Ein weiterer, entscheidender Punkt der 1913 geschlossenen Freundschaft zwischen den beiden böhmischen Schriftstellern war deren Sicht auf Mozart. Unter den Essays zur Kunst des Erzählens, mithin im Band 16 der Suhrkamp’schen Gesamtausgabe, findet sich ein einziger Text, die Musik betreffend. Wie bereits referiert, ist er ist überschrieben mit Mozart, ein Meister des Ostens. Geht auf jene Eindrücke zurück, die sein Autor als weltreisender Schiffsarzt in Asien erhalten hatte. Da auch die erwähnte Schurig’sche Mozart-Biografie im gleichen Jahr erschienen war, ist mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmen, dass auch dadurch Weiss und Kafka in dem altösterreichischen Musikgenie, dem „göttlichen Kind“ der „kakanischen“ Musikgeschichte, einen gemeinsamen Interessenfokus gefunden hatten. Der Tatbestand müsste ins Kalkül einer jeden Arbeit über den nicht nur „electrischen“, sondern auch noch „altösterreichischen“ Kafka gezogen werden.Footnote 1 In beiden Fällen steht im Zentrum der Mozart-Beschäftigung dessen Don Giovanni. Gleichsam in Fortführung der angesprochenen Mozart-Biographie von 1913 ff. konzentrierte sich auch Weiss’ Interesse auf dieses Thema. Das geschah allerdings unter einem (womöglich schwärmerischen zu heissenden) „taoistisch-asiatischen“ Aspekt, bei dem „asiatisches“ All-Denken das erstes Merkmal ausmachen sollte. „Zum zweiten (und wievielten?) Male nähert sich der Osten, Chinas Urweisheit, in Urworten ruhend, tröstlich dem zertrümmerten Europa: Ein helles Sternengebäude erhebt sich über eine entgötterte, mehr als das, entseelte Welt.“Footnote 2 Mozart als strahlender Stern, auch am östlichen Himmel, Ersatz für bereits erloschene andere „westliche“ Sterne? Weiss statuiert jedenfalls Mozarts Verführer-Drama als eine Fortsetzung des Faust mit den Mitteln der Musik; mithin als etwas, das sogar China fehlen würde. „Zwei europäische, westliche Probleme kennt China nicht: die Frage nach der Gerechtigkeit Gottes, das ist das Problem Hiob, und die nach der wirklichen metaphysischen Entwicklungsfähigkeit des Menschen, das ist die Frage Faust….Was als die Tragödie begann, endet als die Oper.Footnote 3 Weiss schreibt hier Sätze nieder, die ihn als kenntnisreichen und leidenschaftlichen Musikgourmand ausweisen. Die aber im Licht rationaler Kritik doch nicht völlig überzeugen können: „Aus dem Wandel ruheloser Zeiten sich hebend wie der Glanz des Mondes über dem Wasserfall in den schwarzen Wäldern: Da begegnet Beethoven seinem Ahn und Meister Mozart, hier rührt er an Chinas Grenzen.“ Nun ja; was gut und teuer ist, muß herbeizitiert werden. Und gewiss erfüllte Weiss darin auch jene „Blutsbrüder“-Connection, die Franz Kafka so teuer war. Denn: „Verständlich ist es in diesem Sinne, dass Mozart als Ganzes nicht verständlich ist. Ein Paradoxon von Kierkegaard’scher Tiefe, und nicht das einzige! Als Naturschauspiel des Glücks, ein wundertätiger Knabe, ganz Lächeln und ganz Schöpfung, so tritt, so funkelt Mozart, das Kind, in die Welt.“Footnote 4 Zumindest das spezifisch Paradoxale am Phänomen Mozart liebte auch Kafka, wie immer auch weniger hochgesteilt schwärmerisch; doch die Verbindung des China-Komplexes mit dem altösterreichischen Musikgenie muss ihm in der Tat willkommen gewesen sein. Kam hierin doch zum Ausdruck, was die Besonderheit dieses Nachtschreibers ausmachte, von dem es glaubhaft heißt, er habe sich als Prags „letzter Chinese“ empfunden ( so in Gustav Janouchs Gespräche mit Kafka). Schließlich war Kafka einer gewesen, der auf seinem Schulhof den musiktheoretischen Kampf Wagner gegen Mozart, einen rabiat ausgetragenen, miterlebt und mitgekämpft hatte.Footnote 5 Gerade das Paradoxe als das innerste Wesen von Mozarts Musik, wie Weiss es herausarbeitet und mit dem „Chinesischen“ verschränkt, dürfte den Autor zahlreicher „chinesischer Geschichten“ Franz Kafka schon berührt haben. Zumal Weiss (ohne den Verschollenen zu kennen) noch ein weiteres Mitglied, und nunmehr ein zentrales, aus der Horde der Kafka’schen „Blutsbrüder“ in’s, wie es bei ihm heißt, „chinesische Glücks-Spiel“ einbringt: „Wie bei Kleists Penthesilea öffnet sich ihm in seinem Busen selbst der Abgrund des Unermesslichen.“Footnote 6 Derart vermochte allerdings tiefere Gemeinsamkeit zu entstehen, unbeschadet aller Panegyrik, in die Weiss zuweilen verfällt, und die bei Kafka so nirgends zu finden ist. Im Zeichen der (Opern)Musik haben die beiden böhmischen Juden, die Freunde werden wollten, sich gemeinsam an ihr Lektorat des Röntgenromans gemacht. Der heraufkommende Weltkrieg würde auch sie entzweien, doch würden sie am Ende doch noch zu gegenseitiger Duldung gelangen. „Mit dem Akkord verwandelt sich die opera buffa vom Satyrspiel zur Tragödie des lebenden, lebensgierigen, lebensvergifteten Helden, denn der Vollendete sieht die Welt von allen Seiten … Mozart ist erotisch in allen seinen Werken, aber er ist nicht sinnlich; und das ist das Berückende seiner Gesänge, seines Cherubim, seiner Pamina, seines Don Oktavio … Symbol einer höheren Welt und ihr urkräftigster Zeuge.“Footnote 7 Das ist gewisslich wahr. Es wird als „chinesischer Mozart“ Kafkas tiefste Sympathie erregt, jedenfalls den Prager bereit gemacht haben für die geschilderte enge Zusammenarbeit am Text des Weiss’schen Röntgenstrahlen-Romans im nur allzu heißen dänischen Meer-Sommer noch in Vorkriegs-Zeiten, der Doppeladler war noch nicht verschieden.