rosinante“ gelesen. Und die darin gebotene Satire überlebten, darum lächerlich gewordenen Heldeneifers niemals vergessen. Seine Argumentation wird übrigens wiederkehren in Dürrenmatts eigenen Erläuterungen zu seinen Physikern (siehe weiter unten, und ohne dass der Schweizer Einsteins Haltung zu Galilei hätte kennen können). Ansonsten merkte der, sich bei dieser bemerkenswerten Gelegenheit doch tatsächlich selbst auslegende Einstein noch an, dass er bezweifele, ob Galilei den Katholizismus wirklich so gehasst habe, wie bei Brod dargestellt. Der Nobelpreisträger schloss mit einem überhaupt nicht ironischen gemeinten und ausführlichen Lob der überaus lebendigen Milieudarstellungen in Brods Galilei. Mit der Übersendung seines Textes war diesem ein Coup gelungen. Das weltberühmte Physikgenie Einstein hatte antwortend sein Selbstverständnis dargelegt, und das auch noch mit Blick auf einen bedeutenden Vorgänger! Freilich: Seinem Ziel, dem Exilwechsel nach Kalifornien samt dort zu installierendem Kafka-Archiv, war Max Brod keinen Schritt nähergekommen. Sein Galilei-Text war damals in Tel Aviv zwar ausgezeichnet, dafür aber so giftig angefeindet worden von den dortigen auf Hebräisch schreibenden Autoren, dass Brod ihn in seiner späteren Selbstbiographie in Schweigen begrub. Das angestrebte Kafka-Archiv verblieb in Israel, wurde seiner Sekretärin und vertrauten Mitarbeiterin Hoffe übergeben und führte am Ende zum gerichtlichen Streit mit dem Staat Israel um die Eigentumsrechte, worüber später ein eigenes Buch verfasst zu werden vermochte.Footnote 70 Die Angelegenheit würde also rund ein halbes Jahrhundert später zu einem Verhandlungsgegenstand vor Gericht geraten, übrigens mit Beteiligung von deutscher Seite in Gestalt des Marbacher Literaturarchivs – das den Jerusalemer Prozess verlor, aber im Besitz des Kafka’schen Process (Originalexemplar!) verblieb. Einstein dachte also ganz anders als Galilei, was bisher nicht belegbar gewesen ist; und (um abschliessend weiter zu Dürrenmatt zu gelangen), der Berliner Philosophieprofessor Klaus Heinrich hatte gewiss die Dürrenmatt’schen Physiker gelesen, als er sich an der Debatte über das Schicksal des Brecht’schen Physiker-Stückes in der Postmoderne beteiligte. Heinrich erwähnte dabei nicht, was umgekehrt Dürrenmatt als der Polyhistor, der er wahrlich gewesen ist, allerdings parat hatte, und es dann auch als Begründung anführte (dabei von sich selbst in der dritten Person sprechend): „Galilei ist wissenschaftlich unterlegen. Aber das ist nun nicht die Dürrenmatt’sche Pointe, wie Sie glauben, sie ist ganz anders. Die geht nämlich so, dass Galilei ein Buch hatte, das er nicht gelesen hat … in diesem Buch war genau beschrieben, dass die Planetenbahnen Ellipsen sind. Das war der Kepler: Die neue Astronomie. Aus Faulheit? Na ja, aus Faulheit – und: Was soll schon ein Barbar wissen! Das ist die Pointe: er hatte den Beweis, aber er hat es nicht gewusst aus gesellschaftlichem Vorurteil Dort sehe ich die Komödie Galilei.“Footnote 71 Eine neue Wende im Fall Galilei, annonciert von einem sehr selbstsicheren Autor, und eine neue Wende in der Frage der Literaturgattungen: Komödie anstatt Tragödie? (In unserem Koordinatensystem: Kafkas neuer, naturwissenschaftlich inspirierter, und auch darum nüchterner Romanstil, – oder „seelenvoller“, um „Liebe“ und Selbstausbildung bemühter „Realistischer Roman“?) Mithin paradox schillernde „elektromagnetische“ Feldlinien, anstelle festgefügter Sternbahnen, seien diese nun kreisförmig oder eliptisch; und in diesen astronomischen Kontext die Frage des literarischen Gattungswechsels hineingestellt, um sie am Beispiel des „Kafkaesken“ zu erläutern.

Es bleibt noch, die oben thematisierte Entwicklungslinie abzuschliessen, und dies mit Rekurs auf jene Überlegungen aus dem Beginn dieses Jahrhunderts, in denen sich bei Brockman die „Science“ exemplarisch gegen die (inzwischen von der „Postmoderne“ bestimmten) „Literature“ aufgelehnt hatte. Also noch einmal (freilich nunmehr auf höherem Erkenntnisniveau) die beiden bereits angesprochenen englischsprachigen Bände von Brockman und Shaffer zur „Third Culture“. Dürrenmatts Physiker sind ein Erfolgsstück aus den sechziger und siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts; sind inzwischen Bestandteil der Weltliteratur und als solche in Lexika und Handbüchern vertreten. Was man bislang nicht verzeichnet hat: Sie markieren den eigentlich grösstmöglichen Abstand zwischen den zwei Snow’schen „Kulturen“, sind eigentlich die perfekte Denunziation der zweiten durch die erste. Der Tatbestand wiederum wäre nicht denkbar gewesen ohne den Einsatz der Atombombe gegen Ende des Zweiten Weltkriegs (und auch nicht ohne die tiefgreifenden politischen Spannungen zwischen den beiden Paktsystemen in den sechziger und siebziger Jahren des vorigen Jahrhunderts, samt Kafka-konnotiertem „Prager Frühling“ erst, und danach „Cuba-Krise“ mit darauf erfolgender Abrüstung durch Michail Gorbatschow und Ronald Reagan). Friedrich Dürrenmatt wiederum wurde in den siebziger Jahren vom dtv-Lexikon der Weltliteratur gefeiert als führender Dramatiker, der eine „Standortbestimmung des Menschen“ zusammen mit wegweisenden literarischen Formexperimenten durchführe. Kein Zufall war, dass kein anderer als Hans Mayer Bedeutendes insbesondere zu Dürrenmatts „astronomisch-physikalischen“ Stücken, also Die Physiker oder auch Der Meteor, veröffentlicht hat.Footnote 72 Da ging es dann nicht nur um die literarische Formproblematik, sondern auch politisch um die „deutsche Misere“; zu zeigen wird sein, wie beides der konsequenten Abwesenheit einer „Dritten Kultur“ geschuldet erschien, sozusagen einen hochaufragenden Peak (deutscher) Borniertheit bildend. Wir erinnern uns: Dürrenmatts Die Physiker, später wohl das meistgespielten Stück des Schweizer Erfolgsdramatikers, entstand 1961; wurde am 20. II. 1962 in Züricher Schauspielhaus uraufgeführt und dann 1980, in zweiter Fassung, in des Meisters Werkausgabe aufgenommen, wonach es in den Lexika zum Paradigma für die Literarisierung von Physiker-Grössen wie Einstein und Newton aufgestieg.Footnote 73 Es geht in diesem Stück um nichts geringeres, als um die grundlegende Gefährdung der Welt durch die moderne Atomphysik. In einem Stück also, dass schon eher Farce als noch Tragödie heissen musste, wiewohl es, welch Ironie!, die drei Einheiten von Zeit, Ort und Handlung aristotelisch strikt bewahrte – weil doch etwas „vernünftig“ bleiben musste in einer Welt, in der den Naturwissenschaften die Vernunft gänzlich abhandengekommen schien. Selbstverständlich war in einem solchen Vorhaben die Verbindung zu Brechts Galilei-Stück nicht nur durch Dürrenmatts Widmung für die Brecht-Schauspielerin Therese Giese zur Stelle. Der aristotelisch einheitliche Ort dieses Spektakels war paradoxerweise just der einer absoluten Unvernunft: Nämlich das private Nervensanatorium, das die weltbekannte Psychiaterin, die bucklige Dr. h.c. Dr. med. Mathilde von Zahnd, eigenwillig bis schrullig leitet. Unter ihren Insassen: Drei harmlose und liebenswerte Irre: Ernst Heinrich Ernesti, der sich für Einstein hält, Herbert Georg Beutler, der glaubt, Newton zu sein, und Johann Wilhelm Möbius, dem von König Salomon höchstselbst weltverändernde Erfindungen diktiert werden. Es geschehen verwickelte, kriminelle Dinge in der Psychiatrie der buckligen Adligen. Dürrenmatt, einschlägiger und erfolgreicher Autor von Kriminalromanen, lässt einen Kriminalinspektor drei Morde an Krankenschwestern untersuchen, die sich in jüngster Zeit im Sanatorium Mathilde von Zahnts ereignet haben. Diese Krankenschwestern wurden Opfer höherer staatspolitischer Notwendigkeit: Möbius hatte mit einer genialen Dissertation die beiden grössten Geheimdienste der Welt auf sich aufmerksam gemacht, leichtsinnigerweise, die nun zwei „wirkliche“ Kernphysiker, nämlich Kilton als Newton und Eisler als Einstein, in die Anstalt zu diesem genialen Möbius senden (der seinerseits vor dem Wahnsinn der Welt Zuflucht im Schweizer Irrenhaus gesucht hatte). Der Mann wollte, Kafkas Prag sowie Einsteins Relativitätstheorie lassen nachdrücklich grüssen, nichts Geringeres als die Weltformel entdecken! Simulierte nun aber angesichts der wahnsinnig gewordenen Welt aus moralischer Verantwortung heraus lieber selbst einen Wahnsinnigen. Der Kernsatz dieses Verwechslungsspiels lautet: „Wir müssen unser Wissen zurücknehmen… Entweder bleiben wir im Irrenhaus, oder die Welt wird eines.“ Das ist schön schmissig, durchaus literatur- und theatertauglich formuliert, ein Gag im Zusammenhang weltumspannender Farcenhaftigkeit, aber nicht unbedingt gerecht gegenüber den „Sciences“. Geht, entsprechend dem schwarzen Charakter jener vielschichtigen Farce, die Dürrenmatts Nicht-Mehr-Tragödie darstellt, am Ende dann auch schief. Denn die bucklichte Mathilde hat das Spiel ihrer Insassen durchschaut. Hat deren Wissen bereits gestohlen, und vermarktet es in einem von ihr betriebenen weltumspannenden Trust. Auch ihr ist nämlich König Salomon erschienen – um durch die bucklige Dame selbst nach der Weltherrschaft zu greifen. „Hinter den drei Kernphysikern aber schliessen sich die Anstaltsgitter für immer. Als Einstein, Newton und Salomon erscheint ihnen der selbstgewählte Wahnsinn als die einzig sinnvolle Existenzform in einer Welt, die dem eigenen Untergang entgegentaumelt; als Mördern bleibt ihnen keine Wahl als das Paradoxon vernünftiger Schizophrenie.“Footnote 74 Damit ist, ganz wie in Kafkas Erzählen, und insbesondere da, wo er an Maxwells und Einsteins Gesetzen sich orientiert, das Paradoxe zum Bauprinzip erhoben. Allerdings sehr spektakulär, während beim Prager Zurückhaltung waltet, aber andererseits doch nicht so grell wie in Weiss’ Röntgenstrahlen-Roman, den Kafka lektorieren wird. Wir befinden uns damit im Herzbereich des Dürrenmatt’schen Stückes (und mithin auch in dem unseres Buches). Des Autors Dürrenmatt berühmt gewordene 21. Punkte zu den ‚Physikern‘ enthalten allein vier, in denen er die zentrale Stellung des Paradoxalen statuiert hat: „11. Sie (die Geschichte, B.N.) ist paradox. 12. Ebensowenig wie die Logiker können die Dramatiker das Paradoxale vermeiden. 14. Ein Drama über die Physiker muss paradox sein.“ – so paradox, wie Franz Kafkas ihrerseits paradoxal durchtränkte, aber verglichen mit Dürrenmatt immer noch „realistische“ Romane? Der Tatbestand besitzt in beiden Fällen Folgen für die Gattungswahl. Zwar sind die drei Aristotelischen Einheiten peinlich genau bewahrt, doch das Stück selbst kann keine klassische Tragödie mehr sein. Sondern nur noch eine ultramoderne Farce, oder eben das Satyrspiel vor dem Beginn der Tragödie selbst (letzteres wäre dann einleuchtender Weise der reale Atomkrieg). Die Nähe zur modernen Atomphysik verhext hier notwendig die hergebrachte Form; bei Dürrenmatt die antike Tragödie, bei Kafka den „Realistischen Roman“. „In bewusstem gelegentlich inadäquatem Kontrast zum Tragischen gestaltet Dürrenmatt das Komische in Form des effektvollen Irrenwitzes, der pointierten Wortwiederholung, und des saloppen Gags. Dank dieser verbalen Komik entspannt sich allerdings der angestrengt intellektuelle Charakter des Stücks, seine Tendenz zum scharfsinnigen, an szenischer Dynamik relativ armen Diskussionsform.“Footnote 75 Mit anderen Worten: Diese vollständige Vernichtung der „Zweiten“ durch eine absolut gesetzte „Erste Kultur“ hinterlässt vor allem höheren Klamauk; diesen freilich als hoch unterhaltsamen, bestrickend amüsanten. Doch eine ernst zu nehmende, weil nicht nur einseitige Diskussion in Richtung auf eine „Dritte Kultur“ lässt sich von hier aus nicht mehr führen. Wohl aber eine Verlängerung des Dürrenmatt’schen Konzepts hinein in die spätere Postmoderne mit ihrem „any thing goes“, was ja dann auch Elinor S. Shaffers zeitbedingt besonderes Anliegen gewesen war?

Im Durchgang durch Dürrenmatts Stück wird paradigmatisch deutlich, dass beides nicht zu koexistieren vermag. Kritik, die zuvor noch im Kielwasser von Brechts Galilei segelte, verliert ihren Kurs und strandet auf den Klippen des nur noch Beliebigen. Es geschieht, was Dürrenmatts späterer Meteor gestaltet: Der Einschlag des nur noch Absurden vernichtet am Ende alles Leben auf Erden. Erfüllt derart den Todeswunsch des Physik-Nobelpreisträgers Möbius, der zu sterben wünscht, aber es nicht vermag. Beide Stücke zeigen zudem, dass der Schweizer Dramatiker daneben nicht nur Kriminalromanautor, sondern auch ein genialer „Resteverwerter“, postmodern noch vor der „Postmoderne“, gewesen war. Der Schweizer betrieb freilich noch offen als Farce, was dann später, etwa bei Jaques Derrida, zu Wissenschaft avancieren sollte: Den „Retouch“ von Quellen und die „kreative“ Umschreibung von Texten, u. a. solchen von Kafka.Footnote 76 Es geht ferner um die „Vorlage“ zu Dürrenmatts Möbius-Figur. Schon die Namensfindung war unbestreitbar kreativ: Das „Möbiusband“ erscheint ja als eine avancierte Skulpturform, die ihrem Betrachter, je nach Blickwinkel, ganz Verschiedenes zeigt, vergleichbar den Statuen bei Kafka, wie Barbara Di Noi herausgearbeitet hat, was noch erläutert werden soll. „Möbius“ bei Dürrenmatt aber ist unverkennbar gearbeitet nach einem „wirklichen“, ebenfalls genialen Physiker, über dessen Schicksal ganze Bücher existieren seit seinem rätselhaften Verschwinden im Jahr 1938. Es geht um Das Verschwinden des Ettore Majorana,Footnote 77 wie es Dürrenmatt offenbar zur Vorlage für seine Zentralfigur gedient hat. Hier hatte sich tatsächlich ereignet, was der Dramatiker in den Mittelpunkt seiner ernsten Farce stellt: Im Jahr 1932, lediglich sechs Monate nach der Publikation von Heisenbergs „Unschärferelation“, stellte der damals fünfundzwanzigjährige Ettore Majorana den Kollegen vom Physikalischen Institut der Universität Rom (unter ihnen auch Enrico Fermi!) seine neugefundene Theorie des Atomkerns vor. Der Mann weigerte sich, dieselbe zu veröffentlichen; Heisenbergs Veröffentlichungen erwähnte er mit den Worten, dass in diesen bereits alles gesagt sei, – „wahrscheinlich schon zu viel“. Hier lag tiefes Erschrecken, ein Schauder vor der eigenen Entdeckung vor, wie immer die Hahn’sche Uran-Atomspaltung erst wenig später stattfinden wird (aber als Möglichkeit seit langem abzusehen gewesen war, man denke nur an Einsteins geschilderte Teilnahme an der Marie-Curie-Konferenz nahezu zwei Jahrzehnte zuvor); all das führte zu einem rätselhaften Verschwinden, das „Möbius“ bei Dürrenmatt in die Irrenanstalt führt, wo er freilich dann eben doch entdeckt wird. Das Dürrenmatt’sche Spiel dann musste seinerseits Majoranas Schicksal ja weiter ausspinnen, einen Theaterabend zu füllen. In der Realität ist das Verschwinden des italienischen Teilchenphysikers Ettore Majorana bis heute tatsächlich völlig ungeklärt. Wir wissen lediglich: Am 25. März des Jahres 1938 bestieg der Wissenschaftler das Postschiff von Palermo nach Neapel. Er hatte am dortigen Physikalischen Institut eine Vorlesung zu halten. Der Mann galt als jemand, der der Kernspaltung (die wie gesagt zum Anstoss von Brechts Galilei dienen sollte) seinerseits auf der Spur war und dabei bereits fürchtete, dass die Tragweite seiner Entdeckung dazu führen könnte, dass die Kernphysik vom Militär vereinnahmt werden würde – ganz so, wie es bei Dürrenmatt dann geschieht (und zuvor in den USA Ereignis geworden war, Hahn und Heisenberg unterhielten sich eben darüber in ihrer – ausgerechnet -- amerikanischen Gefangenschaft auf englischem Boden, wie referiert). Auf diese Weise entsteht auch ein Rückbezug auf Brechts Stück, dessen humanistische Dimension Dürrenmatts Farce eher unter sich begräbt. Auf der anderen Seite war dieses Resultat nur logisch als Konsequenz der Einbeziehung bereits „postmoderner“ Elemente in Dürrenmatts Erfolgsstück. Hier lag er vor, der zum Text gewordene Beleg dafür, dass die Koexistenz von „Dritter Kultur“ und „Postmoderne“ eine besondere Illusion von Elinor S. Shaffer bleiben musste. Gerade der so deutliche Rückbezug auf „Wirkliches“ macht den Illusionscharakter von Dürrenmatts Farce unverkennbar, – so wie ein jedes „Möbiusband“ verwirrend changiert, wenn man den Betrachterwinkel verändert, ganz im Einklang wiederum mit Heisenbergs „Unschärferelation“. Kafkas Texte wiederum wissen dies, scheinen darin kommende physikalische Erkenntnis literarisch vorweg zu nehmen.

Diese Schlussfolgerung bestätigt sich im ganz besonderen Verhältnis des Pragers zu Statuen und Denkmälern, das seinerseits in jenem Blickwechsel zum Ausdruck kommt, den die Stein gewordene Person mit einer lebenden Person unterhält, was dann mit der Versteinerung des Lebenden enden kann. Man könnte den Sachverhalt auch paradoxal, möbiusbandartig (das Innere scheinbar nach Aussen gestülpt), formulieren: Ein Beobachter, der dabei ist „zu versteinern“, weil ihm die Grundlage der Existenz entzogen wird (so wie dem Kafka des Weltkriegsschlusses nach 1918) entdeckt sich als bereits versteinerten in Skulpturen wieder, die ihrerseits eben das abbilden, was ihm einmal sein „warmes“, weil noch nicht versteinertes Leben bedeutet hat? So jedenfalls hat Kafka, krank und als vorzeitig pensionierter Beamter, sich selbst nach der Niederlage Österreichs erblickt: „Er war früher Teil einer monumentalen Gruppe. Um irgendeine erhöhte Mitte standen in durchdachter Anordnung Sinnbilder des Soldatenstandes, der Künste, der Wissenschaften, der Handwerke. Einer von diesen war er. Nun ist die Gruppe längst aufgelöst oder wenigstens er hat sie verlassen und bringt sich allein durchs Leben. Nicht einmal seinen alten Beruf hat er mehr, ja er hat sogar vergessen, was er damals darstellte. Wohl gerade durch dieses Vergessen ergibt sich eine gewisse Traurigkeit, Unsicherheit, Unruhe, ein gewisses die Gegenwart trübendes Verlangen nach den vergangenen Zeiten. Und doch ist dieses Verlangen ein wichtiges Element der Lebenskraft oder vielleicht sie selbst.“Footnote 78 Der Zusammenhang dieses auf seine Weise „unerhörten“ Zitats mit den (bereits geschilderten) Kafka’schen Prometheus-Variationen von ebenfalls 1918/1919 liegt auf der Hand: Der einstmals das Feuer, den Inbegriff allen warmen Lebens, vom Himmel holte, ist nun selbst zu kaltem Stein geworden. Da sogar der vormals so lebendige, „electrische“ Prometheus nunmehr zu Stein erstarrt ist, versteinert er umgekehrt auch alle, die zu ihm aufblicken. Kafkas Selbstbegegnung mit einer besonderen Statuen-Gruppe ist oben geschildert worden; sie erfolgte nach Kriegsschluss, mithin zu Zeiten, da sein Prometheus bereits versteinert war. Insgesamt gilt folglich, was Barbara Di Noi erkannt hat: „Statuen sind bei Kafka nicht nur Gegenstand des Schauens: von ihnen wird man zugleich zurückgeschaut. Indem sie das Leben zu fixieren und zur Erstarrung zu bringen vermögen, werden sie in mancher Hinsicht zum Analogon der Schrift.“ Sie stellen darum „die andere, gleichsam verkehrte Seite der Zeitverräumlichung“ dar,Footnote 79 was, so ist hinzuzufügen (und später noch detailliert auszuführen) spezifisch zusammenhängt mit jener neuen Verbindung zwischen Zeit und Raum, wie sie bezeichnend erscheint für Einsteins Relativitätstheorie. In diesen Zusammenhang gehören auch mögliche Zusammenhänge zwischen Mechanismus und Musik, wie die Autorin sie (in Zusammenarbeit mit Werner Keil) untersucht hat. Di Noi schreibt weiterhin: „Häufig überträgt Kafka Zustände und Gebärden des erlebenden Ich auf die Skulpturen. Der Umstand, dass er zwischen Fleisch und Stein keinen Unterschied zu statuieren scheint, … hängt mit der eigentümlichen Wiederkehr von entfremdeten Varianten des Mythos in seinen Texten zusammen. Das ist übrigens nicht so erstaunlich, wenn man sich die unzähligen Prager Sagen und Legenden vergegenwärtigt, die von zu Stein gewordenen Menschen erzählen. Mit solchen Legenden und Sagen sind viele Skulpturen in Kafkas Heimatstadt verbunden“. Und: Vor dem Hintergrund der Nachkriegsverhältnisse und vor allem der Krise der deutsch-jüdischen Kultur in Prag könne man diese steinerne, aus der damaligen Gruppe überlebende Einzel-Statue „als Verkörperung jenes widersprüchlichen Bedürfnisses nach Gemeinschaft verstehen, das Kafkas Leben charakterisierte und das dem letzten Assimilationsversuch zugrunde liegt.“Footnote 80 Mit solch transdisziplinärer Zusammenschau und dem Ausblick, dass eben diese, und womöglich sogar noch bruchlos, zu überführen möglich sein wird in die Begegnung zwischen Brod, Kafka und Einstein hinein, beenden wir diese erste Abteilung. Um uns modernerer Literatur als der romantischen zuzuwenden, was aber auch wieder nur auf das gleiche durchschlagende und genuin frühromantische Prägemuster in aller deutschen Literatur hinauslaufen wird: „Der Deutsche“ ein „genuiner Romantiker“?