5.1 Imponderabilität: Das Gegenwarts-Kippmodell als Basis von Zukunftsentwürfen

5.1.1 Die drei zeitreflexiven Grundachsen, die Zeitstrukturen I‒III und temporaldeiktische Probleme

Wenn in Erzähltexten der Zwischenphase Zeit relevant gesetzt ist, wenn die entworfene Vergangenheit belastend auf die Gegenwart einwirkt, die von jener abhängt und sich zugleich von ihr abgrenzt, wenn die Gegenwart also auch als Segment bezeichnet werden kann, in dem Zeit ›gestört‹ ist, dann ist die Zukunft, wie sie Texte gestalten, als Struktureinheit anzusehen, der als epistemischer und zeitreflexiver Zielpunkt fungiert. Allerdings auch als Zielpunkt ›ohne Stütze‹: Die Zukunft ist unvorhersehbar, unsicher, multioptional.Footnote 1 Die ›Gegenwart‹ gestaltet sich als Problemverhandlungsraum, die ›Zukunft‹ als imponderabler (Zeit-)Raum der Resultativität mit reflexiver Zeige-Funktion. In ihm versammeln Texte all das, was in ›Welten‹ notwendig erscheint, was lösbar oder unlösbar, was wünschenswert oder nicht wünschenswert ist ‒ und bilden damit ihre Eigenart aus, die zur Klärung des Selbstverständnisses des Literatursystems natürlich von hohem Interesse ist. Die Zukunft ist in Anbetracht von alldem hochakutes Thema ‒ erkennbar an der deutlichen Fokussierung, der wiederholt expliziten Thematisierung, ihrer Exponiertheit und auch daran, dass Texte Zukunft als Zukunft ausstellen, wie auch nicht zuletzt an dem enormen Aufwand, der auf Figurenebene betrieben wird, die Gegenwart zu überwinden und ein Leben in der Zukunft anzusteuern. Getragen werden alle diese Aspekte durch die textuellen Ausprägungen der drei Grundachsen ‒ der Heterogenität, der metatextuellen Selbstreflexivität und der literarischen Anthropologie ‒, wobei im Nachdenken über die Zukunft ebenfalls augenscheinlich die reflexiven Zeitstrukturen I bis III zusammenlaufen. Die vornehmliche Aufgabe dieses Kapitels wird daher sein, die bisherigen Erkenntnisse zu bündeln und weiterzudenken.

Wir greifen zentrale Gedanken der vorherigen Abschnitte auf, in denen der Komplex ›Zukunft‹ bereits eine Rolle spielte. Erstens als literaturanthropologisch signifikant haben wir vornehmlich die Modifikation der goethezeitlichen Initiationsgeschichte mit ihren diversen Implikationen erachtet sowie darüber hinaus die regressiv-progressive Kopplungsstruktur auf Figurenebene, die mit der Initiationsgeschichte im Zusammenhang stehen kann – aber nicht muss –, wie auch Figuren, die als Künstler auftreten. Eine entsprechende Thematik konnte dabei in den folgenden Teilfeldern ausgemacht werden:

  1. (a)

    Die Konfrontation mit der Vergangenheit hat die Unsicherheit von ›Zukunft‹ zur Folge. Die Diskrepanz zwischen Zukunftskonzept und Zukunftsmodell spitzt sich in der Zwischenphase radikal zu. Die entscheidende Komponente im Bedeutungsaufbau ist dabei die konfliktreiche Kollision zwischen Konzept und Modell. Die Imponderabilität von ›Zukunft‹ resultiert aus der Konfrontation der Figuren mit der eigenen (persönlichen, familiären oder kulturellen) Vergangenheit. Da die Vergangenheit zum Problem erwächst und nachhaltig auf die Handlungsgegenwart einwirkt, gerät die (persönliche, familiäre oder gesamtkollektive) Zukunft zum offenen Möglichkeitsraum, gar zum Spielball verschiedener diegetischer Instanzen, die zukunftsentscheidend funktionalisiert sind. Gespiegelt wird die grundsätzliche Offenheit von ›Zukunft‹ in der Skalierung zwischen ›Glücken‹ und ›Scheitern‹ im Endzustand: Ob und wie eine Figur scheitert oder ihr Handeln glückt, ist gegenüber der Goethezeit deutlich relativiert und kann nicht mehr ohne Weiteres klar bestimmt werden.

  2. (b)

    Die ›Tendenz zur Mitte‹ im Endzustand und das Reduktionsprinzip. Daneben ergibt sich ein Problem aus einem zugrundeliegenden Regulationssystem, demzufolge Figuren einer ›Mitte‹ zugeführt werden oder – sollte das nicht gelingen – ihr scheiterndes Handeln ex negativo auf diese ›Mitte‹, die nicht erreicht worden ist, hindeutet. In gesellschaftsmentaler Hinsicht – und damit sprechen wir von dem, was die Literatur darunter auffasst – besteht diese ›Mitte‹ im Konzept der ›Bürgerlichkeit‹, im engeren anthropologischen Sinne steht gemäßigte Liebe, Endogamie und der Hang zur Herkunftsfamilie auf der Agenda. Impliziert ist damit das Prinzip der Reduktion, das nicht selten mit anderen Merkmalen von ›Welt‹ konfligiert, etwa und vorzugsweise mit der ›Personen‹-Konzeption, die auch für sich genommen auf der Schwelle steht zwischen einer goethezeitlichen Ausprägung und davon losgelösten, neuartigen Merkmalsbündeln. Das Reduktionsprinzip und die ›Tendenz zur Mitte‹ können als Konsequenzen resultierend aus der dominanten Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Jung‹/›Neu‹ aufgefasst werden. Sie sind zukunftsbestimmend.

  3. (c)

    ›Liebe‹ als zukunftsbildender Parameter. Auch ›Liebe‹ stellt eine entscheidende Komponente in der Konzeption und Modellierung von Zukunft dar. In den meisten Texten ist sie das wesentliche Handlungsmovens und der hauptsächliche Erzählgegenstand. Sie bildet eine dominant-präsente Struktur und formiert eine der zentralen Funktionen zeitreflexiven Erzählens auf Ebene der dargestellten Aktzeit. Ihre zeitreflexive Doppelcodierung kommt dadurch zustande, dass sie zum einen selbst narrativ und zeitlich organisiert ist und sie zum anderen maßgeblich die Zukunft der Figuren bestimmt. Prägend für die Zwischenphase ist in diesem Rahmen die temporal-narrative Aushandlung und Findung des ›richtigen‹ Liebeskonzeptes, die Neusetzung der Herkunftsfamilie als entscheidender Faktor und die Neuhierarchisierung von Werten, wobei Liebe ihren Status als ›romantische Liebe‹ einbüßt. Die Realisierung (oder Nicht-Realisierung) von ›Liebe‹ lässt Rückschlüsse darauf zu, wie ›Zukunft‹ semantisiert ist.

  4. (d)

    Die Vorrangstellung des Systems gegenüber den Handlungsträgern. Die Zwischenphase diskutiert auf besondere Weise ›Störungen‹ von ›Zeit‹ – temporalsemantische Krisen- und Überlagerungszustände – und gestaltet dadurch einen semantisch offenen Mehroptionenbereich. Die Vorrangstellung des entworfenen Weltsystems gegenüber seinen Handlungsträgern ist da eine konkrete Weichenstellung. Emische, etische und subjektive Zeit sind in Form einer regressiv-progressiven Kopplungsstruktur in ein gestörtes Verhältnis versetzt. ›Welten‹ sind zwar zeitlich chronometrisch-linear, unidirektional und monochron aufgebaut, aber aufgrund der ihnen zugrundeliegenden Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Neu‹ und des Aufeinandertreffens von regressiven Figuren einerseits und progressiven Figuren andererseits ist die Temporalsemantik insgesamt heterogen gestaltet. Als Konsequenz stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen und zu welchen Bedingungen die Erhaltung eines Systems gelingen kann (oder warum es eben aufgegeben wird). Den von Texten in erster Linie gewählten jungen Figuren obliegt daher die doppelte Aufgabe, nicht allein im Abgleich mit Normen- und Wertevorgaben der Umwelt ihren Lebensweg zu finden, sondern darüber hinaus, die Vorrangstellung von ›Welt‹ zu akzeptieren – insbesondere vor dem Hintergrund beeinträchtigender Strömungen der zeitlichen ›Rückwärts‹- und ›Vorwärtsgewandtheit‹. Die Zukunft muss dabei als hochrangig textideologischer Zielpunkt angesehen werden, der angestrebt wird, nicht aber voraussetzungslos erreicht werden kann, wobei die gegebenen Voraussetzungen oftmals den Texten selbst nicht unbedingt bekannt sind – daher der hohe Grad an Zufälligkeit und Unglück, der dargestellte Welten kennzeichnet.

  5. (e)

    Mit Künstlerfiguren wird die Zukunft reflektiert als ›Zukunft von Kunst/Literatur‹. Künstlerfiguren formieren eine Sonderklasse im anthropologischen Feld. Denn mit ihnen ergibt sich eine Schnittstelle zwischen dem fiktiven Universum eines Einzeltextes und Regularitäten des einzeltextübergreifenden Literatursystems. Mit Hilfe derartiger Figuren werden Aussagen über Produktionsbedingungen und -möglichkeiten generiert, mit Texten in ihrer Funktion als kultureller Speicher situative Momentaufnahmen von ›Kunst‹ entworfen und alles im allem im Modus eines fiktionalen Experimentcharakters auf mögliche Zukunftsszenarien sowie gleichzeitig auf Formen, Inhalte und Aussagepotenziale literarischen Erzählens abgehoben. Die Literatur der Zwischenphase begreift sich selbst als Kunst und nimmt daher in der Präsentation von Künstlerfiguren eine (direkte oder indirekte) Selbstthematisierung vor.

Über diese anthropologischen Stoßrichtungen hinaus, kann die Reflexion von ›Zukunft‹ zweitens von allgemeinen Tendenzen des Entwurfs von ›Welt‹, insbesondere aus dem dominanten Merkmal der Heterogenität, abgeleitet werden. Wie erörtert, ist dieses Merkmal in der Zwischenphase vornehmlich über temporalsemantische Leitdifferenzen aufgebaut. Die Frage, wie eine Zukunft zu gestalten wäre oder ob sie als Resultat bestimmter Regularitäten hervorgeht, folgt hier aus der besonderen Anlage der Texte, Zeitmodelle der Zirkularität und der Linearität zu kombinieren – indem Instanzen ganz bestimmte, und zwar tradierte Werte zu reinstallieren anstreben und andere Größen andererseits einen geschichtlichen Wandel geltend machen, der die Substitution von vorgegebenen Merkmalssets durch alternative Sets in der Zukunft vorsieht. Zu nennen wäre daher ergänzend zu den obigen Punkten der folgende Aspekt:

  1. (f)

    Die Überlagerung von ›Alt‹ und ›Neu‹ und ihre Dynamisierung als Realisierungshemmnisse. Heikel ist zweierlei: Zum einen die Anlage von ›Alt‹ und ›Jung‹/›Neu‹ in ihrer gegenseitigen, konfligierenden Bezüglichkeit und dominanten Repräsentanz, zum anderen ihre Dynamisierung in Form regressiver und progressiver Strukturen, die reziprok zusammenhängen, divergierend auseinanderdriften und in ihrer Spannweite ganze Welten, Teilwelten oder Individualkonfigurationen an den Rande eines Kollapses führen. ›Welten‹ wie auch die erzählerische Darstellung dieser Welten sind heterogen aufgebaut. Heterogenität wird in der Zwischenphase flächendeckend konstatiert und reflektiert, und zwar nicht zuletzt auch in der Findung von Zukunftsmodellen mit semantisch breiter Fächerung: Ob polyseme Offenheit, ob Kappung, ob Restauration der Vergangenheit, ja sogar bei einem vermeintlich harmonisch-versöhnlichen Endzustand: In der Regel ist die entworfene Zukunft, wenn auch reflexiv-anvisierter Zielpunkt, problematisch.

Schließlich ist Zukunftsreflexion drittens ein tragender Teil der spezifischen Ausprägung metatextuell-selbstreflexiven Erzählens, und dies in doppelter Hinsicht. Zum einen werden thematisierte ästhetische Artefakte in die Reflexion von ›Zeit‹ eingebunden. Zum anderen sind Textmodelle metatextuell auf die Situation des Literatursystems bezogen. Die weiteren Aspekte in diesem Bezugsrahmen wären demzufolge:

  1. (g)

    Die diegetische Rückkopplung und die Konsolidierung von ›Welt‹. Die Reflexion von ›Zukunft‹ bindet die Zwischenphase an die Kunstthematik und an selbstreflexives Erzählen. Mit beiden Bereichen applizieren Texte einerseits das in der Goethezeit entwickelte Verständnis einer Wirklichkeitspotenzierung und verabschieden es zugleich in einer konsolidierenden ›Entzauberung‹. ›Kunst‹, wie sie aus der vorangegangenen Epoche der Goethezeit bekannt ist, hat in einer zukünftigen Welt, die die Literatur selbst entwirft, keinen Platz mehr, wird aber gebraucht, um überhaupt zu dieser Erkenntnis zu gelangen.

  2. (h)

    Die Zukunft wird ausgehandelt mit Hilfe von Kontrastierung und Parallelisierung. Zwei andere gängige selbst- und zeitreflexive Verfahren ergeben sich aus einer textuellen Rahmen-/Binnenstruktur und der Korrelation zweier (oder mehrerer) (Teil-)Narrative. Der grundsätzlich zeitreflexive Impetus resultiert aus der unterschiedlichen temporalen Situierung der Geschichten und ihrer Engführung im übergeordneten Textzusammenhang. Die besondere zukunftsreflexive Anlage wiederum liegt darin begründet, dass ›Zukunft‹ das Implikat eines dezidierten Abgleichs zwischen Vergangenheits- und Gegenwartsgeschehen ist. Die Kontrastierung ist dabei das favorisierte Verfahren, in dessen Zuge ‒ auch im Falle einer strukturell-semantischen Parallelisierung der Narrative ‒ im Kern auf die semantische Abweichung der Gegenwart von im Vergangenheitssystem etablierten und tradierten Sets abgehoben wird. Die Aushandlungsprozesse werden analog gesetzt zur Selbstverständigung über den Strukturwandel literarischen Erzählens.

Angesichts dieser Bündelung muss Folgendes festgehalten werden: Die reflexiven Zeitstrukturen I bis III laufen allesamt in Zeitstruktur IV zusammen. Die Perpetuierung der goethezeitlichen Initiationsgeschichte (reflexive Zeitstruktur I) schlägt sich in Modifikationsstrukturen auf Ebene des Dargestellten und Darstellens nieder. Reflexiv sind die Zeitteilstrukturen der modifizierten Initiationsgeschichte deshalb zu nennen, da sie retrospektiv am vergangenen System der Goethezeit orientiert sind, aber auch aus dem Grund, da sie unter Rückgriff auf vorgegeben-tradierte Muster verschiedene Alternativen zu diesem Modell erproben und es erodieren. Bezeichnend in Anbetracht dessen ist der Umgang mit und die Gestaltung von Endzuständen: die dargestellte Zukunft individueller Lebensläufe. Ähnliches ergibt sich mit Blick auf Zeitstruktur II: Es sollte deutlich geworden sein, dass das Literatursystem den literarischen Wandel nicht nur kennt, sondern ihn in Form einer regressiv-progressiven Kopplungsstruktur zeitstrukturell semiotisiert und diskutiert. Gehen damit die Orientierung an der Vergangenheit, ihre Konfrontation mit dem ›Neuen‹, wie auch die Dynamisierung dieses Verhältnisses einher, so ist ebenso die Zukunft als Teilmodell mit dem Status des Implikats in Texten mitberücksichtigt ‒ und mehr noch: ›Zukunft‹ unter Einbezug von Zeitstruktur II ist stets Zielpunkt und Problem zugleich. Im Rahmen schließlich von Zeitstruktur III ist Zukunftsreflexion gar als maßgebliche Teilkomponente integriert. Denn wenn sich das Literatursystem über den eigenen Status eines Interims bewusst ist ‒ und diesen als solchen auf verschiedene Weise ausbuchstabiert ‒, dann muss auch der Entwurf bedeutsam sein, der das Ende dieses Interims bezeichnet ‒ und auch hier hinsichtlich des Dargestellten einerseits und des Umgangs mit Formen, Semantiken, Mustern und Modellen, ihrer narrativen ›Verarbeitung‹ als Beibehaltung, Abänderung oder Absage andererseits. In diesem Fall kann der Entwurf von ›Zukunft‹ in einem einzelnen Textsystem als selbstreflexiv-metatextuelle Strategie gelesen werden; die Menge an Entwürfen wiederum erlaubt es aufzuschlüsseln, was das Literatursystem hinsichtlich eines Wandels literarischer Strukturen vorzusehen imstande ist: literarische Aussichten auf das, was denkbar, realisierbar, sagbar ist.

Insgesamt sind daher ›Störungen von Zeit‹ zu diagnostizieren, die sich in temporaldeiktischen Problemkonstellationen niederschlagen und wesentlich für die Denkfigur ›Zukunft‹ sind. Denn das Literatursystem legt besonderen Wert auf die Zeitstufen: Die Vergangenheit behandelt es insofern, als sie determinierend auf ein temporales Nachfolgersegment einwirkt. Dadurch gerät jenes Gegenwartssegment zu einem zeitsemantischen Ballungsraum, der durch die Leitdifferenz geprägt ist und zugleich die eigene zeitliche Fundierung als Interim begreift und den Gegenwartsstatus zu überwinden anstrebt. Daher ist in diesem Segment immer auch ›Zukunft‹ – als Konzept – implementiert. Die Temporaldeixis ist also zwar weltontologisch linear, unidirektional und monochron an einem Zeitverlauf in die Zukunft ausgerichtet, auf Figuren- wie auch auf Textebene jedoch wird sie gleichermaßen unterlaufen, und dies genau dann, wenn eine maßgebliche Orientierung an der Vergangenheit stattfindet, der Fokus auf diese (Zeit-)Problemverhandlung in der Gegenwart gelenkt und schließlich ›Zukunft‹ über ebendiesen Komplex ausgehandelt wird. Das Gegenwartssegment als temporale Teilwelt ist als Kippmodell entworfen, das aus dieser hochsensiblen Basis hervorgeht. Das jeweilige Zukunftsmodell, und sogar schon spekulative Zukunftskonzepte, stehen in Relation zu diesem Kippmodell und müssen in diesem Zusammenhang ausgewertet werden. Denn dies ist als Spezifikum zu werten: Die Gegenwart steht auf der ›Kippe‹ – und gefährdet dadurch die Zukunft.

Die Aufgaben und Ziele des Schlusskapitels sollten im Lichte dieser Überlegungen offenliegen: Grundsätzlich wäre zu klären, wie ›Zukunft‹ in Texten der Zwischenphase aussieht, wie sie gestaltet, wie sie konzipiert und modelliert wird. Zu klären wäre auch, aus welchen Voraussetzungen (das heißt Optionen und Restriktionen) sie hervorgeht – ausgehend von den bisherigen Erkenntnissen hinsichtlich der Anthropologie und der weltontologischen Heterogenität. Ferner wäre ihrer Zeige-Funktion auf den Grund zu gehen: Zum einen deutet sie ‒ konzipiert als ebenjener reflexiver Zielpunkt ‒ nicht allein auf eine handlungslogische Schlussstelle hin, sie rekurriert ebenfalls auf die zeitreflexive Gesamtanlage der Textsysteme: Warum geht das Ganze so aus, wie es ausgeht, und was sagt uns das über den Umgang des Textes mit ›Zeit‹? Zum anderen ist mit ihr auf höherer Abstraktionsebene eine Menge an Propositionen bezüglich des epocheneigenen Selbstverständnisses angelegt: Welche Modelle sind repräsentativ und welches Grundverständnis des Literatursystems ließe sich daraus ableiten? In heuristischer Perspektive sind also drei wesentliche Aufgaben anzugehen:

  1. (1)

    Erfassung und Beschreibung von dominanten Zukunftskonzepten und -modellen;

  2. (2)

    Bestimmung der innertextuellen Funktion von ›Zukunft‹ im Rahmen zeitreflexiven Erzählens;

  3. (3)

    Bestimmung der metatextuellen Funktion von Zukunftsentwürfen als selbstreferenzielles Spezifikum und wesentliches Differenzierungsmerkmal der Zwischenphase.

5.1.2 Überblick: Signifikante Textvarianten

Im Verlauf der Studie sind repräsentative Texte ausgehend von ihrer zeitsemiotischen und -reflexiven Konstitution berücksichtigt worden. Werfen wir einen Blick zurück und versammeln einige dieser Texte hinsichtlich ihrer Zukunftsthematik. Für die Jahre 1820 bis 1825 kann eine allgemeine Gemengelage bestehend aus spätromantischen und postromantischen Texten beobachtet werden (vgl. Korpus A). Spätromantische Texte – wie Waiblingers Märchen aus der blauen Grotte und Goethes Novelle – führen romantische oder allgemein goethezeitliche Konstellationen und Präsentationsmuster fort, während andere Texte (wie Tiecks Die Reisenden) bereits den ›Abschied von der Romantik‹ einläuten und wieder andere, wie etwa Zschokkes Der tote Gast, Addrich im Moos oder Der Abend vor der Hochzeit gänzlich anders verfahren oder gar die Romantik ausdrücklich durch neuartige Modelle substituieren.

Der tote Gast führt ein harmonisches Ende vor und entwirft eine Zukunft, in der ›alles gut ist‹: Die Bedrohung der dargestellten Welt ist abgewandt, das Paar (wieder-)vereint, die Familie versöhnt. Grundlage für dieses Ende sind die Trivialisierung und Verharmlosung des Bedrohungszustands von ›Welt‹ und damit die Umdeutung der präsentierten Ordnung. Gesetzt ist zunächst eine tief in die Vergangenheit ragende Weltordnung, die sich durch eine wunderbare Grundkonstitution auszeichnet, eine Welt, die in regelmäßigen Abständen von der Instanz eines Untoten substanziell bedroht wird. Die Umsemantisierung dieses Gefüges besteht dabei darin, dass die Sage um den toten Gast mit Hilfe einer Narrativierungsstrategie in das Reich der bloßen Fiktion verbannt und die in der fokussierten Gegenwart tatsächlich auftretende Figur des toten Gastes als eine inszeniert-manipulierte Verwechslung aufgedeckt wird. Das Potenzial einer romantisch-›verzauberten‹ Welt wird hier strategisch-offen ›entzaubert‹ ‒ und zwar auf Figurenebene zwecks ›prosaischer‹ Wunschpaarbildung, auf Textebene zusätzlich als klar metatextuell-selbstreflexive Absage an die Romantik. Die Proposition, die hinter dieser Absage steht, könnte daher lauten: ›Eine Zukunft der Literatur kann nur dann harmonisch aussehen, wenn die romantische Tradition gekappt wird‹. Dass indessen dieser Prozess selbst Thema des Textes ist, ist natürlich bezeichnend, handelt es sich dabei ganz offensichtlich um ein schwerwiegendes Problem, das einer Aushandlung bedarf und nicht einfach als bereits vollzogen vorausgesetzt werden kann. Dadurch ist zwar Zukunft positiv besetzt, die Voraussetzungen, um sie zu realisieren, sind jedoch als solche schwerwiegend und müssen literarisch ausjustiert werden.

Und ebendies gerät zum entscheidenden Problem der 1830er- und teils noch der 1840er-Jahre mit mitunter verheerenden Folgen für die Modellierung von ›Zukunft‹ ‒ man denke an Eichendorffs Das Schloß Dürande, an Ottos Die Lehnspflichtigen, Mügges Die Emigranten, Dronkes Das Unvermeidliche oder an die Texte Hebbels, die den Kollaps ganz offen vor Augen führen – aber auch an Stifters Der Condor oder Der Hagestolz und Auerbachs Der Tolpatsch, die das latent tun. Eine Konfliktverlagerung in die politische Dimension nehmen Eichendorff und Hauff vor. Das Bild des Kaisers bringt den gesellschaftspolitischen Umbruch vom Alten zum Neuen – versinnbildlicht zum einen in den beiden Burgen der befreundeten Familienväter, zum anderen angelegt in der gewaltsamen Gegenüberstellung von konservativ-reaktionärer und radikal-demokratischer Position – zusammen mit der Individualaufgabe des Initiationsprozesses und der Paarfindungsproblematik. Auch hier – wie bei Zschokke – findet sich ein Ende mit positiver Zukunftsaussicht. Dies aber nur auf der Oberfläche. Denn durch die glückende Paarbildung im Süden Deutschlands wird zweierlei – und zwar nachhaltig Problematisches – kaschiert: Zum einen das Scheitern der zu Beginn eingeführten Hauptfigur, die zunächst klar als fokussierter Initiand agiert, dann aber zugunsten der Problematik um die beiden anderen Figuren vom Text an den Rand des Geschehens delegiert wird und zur Nebenfigur gerät; zum anderen die nicht überwundene Diskrepanz zwischen Süd- und Norddeutschland: Deutschland ist am Ende territorial, mentalistisch und familiär separiert. Die Zukunft ist eine trügerische und nur bedingt positiv zu werten. Das Schloß Dürande führt demgegenüber eine Welt vor, die am Ende vollends kollabiert. Verschränkt sind auch hier Geschehensmomente der Kollektivgeschichte mit solchen der Individualgeschichte. Wenn der männliche Protagonist auf Kollektivebene revolutionäre Handlungen anstößt, um vordergründig die Ehre der Schwester zu retten, er jedoch dadurch hintergründig forciert, in den geschwisterlich-vereinten Ausgangszustand zurückzukehren, dann ist dies der Brennpunkt, von dem aus auch die negierte Zukunft erklärbar wird: Die Welt kollabiert nämlich aufgrund ihrer regressiv-progressiven Doppelausrichtung; der Text diagnostiziert dies, ohne Regularien zu finden, damit so umzugehen, dass die Figuren doch noch einer irgendwie positiv besetzten Zukunft zugeführt werden könnten. Die ruinöse Zukunft weist semiotisch auf ein Kernproblem der Zwischenphase hin – die folgenschwere Fatalität der Kopplung von Regression und Progression nämlich, die zugleich aber unumgänglich zu sein scheint.

Eine Schwerpunktverlagerung bei ähnlich propositionalem Gehalt lässt sich in Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris und Vischers Cordelia ausmachen. Auch Madelon oder Die Romantiker von Paris präsentiert eine Welt mit Umbruchsituationen auf mehreren Ebenen. Das Kollektiv – Mitteleuropa – ist in revolutionären Unruhen begriffen. Auf individueller Ebene sind die Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit, Paarbildung und – dies nun an dieser Stelle ganz explizit – die Gegenüberstellung verschiedener Kunstauffassungen thematisch relevant. Die stark negativierte Zukunft bildet das Hauptproblem ab: Die Voraussetzungen für ein gelingendes Szenario sind nicht gegeben, der Künstlerprotagonist fungiert als wechselhafte Kippfigur, die ›zerrissen‹ ist und in allen Bereichen zwischen den Stühlen steht und letztlich verantwortlich für den Tod der Hauptfigur und den resignativen Rückzug anderer Figuren ist. Der Text codiert in alldem komplexe Epochen- und Kunstreflexionen, die wiederum an den Umgang mit ›Zeit‹ rückgebunden werden. Der Umstand, dass die Zukunft negativ gestaltet ist, liegt in der spezifischen Anlage der Gegenwart begründet, deren Problematik der Text als unüberwindbar ausstellt.

In Cordelia werden im Verlauf des Geschehens die titelgebende Figur sowie eine weitere, männliche Figur getilgt und dies aufgrund einer hochproblematischen Anthropologie, die auch dieser Text an kunstästhetische Positionen rückbindet: Ein Protagonist, der als Vertreter der ›Klassik‹ agiert, tötet diejenige Figur, die in Verbindung mit ihrem Geliebten ein wünschenswertes Zukunftsmodell vertreten hätte. Am Ende übrig bleiben der alte ›Romantiker‹ und ein in ästhetischer Hinsicht auf einer Zwischenposition angesiedelter Jüngling, die lediglich ein ›romantisches‹ Erbe verwalten, ansonsten aber nicht mehr künstlerisch tätig sind und resignieren.

Solche und andere, tendenziell pessimistischen Modelle dominieren auch in den 1840er-Jahren – und zwar offensichtlich in Fortführung des zeitreflexiven Impetus der vorangegangenen Jahre. Ganz deutlich ist da Hebbel, der in Die Kuh und Anna krasse Modelle der Negation vorführt – in beiden Fällen dezidiert zeitreflexiv fundiert. Wir sprechen bei solchen Modellanordnungen daher auch von ›Kappungen‹. Auf den ersten Blick versöhnlicher verfährt Stifter – etwa in Der Hagestolz. Jedoch konnte die Analyse auch hier eine Textstrategie offenlegen, bei der die Rückführung des Protagonisten in die Herkunftsfamilie samt maximal-endogamer Partnerwahl zugleich auch bedeutet, dass das ›Neue‹ und ›Alternative‹ (zum tradierten Denk- und Lebensmodell) zu verwerfen ist. Die Dynamik des Textes im Umgang mit der Leitdifferenz besteht ja gerade in seiner massiven Entdynamisierung, die er am Protagonisten vollzieht. Wenn dabei von ›Restauration‹ die Rede ist, so im ursprünglichen Sinne des Wortes als ›Wiederherstellung von Vergangenem‹ – und genau darauf kommt es Texten wie Der Hagestolz oder auch Die Narrenburg an.

Daneben stechen auch andere Modellsemantiken hervor, vornehmlich solche, die – ähnlich wie Hauffs Bild des Kaisers – ›Zukunft‹ oberflächlich nicht direkt negativieren, sie aber auch nicht als Abschluss gestalten. Beispiel dafür ist Imagina Unruh. Der Text setzt mit einem Einblick in den Endzustand ein, der eine angesehene, aber sozial isolierte Künstlerfigur etabliert. Tatsächlich halten sich die Konflikte gegenüber anderen Realisierungen (Das Schloß Dürande, Der Hochwald, Addrich im Moos) in Grenzen ‒ obwohl sie auch hier in sozialer Hinsicht mit Aufkommen der Studentenbewegung in Aussicht stehen. Vielmehr wird vorgeführt, dass eine Vereinbarung von ›Kunst‹ (in Fortführung und Modifikation romantischer Modelle) und Gesellschaft unmöglich ist, dass künstlerische Tätigkeit denk-, aber nur eingeschränkt lebbar ist, sie unter den gesetzten Bedingungen und eigenen Merkmalen keine gesellschaftliche Position haben kann. Die Doppellagerung des Problems ist im Zukunftsmodell entfaltet: ›Kunst‹ findet ja noch statt, aber eben ohne Öffentlichkeit der Künstlerperson. Wieder deutlicher verfährt im Kontext dieser Modelle Die Lehnspflichtigen. Der gesellschaftspolitische Konflikt wird zwar notdürftig geklärt. Aber Probleme erscheinen doch auch ungelöst: ›Notdürftig geklärt‹ heißt in diesem Fall, dass der in die Wege geleitete Demokratisierungsprozess nur künstlich – das heißt vonseiten des Grafen als Geste der Resignation – hergestellt wird. Die Schranken zwischen Ober- und Unterklasse wären in dieser Hinsicht politisch in Maßen aufgehoben – nicht aber mentalistisch. Außerdem werden die Hauptfiguren durch Tod getilgt. Nicht nur ist dadurch die Chance auf eine (synekdochische) Versöhnung auf politischer Geschehensebene vertan, auch schlägt damit ein zukunftsträchtiger Verlust des Herrscherhauses zu Buche, das bedingt durch seine Veralterung in Bedrängnis gerät und seine Traditionen nicht an Nachkommen weitergeben kann. Die Zukunft ist auf der einen Seite eine nur mäßig befriedigende, auf der anderen Seite eine gar triste.

Die angeführten, signifikanten Textvarianten zeigen: Es liegen auf der einen Seite – aus narratologischer Sicht – offenbar ganz konventionelle Modelle vor, die sich dreiteilig gliedern lassen und positive, negative und offene Zukunftssemantiken vorweisen. In dieser Hinsicht entspricht der Wandel literarischen Erzählens am Ausgang der Goethezeit mutmaßlich einer zunehmenden Konsolidierung narrativer Muster und Modelle. Im Vergleich mit der Goethezeit, in der Prosaformen an Bedeutung zugenommen hatten, wäre dies einstweilen keine große Überraschung, finden sich diese – man möchte sagen – ›Grundmodelle‹ der fiktionalen, narrativen Zukunftsgestaltung schließlich bereits auch schon dort. Allerdings stellen sich auf der anderen Seite zwei wesentliche Spezifika ein, die die Zwischenphase von der Goethezeit abgrenzen. Und deren Verschränkung ist dabei wichtig. Zum einen ist dies die Fokussierung auf die Zukunft. Ja, Texte arbeiten sich an der Vergangenheit ab und sie erheben die Gegenwart zum Problemsegment, aber sie konzentrieren sich auf die Zukunft als reflexiven Zielpunkt, auf den Probleme zulaufen und in dem diese Probleme ‒ aber auch Wünschenswertes ‒ semiotisch codiert werden. Zum anderen ist dies die graduelle Skalierung zwischen den genannten Zukunftsoptionen. In Kombination mit dem ersten Spezifikum hieße das: Die Zukunft steht zwar im Fokus; es ist aber völlig unklar, wie sie aussehen soll ‒ im Gegensatz zur Goethezeit, die etwa im Fall der Initiationsgeschichte bestimmte Parameter klar als solche definiert hatte. In der Zwischenphase sind diese Parameter selbst Verhandlungsgegenstand und resultierende Zukunftsmodelle daher vielgestaltig. Es lassen sich also grosso modo drei Zulaufpunkte (Kappung, Restauration, Polysemie) benennen, Texte taxieren aber stets auch den Zwischenraum zwischen diesen Punkten. Das klang beispielsweise bei der Erfassung des anthropologischen Reduktionsprinzips an – als die Möglichkeiten behandelt wurden, wie Endzustände realisiert sind und das Prinzip selbst flexibilisiert vorliegt (vgl. Abschn. 2.4). Einzig als generelles Merkmal lässt sich in Anbetracht aller dieser Aspekte die Tendenz zur (mehr oder weniger stark explizierten) pessimistischen Zukunftsgestaltung festhalten (Abbildung 5.1).Footnote 2

Abbildung 5.1
figure 1

Drei dominante Zukunftsmodelle der Zwischenphase

5.1.3 Das zeitreflexive Kippmodell der Zwischenphase

Die Sachverhalte, dass ein breites Raster an Teilmodellen anzunehmen ist und dass ›Zukunft‹ als hauptsächlicher Reflexionszielpunkt der Zwischenphase angesehen wird, treten überhaupt erst vor dem Hintergrund des spezifischen Gegenwart-Kippmodells zutage:Footnote 3 Da Gegenwart so konstituiert ist, wie sie konstituiert ist, rückt die Zukunft in den Fokus und wird derart stark exponiert. Und wir hatten mit unserem Basiskonzept festgehalten, dass die Fundierung als Interim und temporalsemantisches Zwischenglied aufgrund der ›Schichtung von Zeiten‹ zustande kommt. Genau diese Zeitschichtung erklärt das Merkmal des ›Kippens‹.

Eingeschoben werden muss der Einwand, dass natürlich nicht alle Texte das dargestellte Hauptgeschehen in der entworfenen Gegenwart situieren. Oftmals entspricht die Gegenwart der dargestellten Welt dem temporalen Standpunkt der Erzählinstanz (wie in Der tote Gast) oder einer Fokalisierungsinstanz (wie in Der Hochwald) und nimmt selbst den Status einer ›gegenwärtigen Zukunft‹ ein, eines Zustands, der auf das Hauptgeschehen folgt und den künftigen Endzustand formiert. Wir haben daher in der Regel von fokussierter Gegenwart gesprochen und meinen damit das Segment, das erkennbar zwischen einem zeitlich vorgelagerten und einem zeitlich nachgelagerten Segment positioniert ist und in dem das hauptsächliche Geschehen abläuft. Dabei kann auf theoretischer Ebene vernachlässigt werden, dass es selbst in der Vergangenheit liegen kann, während diese Eigenschaft für die Analyse natürlich nicht unerheblich ist (vgl. Abschn. 3.2 zu temporalen Teilwelten in Der Hochwald).

Die Komponenten des Kippmodells sind bereits mehrfach thematisiert worden: Erstens findet sich eine Komponente in der grundsätzlichen semantischen Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Neu‹/›Jung‹, die in biologisch-sozialer, in epochal-evolutionärer, in mental-verhaltensbezogener und zudem in räumlicher und artifizieller Hinsicht in Texten ausgebildet ist. ›Alt‹ und ›Neu‹ (beziehungsweise ›Jung‹) sind die zentralen semantischen Einheiten, an denen sich die Zwischenphase abarbeitet. Sie sind strukturell dominant und für den Bedeutungsaufbau hochgradig relevant. Zweitens liegen Komponenten im Bereich der modifizierten Initiationsgeschichte und in der neuen Aufgabe des Protagonisten, sich zwischen Vergangenheitskonfrontation, Zukunftsplanung und Möglichkeiten beziehungsweise Restriktionen hinsichtlich einer Zukunftsrealisierung zurechtzufinden. Drittens liegen sie in der dynamisierenden Überlagerung regressiver und progressiver Strukturen im temporalen Aufbau von ›Welt‹ und in Figurensemantiken (auch über die Initiationsgeschichte hinaus). Und viertens konnten Kippmomente dann ausgemacht werden, wenn Texte eine selbstreflexive Anlage aufweisen; wenn sie ›Kunst‹ in unterschiedlichsten Formen thematisieren und darüber letztlich das eigene Funktionspotenzial abwägen. ›Im Kippen begriffen‹ ist eine solche Strukturanlage im vorliegenden Fall deshalb, weil gleichzeitig die Notwendigkeit künstlerischer Produktivität und ihre Unzulänglichkeit als Fortführung der Kunst der Goethezeit proponiert wird.

›Zukunft‹ steht dabei im Zentrum eines Systems sich kreuzender Parameterbindungen, das seinerseits das Kernstück des Gegenwartskippmodells formiert. Parameter sind unter anderem ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ ‒ das heißt Semantiken von Temporalsegmenten einer dargestellten Welt, auf Basis derer die Zukunft ausgehandelt wird ‒ oder ›Progression‹ und ›Regression‹ ‒ mentalistische, werte- und normenorientierte, handlungsdeterminierende Vor- oder Rückwärtsgewandtheit, die für Zukunftsbilder entscheidend sind. Bindungen zwischen diesen Parametern bestehen daher, da sie jeweils gekoppelt auftreten, stets in Kombination vorliegen. Das bedeutet: In der (fokussierten) Gegenwart findet sich immer auch ein nicht unerheblicher Anteil der ›Vergangenheit‹. Die Gegenwart ist funktional abhängig von ihr und wird durch sie maßgeblich beeinflusst. Zusätzlich speist sich das Selbstverständnis als ›Zwischenphase‹ aus einer bestimmten Auffassung über die Goethezeit, deren Muster, Modelle und Semantiken perpetuiert und zugleich unterlaufen werden. Die Goethezeit ist präsent, ohne dass diese Präsenz vollends akzeptiert wird. Aber ebendies ist ja Verhandlungssache der Zwischenphase und macht sie als Literatursystem aus. Auch definiert sich Altes als solches gerade in Abgrenzung vom Neuen und Jungen und vice versa. Ersteres ist nicht allein bewährte Tradition, sondern wird durch ihre Gegenüberstellung mit alternativen Modellen zur potenziell veralteten Tradition erklärt, letztere erscheinen neu vor dem Hintergrund althergebrachter Modelle. Die Bezeichnung als ›Kippmodell‹ resultiert aus genau dieser oszillierenden Metastruktur (Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2
figure 2

Parameter des Kippmodells der Zwischenphase. Die Pfeile illustrieren die Parameterbindungen und das Wechselspiel zwischen Einheiten. Auf der Schnittstelle liegt das Konzept von ›Zukunft‹: Als semiotischer Brennpunkt des Problemfeldes und Optionenbereich der Findung von Problemlösungen

›Zukunft‹ wird also im Literatursystem deshalb als wichtig erachtet, weil mit ihr ein Raum als gegeben angenommen wird, in dem der Strukturkomplex des Kippmodells potenziell entschärft werden kann – kann, aber nicht zwangsläufig muss. Reflektiert wird die Gegenwart als akut-defizientes und -insuffizientes Teilmodell von ›Welt‹, die ›Zukunft‹ als semiotisches Feld möglicher Gegenmodelle dazu. Allerdings ist die Konzentration auf die Gegenwart auch derart stark, dass die darauffolgende Zeitstufe oftmals nur als negative Fortsetzung zutage tritt – daher rührt die phasenübergreifende pessimistische Grundtendenz. Es changieren die Einsicht über den Interimscharakter von ›Gegenwart‹ und die Überzeugung ihrer verschärften Virulenz, die mit folgenschweren Konsequenzen für die Zukunft einhergehen. ›Zukunft‹ kann eben nicht umstandslos als gegeben gedacht werden. Und doch steht sie immer auch an, in welcher Form auch immer: Die Zwischenphase hat es mit Zukünften zu tun.

5.1.4 Der Sonderstatus von ›Zukunft‹ als reflexiver Zielpunkt

Oberflächlich besehen sticht ›Zukunft‹ in Texten der Zwischenphase allein schon dadurch deutlich hervor, dass sie allenthalben explizit gemacht oder semantisch exponiert wird, sie über das ›im Normalfall‹ Erwartbare hinausreichend markiert ist. Selbstverständlich sollte bereits das als Ausgangspunkt einer Auseinandersetzung genügen. Wir müssen uns aber an dieser Stelle auch eingestehen, dass die Lage komplizierter ist, als es der erste Anschein vermuten ließe. Denn ›Zukunft‹ kann gar, wie nun mehrfach behauptet, als (zeit-)reflexiver Zielpunkt gelten – und zwar aufbauend auf der funktionalen Ausrichtung der Zeitstrukturen I bis III sowie – ergänzend dazu – auf der spezifischen Beschaffenheit des Kippmodells, das Texte in der temporaldiegetischen Mittelposition (= fokussierte Gegenwart) anbringen.

Greifen wir zur Illustration zwei Fälle auf, die jeweils als Ausgangsbeispiele der vorangegangenen Kapitel dienten. In Ottos Die Lehnspflichtigen versucht August Helene zu erklären: »Alles, was dieser großen Zeit nicht mehr gemäß ist, was sich ihr dennoch entgegenstemmt, ohne sich ihren mächtigen Umgestaltungen fügen zu wollen, das wird von ihr zermalmt und vernichtet.« (Otto 1982 [1849]: 258) In dieser Aussage findet sich dreierlei: Zum einen eine klar progressive Ausrichtung der Figur, ferner die Einsicht über das Kippmodell, das der Gegenwart eingeschrieben ist, und schließlich eine bestimmte Vorstellung über die Zukunft, die als Resultat der voranschreitenden und umgestaltenden Zeit gedacht wird. Der Graf – Helenes Vater – dagegen verteidigt eine unabänderliche Meinung, über die er nicht viele Worte zu verlieren braucht: »[E]s bleibt alles, wie es gewesen« (ebd.: 266). Hier wird propositional das Gegenteil in Anschlag gebracht: eine anti-progressive, ja angesichts der im Kippmodell tatsächlich vorhandenen ›Bewegungen‹ (vgl. ebd.: 252) de facto reaktionäre Denk- und Handlungsdevise und eine entsprechend von der Vorstellung Augusts diametral abweichende Vorstellung. Beide Vorstellungen sind konfligierend angeordnet und werden auf der sujethaften Textschicht zeitreflexiv ausgehandelt, das heißt, sie werden nicht allein in der Figurenrede semiotisiert und vom Text konzipiert, sondern mit einem konkreten Zukunftsentwurf des Textes in Beziehung gesetzt. Und dieser Entwurf besteht im angesprochenen negativierten Bild: Das eine Konzept (das des Grafen) kann nicht gehalten werden, das andere wird nur bedingt forciert, vielmehr resignativ zugestanden und im letzten Satz lediglich in Aussicht gestelltFootnote 4 – beides zum Preis einer Aufgabe der versöhnenden Hoffnungsträger August und Helene. Die politischen Positionen streben die Überwindung der Gegenwart an – in diametrale Richtungen – und verfolgen damit ein jeweiliges Ziel, das zeitlich nach der bewegten Gegenwart in der Zukunft liegt; und gleichfalls legt der Text – als narrativer Text – eine Abfolge des Geschehens in die Zukunft an: Auch hier ist sie der Zielpunkt ‒ der Zielpunkt eben des Erzählens.

In Der Hagestolz spielt ›Zeit‹ insgesamt eine immense Rolle, speziell aber ›Zukunft‹. Der Text kontrastiert Vorstellungen von Jugend- und Elterngeneration, wobei er beide differenziert darlegt und wiederum eine Schnittmenge bildet, auf die das Modell dann hinausläuft. Auf der einen Seite vertritt der Held Victor eine dezidierte Meinung: »Es ist nun für alle Ewigkeit gewiß, daß ich nie heiraten werde.« (Stifter 1982a [1845/1850]: 13) Dies mag zumindest vor dem Hintergrund verwundern, dass Victor eine mit dem goethezeitlichen Bildungs- und Entwicklungsmodell, in dem Paarbildung ja vorgesehen ist, durchaus kompatible Vorstellung vertritt, wenn er »von seiner Zukunft und von seinen Plänen« (ebd.: 110; vgl. auch Abschn. 2.1) spricht. Neben diesen Zukunftsplänen ist ein weiterer Plan sinnfällig. Denn Hanna gegenüber äußert er: »Und es wird gewiß eine Zeit kommen, wo ich wieder zurück komme – da werde ich nie ungeduldig werden, und wir werden leben, wie zwei Geschwister, die sich über alles, alles lieben […] und die sich ewig, ewig treu bleiben werden.« (Ebd.: 47) Neben der hyperbolischen Ewigkeitsformel, die dies mit der Ansage, nicht heiraten zu wollen, offenkundig korreliert, ist hieraus der offene Hang zur Bewahrung der Familie erkennbar. Der Jüngling strebt einen selbstbezogenen Bildungswerdegang an, an dessen Ende die (Herkunfts-)Familie ebenfalls Berücksichtigung findet. Darin überschneidet sich sein Entwurf mit dem der alten Figuren – wobei auch deren Entwurf binnendifferenziert zutage tritt. Einerseits plädiert Victors Ziehmutter Ludmilla für die Lebensstufe des Erwachsenen- und Greisenalters – und weist damit die Ansicht der Jungen als Folge von Nicht-Wissen, als Mangel an Lebenserfahrung von der Hand: »Du verstehst es jetzt nur noch nicht, wie unrecht es ist. […] [I]ch bin jetzt bald siebenzig Jahre alt, und sage noch nicht, daß ich mich nichts mehr freue, weil einen alles, alles freuen muß, da die Welt so schön ist und noch immer schöner wird, je länger man lebt.« (Ebd.: 23 f.) Zu werten ist das als Plädoyer für ein Leben im Alter,Footnote 5 das vorzugsweise durch eine wesentliche ‒ und zwar zeitreflexive ‒ Erfahrung gestützt wird: die Erkenntnis, »welch ein kostbares Gut die Zeit ist« (ebd.: 24). Auf der anderen Seite plädiert der Hagestolz vehement für die Heirat. Er vertritt damit nicht nur eine zu Victors Ansichten auf den ersten Blick konträre Vorstellung, auch offenbart er die Werteorientierung am Erhalt der Familie, gleichwohl anders als dies Victor tut. »Das Größte und Wichtigste, was du jetzt zu thun hast, ist: heirathen mußt du.« (Ebd.: 121) Und zur Begründung:

Das Leben ist unermeßlich lange, so lange man noch jung ist. Man meint immer, noch recht viel vor sich zu haben, und erst einen kurzen Weg gegangen zu sein. Darum schiebt man auf, stellt dieses und jenes zur Seite, um es später vorzunehmen. Aber wenn man es vornehmen will, ist es zu spät, und man merkt, daß man alt ist. Darum ist das Leben ein unabsehbares Feld, wenn man es von vorne ansieht, und es ist kaum zwei Spannen lang, wenn man am Ende zurückschaut. […] Ich habe vieles und allerlei gethan, und habe nichts davon. Alles zerfällt im Augenblike, wenn man nicht ein Dasein erschaffen hat, das über dem Sarge fortdauert. Um wen bei seinem Alter Söhne, Enkel und Urenkel stehen, der wird oft tausend Jahre alt. […] Mit meinem Tode fällt alles dahin, was ich als ich gewesen bin – – – –. Darum mußt du heirathen […]. (Ebd.: 122 f.)

Die Aussage des Alten wird schließlich realiter von Ludmilla bestätigt, die ja das Alter goutiert, weil sie Mutter ist – er hingegen lebt es ›schlecht‹, da kinderlos. Was bei alldem die Figuren eint, ist die Tatsache, dass sie massiv an der Zukunft ausgerichtet sind. Und bestätigt wird das durch die Erzählinstanz, die sich bereits zu Beginn – in Auseinandersetzung mit den Jünglingen – über die Rätselhaftigkeit der Zukunft, die Wesenlosigkeit der Vergangenheit und die Flüchtigkeit der Gegenwart äußert (vgl. ebd.: 14 u. Abschn. 2.3). Die Zukunft wird semantisch deutlich von Vergangenheit und Gegenwart abgehoben – die Zeitstufen werden ganz gemäß dem modernen Zeitregime voneinander abgekoppelt. Realisiert wird hier aber letztlich eine Zukunft, die den Kommunikaten (und Vorstellungen) der Alten entspricht, in ihr codiert wird das problembehaftete Grundverständnis einer säkularisierten Welt und die deutliche Absage an eine christlich-neutestamentarische Eschatologie, die mit der Daseinsbewältigung als hochrangigem Problem einhergeht. Die Vergangenheit ist noch stets präsent – obgleich sie scheinbar harmlos als Zukunftsbereiter umgepolt wird.

Hinter der Beobachtung, dass ›Zukunft‹ ein rekurrent auftretendes Thema ist und semantisch deutlich markiert wird, steht also das Zusammenspiel der Zeitstrukturen I bis III im Allgemeinen und die Anlage des Gegenwarts-Kippmodells im Besonderen. Sie formiert ein Feld, das Resultate aus den reflexiven Auseinandersetzungen mit ›Zeit‹ versammelt. Doch die angeführten Beispiele veranschaulichen zudem auch, dass eine Differenzierung zwischen Figurenkonzepten und Textmodellen auf analytischer Ebene von großem Nutzen sein kann.

5.2 Konzept und Modell: Zum Verhältnis zwischen Entwurf und Realisierung von ›Zukunft‹

Die Literatur unseres Zeitraums nimmt eine Unterscheidung zwischen dem vor, was Figuren über die Zukunft denken ‒ in der Regel zusätzlich in Form konfligierender Vorstellungen ‒ einerseits, und dem, wie sie im Zuge des Narrativs tatsächlich realisiert wird, andererseits. Außerdem zeigte sich, dass die Unterscheidung zwischen beidem bedeutungskonstituierend eingesetzt ist und für die Reflexion von Zeit in höchstem Maße eminent ist. ›Zeit‹, so ließe sich annehmen, wird hauptsächlich darüber verhandelt, wie mit ›Zukunft‹ umgegangen wird.

5.2.1 Die Kategorien ›Konzept‹ und ›Modell‹ in epochenspezifischer Spielart

Zukunftskonzepte und -modelle finden sich in nahezu jedwedem narrativen Text und dies in jeder Epoche von der Antike bis heute. Es sollte demnach im Fortgang der Argumentation um die epocheneigene Ausbildung dieser Kategorien gehen, ihre textuelle Verfasstheit und ihren phänomenologischen Ort im Rahmen zeitreflexiven Erzählens der Zwischenphase.

In den oben zitierten Figurenäußerungen, die den Lehnspflichtigen und dem Hagestolz entnommen worden sind, werden bestimmte Vorstellungen über Sachverhalte der dargestellten Realität kommuniziert, die in engem Verhältnis zur jeweiligen Auffassung über Zeit und Zeitlichkeit, über Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stehen, die die jeweils kommunizierende Figur vertritt. Derartige Denkmodelle nennen wir Zeitkonzepte ‒ und in Auseinandersetzung mit der Zukunft Zukunftskonzepte. Es handelt sich dabei um figurenmental konstituierte Entwürfe von ›Zeit‹ (und ›Zukunft‹), gedachte Entwürfe also, die kommuniziert werden können (aber nicht müssen). Allerdings treten sie durchaus auf der Textoberfläche zutage und sind, wenn nicht offen durch die Figurenrede vermittelt, anders aus dem Figureninneren ›nach außen‹ verlagert, beispielsweise ‒ und vor allem ‒ in Form von Perspektivierungsstrategien oder auch codiert in Artefakten.Footnote 6 Die Gesamtheit von Zukunftskonzepten einer Textwelt bildet das ab, was Koselleck ›Erwartungshorizont‹ nennt: die Vorstellungen über die Zukunft. Wie die Beispiele gezeigt haben, können innerhalb einer dargestellten Welt mehrere ‒ miteinander kompatible oder voneinander abweichende ‒ Konzepte aufgestellt werden: Der Erwartungshorizont der Zwischenphase ist alles in allem breit. Figuren handeln damit für sich selbst und mit anderen aus, wie sie ›Realität‹ auffassen, wie sie mit Erinnerungen umgehen, was sie planen, welche Entwicklungen ihrer Umwelt sie erahnen, voraussehen, befürchten oder wünschen. Zukunftskonzepte sind vor diesem Hintergrund deshalb wichtig für narrative Formen, da mit ihrer Hilfe Handlungsgänge gesteuert werden: Handlungsvorsätze können befeuert oder restringiert werden, Figuren können von einer Handlungsweise, von Entscheidungen überzeugt oder von anderen abgebracht werden. Insofern übernehmen solcherart Konzepte ‒ neben anderen diegetischen Einheiten, Institutionen und Instanzen ‒ eine handlungsregulierende Funktion.

Wenn der Graf in Die Lehnspflichtigen den aufbegehrenden Bauern gegenüber entgegnet, dass alles so bleibt, wie es immer gewesen ist, dann offenbart er damit Sturheit, Machtversessenheit und politische Statik ‒ er tut dies aber gerade unter Rückgriff auf eine zeitreflexive Rhetorik, mittels derer er die Zukunft mit der Vergangenheit gleichsetzt. Und ebendies ist ja auch seine Handlungsmaxime – die genau darin besteht, gar nichts zu tun. Auf der anderen Seite ist Augusts Aussage und Zukunftskonzept schwieriger zu deuten ‒ da er indirekt auch eine persönliche Zukunft mit Helene zu gestalten hofft. Aber auch hier ist zunächst die zeitreflexive Fundierung der Äußerung sinnfällig: Die ›große Zeit‹ destruiere alles, das sich dem Fortschritt, der mit ihr einhergeht, nicht beugt. ›Zeit‹ wird hier substanziell aufgebaut und als Agens gestaltet. August delegiert damit die eigene Handlungsgewalt an die übergeordnete ›Instanz‹ der Zeit und drückt damit aus, dass er selbst gar nicht anders handeln kann, als die gegebene Ordnung gewaltsam anzugehen. Impliziert ist damit aber auch die unumstößliche Gewissheit, dass die Zukunft anders aussehen wird ‒ und diese Gewissheit schließlich ist es, die August und mit ihm die Bauern antreibt. Aber es schwingt noch etwas anderes mit. Denn nicht allein konzipiert August in seiner Vorstellung eine Neuordnung von ›Welt‹ auf der politisch-sozialen Ebene des Kollektivs, auch erhofft er sich eine persönliche Verbindung mit Helene. Dass diese zum Zeitpunkt seines offenen Gesprächs mit ihr tatsächlich schon existent ist, ihre legitime Realisierung aber abhängig vom politischen Umschwung, und ‒ mehr noch ‒ durch eine goldene Uhr versinnbildlicht wird, ist natürlich in zeitreflexiver Hinsicht höchst bezeichnend. Im Gegensatz zum Grafen handelt August aus der Überzeugung und dem Wunsch heraus, dass sich die Verhältnisse – und zwar solche in mehreren Bereichen – unabänderlich verschieben werden. Auch seine Vorstellung von einer Zukunft ist für ihn handlungsdeterminierend.Footnote 7

Neben derartigen Konzepten zeichnen narrative Texte Zeitmodelle aus. Beispielsweise war für Der tote Gast ein zyklisches Modell ermittelt worden: gekennzeichnet dadurch, dass sich eine Geschehensabfolge in festgelegten zeitlichen Abständen wiederholt ‒ hier in Form des Auftretens des mordenden Geistes. Ansonsten ist in der Regel das linear-unidirektionale Modell vorherrschend ‒ oftmals aber eben in problematischer Kombination mit einer zyklischen Ausformung. Zeitmodelle sind also als überindividuelle Gesetzmäßigkeiten zu verstehen, nach denen ›Zeit‹ gestaltet ist und die sie als Anschauungsform wahrnehmbar machen. Im zyklischen Modell ist es die Schleifenanordnung von Einheiten (a, b, a, c, a …), im linearen deren fortschreitende Abfolge (a, b, c …).Footnote 8 Eine Teilstruktur in diesem Zusammenhang umfasst das Zukunftsmodell. Dieses entspricht der strukturell-semantischen Gestaltung eines temporalen (Teil-)Segments der dargestellten Welt, das zeitlich nach Vergangenheit und Gegenwart positioniert ist. Es ist der überindividuell wahrnehmbare Endzustand von ›Welt‹ und ihrer Bewohner, ein Ist-Zustand am Ende einer narrativ-präsentierten Geschehensabfolge. Das Zukunftsmodell ist vom Zukunftskonzept kategorial zu unterscheiden, und zwar hinsichtlich des Status zur diegetischen Ontologie: Das (Teil-)Modell ›Zukunft‹ entspricht der Realität eines Textes zu einem Zeitpunkt z (wenn die Vergangenheit einem Zeitpunkt x und die Gegenwart einem Zeitpunkt y entsprechen), während das Konzept allein einen mentalen Status aufweist, als gedachte, nicht aber de facto realisierte Zukunft. Eine Realisation findet sich allein im Zukunftsmodell.

Beides kann freilich zusammenlaufen. In Der Hagestolz setzen sich die Alten gegenüber den Jungen durch. Victor unternimmt zwar pro forma eine Bildungsreise, kehrt dann aber zurück und ehelicht die Ziehschwester ‒ im Sinne der Alten wird er regelrecht ›bekehrt‹ und erfüllt genau dasjenige Konzept, das sie proklamiert hatten. Der Text setzt das um, was Figuren gedacht und kommuniziert haben; er modelliert eines der angebotenen Konzepte. Doch ein Residuum der Differenz zwischen Konzept und Modell ist sogar hier sinnfällig: Zum einen findet in der Vereinigung von Victor und Hanna im übertragenen Sinne auch die zeitlich verschobene Vereinigung der Alten statt. Das heißt: Die jungen Figuren müssen das richten, was die Alten nicht bewerkstelligen konnten. Zum anderen bleibt der Oheim jedoch auch am Ende noch als solitäres, abgeschottetes Subjekt gekennzeichnet, das ›lebendig-tot‹ ist. Der Text macht demnach die Denkfigur des säkularisierten Daseins erneut geltend und gibt den Hagestolz als ›verlorenes Subjekt‹ auf, dessen Dasein mit dem eigenen Tod enden wird.

Allein schon durch diese kursorischen Blicke wird ersichtlich, dass in der Relation von Zukunftskonzept und -modell ein enormes Potenzial liegt, zeitbezogene, aber auch nontemporale Problemstellungen zu codieren und auszuhandeln.

5.2.2 Zum Problem der Konzeption von ›Zukunft‹

Der Umgang mit Vorstellungen über Zeit und Zukunft deutet auf erhebliche Probleme der Zwischenphase hin. ›Zeit‹ avanciert offenkundig deshalb zum bestimmenden Thema, da das Literatursystem über den eigenen Status im Unklaren ist und literarisch-narrative Logiken hinterfragt und vermeintlich selbstverständliche, anthropologische Denkfiguren und -muster auf ihre Gültigkeit und Tragfähigkeit hin überprüft. Zeit- und Zukunftskonzepte relevant zu setzen heißt also, metatextuell-selbstreflexiv zu verfahren, und zwar, indem Ist- und Soll-Zustand literarischen Schaffens diskutiert werden. Konzepte im obigen Sinne wären hinsichtlich dessen in paradigmatischer Hinsicht als potenzielle Alternativen einzustufen, die Texte neben ihren Modellentwürfen als mögliche Realisierungen aufrufen und gegeneinander abwägen.

Wir haben schon erläutert: Zeitkonzepte und -modelle werden in Form eines Auseinanderdriftens von emischer, etischer und subjektiver Zeit problematisiert, wie in Das Schloß Dürande: Die Zeit ist ›aus den Fugen geraten‹, als Grunddimension inkonsistent und nicht mehr eindeutig bestimm- und erlebbar. Das gilt für Figuren wie auch für Texte. Nicht nur ist demnach ein hohes Maß an Auseinandersetzungen mit ›Zeit‹ anzunehmen, auch ist diesen Auseinandersetzungen die fundierte Problemhaftigkeit der Auffassung über ›Zeit‹ und ›Welt‹ eingeschrieben. Das kleinteiligere Problem der Zukunftskonzepte besteht dabei darin, dass Figuren zwar eine Zukunft imaginativ entwerfen können – im Schlechten wie im Guten –, diese dann aber anders eintritt als erwartet. Im Gegensatz zu dieser schon seit der Goethezeit gültigen (vgl. Titzmann 2012a [2002]: 236 f.) Grundformel stuft die Zwischenphase das Gefälle zwischen Erwartung und Realisierung aber als neuralgisches Problem ein, das nicht mehr in einem utopischen Zukunftsbild mündet, sondern, wie schon mehrfach konstatiert, in einem generellen Pessimismus.

Zukunftskonzepte veranschaulichen vor diesem Hintergrund dreierlei: Erstens sind sich Figuren über eine Zukunft bewusst. Sie erachten ihren gegenwärtigen Zustand als Übergang in eine von diesem Zustand abweichende Zukunft. Zweitens erachten sie ›Zukunft‹ grundsätzlich als gestaltbar und nicht von vornherein festgelegt. Das persönliche wie auch das gesellschaftlich-kulturelle Leben ist nicht teleologisch restringiert, sondern im Gegenteil offen. Daher ist ihnen drittens bewusst, dass es alternative Zukunftsmodelle geben kann, wenn eben divergente Zukunftskonzepte denk- und sagbar sind. Doch ebendies gerät zum Problem: In den Texten von Otto und Stifter etwa sind es nicht zuletzt die Gegenüberstellungen der jeweiligen Konzepte, in denen sich die hauptsächlichen Problemstellungen bündeln. In dem einen Fall – bei Otto – ist dies das Abwägen des politischen Ordnungsgefüges und damit verbunden die Möglichkeit einer ständeübergreifenden Paarbildung; im anderen – bei Stifter – die Abwendung von einem Lebenswegmodell mit individueller Autonomisierung hin zur Rückführung zur Herkunftsfamilie als neues Sinnstiftungsmodell und Zentrum des fiktionsinternen Werte- und Normensystems.

Als Begründung insbesondere für negative Zukunftskonzepte nennen Figuren, wie der Held Hermann in Immermanns Die Epigonen (1836), immer wieder die Unbeständigkeit der eigenen Gegenwart: »Er fühlte lauter Widersprüche in seinem Schicksale, und ein unbestimmtes Grauen vor der nächsten Zukunft überschlich ihn.« (Immermann 1981 [1836]: 449) Auch so in Mörikes Maler Nolten (dessen Gegenwart durch das Schwanken zwischen zwei Frauen und durch ein familiäres Problem geprägt ist): »[A]ls die Gräfin […] auch ihn mit einer Fröhlichkeit begrüßte, wie man sie sonst kaum an ihr wahrnahm, da schien sich um ihn und über sein ganzes Daseyn ein Lichtglanz herzugießen, in welchem sich alle Vergangenheit und Zukunft seines Lebens wir durch Magie verklärte« (Mörike 1967 [1832]: 94). Dass dies indessen nur ein temporärer Zustand sein kann, belegt der Text in der immer wieder auftretenden Skepsis Noltens hinsichtlich seiner Zukunft. Bestätigt wird in beiden Fällen abermals: Das Gegenwarts-Kippmodell ist ausschlaggebend sowohl für die tendenziell pessimistische Konzeption als auch für die Häufigkeit und Intensität, mit der sie betrieben wird. Das lässt sich gleichfalls einprägsam an der Novellistik Theodor Mügges nachvollziehen, die hier abschließend einmal näher gestreift werden soll.Footnote 9

Nicht nur sticht die Zeitthematik bereits durch die Titelwahl einiger der Texte hervor (Die Abenteuer einer Nacht; Liebe in alter Zeit; Die gute alte Zeit u. Zu spät!), auch beschäftigen sich die Figuren fortwährend und intensiv mit ihrer Zukunft ‒ deutlich angezeigt auch auf der Textoberfläche. In Die Abenteuer einer Nacht liest man von »dunkle[r] Zukunft« (Mügge 1846c: 248), der »Zukunft Spaniens« (ebd.: 250), dem »Würfel der Zukunft« (ebd.: 252) und dem »Glück der Zukunft« (ebd.: 255). In Die Emigranten entwerfen die Figuren unentwegt eigene »Pläne der Zukunft« (Mügge 1842: 284) oder fürchten die anderer, zum Beispiel der in Gefangenschaft befindliche Kapitän Wright, der sich »die Zukunft versöhnungsvoll« (ebd.: 298) ausmalt: »Er dachte an Clemente, an seine Liebe, an die Zukunft, die ihn frei und glücklich machen sollte« (ebd.: 302). Im Gegensatz zu diesen Texten, die ›Welten‹ in revolutionären Umbruchsituationen zeichnen, situiert Herz und Welt das Geschehen zwar auch am Übergang in eine (industrialisierte) »neue Welt« (Mügge 1843: 217) und konzentriert die Gegenwart auf die »neueste[] Zeit« (ebd.: 253), fokussiert im Besonderen aber Bedingungen einer gelingenden und optimalen Paarbildung. Im ›Für und Wider‹ zwischen zwei Optionen und sogar im emotionalen ›Auf und Ab‹ der letztlich getroffenen Partnerwahl ‒ die ihrerseits signifikant ist für den kulturellen Wandel, dem die dargestellte Welt unterliegt ‒ ist immer wieder von der Zukunft die Rede. Der Held Georg zunächst: »Meine Zukunft! […] Ich will leben, wie meine Väter lebten, ein freier Mann auf meinem Eigenthume, an der Seite eines guten häuslichen Weibes, das mich liebt, im Kreise weniger Freunde und in kräftiger Thätigkeit des Bürgers, um mein irdisches Gut zu fördern.« (Ebd.: 150) Als er von diesem, deutlich an der Vergangenheit ausgerichteten Plan Abstand nehmen muss, ist folgerichtig auch die Zukunft neu zu verhandeln ‒ obschon Georg dies einstweilen verweigert: »Ich habe nicht mehr mit Dir über Deine Zukunft gesprochen, Du hast es mir verwehrt.« (Ebd.: 188) Dann jedoch: »Es fiel etwas von seinem Herzen ab, das in eine unermeßliche Tiefe sank, und aus dem Dunkel brach ein neuer Tag, eine neue Zukunft, eine Ferne, auf der ein Lebensfrühling auf- und abzog mit seinen tausend bunten Gestalten.« (Ebd.: 198) Die Paarbildungsoption des bürgerlichen Georg mit der adeligen Sabine gibt ihm infolgedessen »neue Hoffnungen« (ebd.: 213); die Liebenden werden vereinigt, bleiben sich aber zunächst noch persönlich fremd ‒ erneut der Anlass, zu debattieren und »neue Lebenspläne« (ebd.: 282) zu entwerfen, »neue Kartenhäuser [zu] bauen« (ebd.: 289), hin- und hergerissen zu sein zwischen einer »öden Zukunft« und einem »neuen Glücke« (ebd.: 283). Erst mit der beidseitigen Reduktion ‒ Verlust von Vermögen bei ihm, Abmilderung des Affekthaushaltes bei ihr (vgl. ebd.: 292 u. 298) ‒ ist eine gemeinsame, ja gar überhöht-glückliche Zukunft möglich ‒ die Wiedervereinigung im Übrigen findet unter Rückgriff auf modifizierte Goethezitate und die Reflexion von ›Zeit‹ statt (»Armseliges Geschöpf, Dein Gott heißt Zeit«; ebd.: 319). Der Text diskutiert außertextuelle Probleme der Kultur in Form einer Reflexion von Zeit – insbesondere in der ständigen Neuaushandlung von ›Zukunft‹ – und codiert darin eigens die selbstreflexive Information der Loslösung von der Goethezeit.

Die doch recht unterschiedlichen Texte Mügges weisen folglich die Gemeinsamkeit auf, dass Figuren über die generelle Eigenschaft verfügen, über die Zukunft nachzudenken ‒ sie zu planen, umzugestalten, sie zu erhoffen, sie zu befürchten ‒, sobald sie in (wie auch immer geartete) unsichere, unklare, prekäre Situationen geraten. Das bedeutet unter Berücksichtigung der Häufigkeit und Intensität dieser Vorgänge auch, dass die Gegenwart als nicht tragfähig, als nicht zufriedenstellend gestaltet ist, aber eben zugleich auch, dass die Zukunft den Zielpunkt aller (Zeit-)Reflexionen darstellt. Problematisch werden Konzepte offensichtlich dadurch, dass unter Umständen divergente (für sich genommen realisierbare) Vorstellungen aufgestellt werden, sie jedoch gleichzeitig aufgrund ihrer Koppelung unhaltbar erscheinen und fortwährend überdacht, diskutiert und gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Für Figuren und dargestellte Welten stellt dies eine enorme und immens-wichtige Aufgabe dar.

5.2.3 Konstellationen der Auf- und Entladung: Signifikante Muster der Konzept-Modell-Relation

Die Konzeption von ›Zukunft‹ wird als Problemkomplex codiert, in dem das wesentliche Merkmalsbündel zeitreflexiver Vektoren zusammenlaufen. Gesetzt den Fall, in der Reflexion von ›Zeit‹ sind literarische Verhandlungsgegenstände unterschiedlicher Ebenen anzutreffen – Fragen nach literarischen Erzählmustern, Kennzeichen des literarischen Strukturwandels, die selbstreflexive Standortbestimmung als Literatursystem, die Verarbeitung von (Zeit-)Konzepten der (außerliterarischen) Kultur etwa –, dann müsste die Relationierung von Konzepten und Zukunftsmodellen zum einen aufzeigen, welche Facetten der Komplex aufweist – welche einhergehende Teilprobleme mit ihm aufgerollt werden –, und zum anderen, ob und wie dieser Komplex entschärft wird und welchen Lösungen Probleme zugeführt werden. Welche Resultate gehen daraus hervor?

(Zukunfts-)Konzept-Modell-Relationen konfigurieren bestimmte Textkonstellationen, deren Teile (= Konzept[e] und Modell) unterschiedlichen ontologischen Status haben und einem generellen Erzählmodell entspringen. Dieses Erzählen geht zeitsemiotisch in den Textlogiken der Auf- und Entladung auf: Texte verfahren angesichts dessen so, dass sie zunächst (a) die temporalsemantische Leitdifferenz (›Alt‹ vs. ›Jung‹/›Neu‹) wie auch (b) das Kippmodell aufbauen sowie erstere in letzterem in ›Bewegung‹ setzen (= Aufladung) und sie beides an einer Schaltstelle im Text ›verarbeiten‹ (= Entladung), das heißt entweder (c) sie mit Hilfe eines Kippmoments auflösen und den gegebenen Aufbau modifizieren oder substituieren oder aber (d) durch Ausbleiben des Kippmoments eine Entladung ohne Auflösung vornehmen. Mit ›Kippmoment‹ und ›Schaltstelle‹ sind dabei syntagmatische Textstellen gemeint, an der ›Zukunft‹ aktualisiert wird.Footnote 10 Das Kippmoment wird durch die Spezifik des Kippmodells der Zwischenphase impliziert – die Gegenwart oszilliert in ihrer Schichtung von ›Zeiten‹ und entlädt sich in die eine oder in die andere Richtung. Bei einer textuellen Schaltstelle wird lediglich die Überführung des Erzählten in eine Zukunft angezeigt, ohne dass ein solches Kippen auszumachen wäre – angezeigt allein durch bestimmte Redeformeln (wie ›drei Jahre später‹ oder ›Bis in alle Zeit hinein‹ et cetera). In der Logik des Literatursystems gelten nun (a) und (b) als gesetzt und (c) und (d) als Alternativen; wobei die letzteren einem übergeordneten Prinzip folgen, durch das Narrative zu einem Abschluss gelangen. Die Zwischenphase entlädt ihre Narrative – wieder: zeitsemiotisch gelesen – entweder, indem sie eine für die dargestellte Welt mögliche Zukunftsoption wählt und als Endzustand aktualisiert ‒ unabhängig davon, ob diese einem präsentierten Konzept entspricht oder nicht. Oder sie behält die Zukunftsoffenheit – als Raster gleichzeitig bestehender, alternativer (Zukunfts-)Teilsemantiken – bei und realisiert diese als Modell, und führt damit also die Zukunft als fortgeschriebene Gegenwart fort und gestaltet sie polysem – sie tilgt jedoch infolgedessen gegenüber der fokussierten Gegenwart das Merkmal der ›Behebbarkeit von Sachverhalten‹ und nimmt dadurch doch auch eine (minimale) Entladung des Gegebenen durch. Die Entladungsvariante (c) stellt Konsistenz her, Variante (d) verweigert sich (vielleicht auch nur partiell) einer solchen konsistenten Endordnung. Diese Blaupause ist zugegebenermaßen jedwedem Narrativ inhärent – es kommt hier freilich auf die spezifische Umsetzung der Zwischenphase an.

Zwei signifikante Konstellationen konnten bereits mit den Texten von Otto und Stifter erläutert werden. Beide installieren die Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Jung‹/›Neu‹ und entladen sie in Form der Möglichkeit (c): Die Lehnspflichtigen korreliert den entworfenen Gesellschaftsbereich mit einer persönlich-individuellen Ebene. Konkurrierende Konzepte repräsentieren jeweilige Handlungszielpunkte von regressiven und progressiven sozialen Teilgruppen, die zugleich ein altes (feudal-aristokratisches) und ein neues (demokratisches) Ordnungssystem repräsentieren. Der Text entlädt die damit verbundene Konfliktsituation zwischen beiden Lagern dadurch, dass er im Gesellschaftsbereich zugunsten der progressiven Teilgruppe eine Neuordnung ansetzt, im Bereich der Familie nach dem Verlust der heiratsfähigen Kindergeneration allerdings nur der Vater übrigbleibt und mit ihm die Existenz der Familie enden wird ‒ damit hat in diesem Bereich das ›Alte‹ zwar Fortbestand, es wird zugleich aber als nicht zukunftsfähig eingestuft. ›Entladung‹ heißt hier demzufolge: Das Gegenwartssegment kippt im Moment des Todes von Helene und August. Weder das eine noch das andere Zukunftskonzept wird aktualisiert ‒ beide sind denkbar, gleichzeitig aber nicht (oder nur bedingt) realisierbar. Und dennoch wird die offensive Konfliktsituation der Handlungsgegenwart am Ende der Tendenz nach überwunden. Die Gegenwart wird zwar nicht fortgesetzt, ebenso wenig aber werden ihre Probleme eindeutig und allumfassend gelöst. Die Zukunft erfüllt nur in Teilen das, was sich Figuren von ihr erwartet hatten. Ihr ist gleichermaßen Fortschritt und Stagnation eingeschrieben. Konsistenz ist also gegeben; sie ist indessen auf allen Ebenen unbefriedigend und muss daher als labil bezeichnet werden. Die Ordnung von ›Welt‹ im Endzustand ist eine nur bedingt wünschenswerte. Eine solche Konstellation könnte etikettiert werden mit: Die Leitdifferenz, das Kippmodell und konkurrierende Konzepte werden entladen in einer restringiert wünschenswerten Neuordnung.

Etwas anders in Der Hagestolz: Dort findet sich eine Aufladung der Leitdifferenz allein auf anthropologischer Ebene, teils getragen durch die Temporalsemantik des Raums (im Fall der Insel). Die Entladung erfolgt gleichfalls in Form der Variante (c), verläuft aber eindeutig im Sinne eines der proklamierten Konzepte, nämlich desjenigen Konzeptes der Alten. Der Endzustand wird von allen Seiten begrüßt: Sowohl die Elterngeneration als auch die Angehörigen der Kindergeneration sind glückselig ‒ mit Ausnahme des Hagestolzes, der sinnbildlich als figürliche Aktualisierung des Konzeptes von ›Jung‹ den Negativfall verkörpert und ausgegrenzt bleibt. Jedoch begrüßt ja auch er die Entscheidung Victors, zu heiraten und den von ihm angestrebten Lebensweg zu ›korrigieren‹. Das heißt: Auch Stifters Text stellt im Endzustand Konsistenz her und im Gegensatz zu Die Lehnspflichtigen sogar eine wünschenswerte. Ex post wird aber latent ebenso eine weitere, eminente Botschaft im Endzustand angelegt: Das Lebenslaufmodell, das der Text aus der Goethezeit appliziert, ist untragbar, das Modell wird zugleich aber noch immer gedacht und angesteuert ‒ und genau das kann rückwirkend als behandeltes Problem ausgelegt werden. Denn die hauptsächliche Verhandlungssache des Narrativs ist schließlich, den Initianden von ebenjenem Modell abzubringen beziehungsweise von einem anderen zu überzeugen. Damit verbunden ist ein enormer Aufwand, der betrieben werden muss, um dies zu motivieren und das Ganze zu bewerkstelligen. Daher unterscheiden sich die beiden Beispiele natürlich oberflächlich in ihrem literarisch-politischen Gehalt, in ihrem Umgang mit ›Zukunft‹ aber nicht wesentlich voneinander: In beiden Fällen wird etwas auf Kosten von etwas anderem durchgesetzt, und in beiden Fällen geht ein Teil des Jungen/Neuen verloren – in dem einen Fall (Der Hagestolz) wird das kaschiert, in dem anderen (Die Lehnspflichtigen) wird es im Tod der jungen Hoffnungsträger merklich verarbeitet. Insofern ist Stifter mit seinem Text auch nur zum Teil ›restaurativ‹ zu nennen: Zwar setzt sich ›Alt‹ durch – insofern wäre auch die Maßnahme zu verstehen, dass ›Jung‹ das Scheitern von ›Alt‹ (in der Vergangenheit) auffängt. Aber der Umgang mit dem modifizierten Lebenslaufmodell ist doch auch problembehaftet. Beide Texte führen ein Zukunftsmodell vor Augen, das nur bedingt wünschenswert ist: Die Lehnspflichtigen tendiert zur Negativierung – wie auch Der Tolpatsch, Cordelia, Madelon oder Die Romantiker von Paris, Addrich im Moos –, Der Hagestolz zur Positivsetzung und Verharmlosung wie Hauffs Das Bild des Kaisers. Stifters Text steht irgendwo zwischen ›Restauration‹ und ›Polysemie‹, der Text von Otto zwischen ›Polysemie‹ und ›Kappung‹.

Indessen belegen beide Konstellationen von unterschiedlicher Warte aus den Sachverhalt, warum übermäßig glückliche Enden in der Zwischenphase derart selten anzutreffen sind (besonders instruktiv in dieser Hinsicht und auffällig: Der junge Tischlermeister oder Der Weg zum Glück): Neben anderen Konstellationen, die noch deutlicher in eine pessimistische oder resignative Richtung weisen, sind sogar glückliche oder zumindest akzeptable Zukunftsmodelle stets durch einen Rest an Zweifel am Bestehenden geprägt. Literarischen Lösungsangeboten haftet grundsätzlich ein Makel an; sie vermögen nicht vollends zu überzeugen. Und auch diese Beobachtung weist auf das brüchige Selbstverständnis des Literatursystems hin. Deutlich häufiger jedenfalls als übermäßiges Glück sind Formen des reduzierten oder relativierten Glücks (wie im modellbildenden Text Das Glück oder in nachträglich verharmlosend-trivialisierend verfahrenden Texten wie Zschokkes Die Nacht in Brczwezmcisl) oder Formen des kaschierten Glücks wie in Der Hagestolz und in Die gute alte Zeit.

Dem anzuschließen wären zwei weitere Klassen von Konstellationen: Zum einen ausgeprägte Fälle der Ablehnung von präsentierten Zukunftskonzepten, zum anderen Fälle, bei denen das Kippmoment ausbleibt und Gegenwart (unter Abstrichen) fortgesetzt wird. Auch unser Einleitungsbeispiel Die Kuh lädt die dargestellte Welt deutlich mit Semantiken des ›Alten‹ und ›Jungen‹ auf; die Figur des Vaters spricht gar von einer Zukunft, die er für den Sohn vorsieht. Die Textwelt kollabiert aber regelrecht in einer Kette unglücklicher Geschehnisse und im resultierenden Feuer, durch das ein topografisches Teilfeld gänzlich getilgt wird. Konsistenz ist zwar auch hier gegeben, aber mit einem wesentlichen Unterschied gegenüber den vorangegangenen Spielarten: Die Zukunft des Teilfeldes wird schlichtweg verweigert. Sie wird negiert. Der nicht unbedeutende Unterschied zur Konstellation in Die Lehnspflichtigen besteht dabei darin, dass hier keine tendenzielle Offenheit gegeben ist. Die Kuh, Der Brudermord, Der Hochwald, Das Schloß Dürande ‒ in allen diesen Texten wird deutlich auf die Tatsache abgehoben, dass etwas unwiderruflich endet, stirbt und vergeht. Übrig bleiben allenfalls Spuren (Der Hochwald u. Das Schloß Dürande), aber dies noch nicht einmal zwangsläufig (Die Kuh u. Der Brudermord). Derartige Konstellationen sind gleichbedeutend mit der Entladung in Form der Elimination oder der semantischen Entleerung eines Teilraums.

Von den vorhergehenden Varianten wiederum auf den ersten Blick abweichend ist die Fortsetzung des Gegenwartskippmodells. Eine Entladung ist zwar feststellbar, allerdings nur hinsichtlich einer unmöglichen Behebbarkeit der gegebenen Umstände, die eine Welt am Ende des Narrativs prägen. Möglich sind mehrfache Ansätze zu Kippmomenten, ohne dass sie tatsächlich realisiert werden. Gegeben ist in resultierenden Zukunftsmodellen daher keine partielle, sondern eine gänzliche Offenheit hinsichtlich weiterer Geschehensentwicklungen. Das Narrativ bleibt unabgeschlossen, ohne dass der jeweilige Text fragmentarisch zu nennen wäre. Zum Beispiel Lenz: Unsere zeitsemiotische Lesart der Zerrissenheit des Protagonisten gab Anlass zur Vermutung, dass die Pathologie der Figur aus einer unabgeschlossenen Auseinandersetzung mit der Vergangenheit resultiert, die noch präsent ist und mit der zugleich gebrochen wurde. Die in der Figur substantiierte Überlagerung von linearem und zyklischen Zeitmodell wird über die Gegenwart hinaus fortgeführt, ohne dass eine Lösung in die eine oder andere Richtung absehbar wäre (vgl. Abschn. 3.3). Ähnliches in Die Zerrissenen: Auch vereinzelte Handlungsstränge, die durch ein Kippmoment entschieden werden, können nicht über die fortgesetzte Unabgeschlossenheit des Gesamtgefüges hinwegtäuschen.

Das Literatursystem versammelt demnach vier Konstellationen: (1) Eine Entladung in restringiert wünschenswerte Teilmodelle, (2) eine Entladung in desaströse Katastrophen, (3) eine Entladung in der (bedingten) Fortführung des Merkmalssets des Gegenwartsmodells und (4) eine Entladung in wünschenswerten Teilmodellen – wobei allerdings eine übermäßig glückliche Zukunft die Seltenheit darstellt und daher Konstellation (4) im Folgenden zu vernachlässigen ist. Deutlich häufiger ist die Reduktion oder Relativierung von ›Glück‹ – wobei Texte dies dennoch als ›wünschenswert‹ kennzeichnen. Wir werden von den Modellen der Kappung, der Restauration und der Polysemie/Offenheit ausgehen. Zu zeigen sein wird, dass sich die genannten Konstellationen teils überlagern und in nebengeordneten Gefügen zusammenlaufen. So ist mitunter eine Unterscheidung zwischen den Konstellationen (1) und (4) entweder nicht möglich oder nicht notwendig – bedingt durch die Tatsache, dass etwa konfligierende Evaluationsperspektiven über das Textende hinaus ausgemacht werden können und daher eine eindeutige Wertung ›wünschenswert/nicht wünschenswert‹ verhindern. Auch (1) und (3) liegen nah beieinander, insbesondere dann, wenn – im Fall von (3) – ungelöste Probleme resignierend hingenommen werden, ohne dass sie als sonderlich bedrohlich eingestuft würden. Die Fortführung der Gegenwart entspräche dann einem restringiert wünschenswerten/notdürftig angestrebten Zustand oder einem schöngeredeten/verharmlosten Problemzustand. Wir werden sehen, dass die drei Modelle bestimmend sind, zwischen ihnen aber Skalierungen vorgenommen werden müssen. Was bei alldem vorherrschend ist: eine allgemeine Verunsicherung mit Blick auf die Zukunft, die imponderabel erscheint. Das zeigt der massive Hang zur Zukunftskonzeption ebenso wie die Unberechenbarkeit ihrer Entladung und die Breite an Zukunftssemantiken, die das Literatursystem anzeigt.

5.3 Drei Zukunftsmodelle in Skalierung: Kappung, Restauration, Polysemie/Offenheit

Das Kernstück der dominant-reflexiven Zeitstruktur IV setzt sich aus drei Modellformen zusammen, die als Pole eines skalierten Bereichs merkmalsspezifisch für die Zwischenphase zu nennen sind – sowohl hinsichtlich der literarischen Diskursivierung von ›Zukunft‹ als auch hinsichtlich der außerliterarischen Auffassung der eigenen ›neuesten Zeit‹, die einer Zukunft klar zugewandt ist, ohne sich über das eigene Potenzial sicher zu sein. Diese, eben auch literarischen Texten eingeschriebene Problematik speist sich aus dem Selbstverständnis einer Interimszeit: Die Zwischenphase kommuniziert sich selbst als Nachfolgesystem, ohne allerdings einen eigenen Status über den Interimsstatus hinaus denken zu können. Daher ist ein weiteres Nachfolgesystem impliziert, das vor der Blaupause der selbstreflexiven Diskursivierung von vornherein mitkonzipiert wird. Zur Folge hat dies die genannte Doppellagerung: Einerseits werden mit den dominanten Modellen drei kardinale Semantiken aufgerufen. Kappung meint die Entladung durch Elimination und impliziert Zukunftsunfähigkeit beziehungsweise partielle Tragfähigkeit. Mit Restauration wird die Wiederherstellung des ›Alten‹ aufgerufen ‒ das ›Junge‹ und ›Neue‹ kann sich nicht durchsetzen. Im polysemen und offenen Zukunftsmodell bleiben die Fronten verhärtet, unterschiedliche und diametrale Semantiken bleiben überlagert bestehen. Andererseits werden diese Dreipoligkeit flexibel gehandhabt, Zwischenbereiche eröffnet und das Gesamtfeld skaliert. Der Basispunkt aber liegt vorderhand in der Dreipoligkeit (Abbildung 5.3).

Abbildung 5.3
figure 3

Die drei dominanten Zukunftsmodelle der Zwischenphase

5.3.1 Zukunftsmodell 1: Kappung. Negation und Negativierung

Wenn mit ›Kappung‹ die Merkmale der Elimination und der (partiellen) Zukunftsunfähigkeit einhergehen, dann kann dieses Modell auch als Ordnung der Negation oder Negativierung umschrieben werden: Das, was das Narrativ aufbaut, wird als derart problematisch erachtet, dass es nachhaltig negativen Einfluss auf die Zukunft der dargestellten Welt hat. Es kann keiner Lösung zugeführt werden, die befriedigend, wünschenswert oder erstrebenswert wäre ‒ oder nur in Teilen. Damit macht allein schon dieses Teilmodell klar, dass ›Zukunft‹ insgesamt eine flexible Denkfigur darstellt. Denn es unterscheidet zwischen dezidierten Absagen an das Gegebene (= Negation) und Teileinschränkungen (= Negativierung). In dem einen Fall ist ›Zukunft‹ überhaupt nicht denkbar beziehungsweise nur eine leere Zeithülle ohne Agenzien, die zuvor gänzlich getilgt werden. In dem anderen Fall wird ein semantisches Teilfeld erfolgreich in eine funktionale Zukunft überführt, während allerdings ein anderes ‒ und zwar das für den Text wesentlichere Feld ‒ eliminiert wird. Der dargestellten Welt haftet in beiden Fällen ein Makel an, der ihre Verfasstheit und Funktionalität über den Textrand hinaus infragestellt. Genauer: Wenn die Zukunft negiert wird, so heißt das zweierlei. Zum einen ist die Ordnung der dargestellten Welt defizitär wie auch die Handlung, die sich in ihr vollzieht, nicht problemlösend ausgerichtet. Nicht nur bleiben Probleme ungelöst, sie arten gar zu unlösbaren Problemen aus: Denn die Elimination ist nicht reversibel. In der Regel unterliegen Textwelten genau diesem Grundprinzip (und daher ist Fontanes Geschwisterliebe mit seiner Jenseitigkeit auch derart markiert). Zum anderen schlägt sich dies im Entwurf von ›Zukunft‹ nieder, in der die Welt fragil-morbide verfasst und ihre Ordnung dysfunktional aufgebaut ist, sie also nicht nachhaltig sein kann. Die ›Zukunft‹ wird für das Weltgefüge, wie es der jeweilige Text präsentiert, verneint. Wird sie hingegen nur negativiert, so installiert der Text im Zuge seiner Entladung zumindest einen Vektor, der temporalsemantisch zukunftsweisend ist. Auch hier ist die Gesamtordnung, wie sie zunächst aufgebaut wird, nicht haltbar, und eine relevante Komponente fällt in der Entladung weg. Es ergibt sich allerdings ein Merkmal, das übergreifend von höchster Bedeutsamkeit für das Literatursystem ist: Ein ›Nein, aber …‹, eine Relativierung des Endzustands. Dieses Merkmal erfüllen teils auch Texte, die ein restauratives Modell aufrufen, wie auch solche, die ein polysemes entwickeln, ganz zu schweigen natürlich von solchen Texten, die die Zwischenbereiche zwischen den Kulminationspunkten der Kappung, der Restauration und der Polysemie formieren. Zunächst jedoch sei im Hinblick auf Negation und Negativierung festgehalten:

Das Modell der Kappung weist harte, dezidierte Absagen an die dargestellte Ordnung auf sowie weiche, relativierte Absagen. Im letzteren Fall lässt sich in der analytisch-interpretatorischen Auswertung die Formel ›Nein, aber …‹ anbringen, im ersten nicht.

Beispiele wie Die Kuh oder Der Brudermord sind ebenso instruktiv wie eindeutig. Beide Texte eliminieren ihre wesentlichen Handlungsträger und mit ihnen den zentralen Teilbereich von ›Welt‹. Bei Die Kuh fundiert diesen Vorgang in der Fehlkommunikation zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹ ‒ die Wertevermittlung, die Übergabe des Tradierten an die Nachfolgegeneration scheitert. In Der Brudermord ist der nachhaltige Konflikt zwischen erotischer Liebe und Herkunftsfamilie ausschlaggebend, ein Konflikt der Wertehierarchisierung, der hier angesichts des Gegebenen zur größtmöglichen Katastrophe führt. Beide Texte erteilen dezidierte Absagen an die Ordnungen, die sie installieren. Ähnlich ›hart‹ verfahren auch Ungern-Sternbergs Die Doppelgängerin, Dronkes Das Unvermeidliche, Mörikes Maler Nolten, Stifters Der Hochwald, Gaudys Das Modell und Mügges Die Emigranten ‒ um einmal gänzlich unterschiedliche Werke zu nennen, die jedoch in diesem Punkt bemerkenswerte Gemeinsamkeiten aufweisen.

Demgegenüber liegt eine große Menge an Texten vor, die die Kappung in Form einer Negativierung vornehmen. In Cordelia werden maßgebliche Figuren ‒ unter anderem die Titelfigur ‒ durch Tod getilgt; die angestrebte und wünschenswerte Paarbildung scheitert. Und doch werden ebenfalls wichtige Figuren explizit in eine wenn auch höchst resignativ eingefärbte Zukunft überführt. Nein, eine Problemlösung kann nicht im Sinne des Wünschenswerten und Angestrebten gefunden werden, aber dennoch bleibt das Erbe der Romantik, das ja für den Text gleichfalls von Wichtigkeit ist, am Ende erhalten. Auf ähnliche Weise verfahren Die Lehnspflichtigen und Das Schloß Dürande: Beide eliminieren ihre Hauptfiguren ‒ ob positiv oder negativ besetzt ‒, überführen aber die diegetische Kollektivebene in eine (wenn auch trügerische) Zukunft. Beide eröffnen eine politische Dimension des Geschehens und koppeln diese mit einer anthropologischen Dimension. Und beide tilgen die zentralen Handlungsträger und führen das Weltsystem fort. Oder Fontanes Geschwisterliebe: Nein, überleben können die Figuren in ihrer merkwürdigen Dreieckskonstellation nicht, aber sie werden im Jenseits dann doch zusammengeführt. Diese Texte sowie Madelon oder Die Romantiker von Paris, Die Zerrissenen, Das Kloster bei Sendomir, Das Geheimnis der Reminiszenz, Tonele mit der gebissenen Wange, Des Schloßbauers Vefele und Der arme Spielmann ‒ sie alle negativieren die dargestellte Welt im Zukunftsmodell mit einem jeweiligen Residuum an funktionierenden Fortführungen.

5.3.2 Zukunftsmodell 2: Restauration. Zukunft als relativierte Entladung im ›Alten‹

›Restauration‹ ist ein schwieriger Terminus – und doch mit bestimmten Prämissen versehen sachdienlich in einer Arbeit zur Zeitsemiose in literarischen Texten, zumal dann, wenn er zeitreflexiv ausgestaltet ist. Schwierig ist der Begriff deshalb, da er ausdrücklich als »Epochenbegriff für die Literatur zwischen 1815 und 1848« gebräuchlich ist; trügerisch ist er gar, da »entlehnt aus der politischen Geschichtsschreibung« (Bark 2007: 275). Die politische Implikation ist bereits im kulturellen Wissen des umfassten Zeitraums belegt: ›Restauration‹ meint dort die »Wiedereinsetzung einer verdrängten Regentenfamilie […] und Wiedereinführung der ehemaligen Verhältnisse« (Conversations-Lexicon 1836: 836). Wir wollen den Versuch einer terminologischen Präzisierung unternehmen, um den Begriff losgelöst von seiner Verwendung im literaturhistoriografischen Umfeld als Beschreibungskategorie für literarische Phänomene bereitzustellen und gehen von lat. restauro, dt. wiederherstellen aus. Mit ›Restauration‹ soll an dieser Stelle eine bestimmte erzählerisch konstituierte Textlogik gemeint sein, die eine Entladung im Sinne respektive zugunsten von ›Alt‹ aktualisiert. Eine solche Textlogik kann einen fiktionsintern politischen Geltungsbereich betreffen, sie muss es aber nicht zwangsläufig und schon gar nicht ausschließlich. Anzutreffen ist sie vornehmlich im Feld der entworfenen Anthropologie – und zwar als motivationaler Anlaufpunkt und modellierter Endzustand – wie auch im Feld künstlerischer Entwürfe und auch auf sozialer/kultureller Ebene. Völlig unabhängig zu gebrauchen ist die Kategorie also von der politischen Gesinnung der Autor*in, sei er/*sie nun konservativ, liberal oder anders ideologisch aufgestellt. Auszugehen wäre vielmehr vom jeweiligen Text, der in seiner Gestaltung der genannten Logik folgt oder nicht. Dass dieser Zugang keiner Selbstverständlichkeit entspricht, zeigt sich indessen nur allzu schnell: Man könnte gerade angesichts der zurückliegenden Forschung zur Literaturgeschichte ‒ repräsentativ ist da der zitierte Artikel im ReallexikonFootnote 11 geneigt sein zu meinen, dass die Restauration ‒ auch im hier gemeinten Sinn ‒ das dominante und repräsentative Modell unseres historischen Abschnitts ist. Doch mitnichten: Nicht nur sind die beiden anderen Kulminationspunkte der Kappung und der Polysemie ebenso stark vertreten. Auch muss in Auswertung des Textkorpus an diesem Punkt eine Einschränkung berücksichtigt werden, die entscheidend auf die Form des restaurativen Modells einwirkt:

Das Modell der Restauration meint eine Textlogik, die ›Alt‹ im Zukunftsentwurf präferiert, vornehmlich jedoch indessen relativierend verfährt. Daher sind entsprechende Entwürfe mit der Formel ›Ja, aber …‹ zu erfassen.

Der Hagestolz und Die Narrenburg ließen sich als Texte klassifizieren, die ein restauratives Modell in diesem Sinne umsetzen. Denn beide relativieren es auch – der eine mehr, der andere weniger. Der Hagestolz entlädt die Opposition ›Alt‹ vs. ›Jung‹ zugunsten des Zukunftskonzepts der Elterngeneration: Goutiert wird dieser Vorgang von allen Beteiligten. Auch ›restauriert‹ der Text zeitlich um eine Generation verzögert die Paarbeziehung der Vertreter dieser Elterngeneration in der Vereinigung der jungen Figuren ‒ aber eben auf Kosten der zunächst aufgestellten Pläne jener. Ja, es findet eine Restauration des Konzepts eines ›richtigen Lebensweges‹ statt, zugleich aber wird die Abänderung des goethezeitlichen Lebenswegmodells – hinsichtlich von Autonomisierung und Selbstfindung – von dieser Werteneusetzung überdeckt. Von einer Restauration und Perpetuierung des Modells der Initiationsgeschichte – also einer Wiederherstellung oder Fortführung einer literarhistorisch relevanten Systemkomponente – kann keine Rede sein. Der textinternen Restauration entspricht ein subtil verhandelter Strukturwandel auf metatextueller Ebene.Footnote 12

Die Narrenburg setzt das Modell der Restauration dezidiert um, macht aber ebenso das Moment einer Relativierung deutlich – und dies noch augenfälliger als die Beispiele zuvor: Der Held begibt sich an die Wiederherstellung, Restaurierung und Sanierung der Gebäudekomplexe rund um die Rothenstein und setzt aber doch auch einen neuen Akzent ‒ seine Heirat mit einer ›bürgerlichen‹ Frau und die topografische Öffnung des Teilraums gegenüber des Umfeldes Fichtau. Dieser Maßnahme entspricht die Erzählanlage: Da sein unmittelbarer Vorgänger scheitert, muss der Protagonist sein Verhalten ausjustieren, um in der Welt mit ihren Anforderungen und impliziten (anthropologischen und kulturellen) Gesetzmäßigkeiten bestehen zu können. Also: Ja, der Held triumphiert am Ende und baut das Erbe seiner Vorfahren auf, aber er verfährt anders ‒ und muss anders verfahren ‒ als die vorangegangenen Schlossherren: »Der neue Graf hatte keine große Familie und keine hohen Verbindungen. Seine Gäste waren daher alle Fichtauer. Sie waren seine Unterthanen, also seine Verwandten.« (Stifter 1980a [1841]: 432). Das Restaurationsmodell ist unverkennbar ‒ ja, buchstäblich ‒ im Text angelegt, wird zugleich aber auch erkennbar abgeschwächt.Footnote 13

Die Gegenprobe hingegen gestaltet sich schwierig: Anordnungen ausfindig zu machen, die durch eine gänzliche Absage an jegliche Lösungsangebote außer der Rückkehr zum Vergangenen/Alten/Tradierten geprägt sind; Formen also einer absoluten Restauration. Zum Thema hat dies eine Vielzahl an Texten ‒ neben Stifters Erzählungen ebenfalls an prominenter Stelle Immermanns Die Epigonen und Mörikes Maler Nolten. Aber eine Wiederherstellung vergangener Zustände ohne irgendwelche Abstriche scheint generell als unmöglich erachtet zu werden: Denkbar schon, aber nicht umsetzbar. Und Ersteres insofern, als die Möglichkeit als Option durchaus eine Rolle spielt. In Die Lehnspflichtigen wird ja ein solches Konzept vertreten durch den alten Aristokraten, der den Störungszustand beheben und beim Alten bleiben möchte ‒ und dies ganz explizit macht. Denkbar also wäre die Rückkehr in den ursprünglichen Zustand. Es ist bezeichnend ‒ und zeitreflexiv bedeutsam ‒, dass der Text diesen Weg nicht einschlägt ‒ obwohl er temporär das Restaurationsmodell andeutet. Die nachhaltige Realisierung eines Restaurationskonzeptes unternimmt da eher Der Hagestolz: Hier wird schließlich permanent auf die Umsetzung hingearbeitet. Und oberflächlich besehen präsentiert der Text tatsächlich ein gänzlich restauratives Modell. Aber sogar dort ist, wie erläutert, eine Einschränkung des glücklichen Endzustandes unverkennbar. Und um ein weiteres Beispiel für solche vermeintlich gänzlich-restaurativen Texten zu nennen: Auch Ungern-Sternbergs Eine Gespenster-Geschichte aus alter Zeit, der noch ganz in der Tradition der Romantik zu stehen scheint, behebt durch die Zusammenführung zweier Figuren in der Handlungsgegenwart zugleich das Scheitern eines Figurenpaares in der Vergangenheit (die aber im Unheimlich-Unklaren bleibt). Der Text verfährt in seinem Zukunftsmodell insofern romantisch, als er die Klärung des ontologischen Status der gespenstischen Figur – des Erzählers der Binnengeschichte – am Ende offenlässt. Eines bei alldem ist allerdings einprägsam: Dass der Text die Handlungsgegenwart betont in die Vergangenheit – und zwar in die Spätaufklärung – verlagert und damit implizit auch zum Ausdruck bringt: Ein Restaurationsmodell, wie vorgeführt, ist nur in dieser Vergangenheit möglich, in einer »glorwürdigen Zeit[]« (Ungern-Sternberg 1834: 63), die zugleich jedoch deutlich von der Erzählgegenwart abweicht, in der dies eben nicht möglich erscheint.

Festzuhalten ist: Neben der Kappung dominiert das Modell der Restauration. Wenn aber, wie das Literatursystem anzeigt, etwas ›restauriert‹ wird und zugleich diese Restauration nicht umstandslos umgesetzt werden kann, dann besteht die Tendenz zur Überlagerung von Semantiken und damit die Nähe dieses Modells zum Modell der Polysemie. Es geht bei der allumfassenden reflexiven Zeitstruktur IV also um tendenzielle Schwerpunktsetzungen: Im Restaurationsmodell ist eine ideologisch-semantische Dominantsetzung des ›Alten‹ im Endzustand maßgeblich, eine Relativierung aber – ob stärker oder schwächer ausgeprägt – ist gleichfalls vorgesehen und mutmaßlich nicht übergehbar. Es zeigt sich schließlich auch hierin die Flexibilität der Denkfigur ›Zukunft‹.

5.3.3 Zukunftsmodell 3: Polysemie und Offenheit. Mehrfachsemantisierung von ›Zukunft‹ und Fortsetzung des Kippmodells

Das Zukunftsmodell der Polysemie zeichnet sich dadurch aus, dass mit ihm mehrere Semantiken überlagert (oder nebeneinander) vorliegen, das Modell der Offenheit ganz grundsätzlich dadurch, dass das Narrativ unabgeschlossen bleibt, beide wiederum durch die Eigenschaft, dass das Gegenwartskippmodell nur in Teilen entladen wird: Die aufgeworfene Problematik wird nicht oder nur bedingt gelöst, der Endzustand ist unbefriedigend (oder nur in Teilen befriedigend) und wird als nicht und nur bedingt wünschenswert wahrgenommen. Im Kennzeichen der ›Bedingtheit‹ deutet sich erneut das nun schon häufig angetroffene Merkmal der Relativität des Endzustandes an. Allerdings meint es hier, dass das Ende ›in der Schwebe‹ gehalten wird – und ebendies entspricht dem Schwerpunkt, der sich beiden Entwürfen entnehmen lässt.

Polysemie und Offenheit sind komplementäre, nicht aber zwangsläufig deckungsgleiche Alternativmodelle ‒ obwohl sie auf dasselbe hinauslaufen. Texte können im Endzustand Polysemie und Zukunftsoffenheit erzeugen oder Zukunftsoffenheit ohne Polysemie. Entscheidend ist, dass sie im Literatursystem einen Kulminationspunkt bilden, der von der Kappung und der Restauration abweicht. Dass offensichtlich die Grenzen zwischen den Schwerpunktsetzungen ‒ Polysemie/Offenheit, Kappung, Restauration ‒ fließend sind und in Grenzbereichen aufgehen, ist mehrfach angeklungen und wird nachfolgend separat verhandelt. Wichtig in Anbetracht dieses dritten Modellkomplexes ist zweierlei. Erstens wird Polysemie verwendet im Sinne einer Ambiguität von Zukunft: Dem Teilmodell ›Zukunft‹ werden mehrere gleichrangige, aber voneinander abweichende Semantiken zugeordnet. Diese Semantiken stehen in keinem widersprüchlichen Verhältnis, sondern sind miteinander kompatibel. Und doch ist ›Zukunft‹ semantisch nicht eindeutig aufgebaut – wie sie dies der Tendenz nach bei der Kappung und der Restauration ist –, nicht verrätselt, nicht vage oder obskur, sondern in ihrer mehrteiligen Semantik benennbar. Zweitens ist ›Zukunft‹ in jedem Fall offen ‒ und zwar im Gegensatz zur Kappung, bei der die entworfene Zukunft entweder gänzlich negiert oder doch deutlich negativiert wird und im Gegensatz zur Restauration, bei der sie durch eine Hinwendung zum ›Alten‹ gekennzeichnet ist und damit als gesichert gilt. Das heißt: Zukunftspolysemie hat zum Effekt, dass auf histoire-Ebene zwar ein Endzustand erreicht ist, dieser Endzustand zugleich aber seinerseits ein nur vorläufiger Zustand sein kann, der in seiner Unabgesichertheit über die Ränder des Textes hinausweist.

Die Polysemie ist ein Modell der Mehrfachsemantisierung von ›Zukunft‹, das Modell der Offenheit die Fortsetzung des Kippmodells und von unabgeschlossenen Handlungen (mit der Tendenz zur Polysemie). Beide Varianten sind analytisch erfassbar durch Benennung entweder der angebotenen, parallelen Zukunftssemantiken oder des ausbleibenden Kippmoments vor Entladung des Narrativs im Zukunftsmodell.

Ein Paradebeispiel für Zukunftsoffenheit ist Büchners Lenz. Der Protagonist wird nicht in einen Endzustand überführt, sondern am Textende ins Ungewisse entlassen. Weder sind seine psychischen Probleme gelöst, noch wird seine Schwierigkeit, in der Handlungsgegenwart zu bestehen, durch Tilgung sanktioniert: Seine Zerrissenheit, sein manisch-depressives Verhalten muss er auch forthin durchleiden. Zwar setzt der Text an mehreren syntagmatischen Stellen die Möglichkeit eines Kippens in die eine oder andere Richtung an, löst aber eben die Transformation des transitorischen Zwischenzustands in einen anderen Zustand nicht ein. Das Ganze bleibt offen. Der Text trifft damit eine metatextuell-selbstreflexive Aussage: So, wie der Künstlerprotagonist in eine offen-unsichere Zukunft entlassen wird, verhält es sich auch mit der Literatur der Zwischenphase, die mit der Figur Jakob Michael Reinhold Lenz (1751‒1792) auf einen Repräsentanten der Goethezeit zurückgreift, aber keine Lösungen für aufgeworfene Probleme findet.

Die Beispiele für Polysemie sind zahlreicher. Gleichzeitig aber wird immer wieder auch die Nähe zum Modell der Offenheit deutlich. Beispielsweise in Auerbachs Befehlerles, in dem die sozialen Unruhen am Ende eingestellt werden, der dennoch aber die Zukunft einer der Figuren als offen markiert: »Ich erzähle wohl ein andermal noch Weiteres vom Buchmaier.« (Auerbach 1857b [1843]: 184) Waldeinsamkeit präsentiert einen glücklichen Endzustand geprägt durch eine mittels Heirat legitimierte und abgesicherte Liebe, die zuvor durch eine Intrige bedroht worden war, sowie durch einen merkwürdig-nostalgischen Umgang mit ›Waldeinsamkeit‹ ‒ dem romantischen Topos, der im Text ›entzaubert‹ und (in seiner potenziellen Gefahr für das Subjekt) ›entschärft‹ wird. Obwohl im Wissen der dargestellten Kultur die Romantik entschieden als vergangen behandelt wird und zudem sogar die Hauptfigur Ferdinand einen Prozess der ›Entromantisierung‹ durchläuft, wird die in der Handlung abgeänderte ›Waldeinsamkeit‹ ‒ die bloße Topografie der einsamen Waldhütte ‒ nicht fallengelassen, sondern erhält einen festen Platz in der Figurenbeziehung, als ein Element mit nostalgisch aufgeladener ›Kitt‹-Funktion: Die Figuren besuchen gemeinsam den Ort des Geschehens und schwelgen in quasiromantischen Gefühlen. Die Zukunft, wie sie Tiecks Text vorführt, ist demnach also progressiv und regressiv orientiert zugleich: Progressiv hinsichtlich der Loslösung von der Vergangenheit (Romantik), regressiv hinsichtlich ihrer Modifizierung und Einbindung in die Zukunftsgestaltung. Eine derartige Korrelation von Distanzierung und Perpetuierung lässt sich ebenfalls in Des Lebens Überfluß beobachten. Dort ergibt sich eine Diskrepanz zwischen der übergeordneten Textebene (auf der sich Des Lebens Überfluß von der Romantik ironisierend distanziert) und Figurenebene, auf der die Romantik fortgelebt und dies am Ende nicht sanktioniert, sondern im Gegenteil einem glücklichen Ende zugeführt wird. In Mügges Zu spät! überwiegt zwar ein glückliches Ende ‒ gefeiert wird der Aufstieg der bürgerlichen Mitte ‒, getrübt wird dies aber durch den moralischen und ökonomischen Abstieg der figurennahen, familiären Parallelbeziehung des Adels. ›Zukunft‹ bedeutet Freud und Leid zugleich. So auch in Die Selbsttaufe: Eine weibliche Figur muss ihren Geliebten ziehen lassen ‒ und zwar in Richtung ihrer Schwester, »der Räuberin ihres Glückes« (Gutzkow 1998 [1845]: 144), die ihn als Geliebten gewinnt ‒ und stirbt letztlich aus Gram. In dieser in psychologischer Hinsicht hochbemerkenswerten Charakterstudie wird die Zukunft des Vaters der beiden Schwestern wie auch die des Liebespaares zwar als glücklich angerissen, mit Blick aber allein auf den ehemaligen Geliebten bleibt sie »im Zeichen einer unübersehbaren Ambivalenz« (Lukas 1998a: 399) offen. Es überlagern sich hier eine (Teil-)Kappung, Glück und Unsicherheit.Footnote 14 Und schließlich Das Bild des Kaisers: Auch hier überdeckt die Lösung aller Probleme im fokussierten Teilraum die tatsächliche Situation im Endzustand. Zwar werden ideologische Extrempositionen aufgehoben und die jeweiligen Träger einander angenähert, auch die angestrebte Paarbeziehung glücklich realisiert, aber der zu Beginn eingeführte, vermeintliche Held kehrt resigniert in seinen Ausgangsraum zurück und untermauert dadurch zugleich nur die fortbestehende innerkulturelle Differenz zwischen Nord- und Süddeutschland, die ja schon vor der wesentlichen Geschehensabfolge bestanden hatte. Die Welt, die der Text am Ende aufbaut, ist in ihrer Zukunft harmonisch und disharmonisch zugleich ‒ also auch: polysem.

Alle diese Fälle machen deutlich, warum es legitim ist, die Teilmodelle der Polysemie und der Offenheit in einem Zuge zu nennen: Die Grenze zwischen ihnen ist fließend. Weniger indessen als auf eine genaue Bezeichnung eines gegebenen Modells als polysem oder ›nur‹ offen kommt es auf den Umstand an, dass das Literatursystem neben der Kappung und der Restauration eine dritte Kulmination aufweist, die von den beiden anderen Merkmalsverdichtungen abweicht und ebenfalls von einer Reihe von Texten gespeist wird. An diesen drei Zulaufpunkten, so ließe sich schließen, kommt es zu Bündeln von Texten, die zeitreflexiv ähnlich konstituiert sind und ›Zukunft‹ auf vergleichbare Art und Weise entwerfen. Angesichts des dritten Bereichs ist nun abermals die Flexibilität der reflexiven Teilkomponente erkennbar: Wie schon in Auseinandersetzung mit den beiden anderen Feldern lassen sich allein schon innerhalb der Teilmenge Skalierungen, Grauzonen, radikale Fälle neben weniger eindeutigen Fällen finden. Doch eine Skalierung des Gesamtfeldes muss auch über die Grenzen der Teilmengen hinaus angenommen werden.

5.3.4 Skalierte Zwischenbereiche

Die Beschäftigung mit den drei Tendenzen führt uns zwangsläufig zu den Bereichen, die zwischen ihnen liegen, zu Texten, die irgendwie weder gänzlich ›Zukunft‹ kappen oder die dargestellte Welt restaurieren, deren entworfene Zukunft weder vollkommen offen, noch hinreichend abgesichert ist. Die herangezogenen Beispiele zeigten immer wieder auf, dass innerhalb der gesetzten Klassen nicht immer klare Fälle vorliegen, und manch ein Beispiel ließ sich gar verschiedenen Klassen zuordnen, ohne eindeutige Schwerpunktsetzungen vorzuweisen. Um diese letzteren Fälle soll es nun abschließend gehen.

Doch zunächst einen Schritt zurück. Zu resümieren wäre bis hierher, dass erstens Zukunft hochrelevant für dargestellte Welten ist. Sie ist rekurrentes Thema und steter Zulaufpunkt für Figuren. Nicht selten taucht das Lexem ›Zukunft‹ daher auch explizit auf der Textoberfläche auf. Zweitens ist sie im Denken der Figuren, aber auch, was ihre Gestaltbarkeit durch die Textsysteme anbelangt ‒ also in Bezug auf Konzepte und Modelle ‒ enorm flexibel. Denkbar sind verschiedene Optionen, die sich ebenso plötzlich ändern können, wie sie auch realisierbar sind. Allein schon Mügges Novellenwerk ist dahingehend erhellend: Von der Kappung (in starker und schwächerer Spielart), über die Restauration bis hin zur Polysemie liefern seine Texte ein breites Raster an Realisationen. Aus diesem zweiten Punkt ergibt sich drittens, dass die Denkfigur ›Zukunft‹ durch das Merkmal der Imponderabilität gekennzeichnet ist. Wenn Verschiedenes möglich ist, ist gleichzeitig nur in Teilen vorhersehbar und auch nur schwerlich planbar, was tatsächlich sein könnte. Zwar tun sich Figuren damit nicht sonderlich schwer, denn sie planen Zukunft allenthalben, sinnieren und diskutieren über sie, wo sie nur können. Aber sie werden im Verlauf der Handlung nicht selten eines Besseren belehrt. Und das heißt: Die Zukunft ist nicht greifbar ‒ auch wenn vermeintlich Kriterien, die erfüllt sein müssen, Parameter, die gesetzt, Faktoren, die berücksichtigt werden müssen, gegeben sind und Figuren zu wissen glauben, welche Bedingungen zu welchen Konsequenzen führen und somit auch, wie sie aussieht. Aber ›Zukunft‹ ist für Figuren imponderabel, wie sie als Teilkomponente literarischen Erzählens unbestimmt bleibt.

Es ist daher anzunehmen, dass diese Modelle Zeichenkomplexe formieren, die über ihren Temporalindex hinaus auf fundamental-kardinale Verhandlungsgegenstände verweisen. Ein gegebenes Zukunftsmodell verfügt einerseits über den Status ›zeitlich später als Vergangenheit und Gegenwart‹ und ist damit linear-chronologisch nach den Segmenten ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ positioniert. Andererseits kulminieren in ihm diejenigen zeitreflexiven Elemente, mit denen der Text das Kippmodell auflädt, und sei es ‒ um nur einen äußerst weitreichenden Komplex aufzugreifen ‒, dass die Liebes- und Paarfindungsthematik zeitreflexiv behandelt wird. ›Zukunft‹ ist stets durch die Faktoren ›Zeit‹ plus ›x‹ gekennzeichnet. Zeitreflexion, auch in Anbetracht der Zeitstruktur IV, bedeutet daher auch Selbstreflexion ‒ das Aufzeigen von Möglichkeiten literarischen Erzählens und der literarhistorischen Stellung am Ende eines Narrativs.

So erklärt sich denn auch der Befund, dass wir es bei der Abstraktion der Merkmalsmengen nicht mit dem Charakteristikum der Polarität zu tun haben, sondern mit dem der Skalierung: Das oben rekonstruierte Modell der drei Kulminationspunkte ist zwar in sich distinktiv, aber nicht streng isolativ: Zwischen den Zukunftsmodellklassen ergeben sich skalierte Zwischenbereiche (Abbildung 5.4).

Abbildung 5.4
figure 4

Skalierte Zwischenbereiche des Zukunfts-/Erwartungsraums

Genannt worden sind Stifters Der Hagestolz und Die Mappe meines Urgroßvaters. Wenn wir diese in die obige Grafik lokalisieren müssten, so ließe sich Der Hagestolz zwar dem Feld ›Restauration‹ zuordnen, dort jedoch an der Peripherie, da der Text eine latente Tendenz zur Kappung offenbart ‒ und dies mit Bezug auf den jungen Helden wie auch die Figur des Hagestolzes. Die Mappe meines Urgroßvaters steht seinerseits außerhalb des Feldes, da dort eine ›Restauration‹ nur uneigentlich gelingt, in der auf die Textebene übertragene Rezeption alter Schriften, nicht aber realiter ‒ in der dargestellten Welt und der Erzählgegenwart ‒ umgesetzt werden kann. Es kommt zum Umzug in die Stadt, die Familienverhältnisse sind subtil gestört. Wobei allerdings diese Form der Kappung eine nur geringfügige ist und allenfalls als schwache Negativierung zu werten wäre. Der Text steht zwischen den Modellen der Restauration und der Kappung (Abbildung 5.5).

Abbildung 5.5
figure 5

Der skalierte Bereich zwischen Restauration und Kappung

Genannt werden könnte dahingehend auch Fontanes Geschwisterliebe: Im Diesseits werden die drei Figuren am Ende eliminiert (Kappung), im Jenseits dann aber – zeitenthoben – erneut zusammengeführt (relativierte, schwache Restauration).

Imagina Unruh wiederum verfährt ordnungsaffirmativ ‒ aber die Novelle bewertet seine Ordnung nicht positiv, sondern in Auseinandersetzung mit der Heldin eher negativ. Behandelt haben wir den Text in Abschn. 3.4 (zur narrativen Retrospektive) und hatten schon dort zu verdeutlichen versucht, inwiefern er seine pessimistisch-negativierende Tendenz weniger entschieden zur Geltung bringt als etwa Waiblingers Don Florida. Doch wenn die Protagonistin ‒ obwohl im Gesamttext deutlich im Erzählfokus stehend ‒ im Endzustand nicht mehr selbst zu Wort kommt, sie als Künstlerin zwar angesehen, aber sozial ausgeschlossen ist, dann muss dieses Zukunftsmodell mit implizit-verneinender Wertung gelesen werden. Doch Gutzkows Novelle reicht über die Wiederherstellung der getrennten Ordnung zwischen ›Kunst‹ und ›Gesellschaft‹ und die Negativsetzung des Endzustands hinaus. Denn die Zukunft des Kultursystems ist offen. Angezeigt wird dies in den mehrfach thematisierten ordnungsgefährdenden Kräften in sozial-politischer, aber auch in ästhetischer Hinsicht. Die Welt ist über den Endzustand des Narrativs hinaus im Wandel begriffen. Imagina Unruh steht so zwischen Kappung (Imaginas Phantasieliebe wird nicht realisiert) und Polysemie (gesellschaftliche Regression vs. gesellschaftliche Progression) (Abbildung 5.6).

Abbildung 5.6
figure 6

Der skalierte Bereich zwischen Kappung und Polysemie

Unberücksichtigt bleiben darf dabei allerdings auch nicht, wie der Text mit ›Romantik‹ operiert. Denn es handelt sich schließlich nicht um irgendeine Künstlerin, sondern eben um eine quasiromantische Künstlerin, die der Text ins Zentrum rückt und an ihr seine wesentlichen Problemverhandlungen durchführt. Jedoch hier von einer ›Restauration der Romantik‹ zu sprechen, wäre unzulässig: Schließlich stellt der Text nicht etwas Verlorengegangenes wieder her, sondern führt die Romantik unter veränderten Vorzeichen fort. Ebendies ist ja das Problem: Die Romantik ist beendet und unbeendet zugleich. Im Denksystem wird sie der Vergangenheit zugeordnet, im Kunstsystem wird sie modifiziert fortgeschrieben. Doch im Gegensatz beispielsweise zu Mundts Madelon oder Die Romantiker von Paris, der klarer negativierend verfährt, steht Imagina Unruh im Zwischenbereich.

Zwischen Restauration und Offenheit positioniert sich Mügges Die gute alte Zeit, und dies obwohl die Novelle oberflächlich besehen klar restaurierend verfährt: Im Endzustand ist das unglückliche Schicksal eines abgehalfterten Lieutenants abgewendet, seine Position im Staatsdienst wiederhergestellt wie auch die Familie erneut vereint. Vernachlässigt aber wäre in dieser Lesart ein wesentliches Element, das die Narration entscheidend trägt: Schließlich kommt die brenzlige Situation der Hauptfigur ja dadurch zustande, dass ein Haftbefehl gegen einen aufständischen Arbeiter fehlgedeutet und fälschlicherweise auf den Helden bezogen wird. Gefangenschaft, Zukunftsängste, Exekution, das Wiedersehen mit dem König ‒ alles das hätte es ohne dieses Element nicht gegeben. Indessen stellt sich wohl berechtigt die Frage, warum Mügge diese Problematik am Ende schlicht beiseitelässt ‒ auch mit Blick auf den Titel des Textes, der ebenfalls am Ende aufgegriffen wird: Die fokussierte Gegenwart wird in der aufgerollten Zukunft (den Enkeln gegenüber kommuniziert) zur »guten alten Zeit« (Mügge 1845b: 68) aufgewertet. Auszugehen wäre dabei von einer Textstrategie der Verdrängung: Die Umbruchssituation des sozialen Gefüges wird ausgeblendet und vom privaten, pro-monarchistischen Glück überlagert. Nur indirekt schwingt darin jedoch die Proposition mit, dass dies der Text als Problem annimmt. Denn die fokussierte Gegenwart ist im Jahr 1729 situiert, also ein Jahrhundert vor der Entstehungszeit des Textes, die ja ihrerseits als ›Zeit der Revolutionen‹ diejenigen Konsequenzen aufzeigt, die im Text angelegt, aber verdrängt werden. Der Text zeigt folglich eine Problematik auf, die auf die eigene Schaffenszeit bezogen ist. Plausibel wird dies mit Blick auf andere Novellen Mügges, die die Revolutionsthematik immer wieder in Anschlag bringen (neben Die gute alte Zeit auch Die Emigranten, Die Abenteuer einer Nacht, Zu spät!). Unter dem Deckmantel der glücklichen Restauration also kommuniziert Mügge die vitiöse Offenheit der sozialen Frage (Abbildung 5.7).

Abbildung 5.7
figure 7

Der skalierte Bereich zwischen Polysemie, Offenheit und Restauration

Eine wahre Fundgrube für zentrale Paradigmen der Zwischenphase schließlich liegt auch mit Gaudys Textsammlung Venezianische Novellen vor. Gleich zu Beginn des Zyklus ist der Text Antonello, der Gondolier gesetzt, der sich gar in das Zwischenfeld zwischen allen dreien Modellierungsschwerpunkten einfügt. Durch »schwarze[] Magie« (Gaudy 1922b [1838]: 19) werden zwei Enthaupteten die Köpfe ‒ allerdings verwechselt ‒ wieder auf die Körper verpflanzt: Der Diener trägt den Kopf des Herren und andersherum. Das Problem wird am Ende gelöst, es fließt Schweigegeld und der Binnenerzähler Antonello ‒ der dienende Gondolier ‒ verstirbt. Zunächst geltend gemacht wird (a) das Modell der Restauration, indem der Ausgangszustand der beiden Körper noch im Rahmen der Erzählung wiederhergestellt wird. Dann aber wird auf Ebene der Rahmenerzählung der gealterte und auf dem Sterbebett liegende Antonello durch Tod getilgt, seine Zukunft demnach (b) gekappt. (c) Offengelassen wird schließlich der Status der dargestellten Welt in Bezug auf ihre wunderbar-magische oder eben nicht wunderbare (lediglich binnenerzählerisch-fiktional inszenierte) Beschaffenheit ‒ ein Merkmal, das einige der Venezianischen Novellen ganz in der Auffassung entromantisierter Texte vereint. Antonello, der Gondolier ist zwischen (a), (b) und (c) anzusiedeln (Abbildung 5.8).

Abbildung 5.8
figure 8

Der skalierte Bereich zwischen Kappung, Polysemie/Offenheit und Restauration

Eine Skalierung des Gesamtmodells ›Zukunft‹ ist in Anbetracht der aufgefächerten Zwischenbereichen ostentativ. Wichtig dabei zu beachten ist, dass Texte zwar Schwerpunktsetzungen in ihrem Entwurf von ›Zukunft‹ vornehmen, diese aber – und dies nun ganz generell gesprochen – der Tendenz nach relativieren, indem sie die jeweilige Setzung durch Semantiken, die in eine andere Richtung deuten, unterlaufen. Die Pole der Kappung, der Restauration und der Polysemie/Offenheit bilden strukturelle Kulminationen; die Grenzen zwischen ihnen sind jedoch fließend. Das Gesamtmodell offenbart eine geradezu emphatische Zukunftsorientierung, die zugleich aber von massiven Zweifeln bestimmt ist.

5.4 Reflexive Zeitstruktur IV: Die Denkfigur ›Zukunft‹. Relevanz, Flexibilität, Imponderabilität

Die Zukunft der Zwischenphase ist als Denkfigur und temporales Teilmodell des Narrativs höchst relevant, enorm flexibel und letztlich für Bewohner dargestellter Welten wie auch im Rahmen literarischen Erzählens unvorhersehbar – und alles dies ist für eine literaturgeschichtliche Verortung des Literatursystems als ›System des Interims‹ zwischen Goethezeit und Realismus nicht hoch genug einzuschätzen. Dabei bedingen sich diese Eigenschaften gegenseitig: Weil die Denkfigur flexibel ist, ist sie auch relevant; und flexibel ist sie, da imponderabel. Wie man es auch dreht und wendet: Die Vergangenheit mag als Problem und die Gegenwart als ›Zeit der Störung‹ semantisiert sein ‒ hinaus laufen alle zeitreflexiven Bemühungen auf die Frage nach der Zukunft. Und dabei schwingt stets auch eine selbstreflexive und metatextuelle Stoßrichtung mit. Die verschiedenen Diskursivierungsformen von ›Zukunft‹, wie sie im Literatursystem anzutreffen sind, belangen das literarische Erzählen wie auch die eigene selbstreferenzielle Sensitivität literarischer Historizität. Sie belangen die selbstaufgelegte Aufgabe einer Standortbestimmung, die Beantwortung der Frage ›quo vadis?‹: Wohin geht es mit der Literatur nach dem Ende der ›Kunstperiode‹?

Wenn von einer Denkfigur ›Zukunft‹ gesprochen wird, so greift dies freilich zunächst zu kurz, schließlich geht es nicht allein um die Feststellung, dass Zukunft in einem gegebenen Text thematisiert wird, dass im Rahmen einer Vorstellung von Temporalität ein Vorher, ein Jetzt und ein Nachher vorgesehen sind und umgesetzt werden, sondern um den Status und Spezifik dieses textuell konkretisierten Phänomens, um seine Eigenschaften in einem bestimmten Kontext – und diesen Kontext bildet hier die Novellistik der literaturgeschichtlichen Phase zwischen Goethezeit und Realismus im deutschsprachigen Raum. Es geht um textanalytisch fundierte, einzeltextübergreifende Strukturbestimmungen, die als Grundlage der Rekonstruktion eines literarhistorischen Abschnitts und seiner wesentlichen Kennzeichen, Denkregularien und Wissenselemente dient. Und, das sollte deutlich geworden sein, die Denkfigur ist zentral für den Abschnitt, der ins Auge gefasst wurde. Ihre Spezifik zu rekonstruieren, hieße, Rückschlüsse auf Strukturmerkmale und Funktionsweisen dieser Phase ziehen zu können, deren Beschaffenheit in der Forschung bis heute umstritten ist. In dieser Hinsicht schlägt die hier vorliegende Auseinandersetzung Maßnahmen vor, wie der komplexen Sachlage, die sich hinsichtlich literarischen Handelns im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts offenbart, heuristisch sinnvoll entgegenzutreten wäre (Abbildung 5.9).

Abbildung 5.9
figure 9

Übersicht über die Komponenten der reflexiven Zeitstruktur IV

Welche Eigenschaften galt es aufzuarbeiten? An erster Stelle musste festgestellt werden, dass die reflexiven Zeitstrukturen I bis III in Zeitstruktur IV zusammenlaufen, indem sie alle die Emergenz einer ›Störung von Zeit‹ erzeugen, die sich in temporaldeiktischen Problemkonstellationen niederschlägt und entscheidend für das Nachdenken über die Zukunft ist. Denn – losgelöst von einer im Narrativ ohnehin von vornherein angelegten, unmarkierten Temporalität – sind für die Zwischenphase ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ in ihrer Separation und gleichzeitigen Überlagerung relevant gesetzt und damit signifikant. Zur Folge hat das die Erosion der auf Textebene fest verankerten linear-unidirektional-monochronen Deixis auf der Figurenebene: Figuren hadern mit der eigenen Gegenwart, fühlen sich mit der Vergangenheit konfrontiert und wollen doch in allererster Linie ›Zukunft‹ gestalten. Dies ist fortwährendes Thema des Literatursystems, dies bildet das Zentrum signifikanter Problemlösungsaufgaben: Dem ansonsten unspektakulären objektiven Zeitmodell (das ungestört bleibt) werden so verschiedenste Faktoren implementiert, mittels derer die ›Zeit der Kultur‹ und die ›Zeit des Subjekts‹ zum Problem geraten und dadurch alles in allem ›Zukunft‹ als Ergebnis der Problemaushandlung präsentiert.

Anzunehmen ist daher ein Implikationsverhältnis zwischen dem Gegenwartskippmodell und der Denkfigur. Das Kippmodell ist entscheidend für die Spezifik von ›Zukunft‹, die Zukunft weist semiotisch auf die Problematik des Kippmodells zurück. Letzteres bezeichnet ein System sich kreuzender Parameterbindungen, zwischen denen dargestellte Welten ›schwanken‹, das temporalsemantisch aufgeladen ist. Und ›Aufladung‹ bedeutet bei Narrativen immer auch ›Entladung‹: ›Zukunft‹ wird im Rahmen des Kippmodells konzeptuell entworfen ‒ und verschiedene Optionen werden gegeneinandergestellt ‒ und als resultativer Zustand am Ende des Narrativs modellhaft vom Text gesetzt. Dabei offenbaren sich Konzepte wie auch Modelle als besonders markiert und auf Figuren- wie auch auf Textebene angreifbar, verhandelbar, unabgesichert, relativiert. Auffallend etwa ist, dass Texte eine deutliche Divergenz zwischen den Vorstellungen anlegen, die über die Zukunft kursieren, und sie mit dem Merkmal der potenziellen Unhaltbarkeit versehen. Erklärbar wird dadurch aber, dass rekurrent über sie nachgedacht und über sie diskutiert wird und Zukunftskonzepte immer wieder aufgestellt und korrigiert werden müssen. Die Logik des Literatursystems sieht es geradezu vor, darüber nachzudenken; nicht nur in der Zeit zu agieren, sondern Zeit als Zeit wahrzunehmen und das eigene Dasein bewusst zu gestalten. Und es gestaltet sich überspitzt gesprochen als ›Kampf mit der Zeit‹, da die Zukunft keinen Nährboden findet und Voraussetzungen für ein zukünftiges Dasein erst noch gefunden werden müssen.

Das rekonstruierte System des Umgangs mit ›Zukunft‹ ist schließlich gekennzeichnet durch einen skalierten Gesamtbereich mit drei Polen, die hier mit ›Kappung‹, ›Restauration‹ und ›Polysemie‹/›Offenheit‹ bezeichnet werden. Das System ist in seiner Dreipoligkeit distinktiv, nicht aber isolativ. Vielmehr ergeben sich zwischen den einzelnen Schwerpunkten Kombinationsräume, die auf Zukunftsmodelle mit verschränkten Anteilen aus Kappung, Restauration und/oder Polysemie und Offenheit hindeuten. Die Menge der literarisch diskursivierten Modelle ist vielgestaltig ‒ ›Zukunft‹ ist, so ließe sich schlussfolgern, ein weitläufiger Mehroptionenbereich, der zwar über gewisse Präferenzpunkte verfügt, das Gefüge in Zwischenbereichen zergliedert und großzügig auffächert.

Damit ließe sich an der Zeige-Funktion des Modellbereichs anschließen. In Anbetracht der Argumentation muss man zu der Folgerung gelangen, dass Zukunftsmodelle in der Zwischenphase als Zeichenkomplexe gestaltet sind, die über ihre zeitliche Denotation und sämtliche zeitbezogene Implikationen mit Blick auf die Textwelt hinaus auf verschiedenste nontemporale Diskursformationen verweisen und jene andersherum an die Verhandlung von ›Zeit‹ im Allgemeinen und die Problematisierung von ›Zukunft‹ im Besonderen gebunden werden. Wenn es um Zeit geht, geht es auch um den Menschen, um die Gesellschaft, um Kunst und Kultur ‒ und die Zukunft der Zwischenphase mit ihrem Hang zum Pessimismus und zur Relativierung erstellt die Selbstdiagnose eines Übergangs mit offenem Ausgang. Die Aushandlung der Zeitontologie an dieser Stelle ist auch eine Aushandlung des eigenen kulturellen Status und literaturästhetischen Wirkens.