Zusammenfassung
Es ist bekannt, dass Kurt Gödel (2003, S. 447) im „mathematischen Realismus“ seine philosophische Grundposition wiedergegeben sah. Zielsetzung dieses Essays ist es zu zeigen, dass sich auch umgekehrt ein mathematischer Realismus praktisch zwangsläufig als eine Konsequenz aus dem (ersten) Unvollständigkeitssatz ergibt. Im Weiteren zeigt sich damit eine unüberwindliche Hürde für eine reduktionistische Mathematik.
Diese Arbeit wurde u. a. von der Udo Keller-Stiftung und durch die Portugiesische Forschungsgemeinschaft FCT über das Centro de Matemática e Aplicações, UID/MAT/00297/2020, gefördert.
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Notes
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Zu den Paradoxien siehe z. B. Hilbert (1905); eine ausführliche Diskussion findet sich in Kahle (2006). Die Kritik an du Bois-Reymond wurde mit dem Auspruch „In der Mathematik gibt es kein Ignorabimus!“ in der berühmten Rede auf dem Internationalen Mathematikerkongress in Paris deutlich zum Ausdruck gebracht (Hilbert 1900); die Kritik an Brouwers Intuitionismus durchzieht die ganze Entwicklung der Beweistheorie (z. B. Hilbert 1922).
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Smorynski (2002) betrachtet Hilberts Position als „strategisch“.
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Für die Theorie, in der die der mathematischen Intuition widerstrebende Formel \(\phi _{G}\) oder \(\lnot \phi _{G}\) gilt, erhalten wir sogenannte „Nichtstandardmodelle“; diese sind für die Peano-Arithmetik (PA) gut erforscht und verstanden. Sie waren schon Dedekind bekannt (siehe Tapp 2017 und Kahle 2017) und Gödel selbst hat sie nach Takeuti wie folgt charakterisiert:
[Gödel’s] way of teaching nonstandard models was an interesting one. It went as follows. Let T be a theory with a nonstandard model. By virtue of his Incompleteness Theorem, the consistency proof of T cannot be carried out within T. Consequently, T and the proposition “T is inconsistent” is consistent. There is, therefore, a natural number N which is the Gödel number of the proof leading to a contradiction from T. Such a number is obviously an infinite natural number. (Yasugi und Passell 2003, S. 3)
Für derartige Modelle der Arithmetik haben Kikuchi und Kurahashi (2016) die passende Bezeichnung „insane models of PA“ eingeführt.
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„Formale Theorie“ ist hier, wie heute allgemein üblich, auf eine Theorie in der Logik erster Stufe bezogen. Während man durchaus argumentieren kann, dass die Sachlage für mathematische Entitäten in einer Logik höherer Stufe anders liegen könnte, würde dies aber um den – sehr viel höheren – Preis erkauft, dass sich die Logik zweiter Stufe bereits nicht mehr axiomatisieren lässt. Auch das ist ein Korollar aus dem (Beweis des) ersten Gödelschen Unvollständigkeitssatz(es); siehe dazu auch Kahle (2019).
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Wir können hier einerseits auf das Programm der reversen Mathematik (Simpson 2009) verweisen, das konkrete mathematische Theoreme im Hinblick auf ihre beweistheoretische Stärke hin untersucht; andererseits erlaubt die durch Arbeiten von Gentzen motivierte Ordinalzahlanalyse (Rathjen 2006), ein konkretes (ordinales) Maß für die beweistheoretische Stärke von Theorien zu bestimmen.
Literatur
Gödel, K. (1931). Über formal unentscheidbare Sätze der Principia Mathematica und verwandter Systeme. Monatshefte für Mathematik und Physik, 38, 173–198.
Gödel, K. (2003). Grandjean’s questionnaire. In von S. Feferman (Hrsg.), Collected work (Bd. IV, S. 446–449). Oxford University Press: Oxford.
Hilbert, D. (1900). Mathematische Probleme. Vortrag, gehalten auf dem internationalen Mathematiker-Kongreß zu Paris 1900. In Nachrichten von der königl. Gesellschaft derWissenschaften zu Göttingen. Mathematisch-physikalische Klasse aus dem Jahre 1900 (S. 253–297).
Hilbert, D. (1905). Über die Grundlagen der Logik und der Arithmetik. In von A. Krazer (Hrsg.), Verhandlungen des Dritten Internationalen Mathematiker-Kongresses in Heidelberg vom 8. Bis 13. August 1904 (S. 174–185). Leipzig.
Hilbert, D. (1922). Neubegründung der Mathematik. Abhandlungen aus dem Mathematischen Seminar der Hamburgischen Universität, 1, 157–177.
Kahle, R. (2006). David Hilbert über Paradoxien. Techn. Ber. 06–17. Departamento de Matemática, Universidade de Coimbra.
Kahle, R. (2007). Die Gödelschen Unvollständigkeitssätze. Mathematische Semesterberichte, 54(1), (1–12). (Nachgedruckt in Facetten der Mathematik, Springer 2018).
Kahle, R. (2017). Von Dedekind zu Zermelo versus Peano zu Gödel. Mathematische Semesterberichte, 64(2), (159–167). (Auch veröffentlicht in dem Band In Memoriam Richard Dedekind (1831–1916), WTM, Verlag für wissenschaftliche Texte und Medien, Münster, 2017).
Kahle, R. (2019). Is there a “Hilbert thesis”? Studia Logica, 107(1), (145–165) (Special Issue on general proof theory. T. Piecha & P. Schroeder-Heister (Guest Editors)).
Kikuchi, M., & Kurahashi, T. (2016). Illusory models of Peano arithmetic. The Journal of Symbolic Logic, 81(3), 1163–1175.
Rathjen, M. (2006). The art of ordinal analysis. In Proceedings of the International Congress of Mathematicians (ICM), Madrid, Spain, August 22–30. Bd. II: Invited lectures (S. 45–69). Zürich: European Mathematical Society (EMS).
Simpson, S. G. (2009). Subsystems of second order arithmetic (2 Aufl.). Cambridge University Press: Cambridge.
Smorynski, C. (1977). The incompleteness theorems. In von J. Barwise (Hrsg.), Handbook of mathematical logic (S. 821–865). Amsterdam: North-Holland.
Smorynski, C. (2002). Gödels Unvollständigkeitssätze. In von B. Buldt, E. Köhler, M. Stöltzner, P. Weibel, C. Klein, & W. DePauli-Schimanovich-Göttig (Hrsg.), Kurt Gödel, Wahrheit und Beweisbarkeit: Bd. II. Kompendium zum Werk. öbv & hpt (S. 147–159).
Tapp, C. (2017). Richard Dedekind: Brief an keferstein. In von K. Scheel, T. Sonar, & P. Ullrich (Hrsg.), In memoriam Richard Dedekind (1831–1916) (S. 205–211). Münster: WTM, Verlag für wissenschaftliche Texte und Medien.
Yasugi, M., & Passell, N. (Hrsg.). (2003). Memoirs of a proof theorist (English translation of a collection of essays written by Gaisi) Takeuti: World Scientific.
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Kahle, R. (2021). Gödel, mathematischer Realismus und Antireduktionismus. In: Passon, O., Benzmüller, C. (eds) Wider den Reduktionismus. Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63187-4_10
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Publisher Name: Springer Spektrum, Berlin, Heidelberg
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