Karl figuriert bei Kafka als der einzige, der noch über einen vollen Namen, seinen „christian name“, verfügt. Danach wird Verkürzung zum Programm. „Josef K.“ im „Process“ gerät zum „K.“ des Schlosses. Etwas ist verloren gegangen, was noch im Romanerstling strahlende Möglichkeit war – dann aber in diskriminierende Reduktion hineingeriet, sobald „Schuldige“ zu Kafkas Romanhelden avancierten (und die bereits erwähnte Greenblatt’sche „strategic opacity“ entstand). Nun erst füllen die kulturgeschichtlich sehr konkreten Aporien der Assimilation das bei Mozart bereits vorgegebene Paradoxal-Schema aus. Das „Kafkaeske“ der Darstellung gewinnt historisch-gesellschaftliche Substanz nach Art der schließlich elektromagnetisch springenden Bälle des Junggesellen Blumfeld. Ein neues Weltbild konkretisiert sich. Ein letztes Mal: Warum musste dieser „deutsche“ Held auswandern? Es scheint an der Zeit, dem Fach die Ängste vor des österreichischen Juden Franz Kafkas „Deutschsein“ zu nehmen. Dem Manne ging es nicht um Chauvinismus, die Rheinüberquerung oder gar die „Heimholung“ des Elsaß. Sondern um kulturellen Patriotismus als dem ersten Vehikel seiner eigenen Assimilation. Dies leuchtet umso mehr ein, weil die Parallele hiermit noch immer nicht an ihr Ende gelangt ist. Nachdem beide Helden von singenden Frauen eingesperrt und genotzüchtigt worden sind, erleben sie nämlich ihre christusartige Auferstehung. Insgesamt gilt zu diesem Komplex, was Kafka ebenso in der neu bei Insel erschienenen Schurig’schen Mozart-Biographie hat lesen können (und was, es wird zu zeigen sein, seinerseits hinüberspielte in das „chinesische“ Mozartbild, das Ernst Weiss von seiner Weltreise zurückgebracht hatte). Dort las man: „Viel ist über Mozarts Deutschtum gefabelt worden. Naiv und systemlos wie in allen seinen Ideen zeigt er sich auch hierin. Weltbürger, der er im Grunde seiner Seele war, fühlte er sich nur dann als Deutscher, wenn er die Nation bedrängt sah. Dann wetterte er auf die Wälschen. Chauvinistisch aber, wie es heute der Durchschnittseuropäer sein zu müssen meint, ist er selbst dann nicht. Andererseits war er allzu sehr ein Sohn des Kosmopolitischen Jahrhunderts, als dass er nicht erkannt hätte, welch klägliche Rolle dem Deutschen und seinem Vaterlande von den damals führenden Nationen (England und Frankreich) zugeteilt war. Auf seinen Reisen hatte er Gelegenheit gehabt, Betrachtungen darüber anzustellen. Man fand überall in der Welt Deutsche, aber was waren sie? Friseure, Kellner, Kinderaufseher, Musikanten und Landsknechte.“Footnote 1 Dieser ernüchternde Sachverhalt spiegelt sich sowohl im Personal vieler Mozart-Opern, wie auch in Kafkas Erstling wider. Im Gegensatz zu Karl freilich glückte es Mozart am Ende (mit entschiedener Hilfe Schikaneders) doch noch, die abstürzende Kurve seines sozialen Erfolgs umzudrehen. Die Zauberflöte wird ein riesiger Erfolg in Wien, macht Mozart wieder zum bewunderten Komponisten und den Librettisten und Theaterdirektor Schikaneder (mitsamt Mozarts Witwe Constanze, später in Kopenhagen) märchenhaft reich. Karl wird im utopisch-operettenhaften Schluss des Kafka’schen „Naturteaters“ ebenfalls rehabilitiert; aber er wird wohl dennoch sterben, wenn dieses „Naturteater“ eben doch die „absolute“, die finale Metapher für den absoluten Krieg, eben den „Great War“, abgegeben haben sollte, wie es zuerst Thomas Anz hellsichtig angenommen hat.Footnote 2 Übrigens: Zum Erfolg der Zauberflöte trug damals auch die gigantische Naturkulissen-Schieberei Schikaneders bei. Auch sie kehrt in der sozusagen unfassbar umfassenden Kulissenwelt der Kafka’schen Schlussutopie wieder. Freilich: Bei Kafka kommen womöglich noch Mahlers 8. (von Kritikern als „amerikanisch“ gescholtene) Symphonie dazu, und insgesamt das ganz große Patriotismus-Theater des Weltkriegsausbruchs. Der Roman eben auch als eine ganz moderne Collage aus kultur- wie musikhistorischen Schlüsselszenen. Versetzt mit den „sozialen Energien“ des Weltkriegsbeginns; nächtliches Lust- wie Angstschreiben für einen, der in seiner AUVA auch dafür arbeitete, dass Mozarts wundervolle Musik weiter „siegen“ sollte. Zumal der Salzburger Mozart zum böhmischen Prag eine ganz besondere Beziehung unterhalten hat, bei Eduard Mörike in der Reise nach Prag beschrieben. Mozarts Figaro war dort gefeiert worden, sein Schöpfer hatte dort komponiert und Freundschaft wie Liebe erfahren. Statt „Dekonstruktion“ die Rekonstruktion. Und das ausgerechnet am Beispiel des exemplarischen Modernen (und nach Susan Sontags Diktum „massenvergewaltigten“) armen F. K. aus Prag. Die „Schlüssel“ greifen nämlich wieder, die der hellsichtige Friedrich Nietzsche einst gemeint hatte, als er, wie zitiert, die „Dietriche“ angriff.

Das gilt schließlich auch im Gegen-Bereich jenes „göttlichen“ Lichts, dem Mozarts Musik nach altösterreichischer Überzeugung genuin angehörte: Im altösterreichischen Kaffeehaus. Im Tempel jener „Kaffeehaustheologie“ folglich, wie sie Karl Kraus im Jahr 1913 gepriesen hat. Kafka hat vor allem zu Beginn seiner Berufstätigkeit, in den Jahren zwischen 1907 und 1912, die Prager Caféhäuser regelmäßig, manchmal sogar täglich besucht. So etwa das berühmte Café Arco mit seinen „Arconauten“ in der „Hyberner Gasse“, wo er auch die wichtigsten Vertreter der jüngeren Prager Literatengeneration kennenlernte: Norbert Eisler, Willy Haas, Anton Kuh, Paul Kornfeld, Alfred Kubin, Otto Pick, Franz Werfel und andere. Seine Besuche stillten vor allem seine damalige „Gier nach Zeitschriften.“Footnote 3 Dabei hatte der eidetisch fixierte, auch darin assimilierte Kafka auch ein Augenmerk auf die rechte Lichtgestaltung in diesen Etablissements. Es ging ihm um eine abgedämpfte Licht-Atmosphäre; zu gleißend sollte das Licht niemals einfallen, und darin respektierte er u. a. die Bedürfnisse der zahlreichen Schriftsteller, die damals im Kaffeehaus schrieben, wiewohl der Prager zu ihnen nicht zählte. Auch durfte der Blick nicht zu grell auf die abgelebteren unter den zahlreichen Literatur-Groupies fallen, deren Auftreten unter ästhetisch-wissenschaftlichen Aspekten der Freund Max Brod seinerseits gewürdigt hatte. „Max Brod hat dem mathematisch ausgeklügelten und zugleich normierten Gang der Soubretten einige Jahre später eine essayistische Studie gewidmet, die in ihrer mondänen Koketterie selbst ein Symptom des Zeitgeistes darstellt“ – jenes Zeitgeistes, der in Kafkas intensivem Interesse an dem Lichtstifter für die großen Städte Edison, im Tagebuch zahlreich belegt, seinen Niederschlag gefunden hat.Footnote 4 Selbst das Prager Kaffeehaus mit seinem „wienerisch“ überwältigenden Leseangebot moderierte keineswegs Kafkas zuallererst sinnliches Interesse, das, auch darin war er wie gesagt ein assimilierter Westjude, sich vorzüglich über das Auge vermittelte. Martin Buber hat den Sachverhalt damals verbindlich für die assimilierte Judenschaft in Altösterreich festgeschrieben. Im Prag des frühen 20. Jahrhunderts traf man sich nämlich bevorzugt in allseits verspiegelten Kaffeehäusern, wobei literarischer Treffpunkt und Brennpunkt des Vergnügungssektors oft zusammenfielen, zu gegenseitigem Ergötzen der Künstler und ihres Publikums. Der Zeitgenosse Elias Canetti hat darüber Reflektiertes geschrieben, in erster Linie auf seine Wiener Kaffeehäuser bezogen, immer mit analytischem Blick. Für Prag wie für Wien galt in dieser Zeit, dass der hochgesteilte Individualismus, an’s Dekadente streifend, ein regelmäßiges und zumindest semi-öffentliches Vorführen der eigenen Besonderheit erforderte. Der mathematisch ausgeklügelte Gang der Soubretten, wie ihn Max Brod bemerkt hat, besaß sein Gegenstück im mathematisch ausgeklügelten Auswählen des Sitzplatzes unter Berücksichtigung von Gesehen- und (im Rücken) Beschützt-Werden. Canetti hat dazu Lesenswertes geschrieben als jemand, der, darin anders als Kafka, den Stoff seiner Literatur gerade auch aus dem Wiener Kaffeehaus-Leben herausdestilliert hat.Footnote 5

Das Licht, die Beleuchtung waren hierbei das Entscheidende. Das besass seine Tradition, die eine mondän säkulare war und die in die Anfangsjahre von Kafkas noch jugendhaftem Schreiben gefallen war. Was konkret meint: Das gesamte Jahrhundert hatte begonnen mit jener Weltausstellung in Paris exakt im Jahr 1900, auf der ein neu erfundender Siemens’scher Generator bereits ganze Lichtdome erstrahlen ließ, einfach, weil sie technisch möglich geworden waren. Diese Pariser Weltausstellung war ein Grossereignis, das Franz Kafka mit Sicherheit durch die Prager Grossstadt-Presse erreicht hat. Eine Begebenheit zudem, die von der Besonderheit der damals kursierenden „sozialen Energien“ nachdrücklich zeugte. Die europäische Metropole Paris wird ohnehin für den späteren Kafka und seinen Freund Max Brod ein besonderes Reiseziel sein, vom Louvre bis hin zu ihren europaweit gerühmten Bordellen und neben den physikalischen Demonstrationen der elektromagnetischen Feldwirkung im Bois de Boulogne. Die Dioskuren sprachen dort freilich ausschliesslich tschechisch miteinander, man befand sich in der Zeit des Vorkriegs. Die Millionen Ausstellungs-Besucher aber waren zu Beginn des Jahrhunderts von der Seine-Stadt schlicht überwältigt: „Von der neuerrichteten und dem Zaren Alexander III. gewidmeten Brücke … erstreckte sich die Weltausstellung bis zu den Champs de Mars um den Eiffelturm herum (dem einzig überlebenden Teil der Weltausstellung von 1899) und auf das andere Ufer der Seine, zum Trocadero. Im Zentrum stand eine Gruppe von Gebäuden, die aussah wie eine gigantische Hochzeitstorte, mit weißen Türmchen und zuckergussartigen Verzierungen, ganzen Schwärmen von nackten, allegorischen Knaben und Jungfrauen an den Fassaden: die Paläste der Industrie.“Footnote 6 Die gesamte Schau (zu der die USA erst verspätet und nach grösseren diplomatischen Querelen zugelassen worden waren) lebte von der zeittypischen Begeisterung für den technischen Fortschritt; von der atemlosen Erwartung einer geradezu utopisch aufgefassten, verklärten Neuen Zeit, bestimmt vom Siegeszug der Naturwissenschaften Biologie, Chemie und vor allem Physik, letztere verkörpert im dynamoerzeugten, alles überstrahlenden Helligkeit aus den Lichtmaschinen des Erbfeindes. Andererseits bestimmte eine seltsame Nostalgie das architektonische Ambiente der Schau. Das alte Paris war ebenfalls nachgestellt worden; in einer eigens entworfenen und eher kitschig ausgefallenen Zurschaustellung, inspiriert von Victor Hugos historischen Romanen. Die Szenerie erweckte viel Aufsehen. Und doch manifestierte sich darin die gegenwärtige nationale Identität der Gastgeber als eine sehr verunsicherte. „Kulturelle Identität, das war die Botschaft dieser stilistischen Ausflüge ins Reich der Fantasie, kam aus längst vergangenen Zeiten. Das galt für das neue Amerika genauso wie für das alte Europa.“Footnote 7 Die Modernität der neuesten Technik, für die neben dem Wilhelminischen Deutschland gerade die spät zugelassenen USA standen, erschien konfrontiert mit der Traulichkeit der alten europäischen Stadtkerne. Eben so würde dann auch bei Kafka der Held „Rossmann“ die hochkapitalistische Welt Amerikas erfahren – geblendet, aber zuweilen sehnsuchtstrunken halb vergessene böhmische Volkslieder summend, im trauten Abenddunkel, nachdem das allzu grelle Scheinwerferlicht, erzeugt auch dort durch die neue Turbine, erloschen war. Im Paris der Weltausstellung war damals eine neue und atemberaubende technologische Welt erstanden, die sich in einer tempelähnlichen Halle für die neuesten Dynamos und Turbinen am eindrücklichsten präsentierte; in einem Gebäude, das dennoch mit den gemütvollen Rüschen der vergangenen Zeit überzogen auftrat, eine Art in Gips gegossener Gemütstrost gegenüber dem „kalten“ wissenschaftlichen Fortschritt. Paradoxale Gegensätze auch hier. Die Ausstellung lebte vom gleissenden elektrischen Licht, in unfassbaren Mengen erzeugt – und suchte doch, wo es nur ging, den Schatten des Altvertraut-Gemütvollen. Dieser Gegensatz bestimmte dann auch den weiteren Verlauf des gerade angebrochenen, später dann „kurz“ geheissenen 20. Jahrhunderts bis hinein in den Weltkriegsausbruch. Und solch gleissendes Licht spiegelt sich auch, an anderen Anlässen aktualisiert (beispielsweise der amerikanischen Richterwahl, wie geschildert), in Franz Kafkas erstem Roman, der damals bereits existierte, schließlich hatte schon der Abiturient daran geschrieben (wie immer auch in Vorstufen, die wir heute nicht mehr kennen).

In ihrer offiziellen Dokumentation (es waren ganze 20 Bände) erhob diese Weltausstellung sich zur „Essenz des Jahrhunderts“ – und sie stellte in der Tat aus, was sie andererseits zutiefst erschreckte. Zwar, sie fand immer noch statt in der „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“. Walter Benjamins hommage an diese Stadt hatte keineswegs übersehen, dass die Faszination, die von der Metropole ausging, ihrerseits eine tief gespaltene war. Den doppelten Charakter von Paris hatte der Schriftsteller Emile Zola im Jahr 1896, anlässlich der Herausgabe seines Romans Fruchtbarkeit, wie folgt dargestellt: „Mein Roman wird ein Fresco sein und zeigen, wie eine Stadt wie Paris … Lebewesen verschlingt, Abtreibungen konsumiert und durch sie zu dem wird, was sie ist: der feurige Ort des Lebens von morgen.“Footnote 8 Was andererseits ein Held aus Böhmen in einem Kontinent erleben konnte, der eigentlich nichts anderes als eine einzige riesengrosse, elektrisch erleuchtete Stadt darstellte, wird dann Kafka im Verschollenen zeigen, mithin in einem Text, der selbst durch ein Lichtspielstück initiiert wurde und dann in einem karnevalistisch gleissenden Bild der Grossen Mobilmachung enden wird. Mithin der Kriegsbeginn vom August 1914 folgerichtig als das Ende der Weltausstellungs-Welt von 1900?Footnote 9 Die Erklärung dafür kann ausschließlich in dem liegen, was seinem Autor später auch zur Inspirationsquelle für die Strafkolonie geworden ist: In der Eindrücklichkeit der sogenannten „Dreyfus-Affäre“ von 1895 (immer in ihrem Widerspiel zur folgenden, sie überdecken sollenden, glanzvollen Weltausstellung in der gleichen „Hauptstadt des 19. Jahrhunderts“).

So viel über die Musik, das Licht und den anwachsenden Antisemitismus. Es ging im Prager Kaffeehaus immer auch um die Literaturkritik. Die Gesamtausgabe, die Siegfried Unselds Suhrkamp Verlag als noble Geste gegenüber Ernst Weiss zu dessen 100. Geburtstag vorgelegt hat, enthält auch eine Vielzahl von Aufsätzen zu Franz Kafka. Die behandeln, was der geehrte Autor Weiss seinerseits über das Tagebuch und die Briefe des Prager Kollegen geschrieben hat. Noch im Jahr 1937 geschah dies, als Kafkas Aufzeichnungen erst sehr unvollständig vorlagen. Was Weiss sich hier notierte, trägt unübersehbar die Spuren des da bereits eingetretenen Zerwürfnisses; es stellt feindliche Analyse, fremde, abweisende Kritik dar – bei allen Gemeinsamkeiten, die es doch auch verzeichnete. Beide waren ja, und sie begriffen sich ausdrücklich auch so, deutsch assimilierte Juden in und aus Böhmen. Kannten einander seit dem Studium. Weiss hatte die Prager universitäre Lese- und Redehalle, so wie Kafka seinerseits, als Student regelmässig frequentiert. Vom November 1913 an hatte Ernst Weiss für Kafka als „guter Bekannter“ gegolten, wie bereits referiert; im Januar des kommenden Jahres dann bereits als „sehr guter Freund“, der „dem Typus des westeuropäischen Juden am nächsten ist und dem man sich deshalb gleich nahe fühlt.“Footnote 10 Als die beiden zueinander fanden, war Ernst Weiss kein fest angestellter Arzt mit ebenso festen Karriereaussichten mehr. Der Mann lebte bohemisch und litt zunehmend, letzteres eine wichtige Parallele zu Kafka, an einer Lungeninfektion. Seine Schiffsarzt-Asienreise war auch eine Reaktion darauf gewesen, dass er sich, anders als der staatlich angestellte Kafka, ein Sanatorium nicht leisten konnte. Es gab also viele existentielle Gemeinsamkeiten; und doch war der Autor der Galeere ein ganz anderer Mensch als der eher stille, verträgliche Kafka. Hans Sahl hat ihn folgender Massen charakterisiert: „Er war ein ewig Werbender und ein ewig Enttäuschter. Er verwöhnte seine Freunde und er tyrannisierte sie zugleich“.Footnote 11 Entsprechend gestaltete sich auch sein Verhältnis zu Franz Kafka; auf heftige Nähe folgte eisige Entfremdung, und dann doch noch, zu Kafkas Lebensende, eine wohltemperierte Kollegenbeziehung. Das alles ist auch biographisch erfasst worden. Der Biograph Reiner Stach in seiner dreibändigen Lebensbeschreibung spricht etwas überraschend davon, dass in beider Fall eine Herkunft aus einem „halbwegs akkulturierten Judentum“ vorläge, und ferner: „ … dass Weiss über einen spontanen Willen verfügte, der nicht unbedingt ‚westjüdisch‘ war.“Footnote 12 Das mochte so gewesen sein (wie immer man nicht so recht versteht, was an Willensspontaneität denn „ost“, „west“, „nord-“oder gar „südjüdisch“ zu sein vermag). Ansonsten lernt der geneigte Leser dieser (von Teilen der Literaturkritik inzwischen quasi als offiziell eingesegneten) Groß-Biografie, dass Ernst Weiss in seiner Galeere geschrieben hätte über: „Expressionistische Zuckungen und das Parfum des Wiener fin de siècle, Leidenschaft und Drogensucht, Sex und kalte Wissenschaft, Elternhass und tödliche Krankheit. Selbst der liebevoll ausgemalte hysterische Anfall fehlt nicht.“Footnote 13 Man muss kein fanatischer Anhänger einer „Dritten Kultur“ sein, um angesichts dieses pointillistischen Gemäldes daran zu erinnern, dass es sich zentral denn doch um die Röntgenstrahlenbehandlung als potenziell krebserregende in der Galeere sich dreht, in diesem Text ein Roman über einen Strahlenforscher vorliegt, und dass derselbe aus sehr genauen, einsehbaren Gründen heraus gerade in Kafka seinen Lektor fand. Denn Ernst Weiss wusste damals über seinen Co-Lektor umfassend Bescheid; hat leider seine späteren Erinnerungen aus dem bitteren Geist vollständiger Entfremdung heraus verfasst. Dennoch bleibt die literaturgeschichtliche Analyse, die Weiss scharfsichtig vornimmt, interessant; sie erfolgte aus dem Objektivität fördernden Bewusstsein heraus, dass der, der sie vornahm, selbst gar nicht mehr zur traditionsreichen altösterreichischen Beamten-Literatur zu zählen sei. Was Ernst Weiss über Kafkas Nähe zu Stifter, zu Grillparzer vor allem, notiert, besitzt seine Wahrheit; und kann doch nicht wahrhaben, dass gerade der „altösterreichische Kafka“ es gewesen ist, der die Ära einer ganz neuen Romanliteratur eingeleitet hat. Was nun dieses altösterreichische Syndrom eines „schreibenden Beamtentums“ (durchaus im Geist des damals nicht nur üblichen, sogar geforderten Dilettantismus’ als der notwendigen Kehrseite „drittkultureller“ Interessenbreite) angeht, so ist Weiss nur zuzustimmen, wenn er Franz Kafka dort zugehörig sieht. „Wir haben wahrscheinlich, um dem Rätsel dieses großen armen Mannes auch nur von außen ein Schrittlein näher zu kommen, in ihm zuerst den armen Altösterreicher zu sehen. Wie Grillparzer krankt ein starker junger Mann an den ironisch gefärbten Schwächen und der dämmernden Trägheit seines überalterten Vaterlandes. Wie Grillparzer ist er an eine Stadt gebunden, die er nicht liebt, an einen ‚amtlichen‘, pensionsberechtigten, gebundenen, hierarchischen Beruf, den er … mit Selbstaufopferung ausfüllt.“Footnote 14 Hier spricht der avancierte „Moderne“, ein bohemischer Schreiber, der auf alle Festangestellten herabsieht (auch wenn er solche Festanstellung selbst im Weltkrieg angestrebt hat, was wiederum Kafka dem Freund streng übelgenommen hat, wie berichtet). Lassen wir die Duzfreundschaft, die dann in bittere Feindschaft umschlug, einmal fort: Die Einordnung Kafkas in die Reihen der altösterreichischen „Beamtenliteratur“ ist biographisch-thematisch völlig zutreffend, nur übersieht sie konsequent, was sein Ex-Lektor daraus zu machen verstanden hat. Ferner: Ernst Weiss hat vollkommen Recht, seine intime Kenntnis des Beschriebenen äußert sich allerdings hierin, wenn er eine Verbindungslinie zwischen Kafka und E.T.A. Hoffmann zieht. Ihm ergeht es wie Robert Neumann gegenüber Elias Canetti: Hass macht manchmal verblüffend hellsichtig. Doch manche Texte macht Hass eher unappetitlich. Beispielsweise jener Fall für den Psychiater, als den Weiss den gewesenen Freund allzu eifernd darzustellen sich bemüht, hierbei vor allem auf dessen testamentarischen Wunsch zur Vernichtung seiner nachgelassenen Texte gestützt, – er betrifft die Befindlichkeit des so überlegen Analysierenden eher selbst. Zudem ist mit Fug zu vermuten, dass der, der Hitlers Siegeszug verfolgen und vor diesem nach Paris fliehen musste, 1937 bereits ahnte, was folgen würde: Nicht nur die Textvernichtung, sondern am Ende die Selbstvernichtung des Autors als eine grauenvollfragliche Fortsetzung der Bücherverbrennung der Nazis. Schreckensbilder, vor denen Kafkas testamentarische Vernichtungs-Verfügung eher harmlos als falsche Bescheidenheit sich ausnimmt.

Das erscheint alles nur noch bedauerlicher, weil Weiss sich in seiner Selbsteinordnung, ohne das zu wollen oder auch nur zu sehen, zu Kafkas Bruder gemacht hat; eine Operation, nicht weit entfernt von jener, mittels derer später Thomas Mann seinen epochalen Text Bruder Hitler verfassen würde. Denn was sie einst verband, erwies sich als untrennbar: Beide waren assimilierte, der deutsch-österreichischen Kultur verbundene Juden, als solche Bestandteile jenes Ferments der Menschheitsentwicklung, das der Wiener Arthur Schnitzler im assimilierten Judentum erblicken durfte. Und beide besaßen darin eine starke Affinität – zu China, ausgerechnet, den Komplex hier noch einmal, und nun abschliessend, darzustellen. Weiss hat nämlich auch einen verblüffenden Artikel unter ebensolcher Überschrift verfasst: Adliges Volk. Der Essay stellt keinen Rückfall ins Feudale dar. Sondern unternimmt es im Gegenteil, den geistigen Adel der Moderne im – assimilierten Judentum zu bestimmen. Daraus ergeben sich notwendigerweise engste Parallelen zwischen den Denkweisen der beiden nun verfeindeten Weggenossen; Weiss sozusagen als ein umgepolter Max Brod. Gegenüber dem (tschechischen) Antisemitismus, für beide Stoff nur allzu alltäglicher Erfahrung, und bei Kafka zugegen in seiner Haltung gegenüber dem allzu rassebewußten Vater Milena Jesenskás, galt immer: „Es ist sehr schwer, als Jude gegenüber dem Problem des Judenhasses Stellung zu nehmen.“Footnote 15 Dem stehe im Wege, daß es grundlegend fraglich erscheine, ob „ein Volk von so adliger Vergangenheit wie das Jüdische um persönliche Gegenliebe betteln“ dürfe.Footnote 16 Ernst Weiss fasst in solchen Sätzen die Gesamtheit der Juden als „adlig“ auf; eben alles, was „dem jüdischen Volk eigen war und ist: dem heroischen Grundzug, sagen wir dem aristokratischen – es widerstrebt der exklusiven, eigenen Überzeugung von seiner Berufung, d. h. von seinem gottgewollten Adel.“Footnote 17 Die verknotet verunglückte Syntax verrät uns die Beweisnot eines in die Enge getriebenen Denkens: Man könne, so Weiss weiter, nicht nur die eigene Herkunft bis hinab zu den Kreuzzügen ableiten, habe „Weltherrscher“ wie den König Salomon hervorgebracht, aus jüdischem „Blut“ sei last but not least Jesus Christus entsprungen. Dieser Aufsatz aus dem Jahre 1926 solidarisiert sich zudem (ohne Kafkas Namen noch zu nennen, die Trennung war vollzogen), mit der besonderen Herausforderung, die darin lag (doch für Kafka ja gleichermaßen wie für Weiss) in der Tschechoslovakei, und da insonderheit in Prag, als ein deutsch assimilierter Jude zu existieren: „Ich bin mit meinem ganzen Herzen auf Seiten der Minderheit. Es geht so weit, dass ich innerhalb der Grenzen der Tschechoslovakei, wo den Deutschen als Minderheit viel Unrecht zugefügt wird, anders mich für ‚Deutsche‘ einsetze als jenseits der Grenze, wo die eben Unterdrückten selbst zu Unterdrückern werden ‚kraft ihrer Majorität.‘“Footnote 18 Das ist nicht weit entfernt von jener Haltung, die Franz Kafka gegenüber Milenas Vater einnahm. Der hatte, wie bereits referiert, in Kafkas Aussehen doch tatsächlich „Afrikanisches“ entdeckt. Franz Kafka revanchierte sich mit einem Hinweis darauf, welch wunderbare Literatur aus nationaler Unterdrückung resultieren könne. So Kafka zufolge der Freiherr von Eichendorff mit: „Der Wind ging durch die Felder/ Die Ähren rauschten sacht/ Es rauschten leis die Felder/ So sternklar war die Nacht.//Und meine Seele spannte/ Weit ihre Flügel aus/ Flog durch die weiten Lande/ Als flöge sie nach Haus.“ Ende des schönen Gedichts; und zurück zu Weiss’ problematischer, jedenfalls weniger lyrischen Auffassung des Jüdischseins in Zeiten nun bereits des Zweiten Weltkriegs, zu seiner Haltung gegenüber dem zum Feind gewordenen Mitassimilanten aus Prag, eben Franz Kafka. Bei allen Hassbekundungen kam man, wider Willen, ganz so wie die sprichwörtlichen Späne im Magnetfeld, immer wieder noch „ein letztes Mal“ zusammen, traf einander sozusagen wider eigenen Willen. Das geschah kraft jener unpersönlichen sozialen Kraftlinien, denen beider Existenz zu gehorchen hatte. Deren elektrisch aufgeladener Magnetismus war stärker als alle subjektive persönliche Abneigung, wie sie zudem auf Seiten des Ernst Weiss wesentlich stärker ausfiel, als auf Seiten des stillen Franz Kafka. Theodor W. Adorno hat diesen Mechanismus an Kafkas Romanen analysiert, ohne von Weiss oder Kafkas Röntgenstrahleninteressen auch nur zu wissen.

Hinzu kam noch ein weiteres, bedeutsames, wohl entscheidendes Element. Weiss vergleicht seinerseits die (assimilierten) Judenheit mit jenem Volk, das umgekehrt Kafka immer wieder zum Projektionsschirm für sein gewünscht „Altösterreichisches“ diente: Mit den Chinesen! Bei Weiss lesen wir, im Essay Östliche Landschaft: Die Chinesen … (die) wie die Juden das einzige Volk des Westens (? B.N.) sind, bei dem das ganze geistige Leben sich auf Studium und Wiederstudium eines Stücks Pergament konzentriert …,Footnote 19 sie glichen den böhmischen assimilierten Juden in deren untrennbar-rituellen Verbundenheit mit der (deutschen bzw. altösterreichischen) Schriftkultur. Diese Verbundenheit mache ja das Herzstück ihrer Existenz aus. Darin beweise sich ihre Bedeutung als ein Menschheitsferment. Wenn im Falle Kafkas (dessen Name freilich gar nicht mehr genannt wird) an die Stelle des Talmuds die deutsch-österreichisch Literatur und Philosophie getreten sei, so läge darin ein epochaler Menschheitsfortschritt begründet. Damit nicht genug: Ernst Weiss, der naturwissenschaftlich Ausgebildete, beschwört in diesem Zusammenhang auch noch die fachübergreifende Zuständigkeit gerade des jüdischen Intellektuellen gerade im Sinne einer „Dritten Kultur“. Eben sie sei ja eine Sache der assimilierten jüdischen Geistesarbeiter gewesen, Robert Musil, Hugo von Hofmannsthal und andere lassen an dieser Stelle grüßen. In Das Unverlierbare, 1924 geschrieben und wie nur wenige andere Essays der Sammlung dazu bestimmt, eine sich zunehmend nihilistisch-genussfixiert-zynisch gerierende Gegenwart zu kritisieren, wie sie die der „Weimarer Republik“ als zugleich einer schrecklichen Inflationszeit gewesen ist, wird die entscheidende Standortfrage gestellt: Was ist geblieben? Moses, Christus, Buddha, Lao-Tse seien Vergangenheit; der nun zurückliegende Weltkrieg sei furchtbar, aber nicht „reinigend“ gewesen. Der Zukunftsglaube von vor 1914, der noch auf Turbinen und heilsame Elektrizität vertraut habe (!), ebenfalls. Mit dem Verlust allen „Sinns“ sei auch das Descartes’sche Prinzip des Wissen erwirkenden, skeptischen Zweifels entwertet. Geblieben sei lediglich: „Einsteins Relativitätstheorie ist die letzte große wissenschaftliche Tat. Sie bestätigt in der Geschichte des menschlichen Geistes nur die alte Regel, dass die Naturforscher in ihren ‚wissenschaftlichen Tatsachen‘ stets das entdecken, was die reinen Philosophen und Logiker ihnen an ‚Gedanken‘ vorausgedacht haben.“Footnote 20 Diese nicht erwartbare Schluss-Vereinigung der beiden böhmisch assimilierten Juden, sie endet dann mit Weiss’ „chinesischer“ Mozart-Apotheose. In Mozart, ein Meister des Ostens, im Jahr 1921 geschrieben, aber unverkennbar „empfangen“ während Weiss’ Weltreise, brachte der Autor zu Papier, was eben doch noch zwischen ihm und Kafka als Gemeinsames geblieben war; vermutlich sogar den unverlierbaren Ausgangspunkt ihrer Freundschaft gebildet hatte: Ihrer beider existentielle Bindung an einen göttlich-„asiatischen“ Mozart.