Die Zwischenphase erhebt das Lebenslaufmodell der Goethezeit zu einem ihrer zentralen Problemverhandlungsfelder. Literatur entwirft ›Welten‹ mit anthropomorphen Bewohnern, fiktiven Personen mit körperlichen und geistigen Eigenschaften des Menschen. Und Figuren setzen sich mit dem eigenen Selbst und ihrem soziokulturellen Umfeld auseinander. Es geht um die Selbstfindung und die Einfindung in die soziokulturelle Lebenswelt. Während dieses Grundsetting seit der Aufklärung alles in allem vertraut erscheint, unterscheiden sich die verhandelten Problem- und Fragestellungen der Anthropologie, wie sie die Zwischenphase entwirft, von denen der Aufklärung und der Goethezeit nicht unerheblich. Entscheidend davon betroffen ist die Ontogenese des Subjekts, insbesondere der Abschnitt der Adoleszenz zwischen abgeschlossener Kindheit und Erwachsenenalter: Gerade hier finden sich – so der Ausgangspunkt dieses Kapitels ‒ diverse Teiltransformationen des goethezeitlichen Initiationsmodells, Applikationsmuster und Modifikationsstrukturen also, die ‒ und das ist dabei entscheidend ‒ zusätzlich in enger Verbindung zur Reflexion von Zeit stehen.

Doch das Ganze ist etwas vertrackter als es zunächst den Anschein macht. In der Goethezeit hatte sich im Fahrwasser der aufklärerischen (Neu-)Entdeckung des Menschen »in der Totalität seiner körperlichen und seelischen Dimension« (Lukas 2012a: 227) und der Dynamisierung und Individualisierung des Subjekts, das sich nunmehr den Prozessen der Selbstfindung und Autonomwerdung zu unterziehen und durch Bildung und Entwicklung harmonisch in die bürgerliche Gesellschaft einzufinden hatte, als literarisch-narratives Verarbeitungsmodell die Initiationsgeschichte herausgebildet. Die Zwischenphase bleibt diesem Modell zwar verpflichtet, seine Umstrukturierung allerdings deutet auf eine Akzentverschiebung oder gar eine grundsätzliche Revision hin – und beides indiziert eine ›Krise‹ dieses Erzählmusters. Die Annahme nämlich einer prinzipiell möglichen Überführung des Initianden in einen für ihn persönlich befriedigenden und zugleich sozial wie auch ökonomisch gesicherten Endzustand einhergehend mit Selbstfindung, wie er in der Goethezeit prinzipiell vorherrschend ist, verliert in der Zwischenphase an Geltung oder wird zumindest stark angezweifelt. Wesentlich dabei ist gerade der Umstand, dass das Literatursystem den beschriebenen Ablösungsprozess selbst mehr oder minder offen am Erzählmuster der Goethezeit thematisiert, indem tradierte und neue Handlungswege oder Perspektiven einander kontrastieren. So kann an diversen Texten der Zwischenphase eine doppelläufige Literaturanthropologie offengelegt werden, die einerseits die »Gefahren des Initiationsprozesses, die dem jugendlichen Individuum in der Transitionsphase drohen können [, beinhaltet], aber an dessen Übertritt in das sexuell aktive Erwachsenenalter inklusive der dafür notwendigen Ablösung von der Herkunftsfamilie als selbstverständlicher Norm« (Lukas 2001: 73) festhält, und dem andererseits eine Perspektive entgegenhält, die diesen notwendigen und integrativen »Bestandteil der psychischen Selbstfindung und -entfaltung […] als Schuld und zunehmend als Normverstoß« (ebd.) deutet. Eine derartige und eben neue anthropologische Konstellation setzt sich in den 1820er-Jahren allmählich durch und ist bis in die 40er-Jahre hinein beobachtbar.

Denkmodelle der Goethezeit – dies also unsere Annahme – werden nicht einfach getilgt und durch andere ersetzt. Ausgegangen wird auch in der Zwischenphase – zumindest konzeptionell – von einem dreiphasigen Entwicklungsgang des in der Regel männlichen Subjekts, das vom Jüngling zum Mann heranreift. Vielmehr konfrontieren Texte dieses nun mit anderen Bedingungen von ›Welt‹, etablieren andere Normen- und Wertesysteme und unterminieren dadurch sukzessive Handlungsmöglichkeiten, wie sie in der Goethezeit noch gegeben waren. Zeitreflexion tritt dabei verankert in anthropologischen Neuausrichtungen auf. Das Subjekt hat sich in einem Kontext zu orientieren, der aus der Goethezeit bekannte Komponenten adaptiert und diese zugleich abbaut. Verbunden ist damit die Erfahrungsmöglichkeit, dass ein Vertrauen in Altbekanntes erschüttert und die eigene Gegenwart in der individuellen Überforderung reflexiv-kritisch beäugt wird, persönliche Wünsche und Bedürfnisse nicht mehr – oder nur unter Abschlägen – mit Werte- und Normenkanons in Einklang zu bringen sind und alles in allem ›Zukunft‹ aus Sicht der Figuren zu einem offenen und unsicheren Feld gerät.

Das nun folgende Kapitel nimmt sich zum Anlass, (1) konkrete Modifikationsaspekte des ›neuen‹ Initiationsmodells zu benennen und (2) zeitsemiotische Fundamente dieser Aspekte zu erörtern (›Temporalsemantik des Raums und der Figuration‹), (3) zeitreflexive Spezifika zu entfalten (›Zeitkonflikte der Transitionsphase‹) sowie (4) Effekte bestimmter struktureller Verschiebungen aufzuzeigen, die den Umgang mit Zeit betreffen (›Reduktionsmodell‹ und ›Funktionalisierung von Liebe‹).

2.1 Modifikationsmerkmale der Initiationsgeschichte: Prüfung des Erzählmodells anhand von Stifters Der Hagestolz

Die Zwischenphase weicht grundsätzlich in zwei Hinsichten markant vom goethezeitlichen Erzählmodell der Initiationsgeschichte ab: nämlich in der Unterbindung des Initiationsprozesses und durch seine narrative Pluralisierung. Ein illustratives Beispiel für eine Unterbindung der Initiation haben wir bereits mit Hebbels Die Kuh besprochen. Die defektive Kommunikation zwischen Eltern- und Kindergeneration führt zu einem Überschuss an Leidenschaftlichkeit, zu Kontrollverlust und zum Tod aller beteiligten Figuren, unter anderem auch zum Tod des kleinen Sohnes, über dessen Zukunft der Vater zunächst zwar spricht, sie dann aber durch sein Handeln kappt. Eine Initiation des Jungen wird damit unterbunden, noch bevor eine Entwicklung im Sinne der Goethezeit überhaupt einsetzen kann. Die Verteilung auf mehrere Handlungsträger wiederum lässt sich in Ungern-Sternbergs Die Zerrissenen beobachten: Im Zentrum des Geschehens stehen gleich mehrere Figuren – Robert, Eduard, Graf Lothar und andere, wie auch mehrere weibliche Figuren –, die sich im Jünglings- beziehungsweise Jungfrauenalter befinden und maßgebliche Zukunftsentscheidungen im Spannungsfeld der Paarfindung und -bildung zu treffen haben. Interessant ist, wer unter welchen Umständen scheitert und wer einen glückenden Prozess durchläuft. Während etwa Eduard an Intrigen Magdalenas und der eigenen Ziellosigkeit und Naivität scheitert, hat der zu einem überraschenden Erbe gekommene Robert, liiert mit der Gräfin Eva, Glück, ebenso wie Sophie und der Journalist. Welche Allianzen dabei eingegangen werden, ist natürlich bedeutungstragend und für das im Text präferierte Zukunftsmodell bezeichnend: Figuren des Bürgertums und Adels einerseits sowie Künstlertochter und Journalist andererseits. Von Bedeutung ist an dieser Stelle einstweilen allerdings allein die Tatsache, dass wir es ganz offensichtlich nicht mehr mit nur einem zentrierten und fokussierten Helden zu tun haben, sondern mit einer Vielzahl an Figuren, die den Status eines Helden im Sinne der Goethezeit nur noch schwerlich einnehmen. Vor allem aber erscheint ›Welt‹ dadurch als dezentralisiertes System, in dem einiges passieren kann und die Gegenwart ein unsicheres Feld und Zukunft vielgestaltig ist.

Auszugehen ist einstweilen jedoch von solchen Texten, die eine relative Nähe zu goethezeitlichen Texten aufweisen und das ErzählmusterFootnote 1 zum einen realisieren und es zum anderen monoperspektiv entwerfen. Abgewichen wird nämlich nicht nur, wie erwähnt, durch Unterbindung und Pluralisierung, sondern ebenso subtil in Form bestimmter Modifikationen, die zeitreflexiv semantisiert und funktionalisiert sind. Zur Illustration einer solchen subversiv-modifizierenden Übernahme des Musters dient vorab Stifters Der Hagestolz, der dem Anschein nach spätaufklärerischen Werten wie Emanzipation, Autonomie, Individualität, Liebe und Entwicklung Folge trägt, diese jedoch dezidiert unterläuft und die erzählte Initiation seines Helden Victors zeitreflexiv anreichert.

2.1.1 Erfüllung der Grundparameter

In Stifters Text präsentiert eine chronologisch verfahrende, nichtdiegetische Erzählinstanz die Lebensabschnittsgeschichte eines männlichen Protagonisten, eine Geschichte, die den Übergang vom Jüngling zum Mann umfasst: Den Kindstatus hat der siebzehnjährige Victor zum Zeitpunkt des Erzähleinsatzes bereits hinter sich (»altes Kinderspielzeug, das schon lange nicht gebraucht worden war«; Stifter 1982a [1845/1850]: 22), er befindet sich unmittelbar an der Schwelle zur Transitionsphase. Gemeinsam mit Ziehmutter Ludmilla und Ziehschwester Hanna lebt er in einem »niederen Haus[]« (ebd.: 20) am »Rand des Waldes« (ebd.). Das Verhältnis der Familie ist harmonisch ‒ durchsetzt aber durchaus mit beginnenden Problemen: die Auseinandersetzung zwischen Victor und Ludmilla über »das kostbare[] Gut Zeit« (ebd.: 24) und die gegenseitige Liebe zwischen den ›Geschwistern‹ Victor und Hanna mit einhergehenden Kommunikationsschwierigkeiten. Verbunden mit dem Eintritt in die Transitionsphase ist die Reise, die Victor auf Anraten Ludmillas antritt – die ihrerseits übrigens die Korrelation von Raumwechsel und Mannwerdung explizit als habitualisiertes Konzept ausweist. Den größten Teil des selegierten Geschehens macht der Aufenthalt Victors bei seinem Oheim, dem Hagestolz, aus. Nach Lösung des ideellen Konflikts zwischen beiden besteht der Endzustand in der Ehelichung Hannas und dem Antritt seines Erbes. Die Initiation glückt.

Angesichts dessen scheinen die wesentlichen Komponenten des Erzählmusters, wie es die Goethezeit ausgebildet hatte, auf Ebene der histoire gegeben zu sein: (1) Das Durchschreiten eines dreiphasigen Lebensweges des männlichen Initianden, der einem Prozess der Selbsterfahrung, der biologisch und persönlichen Entwicklung und des mentalen Erkenntnisprozesses äquivalent ist; ebenfalls die Konfrontation zwischen den Zielen des Protagonisten und der latenten Begrenzung seiner Selbstverwirklichung, indem der Zukunftsvorstellung der Figur dasjenige Konzept der Elterngeneration entgegengestellt und präferiert wird. (2) Die Egozentriertheit des Weltentwurfs; im Mittelpunkt des Geschehens steht der Initiand. (3) Die Korrelation von T1 mit dem Status des Kindes und dessen Implikation der sozialen und ökonomischen Abhängigkeit des Protagonisten von seiner Herkunftsfamilie wie auch einer asexuellen beziehungsweise präsexuellen Entwicklungsphase. (4) Die Korrelation des Übertritts in T2 mit topografischem Raumwechsel. (5) Die Rückkehr in das soziale Kollektiv in T3 verbunden mit Heirat und Aussicht auf Familiengründung sowie auf ökonomische und persönliche Autonomie. (6) Die dem Protagonisten zunächst nicht erkenntliche, aber dennoch vorhandene Ordnung des Weltgefüges repräsentiert durch Ludmilla und den Oheim, die als Manipulatoren in Erscheinung treten und dafür sorgen, dass Victor nicht auf direktem Wege sein Ziel erreicht und er zunächst mit vergangenen Problemen seiner Elterngeneration konfrontiert wird. (7) Die Wiederkehr beziehungsweise das Ausharren von für den Protagonisten relevanten Figuren (Hanna).

Gleiches gilt für die Verfahren auf der discours-Ebene: (8) Die Vermittlung und Kommentierung durch eine nichtdiegetische Erzählinstanz angesiedelt auf primärer Erzählebene. (9) Die Dominanz der perzeptiven und ideologischen Perspektivierung Victors. (10) Die Koppelung der Informationsvermittlung durch die Erzählinstanz an Victors Wahrnehmungssphäre und Wissensstand. (11) Das Nachtragen von Informationen bezüglich T1 und Verschiebungen der Familienzugehörigkeit durch Figuren (Ludmilla und den Oheim). (12) Die Konzentration der Erzählinstanz auf die Wiedergabe von T2.

2.1.2 Modifikationen

Dass nun aber in Der Hagestolz eine Initiationsgeschichte in modifizierter Form vorliegt, sollte ebenso einleuchten.

(I) Prinzipielle Umgestaltung erfährt das Erzählmuster in seinem Phasenaufbau, denn bei der vermeintlichen Transitionsphase in T2 handelt es sich bei genauerem Hinsehen um eine temporale Expansion des Übergangs von T1 nach T2, die durch die Reise des Helden lediglich kaschiert wird. Zwar müssen wir eine tendenzielle Separation von T1 zugestehen, haben aber zugleich zu konstatieren, dass die Loslösung aus dem familiären Rahmen nicht gegeben und der Abschnitt, wenn man ihn unter dem Gesichtspunkt einer goethezeitlichen Prägung betrachtet, insgesamt äußerst merkwürdig gestaltet ist. Denn Victor tritt zwar eine Reise an und verlässt den Sozialraum seiner Kindheit, er wird de facto jedoch mit der Insel des Hagestolzes in einen Raum der familiären Vergangenheit versetzt: Der Onkel hat eigenes Unglück erfahren und in der Vergangenheit Fehlentscheidungen getroffen, die im Zusammenhang stehen mit seinem Bruder – Victors Vater – und zwei Frauen – Ludmilla und Victors Mutter. Wir werden dies im Folgenden weiter ausführen. Zu sagen wäre hier: Die Umsetzung des Erzählmusters offenbart an erster Stelle zwei Probleme: das Problem der Loslösung von der Familie und das des (zunächst verdeckten) Zusammenhangs zwischen gegenwärtigen Geschehnissen und der Vergangenheit.

(II) Die scheinbare Transitionsphase kann aufgrund diverser Kennzeichen, die sie trägt, nicht als Experimentalphase des Initianden im Sinne der Goethezeit aufgefasst werden: (a) Der Protagonist verlässt sein familiäres Umfeld nur, um einen weiteren Raum der Familie zu betreten; tatsächlich findet keine Loslösung von der Familie statt. (b) Es liegt keine räumliche Ungebundenheit des Protagonisten vor, im Gegenteil wird seine Fixierung im Raum sowohl durch topografische Gegebenheiten (Isolation) und durch Maßgaben des Hagestolzes massiv forciert. (c) Der Protagonist hat keine Gelegenheit, sexuelle Erfahrungen zu sammeln. Junge, potenzielle Sexualpartner sind gänzlich absent, sonstige Frauenfiguren entsexualisiert und semantisch an den sie umgebenden Raum angeglichen (›+ alt‹ ≈ ›sexuell inaktiv‹). Sexualität und die menschliche Triebnatur insgesamt werden gänzlich von der Textoberfläche verdrängt und so eine deutliche Schwerpunktverlagerung auf die Konfrontation des Protagonisten mit der notwendigen Auseinandersetzung mit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vorgenommen. (d) Im Gegensatz zur Transitionsphase in Texten der Goethezeit, die in Form ausgeprägt topografischer Bewegungen und deutlich mental-psychischer Wandlungsprozesse des Helden eine starke Dynamik aufweist, reduziert Der Hagestolz den Aspekt der Dynamik tendenziell maximal und semantisiert den ›Aufenthalt‹ als Zeitraum der Statik beziehungsweise der Entdynamisierung.Footnote 2 Augenfällig wird dieses Kennzeichen gleichermaßen auf discours- und auf histoire-Ebene: Victor, der sich ob der Ereignislosigkeit langweilt, der Text, der Zeit explizit anspricht und den Zeitfluss als langsam benennt. Diesem Handlungssegment angeschlossen wird zunächst eine Rückkehr in die Herkunftsfamilie und schließlich eine erneute, auf Erzählebene nichtselegierte Reise, die ihn für vier Jahre in fremde Länder führt und zum Mann reifen lässt. Im Gegensatz also zum dreiphasigen Modell der Goethezeit – wie es etwa in Wielands Geschichte des Agathon (1766/67) modellbildend gegeben ist – begegnet uns hier eine auf den ersten Blick recht undurchsichtige Gestalt der Initiationsgeschichte (Abbildung 2.1):

Abbildung 2.1
figure 1

Neuordnung der Phasenabfolge in Stifters Der Hagestolz

Eine ähnliche Struktur findet sich zwar auch in goethezeitlichen Texten (so in Wilhelm Meisters Wanderjahre (1821/29) und in Tiecks Der junge Tischlermeister; vgl. Titzmann 2012a [2002]: 246), jedoch konzipieren diese die grundsätzliche Möglichkeit einer weiteren Entwicklungsphase, im Sinne einer Weiterentwicklung der Person, während hier eben ein Entwicklungsdefizit erst angedeutet und dann kaschiert wird. In ersterem Fall wird das Initiationsmodell produktiv weitergedacht, in letzterem als problematisch gekennzeichnet.

(III) Wenn wir angesichts des vorliegenden Textes von Stifter von ›Familie‹ und ›Herkunftsfamilie‹ sprechen, so nur in relativierender Anführung. Denn tatsächlich handelt es sich (a) bei Ludmilla und Hanna nicht um Victors originären Herkunftsfamilienverbund, sondern um seine Adoptivfamilie: Victors Eltern sind mit Erzähleinsatz nicht mehr am Leben, sein Vater bat vor seinem Tod Ludmilla um die Erziehung seines Sohnes. Realiter ist die Familie also zu Erzählbeginn nicht vorhanden, ein Tatbestand, der im Text Fragen nach vergangenen Familienverhältnissen aufwirft. Wichtig mit Blick auf den Protagonisten ist, dass die Defizienz der Familie bei ihm Latenz und Hemmung hervorrufen: Er kann Hanna seine Liebe nicht gestehen, da er sie – wider besseres Wissen – für seine Schwester hält. Für ihn mental nicht zu fassen ist sein langwährender Aufenthalt auf der Insel, und die zwischen ihm und seinem Onkel vorherrschenden Kommunikationsprobleme erscheinen unlösbar. Auf histoire- ebenso wie auch discours-Ebene ›dauert es lange‹, bis Victor imstande ist, die ihn umgebenden Probleme anzugehen. Und nicht nur, dass er vor Erzählbeginn adoptiert wurde, sein soziales Umfeld als Familie ist (b) auch in der Neukonstellation infolge der Absenz einer Vaterfigur unvollständig. Victor vermag es daher zum einen nicht, Adoptionsfamilie und tatsächliche Herkunftsfamilie voneinander zu trennen, sondern offenbart zusätzlich fundamentale psychomentale Probleme, sich in die ihm vorgesehene Rolle eines Mannes einzufinden. Angesichts dieser Punkte erreicht das Problemfeld der Familie gegenüber der Goethezeit, insbesondere der Romantik, eine neue Dimension. Auch dort haben in der Kindheit erlittene Traumata bedeutungskonstitutiven Charakter (etwa in Hoffmanns Die Bergwerke zu Falun [1819] oder Der Sandmann [1816/17] oder auch in Tiecks Der blonde Eckbert [1797]), führen allerdings beinahe zwangsläufig zum Scheitern der Personenentwicklung (vgl. Kremer/Kilcher 2015: 84 f.). Texte der Zwischenphase hingegen ›verbergen‹ das Problem vielmehr und arbeiten sich tiefenstrukturell daran ab: Oberflächlich werden die Mängel der Familie und mental-psychische Folgen für den Helden – wie in Der Hagestolz – durch die Benennung des Endzustands als Zustand des Glücks verdrängt. Unterschwellig aber bleibt das Problem bestehen, und zwar in der Unfähigkeit des Protagonisten, den Familienverbund überhaupt verlassen zu können.

(IV) Insgesamt drückt sich demnach in Victors Rückkehr in die Familie ein starkes Endogamiebedürfnis der Figuren und des Textes insgesamt aus, das äquivalent zur Restauration von Vergangenheit im entworfenen Zukunftsmodell ist. Victor kehrt zum einen temporär in T3’ in die Familie zurück – Alternativen bestünden im Antritt des von ihm bereits vor der Reise zum Oheim anvisierten Amtes oder in einer weiteren Reise, die er jedoch erst nach erneutem Aufenthalt bei Ludmilla unternimmt. Zum anderen wählt er zwischen den Heiratsoptionen diejenige, die den Verbleib im Familienkollektiv garantiert, wobei bezeichnenderweise die Heirat Rosinas (der Tochter des Vormunds) eine zwar abgeschwächte, doch aber ebenfalls endogame Variante der Paarbildung darstellen würde. Bedeutsam sind mithin gleichermaßen die Absenz einer exogamen Variante und die Wahl der maximal-endogamen (quasiinzestuösen) Option als angestrebte und wünschenswerte sowie tatsächlich realisierte Variante.

(V) Mit der modifizierten narrativen Realisierung der Initiationsgeschichte korrespondiert die ideologische Entwicklung des Protagonisten, der seine eigenen Zukunftspläne aufgibt und die durch die Alten proklamierte Lebensführung und -planung übernimmt und umsetzt. Lebensansichten von ›Alt‹ und ›Jung‹ wie auch ihre Stellung in der dargestellten Welt werden, wie wir noch sehen werden, im ersten Kapitel »Gegenbild« stark exponiert und oppositionell angeordnet. Wesentlich ist, dass der Protagonist zu Beginn der Handlung einen Lebensweg zu realisieren anstrebt, wie ihn der Hagestolz in der dem Text vorgelagerten Vergangenheit bereits realisiert hatte, und zugunsten eines Lebensmodells fallen lässt, das primär Heirat und Familiengründung vorsieht. Der Text vollzieht demnach zweierlei: Er rekapituliert ein Phänomen ‒ den Initiationsprozess – und verhandelt es im Sinne von ›Alt‹ – wobei zusätzlich aufseiten der männlichen Figuren eine Ausrichtung des Lebens weg von egozentrischem hin zu familienorientiertem Dasein angesteuert wird. Begründet wird dies mit oppositionellen Implikationen: Egozentrisches Leben (wie im Fall des Hagestolzes) impliziert Endlichkeit des Daseins und steht in Opposition zu familienorientiertem Dasein (wie von Victor am Ende realisiert), das potenziell ›unendliches Fortdauern‹ anstößt.

Damit lässt sich auf ein allgemeingültiges Merkmal der Zwischenphase schließen, das über das gegebene Textbeispiel hinausgehend variantenreich in unserem Korpus anzutreffen ist: Denkbar ist das Modell der Initiationsgeschichte auch in Texten der Zwischenphase, nicht aber ‒ oder nur bedingt ‒ realisierbar. Es wird daher entweder modifiziert oder negiert. Auf Text- und Figurenebene wird das Denkmodell der persönlichen Entwicklung hin zu einem Mitglied einer soziokulturellen Gemeinschaft als gegeben angenommen und als Notwendigkeit vorausgesetzt. Allerdings machen Texte eben den Umstand geltend, dass sich bestimmte Parameter der dargestellten Welt geändert haben und Figuren ihre Entwicklung auf andere Weise zu vollziehen haben als noch in der Goethezeit, nämlich unter starkem Einfluss der Elterngeneration, die das Werte- und Normensystem repräsentiert und kommuniziert und vor Einleitung der Transitionsphase die Realisierung des Endzustands vorwegzunehmen und in ihrem Sinne zu konsolidieren versucht. Zudem müssen Protagonisten eigene Bedürfnisse substituieren durch norm- und wertkonforme Verhaltensformen, wobei im Gegensatz zur Goethezeit persönliches Glück entweder eingeschränkt oder gänzlich negiert wird, in jedem Fall aber neu definiert wird als ›Glück‹ im Sinne eines ›kleinen und reduzierten Glücks‹. Heteronomie hinsichtlich der Normkonformität ist dominant. Neben implizierten Modifikationen, die die Initiation von Subjekten – dann jedoch nicht mehr unter goethezeitlichen Maßgaben – garantieren, wird das Modell also im Erzählen negiert und damit als Denkmodell in Frage gestellt: Wenn die dargestellte Welt so deutlich problembehaftet ist, dass Eltern- und Kindergeneration nicht mehr miteinander zu kommunizieren imstande sind (Die Kuh) oder Figuren dieser Probleme gewahr werden, sie sie reflektieren und an der Nachhaltigkeit eigenen Handelns (ver-)zweifeln (Die Zerrissenen), wird auch der Initiationsprozess unterbunden oder zumindest arg gefährdet. Weniger offensichtlich, aber in den entscheidenden Modifikationen gleichermaßen merklich, unterläuft auch Der Hagestolz die Gültigkeit der Initiationsgeschichte. Es gilt daher zu untersuchen, welche genauen Voraussetzungen und Bedingungen ›Welten‹ mitbringen, wie diese an das Subjekt herangetragen werden und schließlich, unter welchen Umständen Initiationen scheitern oder glücken und wie sich Endzustände unter den neuen Rahmenbedingungen darstellen.

2.1.3 Zeitreflexive Aspekte: Temporalitätskonstituens und Temporalsemantik der Phasen

Wie sieht es vor diesem Hintergrund mit der Reflexion von Zeit aus? Beginnen wir mit dem Naheliegenden: Mit der grundsätzlichen Eigenschaft des Lebenslaufmodells als zeitlich fundiertes Modell und der zeitsemantischen Aufladung seiner Einzelphasen. Erstens handelt es sich bei der Überführung des Protagonisten von einer Phase in die nächste um einen zeitlichen Prozess und dieser ist verknüpft mit dem Denkmodell eines ›Werdens-in-der-Zeit‹. Die Goethezeit verbindet diese Art von Temporalität mit ›Bildung‹ und ›Entwicklung‹ und setzt bestimmte Bedingungen der Konditionierung von ›Natur‹ und ›Kultur‹, bei deren Einhaltung Glücken ‒ wie auch der harmonische Ausgleich von Autonomie und Heteronomie ‒ und bei deren Nicht-Einhaltung Scheitern und Selbstverlust korreliert sind. In der Zwischenphase ist diese Vorstellung teils noch präsent, hat dann aber ob geänderter Bedingungen des diegetischen Ordnungssystems keine Geltung mehr, oder tritt von vornherein modifiziert in Erscheinung, wobei stets Kontinuität gegen Diskontinuität gestellt wird.

Stifters Text entwirft offensichtlich zwar ein mit der Goethezeit kompatibles Lebenslaufmodell durch Victor, er ändert es allerdings mit der Aneignung des von der Elterngeneration kommunizierten Denkens in einem entscheidenden Punkt ab. Auf die Frage hin, wie er sich seine Zukunft vorstelle, antwortet Victor zunächst vermeintlich pflichtgemäß:

Er werde jezt in sein Amt eintreten […], werde arbeiten, wie es nur seine Kraft vermag, werde jeden Fehler, den er antreffe, verbessern, werde seinen Obern alles vorlegen, was zu ändern sei, werde kein Schlendern und keinen Unterschleif dulden – in freien Stunden werde er die Wissenschaften und Sprachen Europas vornehmen, um sich auf künftige Schriftstellerarbeiten vorzubereiten, dann wolle er auch das Kriegswesen kennen lernen, um in dem höheren Staatsdienste einmal den ganzen Zusammenhang überschauen zu können, oder in Zeiten der Gefahr selbst zu Feldherrendiensten tauglich zu sein. Wenn er sonst noch Talent habe, so möchte er auch die Musen nicht ganz vernachlässigen, ob ihm vielleicht etwas gelänge, was sein Volk begeistern und zu entflammen vermöge. (Stifter 1982a [1845/50]: 110 f.)

Das, was die Figur prospektiv idealiter konzeptualisiert, wird realiter modifiziert in Form des oben aufgeschlüsselten, recht umständlichen Modells, in dessen Rahmen T1 expandiert und T2 ordnungsgemäß nachgeschoben wird. Die Ordnung von T1, T2, T3 wird aber, wie gezeigt, nicht nur substituiert, sondern ihre Substitution zusätzlich kaschiert, sodass der Anschein gewahrt bleibt, es handele sich um eine traditionell vollzogene Initiation. Tatsächlich aber offenbart der Übertritt ins Mannesalter eine diskontinuierliche Überführung des Protagonisten in seinen Endzustand (verknüpft mit einer Art narrativen Zirkularität). Signalisiert ist dies durch die Aktivierung des Zeiterlebens der Figur in T2ʼ, die alternierende Zeitmodellierung im Inselraum und den Umgang des Textes mit dem temporalen Segment T2: Abweichungen von gewohnten Raumordnungen und Zeitverhältnissen verstören Victor seit seinem Aufbruch von Grund auf, er nimmt seine gesamte Umgebung als ›sonderbar‹ oder ›seltsam‹ wahr. ›Zeit‹ wird durch die Figur markiert, deren Wahrnehmung erkennbar gestört ist (»Victor war es, wie er so da saß und auf die dunkeln Mauern schaute, als sei er schon ein Jahr von seiner Heimath entfernt«; ebd.: 95), und zusätzlich vom Text, der das Geschehen deutlich entschleunigt (»Der dritte Tag verging, wie die ersten zwei. Und es verging der vierte und es verging der fünfte«; ebd.: 100; und: »So ging die Zeit nach und nach dahin«; ebd.: 106; sowie: »todtlangsam«; ebd.: 108). Semantisiert wird der Inselraum durch seine Enthebung aus dem raumzeitlichen Kontinuum, indem er von der Außenwelt isoliert erscheint und in ihm »wirklich weder der Schlag einer Turmuhr noch der Klang einer Gloke« (ebd.: 106) zu vernehmen ist. Signifikant ist schließlich auch, dass die tatsächliche Transitionsphase vom Text narrativ nicht selegiert und Victor in eben dieser Phase nicht fokalisiert wird. Vielmehr spricht hingegen für die Anlage einer diskontinuierlichen Zeit dessen Verwandlung zu einem Mann, die zwar abzusehen war, hier jedoch nicht allmählich-sukzessiv verläuft, sondern im doppelten Sinne unmittelbar: plötzlich sowohl für Victors Umfeld als auch für den Leser. Eine solche Entwicklung im Hagestolz ist mithin nicht mit ›Werden‹ äquivalent, das der Goethezeit so wichtig gewesen ist, sondern mit ›Entschleunigung‹ und ›diskontinuierlicher Verschiebung‹.

Zweitens ist sinnfällig, welche temporalsemantischen Zuschreibungen die drei Segmente erhalten und inwiefern diese teils zusätzlich unterlaufen werden. Der Ausgangsstatus ist zunächst deshalb prinzipiell mit ›Vergangenheit‹ gleichgesetzt, da er auf einen vergangenen Paarfindungsprozess hindeutet und zugleich den Endzustand der gegebenen Elterngeneration darstellt. Das fokussierte Subjekt selbst steht in einer temporalen Kette von Initiationen und ist biologisches Produkt der gelungenen Vereinigung seiner Eltern. Das Subjekt im Kindstatus ist zwar Träger einer Zukunft; bedingt durch seine ökonomische und soziale Abhängigkeit von den Eltern jedoch dominiert ›Vergangenheit‹ in Form der Fremdbestimmung durch die Elterngeneration. Die Figur steht also ›zwischen‹ den Zeiten oder kann als ›zeitlos‹ aufgefasst werden. Dies entspricht jedenfalls dem idealtypischen Standard. Für die Zwischenphase aber müssen, wie oben aufgeschlüsselt, zwei Probleme konstatiert werden: die (partielle) Absenz der Elterngeneration beziehungsweise allgemeine ›Familiendefekte‹ und die Loslösung des Subjekts von seiner Herkunftsfamilie.

Im Hagestolz ist ›Vergangenheit‹ das signifikante Merkmal des (temporal expandierten) Ausgangszustands: Zum einen angelegt in Victors Situation im heimischen Umfeld (vergangene Kindheit; der alte Hund und die alte Ziehmutter; Ludmillas Andeutungen zu vergangenen Ereignissen), zum anderen – noch sehr viel deutlicher – im Raum der Insel des Oheims und in der Konfrontation mit Verlusterfahrungen, misslungenen Paarbildungen und dem frühen Tod von Victors Eltern. Das heimische Umfeld konstituiert sich, so wurde gesagt, auf Basis einer ›Familienneukonstellation‹, einer Hilfskonstruktion, die dem verwaisten Victor Unterschlupf gewähren soll und doch auch defizitär aufgestellt ist. Die Insel wird als topografischer Extremraum präsentiert, in dem Merkmale der Vergangenheit kulminieren: Zum einen hat der Raum eine tief in die Vergangenheit hineinragende Historie vorzuweisen (»In sehr alter, alter Zeit sind fremde Mönche hieher gekommen«; ebd.: 65), die er bis in die Gegenwart hinein materialisiert aufweist: Rekurrent auftretende Merkmale sind ›alt‹ (»alte fette Hunde«; ebd.: 79; »alte Geräthe«; ebd.: 96; »das alte Kloster«; ebd.: 103) ebenso wie ›Tod‹ und Todesäquivalente (»die Ruhe der Todten im Haus«; ebd.: 81; »wie ausgestorben in dem ganzen Gebäude«; ebd.: 92). Diese Attribuierung wird gar auf massiv-redundante Art und Weise betrieben:

In dem ganzen Hause lebten nur vier Personen: der Oheim, der alte Christoph, Rosalie, so hieß die alte Haushälterin und Köchin, und endlich Agnes, welche Rosaliens Handlangerin war. Unter diesen alten Menschen und neben dem alten Gemäuer ging Victor herum, wie ein nicht hieher gehöriges Wesen. Sogar die Hunde waren sämtlich alt; die Obstbäume, die sich vorfanden, waren alt; die steinernen Zwerge, die Bohlen im Schiffhause waren alt! (Ebd.: 109)

›Alt‹ referiert auf Objekte und Lebewesen, die bereits einen weit über die gegenwärtige Situation hinausragenden Zeitraum existieren und daher ›Vergangenheit‹ semiotisch abbilden; ›Tod‹ indiziert hier das Ende einer vitalen Existenz vor der Gegenwart, indiziert in seiner zeichenhaften Präsenz aber nicht allein Vergänglichkeit, sondern zugleich die Anlage vergangener Ereignishaftigkeit, die einer gegenwärtigen Ereignislosigkeit gegenübersteht. Zum anderen findet dort in Form der Auseinandersetzung mit der familiären Vergangenheit der zentrale Umschwung in Victors Lebenseinstellung statt: das Bildnis der jungen Ludmilla, die Hanna, und das Bildnis seines Vaters, der ihm selbst gleicht; die Verlustgeschichte des Oheims, seine unglückliche Liebe zu Ludmilla und seinem Nachsehen in der Erziehung Victors.

Beide Komplexe sind funktional in das aktuelle Geschehen eingebunden, insofern sie zur Versöhnung zwischen Victor und dem Oheim beitragen wie auch Victors Entscheidung anstoßen, Hanna zu heiraten. Die Rückkehr in den Familienverbund in T3 ist äquivalent zum restaurativen Umgang mit ›Vergangenheit‹ und bringt die regressiv-zirkuläre Tendenz der Figuren und des Textes insgesamt zum Ausdruck. Figuren sind nicht nur temporalsemantisch markiert, sondern orientieren sich zudem in ihren Entscheidungen und Handlungsgängen an der Vergangenheit – Vertreter von ›Alt‹, indem sie Vergangenes nicht vergessen und an Vertreter von ›Jung‹ forcierend herantragen, jene, indem sie die eigenen Pläne zugunsten vergangenheitsbezogener Konzepte und Orientierungslinien verwerfen. Die Orientierung an der Vergangenheit, das wäre daraus zu folgern, stellt der Text als wünschenswertes Modell aus.

Die Transitionsphase in T2 steht in der Regel im Fokus der Narration. Wenn T1 äquivalent zu ›Vergangenheit‹ ist, so ist T2 äquivalent zu ›Gegenwart‹ und gemäß dem Basiskonzept durch Zeitschichtung und Diskontinuität gekennzeichnet, die problematisch für den Initianden und die Welt insgesamt sein können. Und hier müssen wir den Fokus etwas erweitern. Denn entweder handelt das Subjekt im Sinne des goethezeitlich codierten Modells, das nicht mehr tragfähig und zielführend ist, oder das Subjekt handelt abweichend von diesem Modell, obwohl von seinem Umfeld das Gegenteil verlangt wird. Zwei Varianten der narrativen Präsentation dieser Optionen liegen erkennbar vor: Variante 1 funktioniert in Form einer chronologischen Erzählung, die – wie Der Hagestolz ‒ T2 zwar in seiner Präsentation zwischen T1 und T3 situiert, aber die Versetzung der Figur in diese Phase durchaus umspielen kann. Variante 2 – zu finden in Texten der späten 1830er- und der 40er-Jahre (Der Schatz; Die Klausenburg; Imagina Unruh; Der Hochwald; Der arme Spielmann) – zeichnet sich durch retrospektives Erzählen aus, wodurch T2 in die Vergangenheit verlagert wird und T3 die Gegenwart repräsentiert ‒ wie auch die Zukunft der dargestellten Welt. Die Gegenwart wird deutlich in Abhängigkeit von der Vergangenheit gedacht und ist doch zugleich auch auf die Zukunft hin ausgerichtet. Wir werden daher im Folgenden von einer ›Störung von Zeit‹ sprechen, die das Gegenwartssegment kennzeichnet, und von einem Kippmodell, das die Handlung überdeckt.

Exemplarisch ließe sich dies hier an unserem Beispiel aufzeigen: Im Text von Stifter ist es die vermeintliche Transitionsphase in T2ʼ, die temporal in der Gegenwart situiert ist – gleichzeitig ist sie aber paradoxerweise mit der metaphorischen Versetzung der Figur in die Vergangenheit äquivalent, woraus der Text wiederum sein Zukunftsmodell entwickelt. Die dargestellte Gegenwart oszilliert zwischen Vergangenheit und Zukunft. Der Text unternimmt nicht nur die massive Markierung des Inselraums als ›Raum der Vergangenheit‹, er belegt ihn auch mit einer konfligierenden Überlagerung von ›Zeiten‹: »Einen Gegensatz mit dieser trauernden Vergangenheit machte die herumstehende blühende ewig junge Gegenwart.« (Ebd.: 91)

So lebten die zwei Menschen neben einander hin, zwei Sprossen desselben Stammes, die sich hätten näher sein sollen, als alle andern Menschen, und die sich so ferne waren, wie keine andern – zwei Sprossen desselben Stammes, und so sehr verschieden: Victor das freie heitere Beginnen, mit sanften Blizen des Auges, ein offener Plaz für künftige Thaten und Freuden – der andere das Verkommen, mit dem eingeschüchterten Blike, und mit einer herben Vergangenheit in jedem Zuge […]. (Ebd.)

Die eigentliche Transitionsphase des Protagonisten, die T2ʼ und T3ʼ angeschlossen ist, selegiert der Text bemerkenswerterweise nicht, sie wird narratorial übersprungen. Auf diese Weise erzeugt er Diskontinuität und unterstreicht auch auf diesem Wege die Tendenz der Zwischenphase zur (regressiv codierten) semantischen Überlagerung der (an sich progressiv gedachten) Gegenwart durch ›Vergangenheit‹. Das Gegenwartssegment oszilliert, die Textwelt ›kippt‹ zwischen den ›Zeiten‹.

Der Endzustand repräsentiert demgegenüber die Zukunft. Abgesehen von der frührealistischen Variante, bei der T3 zusätzlich mit der Erzählgegenwart attribuiert ist, wird der Endzustand in T3, wie schon in der Goethezeit, gleichgesetzt mit ›Zukunft‹ und stellt damit das vom Textsystem entwickelte Zukunftsmodell dar. Und wie dort ist dieses Modell in der Zwischenphase natürlich abhängig vom Geschehens- und Handlungsverlauf in T2: Ein Protagonist durchlebt eine Reihe von Geschehnissen, seine Initiation glückt oder misslingt. Die Zukunft im Rahmen von Initiationsgeschichten der Zwischenphase wird allerdings von Textinstanzen divergent aufgefasst und entworfen – siehe Der Hagestolz ‒ und zudem im Rahmen der dargestellten Welt mit einer wesentlichen Änderung realisiert, und zwar mit der tendenziellen Reduktion des Gegebenen: T3 geht ein degressiver Reduktionsprozess (in verschiedenen Hinsichten) voran, dem der Initiand ausgesetzt ist. In dem mit T3 verbundenen Zustand wird er einer ›Mitte‹ zugeführt oder aber sein Zustand weist ex negativo auf diese ›Mitte‹ hin. Was diese Mitte auszeichnet, wo sie semantisch lokalisiert ist und wie Strategien der Zuführung zu ihr aussehen, wird noch zu erörtern sein. Hier zunächst zurück zur Illustration:

Im Hagestolz wird rekurrent ›Zukunft‹ thematisiert, sei es aus vergangener und gegenwärtiger Perspektive oder sei es gar über das Textende hinausweisend.Footnote 3 Dass ›Alt‹ und ›Jung‹ divergierende Vorstellungen repräsentieren, wurde bereits angedeutet: ›Jung‹ strebt ein Leben an, das primär auf Selbstverwirklichung ausgerichtet ist und Ehe und Familiengründung nicht vorsieht. ›Alt‹ hingegen stuft Maßnahmen der Selbstverwirklichung zurück und setzt Heirat und Familie hochrangig an, insbesondere zwecks biologischer (Selbst-)Reproduktion. Demnach liegen in der Textwelt explizite Auffassungen darüber vor, wie ein zukünftiger Zustand optimal auszusehen hat. Zusätzlich reichert der Text seine zeitreflexive Anlage dadurch an, dass er aus einer übergeordneten narratorialen Perspektive heraus die Zukunft anspricht:

Wir müssen hier bemerken: welch ein räthselhaftes, unbeschreibliches, geheimnißreiches, lokendes Ding ist die Zukunft, wenn wir noch nicht in ihr sind ‒ wie schnell und unbegriffen rauscht sie als Gegenwart davon – und wie klar, verbraucht und wesenlos liegt sie dann als Vergangenheit da! (Ebd.: 14)

Außerdem heißt es: »Auch die hohe Schönheit des Jünglings war eine sanfte Fürbitte für ihn [den Hagestolz], wie die Wasser so um die jugendlichen Glieder spielten und um den unschuldsvollen Körper floßen, auf den die Gewalt der Jahre wartete, und die unenträthselbare Zukunft des Geschikes.« (Ebd.: 107)

Der Text setzt demzufolge zweierlei in Verbindung: die Rätselhaftigkeit beziehungsweise konstatierte Unvorhersehbarkeit und Offenheit einer Zukunft ob des Verlustes eines christlich-religiösen Jenseitsglaubens auf der einen SeiteFootnote 4 und die massive Tendenz von ›Alt‹, die Zukunft eigenmächtig und selbstsichernd zu gestalten auf der anderen. In Texten der Goethezeit herrscht ein Übermaß an Ordnung der dargestellten Welt vor (vgl. Titzmann 2012a [2002]: 237 f.), die unter anderem ausschlaggebend dafür ist, welche Bedingungen für ein bestimmtes Zukunftsmodell (wie Selbstverlust und Tilgung durch Tod) erfüllt sein müssen oder eben nicht erfüllt sind. In der Zwischenphase werden solche Ordnungsgefüge destruiert oder zumindest stark angezweifelt, was eine wirksame Tendenz zur Ordnungskonsolidierung auf Figurenebene nach sich zieht. Der Hagestolz löst das Problem des Ordnungsverlustes durch eine Orientierung an der vergangenen Realität, die nicht nur restauriert, sondern ebenfalls rückwirkend harmonisiert wird. Denn Victors Entschluss, Hanna zu heiraten, entspricht der Wahl des Konzeptes von ›Alt‹ und zielt auf eine nachträgliche Verbindung zwischen Ludmilla (= Hannas vergangenes Ebenbild ≈ Hanna) und Victors Vater Hippolit (= Victors vergangenes Ebenbild ≈ Victor) ab ‒ »zwei Wesen, deren Antlitze die Abbilder von zwei anderen waren, die einmal auch gerne vor demselben Altare gestanden wären, aber durch Unglük und Verschuldung auseinander gerissen worden waren, und dann lebenslänglich bereuten« (Stifter 1982a [1845/50]: 141).Footnote 5

Zusätzlich zu diesem In-Beziehung-Setzen von Zukunftskonzepten geht der Handlungsgang im Endzustand eines relativierten Glücks auf. ›Restauration‹ und ›Harmonisierung‹ von ›Vergangenheit‹ im Zukunftsmodell entsprechen der Präferenz ›alter‹ Konzepte bei Realisierung zukunftsentscheidender Maßnahmen; Konzepte, die bereits in der textinternen Vergangenheit Geltung hatten, dort jedoch nur unzureichend oder nicht nachhaltig genug umgesetzt werden konnten, und daher durch die Kindergeneration nachgeholt werden müssen. Dies geschieht oberflächlich ebenfalls im Sinne Victors und Hannas, die eine gegenseitige Liebe verbindet. Tatsächlich handelt es sich aber bei der Aufgabe eigener Pläne wie auch bei der vorliegenden Präsentation der Initiationsgeschichte um eine Absage an das goethezeitliche Bildungs- und Entwicklungskonzept, in dem der Initiand nicht eigenmächtig und über Umwege zum Ziel einer partnerschaftlichen Verbindung gelangt: Nicht nur, dass das goethezeitliche Subjekt zwar auch von Liebe spricht, aber nicht von sozial legitimierender Ehe, und entsprechend handelt, stets ist der ihm zugedachte Partner am Ende nicht derjenige, der zu Anfang ausersehen wurde. Im Hagestolz aber ist das anders: Hanna ist von Beginn an die geliebte Person und wird am Ende Victor zugeführt. Der Held geht, auf Anraten seiner Elterngeneration, keine Wagnisse mehr ein, keine Experimente, keine Liebesabenteuer. T2 – immerhin vier Jahre umfassend ‒ wird vom Text deshalb nicht dargestellt, da diese Phase augenscheinlich mit nicht nennenswerten Geschehnissen vorübergeht. Stattdessen liegt sie stark gerafft vor und fokalisiert auf Ludmilla und ‒ betont ‒ auf Hanna, »die nur immer den Willen der Mutter that, und in innerer Bewegung und Erregung wartete, was die Zukunft bringen werde« (ebd.: 140). Zumal der Lebensabschnitt nur bedingt als Findungsphase gelten kann, ist Victor vor Antritt schließlich schon sein »eigener Herr, der Mittel hat« (ebd.: 138). Dennoch, so betont die Erzählinstanz, kehrt er, »ein Mann geworden« (ebd.: 141), zurück, »sein Verstand und sein Geist hatten sich herausgebildet, das gute Herz, das sie in ihn gelegt, war unausrottbar geblieben« (ebd.). Aus dem goethezeitlichen Helden im Sinne eines exponierten Subjekts, das Grenzen überschreitet und sich letztlich im optimalen Fall des harmonischen Ausgleichs von Autonomie und Heteronomie selbst findet, wird in Stifters Text ein Normalsubjekt, das gänzlich fremdbestimmt agiert und Autonomie allenfalls im Rahmen einer Existenz in sozioökonomischer Hinsicht erlangt. Hinsichtlich seiner konkreten Ausbildung und Bildung enthält der Text keine näheren Informationen. In dieser Hinsicht relativiert er unterschwellig das Glücken der Initiation: Er normalisiert das Subjekt, das einen goethezeitlichen Werdegang anstrebt, diesen jedoch nur in entschärfter Form durchleben darf und eine endogame Partnerschaft ansteuert, die von vornherein festgelegt worden ist.

2.2 Figürliche und räumliche Temporalsemantik: Zur Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Jung‹

Zeit und Zeitlichkeit werden im Initiationsmodell also auf zwei Wegen angelegt: Zum einen im linearen und diachronen Verlauf des Lebens eines jungen Menschen, der vom Jugendstatus in den Status eines Erwachsenen überführt wird; zum anderen durch Semantisierung der Phasen als temporale Teilsegmente der Diegese. Dies beides sind basale Annahmen zur Behandlung des Zusammenhangs zwischen Zeitreflexion und Initiationsgeschichte. Denn wir werden im Folgenden noch sehen, dass sie nur vermeintlich simpel sind und der Umgang mit Zeit in diesen Punkten für unser Textkorpus zu einem nicht unproblematischen Komplex erwächst.

Doch zurück zur weiteren Argumentation. Offenkundig bauen Texte ihr zeitstrukturelles Gerüst über die Diachronie des Lebensverlaufs und die Synchronie der Lebensabschnitte hinaus auch noch anderweitig auf. Konzentrieren wir uns weiterhin auf die Ebene der histoire, so geraten Semantisierungen der Figuren und des Raums in den Blick. Die Temporalsemantik dieser Einheiten lässt sich, wie schon gesagt, anhand der einem Element zugeschriebenen Merkmale der Klasse ›Zeit‹ bestimmen. Es kann sich dabei um Figuren oder Figurengruppen, um Teilräume oder ganze Welten handeln ‒ wichtig für unseren Zusammenhang ist die Zeitsemiotisierung im Hinblick auf Klassenbildung beziehungsweise Separation der Gesamtmenge aller diegetischen Elemente in abstrakt-semantische Räume sowie ihre Funktionalisierung im übergeordneten Bedeutungszusammenhang. Die Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Jung‹ kann dabei gemäß Grundachse 1 unseres Basiskonzepts – Heterogenität ‒ als einzeltextübergreifende Dichotomie angenommen werden, die entscheidenden Einfluss auf Lebenslaufmodelle und Initiationsvorgänge ausübt.

Auch im Hagestolz formiert ›Alt‹ vs. ›Jung‹ die zentrale Opposition. Beide Teilräume werden über konzeptionelle Lebenslaufmodelle installiert sowie über lexikalische Zuschreibungen, die die entsprechenden Repräsentanten verschiedenen Altersstufen zuordnen. ›Alt‹ formieren demgemäß primär der Hagestolz, Ludmilla, der Vormund und in absentia Victors Eltern; ›Jung‹ Victor, Hanna, Rosina und ihr Bruder Ferdinand sowie weitere Jünglinge, die nur am Rande erwähnt werden. Die Vorstellungen über damit verbundene Lebenslaufmodelle formulieren die Figuren im Gespräch: ›Jung‹ sieht keine Ehe vor und steuert an vorderster Stelle Selbstverwirklichung an, ›Alt‹ hingegen plädiert deutlich für das Primat der Heirat und der Familie. Mit Blick darauf sind Binnendifferenzierungen der gegebenen Räume anzumerken, erstens in Form der Opposition ›männlich‹ vs. ›weiblich‹ sowie ›mit Nachkommenschaft‹ vs. ›ohne Nachkommenschaft‹ und zweitens in Form der Opposition ›Nicht-Realisierung des Konzepts‹ vs. ›Realisierung des Konzepts‹. Denn bemerkenswerterweise konzipiert etwa die Figur des Hagestolzes ein Lebenslaufmodell, das er selbst nicht gelebt hat und mehr noch: Gelebt hatte er dasjenige, welches ›Jung‹ anstrebt. Victor etabliert seinerseits mit der Vorstellung seines Lebens den semantischen Raum ›Jung‹ und ist unglücklich; er realisiert dann aber das Konzept von ›Alt‹ und wird glücklich. Um die Grundopposition aufzulösen und ›Alt‹ und ›Jung‹ zu harmonisieren – und dies stellt die Problemlösungsstrategie dar ‒, überführt der Text den jungen Protagonisten in den semantischen Raum ›Alt‹, indem er ihn zur Insel reisen lässt: Als Extremraum vereinigt die Insel (oberflächlich) alle Merkmale von ›Alt‹, in ihm wird Victor mit der Vergangenheit seiner Familie konfrontiert, zugunsten von ›Alt‹ ›bekehrt‹ und von seinem Lebenslaufmodell abgebracht.

Diese bestimmende temporalsemantische Spezifik entwirft Der Hagestolz bereits gleich zu Beginn, im ersten Kapitel »Gegenbild«: Signifikant für diesen Textteil ist, dass er ein Gegenwartsmoment abbildet, darin aber bereits ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ mitdenkt. ›Jung‹ gestaltet sich dabei wie folgt:

Auf einem schönen grünen Platze, der bergan steigt, wo Bäume stehen und Nachtigallen schlagen, gingen mehrere Jünglinge in dem Brausen und Schäumen ihres jungen kaum erst beginnenden Lebens. Eine glänzende Landschaft war rings um sie geworfen. Wolkenschatten flogen, und unten in der Ebene blickten Türme und Häuserlasten einer großen Stadt. Einer von ihnen rief die Worte: ›Es ist nun für alle Ewigkeit ganz gewiß, daß ich nie heiraten werde.‹ (Stifter 1982a [1845/1850]: 13)

Dagegen wird ›Alt‹ durch die Verbindung des Hagestolzes mit der ihn umgebenden Topografie und mit Hilfe einer Charakterisierung seines Lebensentwurfs installiert:

Weit von dem grünen Baumplaze, wo die Nachtigallen geschlagen und die Jünglinge so fröhlich gelacht hatten, lag hinter den blauen Bergen, die die Aussicht des Plazes besäumten, eine Insel mit dem Hause. Der Greis saß an dem Hause und zitterte vor dem Sterben. Man hätte ihn vorher schon viele Jahre können sizen sehen, wenn er überhaupt gerne Augen zugelassen hätte, ihn zu sehen. Weil er kein Weib gehabt hatte, saß an dem Tage keine alte Gefährtin neben ihm auf der Bank, so wie an allen Orten, wo er vor der Erwerbung des Inselhauses gewesen sein mag, nie eine Gattin bei ihm war. Er hatte nie Kinder gehabt und nie eine Qual oder Freude an Kindern erlebt, es trat daher keines in den Schatten, den er auf den Sand warf. In dem Hause war es sehr schweigsam, und wenn er zufällig hineinging, schloß er die Tür selbst, und wenn er herausging, öffnete er sie wieder selbst. (Ebd.: 18)

Der Text kehrt dann zur direkten Gegenüberstellung zurück:

Während die Jünglinge auf ihrem Berge emporgestrebt waren, und ein wimmelndes Leben und dichte Freude sie umgab, war er auf seiner Bank gesessen, hatte auf die an Stäbe gebundenen Frühlingsblumen geschaut, und die leere Luft und der vergebliche Sonnenschein hatten um ihn gespielt. Als die Jünglinge nach Vollbringung des Tages auf ihr Lager gesunken und in Schlummer verfallen waren, lag er auch in seinem Bette, das in einer wohlverwahrten Stube stand, und drückte die Augen zu, damit er schlafe. ‒ Die nehmliche Nacht ging mit dem kühlen Mantel aller ihrer Sterne gleichgültig herauf, ob junge Herzen sich des entschwundenen Tages gefreut und nie an einen Tod gedacht hatten, als wenn es keinen gäbe – oder ob ein altes sich vor gewaltthätiger Verkürzung seines Lebens fürchtete und doch schon wieder dem Ende desselben um einen Tag näher war. (Ebd.: 18 f.)

Aus all dem lässt sich, wie grafisch dargestellt, die Semantik der Teilräume rekonstruieren. Temporalsemantische Terme kennzeichnen wir im Rahmen dessen zur Abgrenzung von anderen Termen mit einem tiefgestellten ›T‹ (Abbildung 2.2).

Abbildung 2.2
figure 2

Dichotomische Grundordnung in Stifters Der Hagestolz

Neben dieser dichotomischen Grundordnung legt der Text – narratorial auf Textebene wie auch mental-konzeptionell auf Figurenebene – ein diachron-lineares Modell von Zeitlichkeit an, das die Zeitteilräume ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ umfasst und perspektivisch erlebt und evaluiert wird und bei dem die Zukunft ins Blickzentrum rückt. Dominant ist, so lässt sich erkennen, das Problem der Zukunftsmodellierung ‒ hier in Form des Problems der Zukunftssicherung für das Figurenensemble über das Textende hinaus ‒, das strukturell durch eine temporale Doppelcodierung in der abstrakt-semantischen Raumordnung und im explizit-thematisierten Zeitmodell dargestellt wird.

Entscheidend zur Klärung der Zukunft sind hier natürlich die Geschehnisse auf der Insel: Sinnfällig ist die zeitliche Enthebung von Victors Aufenthalt bei seinem Oheim und der temporäre Bruch mit der ansonsten konsequent modellierten Kontinuität des gegebenen Zeitmodells. Zwar ist die Abreise zunächst für die Figuren klar datiert, jedoch scheint auf der Insel Zeit anders zu verlaufen als außerhalb – wahrgenommen durch die Figur und rekurrent bestätigt durch die Erzählinstanz. Der Raum ist, so hatten wir gesagt, überdeutlich mit ›Vergangenheit‹, ›Alter‹, ›Sterben‹ oder ›Tod‹, ›Retardierung‹ und ›Langeweile‹ attribuiert und enthält dennoch ebenso Indizien, die auf die Überlagerung von ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ hindeuten. Die Insel bildet das Problem der Figuren räumlich ab: Nicht-Räumliches wird verräumlicht. Verbunden mit der Andersartigkeit der temporalen Konstitution, der Konfliktlage zwischen den Figuren und der angestrebten Konfrontation mit der Vergangenheit, kommt es zur vorläufigen Aufhebung der terminierten Abreise: Victor verweilt beim Oheim bis zur endgültigen Versöhnung und kehrt dann ins heimische Umfeld zurück. Er wendet sich nicht dem ihm vorab zugedachten Amt zu. Zur Folge hat dies wiederum, wie oben konstatiert, die Dekonstruktion der Transformationsphase und Modifikation der temporalen Strukturierung des Lebenslaufs: Im Text lassen sich nicht, wie im idealtypischen Sinne, drei Teilwelten ausmachen, sondern fünf. Neu und abweichend vom goethezeitlichen Modell wird damit in Form einer zirkulär angelegten Figurenentwicklung das Zukunftsmodell der Restauration von ›Vergangenheit‹ plausibilisiert.

Zwar stehen Temporalsemantik der Figuren und Temporalsemantik des Raums in einem Zusammenhang, es lässt sich aber angesichts dieser Beobachtungen bereits ebenso erahnen, dass eine Trennung beider Bereiche durchaus nützlich sein kann. Wenden wir uns daher einer genaueren Ausdifferenzierung zu und benennen im Anschluss an die theoretischen Vorgaben, wie wir sie eingangs getroffen haben, konkrete Textoperationen der Semantisierung, die die Relevanz von ›Zeit‹ anzeigen.

2.2.1 Temporalsemantik der Figuren: Merkmale biologisch-sozialer, epochal-evolutionärer und mental-verhaltensbezogener Klassifikationen

Das zentrale ideologische Modell, das mit unserer Leitdifferenz einhergeht, steht in Verbindung zu ›Heterogenität‹ mit all ihren Äquivalenten und Effekten ‒ manifest in Kämpfen und Chaos, aber auch in unterschwelliger Unausgewogenheit und Disharmonie dargestellter Welten. Konkretisiert werden dabei ›Alt‹ und ›Jung‹ vornehmlich durch Figuren, die mit bestimmten Eigenschaften ausgestattet sind, Handlungen vollziehen und miteinander interagieren und kommunizieren: Figuren sind in dieser Hinsicht als »Zeitträger« (Lăcan 2015: 292), als Entitäten mit ›Eigenzeit‹ (vgl. Bies 2018: 344) zu verstehen und werden im 19. Jahrhundert mit der allmählichen Dynamisierung und Modernisierungsprozessen von ›Welt‹ konfrontiert. Sie erleben Zeit bewusst, entwickeln und verhandeln disparate Zeitkonzepte, ihr Dasein wird von einem im Text entworfenen Zeitmodell überspannt. Damit verknüpfte Verfahren der Repräsentation von Zeit durch Figuren bilden zeichenhaft eine zeitreflexive Semantik ab, geht es doch stets um die Problematisierung der Gegenüberstellung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und um die Erprobung von Problemlösungsstrategien, um empfundene Brüche zwischen den Zeitsegmenten zu beheben oder zumindest ertragbar zu machen.

›Alt‹ und ›Jung‹ werden oberflächenstrukturell mannigfaltig dargestellt. Naheliegend ist die Repräsentation von biologisch alten oder jungen Figuren, wie wir am Beispiel von Stifters Text bereits belegen konnten. Tatsächlich aber reichen Modelle, in deren Rahmen entsprechende Räume konzipiert werden, über dieses Klassifikationssystem hinaus und sind zudem wichtige Träger der zeitreflexiven Beschaffenheit nicht nur in Initiationsgeschichten im Besonderen, sondern ebenfalls der literarischen Anthropologie im Allgemeinen, wie auch im Hinblick auf die spezifische Form selbstreflexiven Erzählens, die uns hier beschäftigt.

Wir wollen nun in diesem Teilkapitel das allgemeine Modell der statischen Grundordnung erläutern, wie es über die Grundopposition aufgebaut wird. In Der Hagestolz finden sich mit ›Alt‹ korrelierte Ausformungen einer Todessemantik, die auf nicht erfahrene Liebe gründet: Nachdem der Hagestolz im Kapitel »Gegenbild« zunächst lediglich der Stufe des Greisenalters zugeordnet wird, so wird später sein äußeres Erscheinungsbild in Victors Wahrnehmung noch konkretisiert:

Victor konnte jezt bei Tage erst sehen, wie ungemein hager und verfallen der Mann sei. […] Der Rok schlotterte an den Armen, und von dem Kragen desselben ging der röthliche, runzlige Hals empor. Die Schläfen waren eingesunken und das zwar noch nicht völlig ergraute aber aus vielen mißhelligen Farben gemischte Haar war struppig um dieselben herum, niemals seit es wuchs, von einer liebenden Hand gestreichelt. (Stifter 1982a [1845/50]: 87)

Auch das Textende unterstreicht die Semantisierung des Hagestolzes als ›lebenden Toten‹ in der Metapher des »unfruchtbaren Feigenbaums« (ebd.: 142) und wertet dies negativ. Demgegenüber wird Ludmilla zwar ebenfalls als »alte Mutter« (ebd.: 22; Hervorhebung von mir, S. B.) bezeichnet, ihr werden aber im Gegensatz zum Hagestolz zusätzlich die Merkmale ›Lebensfreude‹, ›Sanftheit‹, ›Schönheit‹, ›Güte‹ und ›Freundlichkeit‹ (vgl. ebd.: 21 u. 23) zugeschrieben. Repräsentanten von ›Alt‹ verhalten sich demnach grundlegend verschieden und sind äußerlich divergent konstituiert, je nachdem, ob sie Nachkommen vorzuweisen haben oder nicht. ›Jung‹ hingegen ist durch die Relation ›männliche Vertreter‹ vs. ›weibliche Vertreter‹ binnendifferenziert: Victor ist aktiv, wird domestiziert beziehungsweise nach Vorstellungen von ›Alt‹ normalisiert, während Hanna und im Übrigen auch Rosina vollkommen inaktiv und passiv charakterisiert sind und von vornherein die Idealvorstellung von (endogamer) Ehe(-schließung) und Familie verinnerlicht zu haben scheinen. Der übergeordneten Struktur sind also mittels Differenzierung und Untergruppierung unterschiedlich konstituierte und handelnde Figuren zugeteilt, die in ihren Ansichten, ihrem Verhalten, ihren Weltbezügen und Handlungsmöglichkeiten verschieden gekennzeichnet sein können. Insbesondere temporalsemantische Einheiten, mittels derer solche Abgrenzungen und Zuordnungen vorgenommen werden können, sind, so lässt sich theoretisch annehmen, anhand von drei wesentlichen Klassifikationen zu ermitteln: (1) biologisch-sozial, (2) epochal-evolutionär, (3) mental-konzeptionell/ideologisch/verhaltensbezogen.

Merkmale der biologisch-sozialen Klassifikation. Mit der biologisch-sozialen Klassifikation – die für die Initiationsgeschichte wichtigste ‒ greifen literarische Texte auf allgemeines kulturelles Wissen des ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhunderts zurück, das vorwiegend in wissenschaftlichen Texten (der Anthropologie) aufwendig auseinandergesetzt und theoretisiert worden ist.Footnote 6 Klassifikationen jener Menge anthropologischer Texte weisen auf den ersten Blick deutliche Divergenzen hinsichtlich der Ein- oder Mehrdimensionalität ihrer Ebenen auf (je nachdem, ob eine Altersstufe als Oberklasse konzipiert weitere Aufgliederungen erfährt oder nicht);Footnote 7 ferner hinsichtlich der Anzahl der innerhalb von Kategorisierungen angenommenen Endtaxa (das heißt: der kleinsten Untergliederungen eines Konzepts); und hinsichtlich der Datierungen der jeweiligen Altersstufen, die ebenfalls massiv variieren.Footnote 8 Angesichts einer solchen Sachlage ist bei diesen Klassifikationen von einem offenkundig »nur sehr geringen Grad an Empirizität« (Titzmann 2012a [2002]: 252 f.) auszugehen, wie auch von dem Umstand, dass es sich bei ihren divergierenden Merkmalen mangels Konsensfähigkeit wohl nur bedingt um Teile kulturellen Wissens gehandelt haben dürfte. Von Bedeutung ist hier, dass sich anthropologische Grundlagen, wie sie in der Goethezeit fundiert und expliziert worden sind, bis ins späte 19. Jahrhundert hinein gehalten haben und folglich auch für unseren Kontext Geltungsanspruch einnehmen dürften (ebd.: 256) und dass die Klassifikationen der Anthropologie aller Uneinheitlichkeit zum Trotz drei hauptsächliche Invarianten aufweisen: (a) die übergreifende Annahme zumindest einer Klassifikationsebene, bei der das menschliche Leben in vier Altersklassen unterteilt erscheint: ›Kindheit‹ – ›Jugend‹ – ›reifes Alter‹ – ›Greisenalter‹; (b) die »Korrelation dieser als biologisch gedachten Klassen mit psychosozialen Merkmalen« (ebd.: 258; Hervorhebung von mir, S. B.) und (c) die Überlagerung von zwei divergenten Modellen, einem (graduell verlaufenden) Entwicklungsmodell und einem (sprunghaft verlaufenden) Stufenmodell.

Für die Literatur spielt das damit verbundene Denkmuster eine wesentliche Rolle, hoministische Einheiten mit nichthoministischen, markiert temporalen Merkmalen zu besetzen: Erstens in Form einer Äquivalenz von Individuum ≈ Menschheit/Gesellschaft/Kultur: Das System der Altersklassen wird projiziert auf die Geschichtsphasen der Menschheit. Das betrifft in unserem Kontext die epochal-evolutionäre Klassifikation. Und zweitens in Form der Äquivalentsetzung Lebensalter ≈ Tageszeiten ≈ Jahreszeiten:Footnote 9 Zum Beispiel bei Heinroth, der die ›Kindheit‹ mit ›Frühling‹ und ›Morgen‹, die ›Jugend‹ mit ›Sommer‹ und ›Mittag‹, das ›reife Alter‹ mit ›Herbst‹ und ›Abend‹ sowie das ›Greisenalter‹ mit ›Winter‹ und ›Nacht‹ gleichsetzt (wie auch zu beobachten in Die Kuh und Der Hagestolz); und beim Mediziner Hartmann, wenn dieser in Ermangelung spezifischer Merkmale konstatiert: »Im hohen Greisenalter neigt sich der lichte Tag […] wieder zur Dämmerung hin.« (Hartmann 1852: 53). Drittens erstrecken sich solche temporalsemantisch fundierten Merkmalszuweisungen auch auf die Invarianz (b), das heißt, auf die psychische Verfasstheit der ›Person‹ sowie auf ihren sozialen Status. Dabei sind für unserem Zusammenhang die folgenden wichtigen Relationen hervorzuheben: Kindheit ≈ ›Zeitlosigkeit der Existenz‹ vs. Jugend ≈ ›Zukunftsbezogenheit‹ vs. reifes Alter ≈ ›Gegenwartsbezogenheit‹ vs. Greisenalter ≈ ›Vergangenheitsbezogenheit‹ (Titzmann 2012a [2002]: 259 f.). Das Denkmodell im Merkmal (c) offenbart seinerseits ein Problem, das die Literatur der Zwischenphase zeitreflexiv funktionalisiert: Die Überlagerung nämlich von sukzessiv-prozessualem, übergangsbehaftetem Entwicklungsmodell und abrupt verlaufendem Stufenmodell erscheint als eine zwar jeder Empirie zuwiderlaufende,Footnote 10 gleichsam aber auffällige und allgemein gehandhabte Maßnahme der anthropologischen Konzeption:

Die [Lebensphasen] werden im Grunde […] als disjunkte Klassen, als in sich synchron-zustandshaft, nicht als diachron-prozessual gedacht: als würde an der Grenze zweier solcher Klassen das menschliche Leben durch ein punktuelles Ereignis von einer ›Stufe‹ auf eine andere gehoben, als fände nicht ein mehr oder weniger (dis)kontinuierlicher Prozess statt. Dem dreigliedrigen Entwicklungsmodell […] entspräche in einem Koordinatensystem eine Kurve; dem Phasenmodell entspricht eine ›Treppe‹. (Ebd.: 257)

In Initiationsgeschichten unseres Korpus offenbart sich daran angelehnt der Übertritt von einer Phase in die nächste zum einen – wie schon in der Goethezeit – als ereignishafte Grenzüberschreitung, zum anderen aber – und nun der Zwischenphase eigen – als krisenhafter beziehungsweise als krisenhaft wahrgenommener Problemzustand des Subjekts, seines direkten sozialen Umfeldes oder gar der dargestellten Welt insgesamt, die die übergeordnete (geheime) Ordnung, wie noch in der Goethezeit gegeben, verloren hat ‒ eine tatsächlich oder nur vermeintlich erhöhte Ereignishaftigkeit gegenüber dem idealtypischen Fall des Initiationsprozesses. Anzunehmen ist für die Zwischenphase nämlich deshalb ein hoher Grad an Ereignishaftigkeit, da sie das Erzählmuster der Initiationsgeschichte selbst in Frage stellt und dies im Zeichen eines zeitreflexiven Umgangs tut. Die Spezifik zeitreflexiver Strukturen findet sich mit Blick auf diesen Punkt in der Relevantsetzung von Zeit auf der Entwurfsbasis eines in subjektbezogen-biologischen und lebenslaufabhängigen Phasenwechseln inbegriffenen Subjekts als zeitreflexiv bedeutsame Größe. Dabei macht es für das textuelle Faktum zeitreflexiven Erzählens keinen Unterschied, ob Ereignishaftigkeit realiter gegeben ist oder als solche (von Figuren) nur angenommen wird. Denn angestoßen wird Zeitreflexion in jedem Fall: Initiationsprozesse lösen allerhand Probleme aus, die die Figuren und Texte in den Griff zu bekommen versuchen. In Der Hagestolz liegen die mit diesen Phasenwechseln sich ändernden Anforderungen hinsichtlich der zukunftssichernden Funktion Victors auf der Hand. Wir hatten diese bereits benannt. Texte gehen aber teilweise in ihrer zeitreflexiven Anlage sogar über das skizzierte Denkmodell hinaus: Wie wir anhand von Hebbels Die Kuh sehen konnten, wird das Kind, das ja im Zentrum der Handlung steht, entgegen der eigenen psychosozialen Verfasstheit aus dem im Modell konzipierten Zustand der ›Zeitlosigkeit‹ in Richtung eines Zukunftsträgers verschoben ‒ und ebendies wird vom Text als ereignisauslösend funktionalisiert.

Merkmale der epochal-evolutionären Klassifikation. Die biologisch-soziale Klassifikation ist für sich genommen bereits komplex und bringt analytische Schwierigkeiten mit sich. Es ist daher sinnvoll, die epochal-evolutionäre Einteilung von ›Alt‹ und ›Jung‹ von ihr zu sondieren. Dabei kann die in Textwelten entworfene Gesellschafts- und Kulturgeschichte durchaus auch narrativ-strukturell indiziert sein (Der tote Gast; Die Narrenburg; ohne Initiationsgeschichte in Die schwarze Spinne). Manifest wird sie auf individueller wie auch auf kollektiver Ebene in der Regel aber hauptsächlich durch Figuren, ihre Zugehörigkeit zu Gesellschaftssystemen beziehungsweise Figurengruppen und individuellen oder kollektiven Einstellungen zu Entwicklungen innerhalb ihrer Welt. Auszumachen sind Darstellungen, die soziokulturelle oder kunst- und literaturhistorische Positionen etablieren: Da ›Bürgerlichkeit‹ zum dominierenden und normgebenden Paradigma avanciert, sind insbesondere Figuren, die mit dem Merkmal ›aristokratisch‹ belegt sind, oder aber auch solche, die der Unterschicht angehören, oftmals als ›Alt‹ markiert – entweder zusätzlich zu ihrem biologisch hohen Alter oder nicht ‒, es sei denn, sie passen ihre Verhaltens- und Denkmuster an eine ›bürgerliche Normgebung‹ an. Zusätzlich dazu kann eine politisch-ideologische Ebene eingezogen sein, die die Terme ›konservativ-reaktionär‹ für ›Alt‹ und ›liberal-progressiv‹ für ›Jung‹ aufbaut (Das Bild des Kaisers), oder eine kunsthistorische, die ›Epochen‹ wie ›antik‹, ›mittelalterlich‹, ›barock‹ oder ›goethezeitlich‹ an Figuren festmacht (Cordelia). Unterschiedlichste Kombinationen und Varianten sind denkbar.

Merkmale der mental-konzeptionellen/ideologischen/verhaltensbezogenen Klassifikation. Gleiches wie für die Sozial- und Kulturgeschichte gilt auch für die dargestellte Denk- und Mentalitätsgeschichte. Wenn Figuren als Träger von Zeitlichkeit gelten können, dann ebenfalls von Vorstellungen, (mentalen) Konzepten, Normen und Werten, die sozialen Klassen, Kultursystemen, Ethnien vergangener Epochen zugeschrieben werden. So können auf bestimmten Konzepten beruhende Ansichten – zum Beispiel über den idealen Entwicklungsgang eines jungen Menschen und gesellschaftlich festgelegte Initiationsriten – ebenso wie damit verbundene Verhaltensweisen als antiquiert und überholt gelten und andere als zeitgemäß und zukunftsweisend. All diese Eigenschaften von Figuren sind für gewöhnlich schwierig voneinander zu trennen. Wir fassen sie daher grob unter mental-konzeptionell/ideologisch/verhaltensbezogen.

Üblicherweise liegen nun die genannten Klassifikationen in Kombination vor und sind untereinander korreliert. Auch in Anbetracht dessen nimmt Der Hagestolz eine besondere Stellung ein, denn seine Spezifik besteht eben darin, dass er im semantischen Raum ›Alt‹ Verhaltensmuster oppositionell zu Denkmustern anlegt: Der alte Oheim verhält sich so, wie es ›Jung‹ anstrebt, proklamiert seinerseits aber ein gegenläufiges Modell. ›Alt‹ wird insgesamt als Raum des Scheiterns präsentiert, entweder in Form eben dieser seltsam anmutenden semantischen Binnenstruktur oder alternativ mit Hilfe anderer Parametersetzungen (wie die Verlusterfahrungen Ludmillas). Dabei beinahe gänzlich ausgeblendet wird die Familie des Vormunds, der den Fall eines geglückten Modells vertritt. Im Text dominieren die biologisch-soziale und mental-konzeptionelle Klassifikation, und ›Jung‹ verhält sich durch sein Angleichen an ›Alt‹ dynamisch, ›Alt‹ durch Beharren auf sein Modell statisch. Auf den Gesichtspunkt der Dynamisierung der Leitdifferenz – auch in Relation zur Statik – kommen wir, wie gesagt, später zurück.

Zunächst finden sich in anderen Texten weitere Belege für komplexe temporalsemantische Anordnungen sowie für (oberflächliche) Harmonisierung und (offensichtlich) unauflösbare Konfligierung ‒ unabhängig im Übrigen vom Entstehungszeitraum der Texte: Hauffs Das Bild des Kaisers, ein Text der 1820er-Jahre, baut ein vielschichtiges System von Oppositionen auf: ›Norden‹ vs. ›Süden‹; ›Preußen‹ vs. ›Schwaben‹; ›aristokratisch-konservativ‹ vs. ›radikal-demokratisch‹; ›Endogamie‹ vs. ›Exogamie‹; ›feudalistisch‹ vs. ›napoleonisch‹ vs. ›deutsch-nationalistisch‹. ›Jung‹ und ›alt‹ liegen dabei jeweils ‒ wie in Der Hagestolz ‒ binnendifferenziert vor, weisen Bündel verschiedener Klassifikationen auf und werden am Ende (vermeintlich) im zukunftsweisenden Modell der freundschaftlichen oder ideologisch-harmonisierten Zusammenführung entschärft. Gehen wir hier auf diesen Text näher ein: Angestrebte Zielpunkte sind im Rahmen dieser politisierten Liebes- und Initiationsgeschichte (a) die Legitimation des Liebesverhältnisses von Robert und Anna ‒ sie Tochter des alten Thierberg, der eine ideologische Extremposition einnimmt, er ein gemäßigter Revolutionär und von Thierberg maximal distanziert; (b) die Versöhnung des alten Willi und Thierberg, die freundschaftlich verbunden, politisch-ideologisch aber entzweit sind; und (c) der Ausgleich für Nicht-Realisierung der endogamen Heiratsoption.

Ein selektiver Blick auf die Figuration offenbart, dass Hauffs Text die potenzielle Auflösung der Oppositionen innerhalb von ›Alt‹ und zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹ bereits in seiner Grundstruktur anlegt, ebenso wie er die Heterogenität von ›Welt‹ nicht nur für den Gegenwartszustand, sondern auch für die Zukunft postuliert, und so sein zeitreflexives Potenzial entfaltet. Jene Anlage lässt sich an den benutzten Klassifikationen und den jeweiligen semantischen Besetzungen von Figuren ablesen: Beide Repräsentanten von ›Alt‹ weisen lediglich in ihrer ›epochalen‹ Zugehörigkeit und bestimmten Korrelaten Differenzen auf, die der Text allerdings ‒ und dies ist entscheidend ‒ in seiner semantischen Grundordnung dominant setzt und damit eine Opposition zwischen beiden Figuren installiert. Zwar sind Thierberg und Willi annährend gleich alt ‒ zumindest sind beide derselben Altersklasse zugehörig ‒, jedoch tendiert nur Willi zu ›Jung‹, da er den Systemwechsel im Jahr 1806 nicht nur akzeptiert, sondern selbst aktiv vollzogen hat. Thierberg hingegen verharrt seinerseits im Glauben an eine alte, unwiederbringliche Ordnung, der sich ex negativo in der Antipathie gegenüber Napoleon manifestiert. Mit seiner reaktionär-feudalistischen Weltanschauung denkt und agiert er vergangenheitsorientiert und dadurch bedingt nicht zeitgemäß: Er sehnt die Wiederherstellung des Heiligen Römischen Reiches herbei und, damit verbunden, seinen eigenen, inzwischen verlorenen, feudalen Status. Den entstehenden Konflikt löst der Text mit Hilfe eines Artefaktes, das Napoleon zeigt, mit dem wiederum Thierberg ‒ ohne zu wissen, dass es sich um Napoleon handelt – eine positive Erfahrung verbindet. Die Darstellung Napoleons auf dem Gemälde ist mithin ein Signifikant mit doppeltem Signifikat: dem Signifikat des französischen Kaisers, den Willi politisch goutiert, und dem Signifikat des namenlosen »französische[n] Offizier[s]« (Hauff 1962a [1828]: 380), wie er in der persönlichen Erinnerung Thierbergs auflebt. Korreliert mit der Annäherung der beiden Alten durch das Gemälde ist auch die Vereinigung von Robert und Anna, die eine ›Verjüngung‹ Thierbergs nach sich zieht; Thierberg, der nun »im Glücke seiner Kinder die Tage seiner eigenen Jugend wieder[erlebt]« (ebd.: 411). Freilich versetzt der Text die Figur nur uneigentlich in die Jugend zurück, die Soziostruktur ›Alt‹ und ›Jung‹ bleibt bestehen – dies aber eben nicht mehr in Form einer Opposition, sondern in Form der tendenziellen Rücknahme der Differenzen im Sinne einer Familialisierung der befreundeten Häuser. Dazu trägt auch die ideologische Schnittmenge im Merkmal ›napoleonisch‹ zwischen Willi und Anna bei, die schon im Vorhinein auf ein Harmonisierungspotenzial des Textes hindeutet. Annas ideologische Position erscheint gegenüber derjenigen Alberts als die für den Text zukunftsweisende, während Alberts intendierte Handlungen zwar nicht sein eigenes persönliches Glück, dafür aber das des Liebespaares für die Zukunft absichert. Sie »hält es bald mit dem Alten, bald mit der neuen Zeit« (ebd.: 371), nimmt demnach eine Position zwischen Vergangenheitsorientierung und Gegenwartsbezug ein. Robert als Repräsentant eines potenziell zukünftigen Systems in Form einer deutschen Republik wird im Handlungsverlauf ideologisch gemäßigt und dadurch der maximal distanzierten Position Thierbergs angenähert; das Defizit seiner aktuell inkompatiblen Weltanschauung wiederum mittels Legitimation des Liebesverhältnisses durch die Ehe mit Anna kompensiert. Das entworfene Zukunftsmodell des Textes fokussiert folglich die ideologisch-mentale Einstellung der Figuren und die Realisierung persönlichen Glücks und zielt auf die Mäßigung von Extrempositionen und Amalgamierung der politischen Ideologien ›offen-napoleonisch‹ und ›demokratisch‹ ab, wie auch auf die Herbeiführung einer exogamen Eheschließung.

Einer Harmonisierung am Ende läuft jedoch zweierlei zuwider: die Umsemantisierung des Initianden sowie die Akzeptanz einer Heterogenität von ›Welt‹. Ersteres findet insofern statt, als der vermeintliche Protagonist der Erzählung hinsichtlich der realisierten Paarbildungsoption scheitert und ‒ mehr noch ‒ zur bloßen Helferfigur degradiert wird, die am Handlungsort das bereits bestehende Liebespaar unterstützt. Albert ist zwar temporalsemantisch auf den ersten Blick mit allen notwendigen Merkmalen versehen, die ihn zum potenziellen Kandidaten zur Paarbildung auszeichnen: Er erinnert fortwährend an die Zeit ›vor 25 Jahren‹ und reflektiert erstmals mit ernsten Absichten über »ein häusliches Verhältnis, an das Glück der Ehe« (ebd.: 383) in der Zukunft. Zudem begreift er die ernstliche Bedrohung des Liebespaares, stellt die eigenen Bedürfnisse zurück und hilft uneigennützig. Ein Problem aber neben der durch den Helferdienst gewährleisteten Zukunftssicherung des Paares sind Differenzen, die sich raumsemantisch ergeben und in Kommunikationsproblemen zwischen ihm und Anna offenbaren: Sie lehnt seinen Antrag mit dem Vorwurf der Tragik und des Pathos ab, ihn verwirren ihre »widersprechenden Zeichen« (ebd.: 378) auf nonverbaler Kommunikationsebene.

Als Zwischenergebnis – und zusätzlich zum Modifikationsaspekt der Phasenpluralisierung in Stifters Der Hagestolz – kann demzufolge festgehalten werden: In Anbetracht der aufgeworfenen Problematik fungiert das Erzählmodell der Initiationsgeschichte hier als Mittel zum Zweck, nicht mehr wie in der Goethezeit als Zweck selbst: Aus dem goethezeitlichen Modell herausgelöst wird das Verfahren der Fokalisierung einer jugendlichen Figur, die sich im heiratsfähigen Alter befindet und den Raum ihrer Kindheit verlässt ‒ keine Rolle spielen Entwicklung ebendieser Figur, ihre Bildung und Selbstfindung. Sie wird gleichermaßen im discours fokussiert, wie sie in der histoire aus dem Zentrum des Geschehens herausrückt. Angesichts nämlich einer negativ auf das Liebespaar einwirkenden Politisierung von ›Welt‹ gerät die Initiation des Subjekts hier in den Hintergrund. Eine Gefahr besteht nicht für den persönlichen Findungsprozess zwischen subjektiven Ansprüchen und Bedürfnissen auf der einen Seite und gesellschaftlicher Konformität auf der anderen, sondern sie ist in Form der grundsätzlichen und politisch motivierten Gefährdung von Liebe und Eheschließung durch die Bedingungen von ›Welt‹ gegeben. Diese wurzelt in der Ausdifferenzierung des soziokulturellen Systems wie auch in einer diskontinuierlichen Zeiterfahrung: Mit der Machtübernahme Napoleons und der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation kommt es zu einem plötzlichen Ordnungswechsel auf der Kollektivebene mit Auswirkung auf die individuelle Ordnung Thierbergs; für das Familienkollektiv ist die Verlagerung vom ›Schwabenland‹ nach ›Preußen‹ signifikant, die aus Figurenperspektive einem ›Bruch‹ innerhalb der Familie äquivalent ist. Insofern schließt der Text mit einer nur bedingten, einer eingeschränkten Harmonisierung: Er löst die Opposition zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹ auf, er postuliert und stärkt aber die Gegensätzlichkeit zwischen ›Preußen‹ und ›Schwaben‹ und damit die Heterogenität des aktuellen – und zukünftigen ‒ Zustands von ›Welt‹ auf soziokultureller und politischer Ebene. Wir werden darauf angesichts der Temporalsemantik des Raums noch zu sprechen kommen müssen. Eine Harmonisierung findet, so viel kann aber gesagt werden, nur scheinbar statt.

Einen noch deutlicheren Fall stellt Gutzkows Imagina Unruh dar ‒ deutlicher hinsichtlich der widersprüchlich gestalteten figürlichen Temporalsemantik und dem Postulat einer unmöglichen Harmonisierung von ›Welt‹. In Hauffs Text, so wird ersichtlich, dient die Schichtung der figürlichen Temporalsemantik der Potenzialität eines angestrebten, harmonischen Endzustands. Thierberg erscheint »wie in jugendlicher Kraft« (ebd.: 341); Anna ist »gewaltig stolz, daß sie vierundsechzig Ahnen hat« und ist »[a]uf der anderen Seite durch und durch napoleonisch« (ebd.: 371); General Willi ist in biologischer Hinsicht zwar dem Greisenalter zugeordnet, denkt und handelt jedoch zeitgemäß; sein Sohn Robert kann als Nachkomme einer ständegrenzen-übergreifenden Liebe nicht als eindeutiger Repräsentant des Adels gelten, jedoch dies genug, um seine Zugehörigkeit zum demokratischen – und damit zukunftsweisenden – Lager als markiert erscheinen zu lassen. Imagina Unruh funktionalisiert die Verschränkung von ›Alt‹ und ›Jung‹/›Neu‹ demgegenüber als unauflösbare, komplex-semantische Koppelung mit subjektinterner Verankerung (Alt ∩ Jung). Auffällig in dieser Hinsicht sind insbesondere die Vertreter der jungen Generation, die den semantischen Räumen ›Gesellschaft‹ und ›Kunst‹ zugeordnet sind: Imaginas Ehemann August befindet sich zwar im Übergang vom Jünglingsstatus zum Mannstatus und ist daher ›jung‹; als »Aelteste[r] der hoffnungsvollen Söhne« (Gutzkow 1999 ff. [1847]: 23) weist er aber zugleich das Merkmal ›alt‹ auf. Und trotz seiner Zugehörigkeit zur Generation der Nachkommenschaft, ist er, wie auch Feodore (und ebenfalls Imagina), Teil der aristokratischen Gesellschaftsschicht, deren Normen- und Wertesystem vom Text mit dem »Überlieferte[n]« (ebd.: 19) und ›Traditionellen‹ korreliert ist, und ‒ zumindest latent ‒ in Konflikt mit der liberalen Studentenschaft steht. Ersteren Gesellschaftsbereich mit allen seinen Elementen markiert der Text als ›alt‹, letzteren als ›modern‹. Feodore tritt mit ihren 24 Jahren, die sie als biologisches Alter aufweist, betont erfahren, gesellschaftlich etabliert und dominant in Erscheinung. Sie befindet sich im heiratsfähigen Alter, obgleich sie mit Erzähleinsatz bereits zweifache Mutter und verwitwet, folglich also bereits sozial eindeutig der Klasse des reifen Alters zugehörig ist. Hervorzuheben ist hinsichtlich dessen auch ihre ideologische Einstellung in Relation zu ihrem Verhalten bezüglich persönlicher Erfahrungen. Denn während sie auf der einen Seite im Kontext des gesellschaftlich genormten Verhaltenssystems streng konservativ und ordnungskonsolidierend auftritt, versucht sie auf der anderen ihre eigene Vergangenheit zu verdrängen und in Gesellschaftskreisen nicht als Thema aufkommen zu lassen, um auf diese Weise eine eigene individuell-familiäre Neuordnung herzustellen. Sei dieses Verhalten systeminhärent essenziell oder nicht, es deutet in jedem Fall auf die paradoxale Koppelung von ›Vergangenheitsorientierung‹ und ›Gegenwarts‹- bzw. ›Zukunftsorientierung‹ hin. Gleiches bei Imagina: Sie verkörpert zugleich eine Repräsentantin des alten Adelsgeschlechts von Unruh und eine Repräsentantin eines vom Text als ›neu‹ markierten Künstlertypus. Als Künstlerin agiert sie wiederum gleichermaßen retrospektiv, indem sie rekurrent Vergangenes rekapituliert, und progressiv, da der Text sie zwar als ›romantisch‹ operierende Künstlerin etabliert, das ›Romantische‹ aber modifiziert und mit neuen Merkmalen versieht: So etwa beschränkt sich die Grenzauflösung zwischen Imagination und Realität auf die Wahrnehmungssphäre der Protagonistin und erstreckt sich nicht ‒ wie noch in Texten der Romantik ‒ auf die fiktionsinterne Realität insgesamt (vgl. Lukas 1998a: 401); so vertritt Imagina ferner eine moderne, sich von der patriarchalischen Hegemonie lösende Frauenrolle; und so nimmt der Text explizit Bezug auf zeitgenössische Autorinnen (George Sand, Ida von Düringsfeld, Fanny Lewald) und läuft damit einer konsequenten Orientierung an der Epoche ›Romantik‹ zuwider. Freilich ist dies im weiterreichenden Zusammenhang der metatextuellen Selbstreflexion zu sehen, dem Phänomen der Entromantisierung, das der Text anhand seiner Künstlerfigur expliziert. Eine wichtige Feststellung hier aber ist, dass die genannten Beobachtungen offensichtlich auf eine intraepochale Invarianz zulaufen, die mit heterogener Zuweisung temporaler Merkmale beschrieben werden kann: Die Leitsemantik kann gar im einzelnen Subjekt angelegt sein und findet sich nicht allein in der übergeordneten Figurenkonstellation wieder.

2.2.2 Temporalsemantische Merkmale des räumlich-topografischen Umfeldes: Natur/Kultur, Artefakte, Epochen, Zeit-Konservierung

Figuren in narrativen Zusammenhängen, so lässt sich sagen, fungieren ganz generell als Träger von Zeitlichkeit, ihre spezifische zeitsemantische und -reflexive Gestaltung in der Zwischenphase resultiert daraus, dass das Literatursystem das von der Goethezeit übernommene Erzählmodell der Initiationsgeschichte überdenkt und modifiziert. Doch nicht nur Figuren selbst sind als Merkmalsbündel reflexiver Zeitstrukturen zu behandeln, auch ihr räumliches Umfeld ist es. Eine räumliche Temporalsemantik, so hatten wir vorläufig gesagt, resultiert aus der zeichenhaften Konkretisation von ›Zeit‹ in der Topografie einer Textwelt. Beachtenswert ist für uns nun die topologische Strukturierung des Raums hinsichtlich der Leitdifferenz bestehend aus ›Alt‹ vs. ›Jung‹. Mindestens vier Strukturverfahren grundieren diese temporalsemantische Codierung und erzeugen in der Zwischenphase zeitreflexives Potenzial: (1) die Modellierung von Kultur- und Naturräumen; (2) die Modellierung räumlicher Einheiten einer ›materiellen Kultur‹; (3) die Semiotisierung von ›Epochen‹ im Raum und (4) die ›Zeit-Konservierung‹ im Raum. Wir wollen diese Aspekte konturieren und an Beispielen erläutern.

Modellierung von Kultur- und Naturräumen. Modellierungen von Kultur- und Naturräumen umfassen topografisch situierte, entweder ›+ (sozio-)kulturell‹ oder ›− (sozio-)kulturell‹ beziehungsweise ›+ natürlich‹ oder ›− natürlich‹ attribuierte Teilräume einer dargestellten Welt in diachroner und synchroner Hinsicht.Footnote 11 Hierzu zählt der räumliche Umfang eines Weltmodells insgesamt, die topografische Lage und das Verhältnis von ›Natur‹ und ›Kultur‹, das Verhältnis von verschiedenen ›Kulturen‹ untereinander, aber auch die interne Strukturierung eines einzelnen Teilsystems. Wenn in Eichendorffs Die Entführung oder Das Schloß Dürande jeweils zu Textbeginn die räumliche Situierung entfaltet wird, so dient diese ebenfalls als reflexive Zeitstruktur. Alte Schlösser, RuinenFootnote 12, die in verwilderter Natur stehen und von dieser überwuchert werden, stellen den Schauplatz oder das Überbleibsel einer Neuverhandlung der Liebesproblematik dar: In dem einen Fall ist dies der Konflikt zwischen neurotisch fundiertem und latent-amourösem Geschwisterverhältnis und ›normaler‹ (wenngleich auch ständeübergreifender und daher ereignishafter) außerfamiliärer Paarbildung (Das Schloß Dürande); in dem anderen Fall der Konflikt zwischen zwei Paarbildungsoptionen, von denen die eine eindeutig goethezeitlich attribuiert und ›kulturell‹ forciert ist und zuungunsten der anderen abgelehnt wird (Die Entführung). Beide Problemkomplexe indizieren die Verhandlung von Zukunftskonzepten und -modellen, wobei der Raum eine zeitreflexive Teilkomponente formiert, mittels derer Zeit mit ›Kultur‹ und ›Natur‹ korreliert ist. Auf den Komplex ›Liebe‹ kommen wir am Ende dieses Kapitels zurück. Von Belang sind hier vorderhand Varianten der jeweiligen Raum-Zeit-Gestaltung.

Häufig – jedenfalls auffallend genug, um als Merkmal genannt werden zu können ‒ erscheinen Naturräume als Projektionsflächen zur reflexiven Gegenüberstellung von ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹. In Das Schloß Dürande ist es das titelgebende Schloss, das zeichenhaft für Ereignisse der Vergangenheit steht. Auf Ebene der Individualgeschichte stellt dies der Rachefeldzug Renalds dar, der seine Schwester Gabriele und den Grafen Dürande erschießt. Das Schloss ist daraufhin unbewohnt, verfällt und verkommt zur Ruderalfläche und verweist indexikalisch auf die Absenz des Grafen. Auf Ebene des Kollektivs ist es wiederum Zeichen eines vergangenen Systemzustands von ›Welt‹: Renald trat ebenfalls einen revolutionären Zustandswechsel los, ein Metaereignis innerhalb der Textwelt. Einen derartigen Grundzug der Zwischenphase belegt eine Reihe von Texten mit unterschiedlichen Settings, so, neben den genannten Texten von Eichendorff, Schefers Unglückliche Liebe, Gutzkows Die Wellenbraut, Hebbels Der Brudermord und Stifters Der Hochwald. Hebbels Der Brudermord etwa beginnt mit der Introspektion Eduards:

Es war eine mondhelle Winternacht. Eduard ritt langsam durch den Wald; alle die Bäume, welche ihm ihre Zweigarme entgegenstreckten, schienen ihm Denkmäler einer schönern Vergangenheit zu sein. Haben sie doch alle – dachte er bei sich selbst,– freundlich gegrünt und vielleicht manchem Wanderer erquicklichen Schatten gewährt, und stehen jetzt so starr, so trübe, als wären sie schon als Särge in die kalte Erde hinabgesenkt und eine ekle Behausung der Würmer geworden. »Tröstet euch mit mir, ihr traurigen Bäume«, rief er aus, »nicht euch allein ist der Frühling dahin geschwunden, auch mir ist er entflohn; aber ihr habt doch trinken dürfen seinen himmlischen Anhauch, mir indes ist er ungenossen vorübergezogen mit all seiner Wonne und hat mir den greulichsten Winter gebracht, ein Hochzeiter, der einer Leiche aufging.« (Hebbel 1965b [1832]: 250)

Unabhängig vom weiteren Verlauf der Erzählung betrachtet, an dessen Ende er selbst, wie auch seine Geliebte und ihr Entführer – Eduards Bruder – zu Tode kommen, liegt hier eine Konstellation vor, die sich genaustens in den Kontext der bisherigen Überlegungen eingliedert. Der Text baut – aus Sicht Eduards – eine Reihe von semantischen, zeitreflexiv funktionalisierten Relationen auf: Die Gegenwart korreliert er mit ›Winter‹, Trauer‹ und ›Tod‹, der er die Vergangenheit (belegt mit ›Frühling‹ und ›Leben‹) oppositionell entgegenstellt. Die Äquivalentsetzung zwischen ›Natur‹ und ›Ich‹ wird an der Zustandsveränderung innerhalb eines zeitlichen Rahmens verankert, wobei dies einer diskontinuierlichen Verschiebung gleichkommt. Denn auf ›Frühling‹ folgt im Denken Eduards nicht ›Sommer‹, sondern ›Winter‹. Wahrgenommen und erlebt wird die Gegenwart als defizitärer Zustand des »Kummers« und »Schmerz[es]« (ebd.), die aus einer Verlusterfahrung in der positiv evaluierten Vergangenheit hervorgehen und in eine durch Tod und Unsicherheit gekennzeichnete Zukunft überführen.

Stifters Der Hochwald wiederum besetzt die Natur mit der Funktion, eine überindividuelle Kollektivvergangenheit und eine unkultivierte ›Urvergangenheit‹ aufzuzeigen und diese gegen die Übergangszeit des Dreißigjährigen Krieges zu stellen: »Damals […] war weder Dorf, noch Weg, sondern nur das Thal und der Bach, jedoch diese noch schöner, noch frischer, noch jungfräulicher, als jetzt« (Stifter 1982b [1842/1844]: 233). Und: »Heute aber war der Tag gekommen, wo die Heerschaar der Gräser und Blümlein dieses Rasens, ungleich ihren tausendjährig stillen und einsamen Ahnherren, zum erstenmale etwas Anderes sehen sollten, als Laubgrün und Himmelsblau« (ebd.: 233 f.). Diesem, in der älteren (Vor-)Vergangenheit situierten natürlichen Urzustand stellt der Text eine romantisch anmutende Vergangenheit (»uralte[] Heidenzeit«; ebd.: 266) an die Seite, die er ebenfalls an einen Teilraum der Natur koppelt, einen See, den die Leute »für ein Zauberwasser halten« (ebd.: 262) und mit dem eine wunderbare Legende eines verschollenen Königs verbunden ist, und der sich während der Passionszeit in eine gemeingefährliche Menschenfalle verwandelt. Klar wird: In diesem Text fungiert Natur als Zeit-Speicher – folglich sind auch hier ‒ wie bei der Figur ‒ die Grenzen zwischen den einzelnen Klassifikationen fließend.

Modelliert sind Kulturräume als Räume mit dem Merkmal ›+ (sozio-)kulturell‹. Sie sind in jedem Fall ›kulturell‹ markiert und gegebenenfalls zusätzlich bewohnt von Gemeinschaften, können aber auch ›kulturell‹ markiert sein, ohne bewohnt zu sein. ›Kultur‹ entspricht der »hierarchisch geordnete[n] Gesamtheit aller Zeichensysteme, die in der Lebenspraxis einer Gemeinschaft verwendet werden« (Posner 2004: 364), und manifestiert sich in sozialen, materiellen und mentalen Teilsystemen (vgl. Nies 2011: 207 f.). Die hier relevante Relation lautet allgemein ›topografischer Raum‹ ⊂ ›Kultur‹ ↔ ›Zeit‹, mithin bezeichnend ist die wechselseitige Implikation von ›Raum‹ und ›Zeit‹: Der Raum ist Teil einer Kultur und impliziert Zeit und Zeitlichkeit unter bestimmten diegetischen Bedingungen, wie sie ein gegebener Text präsupponiert. Zeit und Zeitlichkeit implizieren andersherum Raum und Kultur in ihrer jeweils vorliegenden Verfasstheit und spezifischen Ausprägung. Das heißt, an der räumlichen Realisierung und seiner kulturellen Ausprägung ist die Spezifik eines Zeitmodells ablesbar, ebenso wie dieses Zeitmodell in einem Text überhaupt erst Grundlage für die räumliche Umgebung von ›Welt‹ ist und in deren Rahmen hervorgebracht wird.

Dass nun ebendieses Implikationsverhältnis in der Zwischenphase an Bedeutung gewinnt, belegt etwa neben dem exotischen Roman die bis in die zweite Jahrhunderthälfte zunehmende Verbreitung der Dorfgeschichte,Footnote 13 unter anderem mit Auerbachs Schwarzwälder Dorfgeschichten (1843‒1861),Footnote 14 Drostes Die Judenbuche, Gotthelfs Die schwarze Spinne oder Ottos Die Lehnspflichtigen. Bemerkenswert daran ist die Mehrfachcodierung des Handlungsortes ›Dorf‹, der gegenüber der als Fremdraum markierten ›Stadt‹ zwar durch prinzipiell positiv konnotierte Merkmale wie ›Homogenität‹, ›Familiarität‹ und ›Traditionsbewusstsein‹/-›wahrung‹ gekennzeichnet ist, ebenso aber veraltete und überkommene sozialmentale Werte und Normen aufweist, die insbesondere im Verhältnis zwischen Eltern- und Kindergeneration nicht selten zu nachhaltigen Konflikten und Zukunftsnegativierung führen. Im Kontext der Opposition ›Alt‹ vs. ›Jung‹ liegt das Grundproblem auf der Hand: Das Dorf ist unter den gegebenen anthropologischen und soziokulturellen Bedingungen der präsentierten Gegenwart nicht mehr tragbar, obwohl es nach wie vor als Lebensraum und ideales Wertesystem angestrebt wird. Dabei nutzen Texte von Auerbach auf topografischer Mikroebene die temporalsemantische Differenz zur ›Stadt‹ (Stifters Bergkristall hingegen konstruiert die Auseinandersetzung zweier Dörfer hinsichtlich der Dichotomie ›traditionalistisch‹ vs. ›modern‹). Fontanes Geschwisterliebe – dies nun keine Dorfgeschichte – stellt eine weitere Spielart der zeitreflexiven Funktionalisierung von Räumen dar, die den Raum der Handlung explizit als ›alt‹ benennt und deutlich von einem modernisierten Außenraum isoliert. Die Figuren jenes Außenraums wiederum reagieren auf die Bewohner des Handlungsraums abwertend und grenzen sich von ihnen ab. Ähnlich verfährt auch Ungern-Sternbergs Eine Gespenster-Geschichte aus alter Zeit, worin sich Figuren zwecks arrangierter Paarfindung auf ein altes Schloss der Ahnherren zurückziehen. Daneben können Texte – und zwar ausdrücklich auch solche, die nicht zum exotischen Roman zählen – großangelegte Topografien vorweisen: In Auerbachs Des Schloßbauers Vesele und Der Tolpatsch beispielsweise ist Amerika semantisiert als maximal entfernte Topografie und Raum der Zukunft; in dem einen Fall dient die Auswanderung dorthin als Zukunftskonzept, das als Vorwand und Lüge zum Geldraub dient (Des Schloßbauers Vesele), in dem anderen als tatsächlich realisiertes Zukunftsmodell, das zugleich aber ein relatives Scheitern vorführt (Der Tolpatsch).

Modellierung räumlicher Einheiten einer ›materiellen Kultur‹. Räumliche Einheiten einer materiellen Kultur, wie wir sie nennen wollen, sind mit diesen Kulturräumen verbunden und betreffen ihrerseits Modelle kulturell produzierter Artefakte, die die jeweiligen topografischen Teilräume einer Welt konstituieren und ausstatten. Gemeint sein kann damit eine Vielzahl an Produkten, die Räume auszeichnen, gliedern und hierarchisieren: alle Formen von Architektur, Hortikultur, Wohnräume und ihre Einrichtung. Der temporalsemantischen Konstitution und ihrer Funktionalisierung liegt die komplexe Relation ›Artefakte‹ ⊂ ›topografischer Raum‹ ⊂ ›Kultur‹ ↔ ›Zeit‹ zugrunde. Das heißt: Artefakte sind Konkretisationen von ›Kultur‹, wie sie sich in der Topografie entfaltet, und repräsentieren materielle Formen des kulturellen Selbstverständnisses.

Mit der Insel, dies hatten wir konstatiert, entwirft Stifter in Der Hagestolz einen Raum des ›Alten‹, mit dem in Form der Schichtung von ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ die zentrale Konfliktsituation zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹ ebenfalls topografisch abgebildet wird. Zusätzlich zeichnet sich bei ihr eine temporale Eigengesetzlichkeit aus, die sie von ihrem diegetischen Umfeld abgrenzt (»weil die Zeit gar so todtlangsam hin ging«; Stifter 1982a: 91). Zeit substantiiert sich nicht allein in der räumlichen Gesamtanlage; die räumliche Temporalsemantik fungiert darüber hinaus als manifester Bedeutungsträger des zentralen Problems des Textes. Auch Das Bild des Kaisers legt die Opposition zwischen ›Alt‹ und ›Jung‹ in Form der Gegenüberstellung zweier Burgen räumlich und nicht nur figürlich an (Abbildung 2.3).

Abbildung 2.3
figure 3

Temporalsemantik des Teilraums ›Schwabenland‹ in Hauffs Das Bild des Kaisers

Die nichträumliche Größe der ideologischen Einstellung und ihre epochale Zuordnung in der dargestellten Welt manifestieren sich im Räumlichen. Bestätigt wird damit die Leitdifferenz in besonderer Weise: Denn offensichtlich haben wir es nicht mit einer polaren Gegenüberstellung von ›Alt‹ vs. ›Jung‹ zu tun, die in der Opposition der Figuren Thierberg und Robert Willi bestünde, sondern mit einer Skalierung der politischen Achse und dadurch mit einer Ausdifferenzierung des ideologischen Gesamtsystems, die die Annahme eines heterogenen Status der Welt insgesamt noch bestärkt. Das heißt, im Kontext des Teilraums ›Schwabenland‹ findet sich ein Zusammenhang von vier, ideologisch unterschiedlich gelagerten und zugleich temporalsemantisch distinkten und lokalisierbaren Positionen, die topografisch auf beide Burgen verteilt werden und deren Konfliktpotenzial im Endzustand aufgehoben wird (Abbildung 2.4).

Abbildung 2.4
figure 4

Temporalsemantik des Raums und der Figuren in Hauffs Das Bild des Kaisers

Unter Einbezug der obigen Klassifikation des Kulturraums und unter Berücksichtigung der aus ›Preußen‹ stammenden Figur Alberts zeigt sich, dass es sich bei dieser Anordnung lediglich um eine Binnendifferenzierung des Raumes ›Schwabenland‹ handelt, der allerdings auf soziokultureller Ebene und auf Ebene der Familienhistorie in Opposition zu ›Preußen‹ steht (Abbildung 2.5).

Abbildung 2.5
figure 5

Raumgesamtordnung in Hauffs Das Bild des Kaisers

Die dargestellte Welt in Das Bild des Kaisers umfasst demnach ›Deutschland‹, das zu Erzählbeginn und über das Textende hinaus in einem Zustand der Gegensätzlichkeit begriffen ist und dessen temporale Situierung von den Figuren als »neuere[] Zeit« (Hauff 1962a [1828]: 333) umschrieben und als problematischer Gegenwartszustand wahrgenommen wird (vgl. ebd.: 345). Dementsprechend ist der Entradikalisierung (oder Relativierung) der ideologischen Positionen am Ende die Hoffnung auf eine bessere Zukunft gleichgesetzt, die von Figuren erträumt wird (vgl. ebd.: 348 f.), die der Text jedoch nur oberflächlich andeutet. Denn eine Lösung ergibt sich einzig für den Teilraum ›Süden‹, nicht aber für den Großraum ›Deutschland‹; das Erzählmodell der Initiationsgeschichte wird zugunsten einer ›politischen Geschichte‹ an den Rand gerückt. Aber nicht nur in politisch-ideologischer Hinsicht hebt der Text Differenzen hervor, sondern ebenso hinsichtlich mentaler Konzepte (›Deutschsein‹), sozialer Verhaltensweisen (Umgang mit Fremden) und hinsichtlich des kulturellen Selbstverständnisses (›Schwaben‹ vs. ›Preußen‹). Er unterstreicht Dichotomien und verankert dies im topografischen Raum, der letztlich einen übergeordneten Kulturraum (›Deutschland‹) mit zwei disparaten Subräumen (›Nord‹- und ›Süddeutschland‹) vereint. Alberts Reise inszeniert er in diesem Kontext als Grenzüberschreitung ‒ als Hoffnungsträger einer zukünftigen Welt funktionalisiert er hingegen Robert, der politisch für eine deutsche Republik einsteht, der vor allem aber – wie das anfängliche Gespräch zwischen ihm und Albert im Eilwagen belegt ‒ zwischenmenschlich zu vermitteln versucht und die Einebnung der mentalen, sozialen und kulturellen Differenzen zwischen ›Norden‹ und ›Süden‹ anstrebt. Nur am Rande wird erwähnt, dass sich das Geschehen »vor einigen Jahren« (ebd.: 328) zuträgt ‒ dass sich die Ordnung der dargestellten Welt innerhalb dieses Zeitraums im Sinne einer Homogenisierung verändert hat, wird indes gänzlich offengelassen. Auszugehen ist daher von einem anhaltenden disparaten Verhältnis zwischen Nord- und Süddeutschland, das sich metonymisch im Verhältnis der Figuren im semantischen Raum ›Jung‹ und im Hinblick auf ›Liebe‹ fortträgt. Anna und Robert sind zwar vereint; jedoch hat Albert dabei das Nachsehen und kehrt resigniert in seinen Ausgangsraum zurück.

Semiotisierung von ›Epochen‹ im Raum. Die Semantisierung der Burg Thierbergs als Raum des ›Alten‹ weist ebenfalls auf die drittgenannte Klassifikation innerhalb des gegebenen Rasters hin: die zeichenhafte Materialisierung ›epochengeprägter‹ Räume. Bei seiner Ankunft nämlich stellt Albert Anna gegenüber fest: »Kann man etwas Romantischeres sehen, als die Türme mit Epheu bewachsen, diesen Torweg mit den alten Wappen, diese Zugbrücke, diese Wälle und Gräben? Glaubt man nicht, das Schloß von Bradwardine oder irgend ein anderes aus Scottschen Romanen zu sehen?« (Ebd.: 340) Dass die Zuschreibung ›romantisch‹ einen besonderen Zweck erfüllt und auf ein Verständnis von ›Romantik‹, ja, von ›Goethezeit‹ als vergangene Epoche insgesamt abhebt, wird gestützt durch den Verweis auf Walter Scott, dessen angesprochene Tendenz zur Situierung von ›Welten‹ im Mittelalter wiederum auf eine wesentliche Affinität der Romantik hindeutet, deutlicher noch durch die Nennung von Goethes Götz als einem Initialtext des Sturm und Drang. Bestätigt wird der Eindruck, den Albert äußert, auch durch die Semantisierung der Burg von Erzählerseite aus (siehe Abb. 2.3). Thierbergs Burg wird demnach doppelt codiert: zum einen als ›alt‹ im Sinne von ›lange Zeit existent‹ ‒ im Text semantisch korreliert mit ›Dunkelheit‹, ›Verfall‹, ›Renaturierung‹ bzw. ›De-Kultivierung‹ ‒; zum anderen als ›zeitlich vergangen‹, im Sinne von ›einer nichtaktuellen Epoche angehörend‹ und zwar gekennzeichnet und spezifiziert durch ›romantisch‹.

Eine solche explizite Romantisierung findet sich ebenfalls in Imagina Unruh, worin der Protagonistin vonseiten anderer Figuren ›romantische‹ Züge und Verhaltensweisen zugeschrieben werden. Daneben interessant ist die Raumordnung, die durch eine horizontale und eine vertikale Raumachse aufgebaut ist, wobei die horizontale Achse die Realität der Textwelt wiedergibt und der Text auf vertikaler Achse eine Differenz zwischen ebendieser Realität und einer Traumwelt Imaginas verortet. Er evoziert darin eine wunderbare Parallelwirklichkeit infolge der Bewegung der Figur von ›oben‹ nach ›unten‹, von der Erdoberfläche in eine Bergwerkgrube. Durch ebendiese Bewegung auf vertikaler Ebene verbunden mit den semantischen Implikationen, die das ›Verlassen der Realität‹ mit sich bringt, motiviert der Text die später durch den Vater forcierte Überführung Imaginas in den semantischen Raum ›Gesellschaft‹ (»Sie sollte […] zur endlichen Zähmung ihrer Verwilderung nach Breslau in eine Pension geführt werden«; Gutzkow 1999 ff. [1847]: 5). Das Kindheitserlebnis ist folglich entscheidend für Imagina selbst wie auch für ihr soziales Umfeld – Imagina orientiert sich daran in ihrer Weltsicht; Auslöser ist es für unüberwindbare Konflikte zwischen ihr, ihrem Vater und Ehemann August. Genaugenommen verfährt der Text sogar entromantisierend: Die wunderbare Parallelwelt ist ausschließlich emphatischen Künstlern zugänglich (das heißt: nur Imagina) und wird durch diese überhaupt erst aufgerufen: Die Bergwerkgrube, Imaginas »Lieblingsversteck[]« (ebd.: 5), verwandelt sich aus Sicht der schlafenden Protagonistin in König Kobalts Thronsaal, eine Halle »von wunderbarer Schönheit« (ebd.: 6) und erfüllt von einem magischen, »blaue[n] Glanz« (ebd.), in der Kobalt und der aus noch größerer Tiefe aufsteigende Teufel einen Pakt abschließen. Imagina wird im Rahmen ihrer eigenen Imagination Zeugin, wie Kobalts Sohn, Prinz Wismuth, im Tausch gegen die sieben Todsünden der Weg in die »Oberwelt zu seiner fernern Entwicklung« (ebd.: 10) geebnet wird. Hinsichtlich des Geschehens, des auftretenden Personals und nicht zuletzt der Gestaltung des Raums ist hier fraglos eine romantische Grundanlage zu erkennen. Allerdings bleibt die ontologische, nichtwunderbare Grundordnung des semantischen Gesamtfeldes im Gegensatz zu Texten der Romantik erhalten: Nicht etwa treten die Figuren des Teufels oder König Kobalts nach ihrer Einführung in Imaginas Traumerlebnis auch realiter in Erscheinung. Und auch Otto von Sudburg ist nur beschränkt ‒ in der Wahrnehmungssphäre Imaginas nämlich ‒ Prinz Wismuth äquivalent – er selbst kann dies nach Durchsicht der fantastischen Blätter Imaginas allenfalls nachvollziehen; anderen Figuren ist die Verbindung gänzlich unverständlich. Während also die diegetische Wirklichkeit geprägt ist durch die Gleichzeitigkeit von nicht zu vereinbarenden Sicht- und Lebensweisen (›Kunst‹ vs. ›Gesellschaft‹; ›alte Gesellschaftsordnung‹ vs. ›neue Gesellschaftsordnung‹) und durch die prinzipielle (das heißt subjektinterne und subjektexterne) Hegemonie des ›Alten‹ gegenüber dem ›Jungen‹, erschließt sich mit Imaginas Erlebnis ein fundamental differentes Raumordnungssystem, das in Opposition zur Realität steht und mit signifikanten Merkmalen ausgestattet ist, die das Paradigma ›romantisch‹ anreichern. Zugleich wird mit ihm der romantische Impetus unterlaufen, indem es der Text klar auf die Figur beschränkt und nicht auf ›Welt‹ insgesamt ausweitet. Dafür spricht auch das Scheitern Imaginas in sozialer Hinsicht: die doppelte Entsagung und ihre gesellschaftliche Isolation – beides jedoch im Vergleich zur romantischen Spielart hochgradig verharmlost. Für die Textkonzeption ist folglich das Gestaltungsprinzip der Entromantisierung bedeutungskonstituierend: Der Text referiert auf die Romantik – räumlich und figürlich – und kennzeichnet sie zugleich als inkompatibel mit dem zugrundeliegenden Weltsystem (vgl. Abschn. 4.1).

Anhand dieses exemplarischen Falls ist für den Gesamtzusammenhang der Zwischenphase generell zu konstatieren, dass speziell die Attribute ›goethezeitlich‹ beziehungsweise ›romantisch‹ für die Semantisierung des Raums signifikant sind, schließlich wird an ihnen als einem Teilaspekt der Entromantisierung die problematische Abgrenzung der aktuellen Epoche durchexerziert. Allgemein gesprochen gerät hier die Relation ›topografischer Raum‹ X/›Kultur‹ A vs. ›topografischer Raum‹ Y/›Kultur‹ B ↔ ›Zeit‹ in den Blick ‒ wobei A und B ›Kulturen‹ unterschiedlicher ›Epochen‹ indizieren. Das heißt: Mit Hilfe einer Semiotisierung von ›Epochen‹ im Raum adaptiert die Zwischenphase Modelle der Goethezeit, spezifiziert diese, stellt sie topografisch aus und setzt sie in Beziehung zu nachgoethezeitlichen Alternativmodellen. In der Modellierung des diegetischen Raums verhandelt das Literatursystem damit das Grundproblem der Präsenz der Goethezeit und schafft auf diese Weise ein metatextuell-selbstreflexives Moment. Wie an Gutzkows Text ersichtlich, verläuft die Spezifizierung über die Verwendung bestimmter Zeichenrepertoires, deren Status als bloßes Repertoire im discours gekennzeichnet und zusätzlich mit unserer Leitdifferenz korreliert ist.

›Zeit-Konservierung‹ im Raum. Ein weiterer Aspekt, der mit der selbstreflexiven Grundachse, wie zuletzt erwähnt, zusammenhängt und die Grundopposition entfaltet, wird offenbar, wenn Figuren auf alte Schriftstücke und diverse andere Artefakte stoßen, auf Zeitarchive oder auch Semiophoren (vgl. Vedder 2013: 79 f.), und diese zu decodieren hoffen oder ihnen gar von anderen Figuren auferlegt wird, sie zu entschlüsseln und in den eigenen Lebenszusammenhang einzuordnen. Begegnet ist uns eine solche Form bereits am Rande der Behandlung des Textes von Stifter: die Bildnisse von Ludmilla und von Victors Vater, zu deren Rezeption der Oheim drängt und infolge derer Victor die eigene Zukunftsplanung umstellt. Die Gemälde fungieren als eine Art ›Schlüsselglied‹ zwischen Vergangenheit und Gegenwart: Victor erkennt Hanna im Abbild seiner jungen Ziehmutter Ludmilla und sich selbst im Abbild seines Vaters – mit den Resultaten des Eingeständnisses seiner Liebe zu Hanna und der späteren Heirat sowie das nachträgliche und metonymische Glück auf Ebene der Elterngeneration. Die Raumklassifikation ›Konservierung von Zeit‹ meint also die Speicherung von Informationen auf einem medialen Träger, die auf einen (längst) vergangenen (aber noch immer relevanten) Zustand von ›Welt‹, eines Kollektivs oder einzelnen Subjekts referieren. Wichtig für unseren Zusammenhang ist die Bindung solcher ›Konserven‹ an bestimmte Räume (wie die Insel des Oheims in Der Hagestolz) sowie ihr ereignismotivierender Charakter, also ihr maßgeblicher Einfluss auf das Leben der Figuren und die erzählte Geschichte. In der Regel verfahren Texte so, dass diese Merkmale oder Elemente (a) zunächst verborgen sind und entdeckt werden müssen oder geschützt sind und erreicht werden müssen und sie (b) auf Figuren motivierend einwirken, Handlungen auslösen und Konflikte nach sich ziehen. Die dieser temporalsemantischen Anlage des Raums zugrundeliegende Relation lautet: (›Text‹ ↔ Zeit) ⊂ ›Raum‹. Bedeutet: Ein wie auch immer medial konstituierter ›Text‹ steht in wechselseitiger Implikation mit ›Zeit‹ und ist Element eines bestimmten topografischen Raums.

Auch dazu ein ausführlicheres Beispiel: Bekanntlich nutzt Stifters Die Narrenburg zum Aufbau seiner Temporalsemantik das titelgebende räumliche Element. Darüber hinaus liegt mit diesem Text ein aufschlussreicher Fall für den Konnex zwischen Archivierung von Zeit, Zeitreflexion und epochentypischer Zukunftsmodellierung vor.Footnote 15 So werden gleich zu Textbeginn von der Erzählinstanz zwei notwendige Bedingungen genannt, die ein potenzieller Erbe der Burg Rothenstein zu erfüllen hat:

[E]rstens mußte er schwören, daß er getreu und ohne geringsten Abbruch der Wahrheit seine Lebensgeschichte aufschreiben wolle […]. Diese Lebensbeschreibung solle er dann […] in dem feuerfesten Gemache hinterlegen, das zu diesem Zwecke in den rothen Marmorfels gehauen war, der sich innerhalb der Burg erhebt[.] (Stifter 1980a [1841]: 321)

Als zweite Auflage »mußte er schwören, daß er sämmtliche bereits in dem rothen Steine befindlichen Lebensbeschreibungen lesen wolle.« (Ebd.) Mit der topografisch oberhalb des Dorfes Fichtau befindlichen Burg kreiert der Text einen Raum, der diverse, auf unterschiedliche Epochen referierende ›Texte‹ akkumuliert und damit die Vergangenheit strukturell-manifest speichert, sie allerdings gleichermaßen vor seiner Umwelt verschließt. Er umfasst architektonische ›Texte‹ wie die Sphinxe in einem von Graf Johannes erbauten, inzwischen ungenutzten Brunnen; einen griechischen Bau des Grafen Jodok, genannt Partheon; den gotischen Turm des Prokopus und Grabstätten der Schlossbewohner. Zusätzlich finden sich Gemälde der Ahnen, »eine ganze Reihe der herrlichsten Bilder […] von den besten Meistern gemalt« (ebd.: 382), und die im roten Steintresor aufbewahrten autobiografischen Schriften der Schlossherren, die alles in Allem auf eine 700-jährige Vergangenheit zurückweisen und von denen die Lebensgeschichte Jodoks die wesentliche Rolle für die Rekonstruktion der Vergangenheit wie auch für die Modellierung der Zukunft spielt. Zum Erzählzeitpunkt, der mit 1836 genau und explizit datiert wird, liegt die Burg »beinahe in Trümmern« (ebd.: 323). Das heißt, der Raum selbst indiziert demnach zusätzlich Zeitlichkeit, indem er verfällt, und er konserviert ›Zeit‹ in Form von Produkten vom Mittelalter bis in das 19. Jahrhundert. Mit Heinrich tritt nun ein Normalsubjekt in Erscheinung, das als entfernter Verwandter der Familie Scharnast die doppelte Aufgabe zu bewältigen hat, die »unklare Vergangenheit« und die »holde Gegenwart« (ebd.: 369) der Textwelt miteinander auszusöhnen und seine Liebe zu Anna, die Tochter eines Wirts, zu legitimieren. Die Lösungsfindung erfolgt mit Antritt seines Erbes und in der Erfüllung der gestellten Bedingungen: Er rezipiert die Lebensgeschichte des letzten Schlossherren Jodok, dessen Darstellungen in die frühe Goethezeit fallen und den Geschehnissen der Rahmenerzählung entgegengestellt werden. Denn während Jodoks Geschichte tragisch endet – im Tod beinahe aller beteiligten Figuren und in der Einsamkeit des Erzählers ‒, ist Heinrichs Lektüre einem Lernprozess äquivalent und hat die Neuordnung der dargestellten Welt zur Folge, die Tilgung einer sozialen Grenze zwischen der ›Narrenburg‹ und Fichtau, die in direkter Verbindung zur Eheschließung zwischen Heinrich und Anna steht. Eine deutliche Markierung erfährt das am Ende entwickelte und von der Erzählinstanz ausführlich dargelegte Zukunftsmodell: geprägt durch Glück, Prosperität und Renovierung des ›Alten‹.

In der Anlage einer in Artefakten konservierten Vergangenheit – die mit Ereignishaftigkeit belegt ist – und mit der Auseinandersetzung mit diesen Artefakten in einer gänzlich ereignislosen Gegenwart ist schließlich die dritte Möglichkeit aufgezeigt, ›Alt‹ und ›Jung‹ räumlich zu modellieren; wenngleich deutlich geworden sein dürfte, dass diese Möglichkeiten, wie schon die Klassifikationen der Figurenmodelle, miteinander korrelieren können: so im Raum der ›Narrenburg‹, der nicht nur als Zeitspeicher fungiert, sondern zugleich mehrere ›Epochen‹ repräsentiert.

Wichtig wäre demnach festzuhalten, dass zeitreflexive Erzähltexte der Zwischenphase stets die konfliktauslösende und auf den Initiationsprozess einwirkende Leitdifferenz entwickeln und sie räumlich oder figürlich konkretisieren. Initianden bewegen sich zwischen tradierten Vorstellungen, Werten und Normen, Verhaltens- und Denkmustern auf der einen und neuen (anthropologischen) Problemen, offenen Handlungsmöglichkeiten und geänderten Verhältnissen der dargestellten Welt, die andere als die überlieferten Muster erfordern, auf der anderen Seite: Entweder verhalten sie sich gemäß tradierten Mustern in einem neuen Umfeld oder sie verhalten sich ›neuartig‹ in einem Umfeld, das tradiertes Handeln und Denken erfordert ‒ daher sind in jedem Fall die oben angeführten Modifikationen der Initiationsgeschichte zu beobachten. Zeitreflexion ist eine strukturelle Teilklasse von Selbstreflexivität: Mit der Modellierung von ›Alt‹ vs. ›Jung‹ vor dem Hintergrund der Initiationsgeschichte und der Thematisierung von Zeitproblemen codiert das Literatursystem Strukturen als Fremdreferenzen auf das vorangegangene Literatursystem und kennzeichnet durch Dekonstruktion und Modifikation des Erzählmusters Ablösungsschwierigkeiten, ohne allerdings diese Ablösung tatsächlich zu vollziehen. Gerade letzterer Argumentationsstrang ist zwar nicht neu und wird allenthalben aufgegriffen,Footnote 16 wie allerdings ein solches Merkmal der Zwischenphase, das ja ein literaturhistorisches Signum darstellt, textstrukturell konkret verankert ist, wird eben erst überhaupt erfassbar insbesondere durch die Rekonstruktion des Umgangs mit Zeit.

2.3 Zeitkonflikte in der Transitionsphase: Vergangenheitsbewältigung, Aktivierung des Zeiterlebens, Zeitenüberlagerung

Der Initiand wird mit Eintritt in T2 direkt mit Zeit konfrontiert und ebendies formiert den wesentlichen Konfliktherd. Schon auf mittlerem Abstraktionsniveau betrachtet lässt sich allen Unterschiedlichkeiten der Texte zum Trotz eine Problematik ausmachen, in deren Rahmen Figuren in irgendeiner Weise in der Zeit zurückblicken müssen, in die persönliche Vergangenheit, in die der Familie oder eine soziokulturell relevante Vergangenheit – wobei die konkrete Form dieser Rückblicke wie auch die Konsequenz für die Zukunft divergieren. Alles das hat zweierlei zur Folge: Zum einen wird dadurch Zeit von Texten relevant gesetzt, und zwar insofern, als die fokussierte Gegenwart immer auch einen entscheidenden Anteil ihrer Semantik aus der Vergangenheit speist und gleichzeitig die Selbstüberwindung in eine Zukunft anstrebt. In der Gegenwart ›überlagern sich‹ die Zeiten. Zum anderen stellt sich die Frage, wie die Zukunft denn im Angesicht dieser Zeitenüberlagerung aussehen, welche Zukünfte es geben kann. Und das bedeutet: Es kommt zur Aktivierung des Zeiterlebens bei den Figuren und zur Kollision zwischen Vorstellung und Machbarkeit zukunftsbezogener Sachverhalte.

Während wir also bis hierher das Modell insgesamt und das Umfeld des Initianden in den Blick genommen und bezüglich seines zeitreflexiven Potenzials bestimmt haben, gilt es nun, die Transitionsphase näher zu beleuchten, und zwar hinsichtlich derjenigen Varianten, in denen Protagonisten es mit der genannten Problematik zu tun bekommen. Auch hierbei möge es an dieser Stelle genügen, die hauptsächlichen Felder zu erfassen. Wir greifen diese auf und führen sie fort, wenn es im nächsten Kapitel um das Verhältnis von ›Subjekt‹ und ›Welt‹ sowie um die Koppelung regressiver und progressiver Strukturen geht.

2.3.1 Konfrontationen mit der Vergangenheit

Ob nun der Eintritt in T2 mit dem Übertritt in die Altersstufe ›Jugend‹ zusammenfällt oder nicht, in Texten der Zwischenphase markiert er mehr oder minder deutlich den Wechsel von einer Semantik der Zeitlosigkeit des Subjekts hin zu einer Semantik des Zukunftsträgers. Damit jedoch zusätzlich auffallend in Verbindung gesetzt ist die Konfrontation mit der Vergangenheit. Wir haben dies teilweise schon aufgezeigt: Der kleine Bauernsohn in Die Kuh wird vom Vater vorzeitig in die Rolle des Zukunftsträgers gezwängt – ihm bleibt ein weiteres Leben versagt. Victor in Der Hagestolz wird mit seinem topografischen Raumwechsel in einen seltsam konstituierten Raum versetzt, den er nicht versteht, und muss mit seinem Oheim in die Vergangenheit blicken, die er nicht kennt, um endlich doch noch entlassen zu werden. Albert in Das Bild des Kaisers wechselt von einer Orientierung am Raum (Deutschland) über zur Betrachtung der eigenen und familiären Vergangenheit. Imagina in Imagina Unruh verfolgt ihr (›romantisches‹) Kindheitserlebnis und ist während der Ehe damit beschäftigt, vergangenes Geschehen schriftlich zu fixieren. Und Heinrich in Die Narrenburg ist die Aufgabe, sich mit dem Schloss der Ahnen zu beschäftigen, sogar per Dekret vorgeschrieben. Die Liste der Beispiele ließe sich fortführen. Sie alle zeigen eine bestimmte Proposition auf, die explizit oder implizit an das Subjekt herangetragen wird:

Für die Realisierung deiner Zukunft ist eine Auseinandersetzung mit irgendwie gearteten Problemen der Vergangenheit unerlässlich.

Freilich ist dies weder zwangsläufig im tradierten Konzept des Initiationsmodells vorgesehen, noch den Initianden von vornherein bewusst. Es handelt sich mutmaßlich um eine neuartige Handlungskomponente, die deshalb notwendig erscheint, da sich Kontexte, in denen sich Initiationsprozesse vollziehen, geändert haben. Die maßgeblichen Änderungen von ›Welt‹ betreffen das Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart; die Vergangenheit und ihre Äquivalente dominieren die Gegenwart. Wenn also T2 gleichbedeutend ist mit der (fokussierten) Gegenwart, so ist T2 im Literatursystem der Zwischenphase auch gleichbedeutend mit Vergangenheitsbewältigung und der lösungsorientierten Integration von ›Vergangenheit‹ in die Handlungsgegenwart zum Zweck der Gestaltung einer eigenen Zukunft (Abbildung 2.6).

Abbildung 2.6
figure 6

Die Konfrontation mit ›Vergangenheit‹

Angestoßen werden kann diese Aufgabe für Protagonisten durch diverse Konstellationen: (1) Prozesse der Vergangenheit sind unabgeschlossen oder gescheitert – die Vergangenheit reicht dadurch in die Gegenwart hinein: Im Hagestolz ist die Paarbildung zwischen Ludmilla und Victors Oheim gescheitert und muss durch die Kindergeneration kompensiert und nachgeholt werden. In Bergkristall löst erst die gemeinsame Rettung der Kinder eines ›grenzgängerischen‹ Schusters die bis dahin vorherrschende Rivalität zweier Dörfer. In Die schwarze Spinne ist es der tief in der dargestellten Vergangenheit abgeschlossene Teufelspakt, der als Fluch in Form der Spinne bis in die Gegenwart präsent ist und die Gesellschaft immer wieder verfolgt und bedroht. (2) Oder vergangene Prozesse sind abgeschlossen, müssen (oder wollen) aber wiederholt werden – ohne dass dies allerdings möglich ist: Dem Helden in Die Narrenburg obliegt die Wiederholung des immer Gleichen, er handelt als Erster der Erben aber so, dass er Geschichte nicht fortschreibt, sondern Vergangenes restauriert – und kann infolgedessen triumphieren. Ein ganz anderer Fall liegt mit Tiecks Waldeinsamkeit vor: Die Romantik, und mit ihr das von Tieck selbst geprägte Lebens- und Raumkonzept der ›Waldeinsamkeit‹, sind in der dargestellten Gegenwart aus Sicht des Protagonisten zur leeren Begriffshülle verkommen. Dessen Versetzung in eine tatsächliche ›Waldeinsamkeit‹ ist von außen forciert und dient lediglich einer Intrige. (3) Oder aber die eigene, persönliche Vergangenheit hat einen wie auch immer gearteten Schaden erlitten, der bis in die Transitionsphase hineinstrahlt. Man denke dabei an die vielen Texte, die ein Familiendefizit geltend machen oder eine Loslösungsproblematik von der Herkunftsfamilie, die, wie beispielsweise im Maler Nolten oder in Die Epigonen, Subjekte mit neurotischen Zügen zur Folge haben (vgl. Wünsch 1997: 216), oder intra- und intergenerative (Quasi-)Beziehungen nach sich ziehen, wie in Geschwisterliebe, Barbier Zitterlein, Das Schloß Dürande und Der Hochwald, oder andersgeartete Störungen bei Subjekten auslösen, sie nicht gesellschaftsfähig hinterlassen, wie ansatzweise bei Imagina von Unruh, deren Verhalten zwar nicht primär durch die defektive Familie motiviert, sondern von vornherein in der Figur angelegt ist und durch ihr Höhlenerlebnis nur verstärkt wird, bei der die Lesart einer Störung durch vernachlässigte Erziehung der Text aber durchaus nahelegt. Damit verknüpft ist die Familiengeschichte, deren Vergangenheit immer wieder maßgeblichen Einfluss auf das Subjekt nimmt, sei es wie im Fall von Stifters Der Hagestolz, sei es wie im Fall von Schückings/Drostes Der Familienschild (worin die Problematik sehr viel weiter in die Vergangenheit reicht), sei es in der mehrschichtigen Art und Weise in Die Narrenburg oder in der einfachen Variante, dass, wie in Tiecks Die Ahnenprobe, erst die Klärung eines in der Vergangenheit qua Urkunde zertifizierten Abstammungsverhältnisses eine Liebe legitimiert. (4) Oder die Vergangenheit ist unklar und stellt ein Problem dar, da ihr Einfluss auf die Gegenwart nicht absehbar ist. In Zschokkes Der tote Gast instrumentalisiert ein heimgekehrter Hauptmann die alte Sage um einen mordenden Geist, um damit sein abergläubisches Dorf in Angst und Schrecken zu versetzen und dadurch schließlich die Verbindung zu der ihm zugeneigten Frau herzustellen. Die Sage wird dabei getragen von einem fantastischen Impetus und ihrer festen zeitlichen Verankerung in der Vergangenheit; ihre Funktionalisierung und Fiktionalisierung entspricht der ›Entzauberung‹ von Welt in einer nur vermeintlich ereignisreichen Gegenwart (vgl. Abschn. 4.4). Weniger eindeutig ›entzaubert‹ ist die Gegenwart in Ungern-Sternbergs Eine Gespenster-Geschichte aus alter Zeit – der Status des fantastischen Elements des Textes bleibt am Ende ungeklärt. Die Konfrontation mit der unklaren, geheimnisvollen, ja wunderbaren Vergangenheit ist aber auch hier ausschlaggebend für die glückende Paarbildung. Ähnlich – gleichwohl in kleinerem Rahmen und mit minderer Tragfähigkeit hinsichtlich der zukunftsbildenden Funktion von Liebe – verfährt Hebbels Eine Nacht im Jägerhause: Eine Schauergeschichte und das Gebaren eines alten Jägers bereiten den misstrauischen Gästen eine schlaflose Nacht. (5) Oder aber die Vergangenheit dient als Vorbild, dem eine ereignislose Gegenwart entgegensteht, zum Beispiel in Kurzʼ Liebeszauber, worin der Erzähler nur noch schreibend die ereignisreiche Vergangenheit einzufangen vermag, während er selbst lediglich lernend im WitwenstübleinFootnote 17 sitzt.

Es ließen sich sicher weitere Varianten aufzählen. Entscheidend an dieser Stelle ist: Es handelt sich um einen Konnex bestehend aus Individual-, Mentalitäts- und Sozialgeschichte, der hier auf das Subjekt einwirkt. Die Leitdifferenz zeigt sich unter diesem Gesichtspunkt betrachtet als dichotomische Anlage einer Kollision von Vergangenheitsorientierung und Zukunftsausrichtung, die dadurch Kontinuität des Gegenwartsgeschehens durch Diskontinuität substituiert: Das Subjekt möchte ja seine Zukunft gestalten, es wird aber, aus welchen Gründen auch immer, zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit angeleitet.

Genauer zu klären wäre dementsprechend, wie Konfrontationen mit der Vergangenheit aussehen, welche subjektinternen und -externen Voraussetzungen geschaffen sein müssen und wie die Gegenwart – in Weiterführung des Basiskonzepts – konkret gestaltet ist. Denn hierin entscheidet sich die Zukunft: Anzunehmen wäre, dass sie ausschlaggebend für die epocheneigene Ausbildung von Zukunftsmodellen sind, die ihrerseits wiederum eine zeitreflexive Spezifik indizieren, die die Zwischenphase kennzeichnet. Zurück zum Ausgangsbeispiel: In Der Hagestolz liegen verschiedene Komponenten in Kombination vor, die auf Victor einwirken und infolge derer er bestimmte Probleme zu bewältigen hat. Aus seiner Sicht handelt es sich bei der Reise zum Oheim um den Beginn seiner Transitionsphase – das Verlassen seines heimischen Umfeldes, die Reise als Mannesaufgabe von Ludmilla proklamiert und die Fremdheit des ihn erwartenden, neuen Umfeldes wie auch die Aussicht auf seine Berufsausbildung bestätigen das. In dieser Hinsicht dient die angesprochene Kaschierung von T2ʼ auf Figurenebene der Blendung Victors, um ihn zur eigentlichen Problematik hinzuführen. Es ist nämlich nicht sein Weg, der im Mittelpunkt des Interesses steht, sondern die Aussöhnung mit ungelösten Problemen der Vergangenheit: Die Initiationsgeschichte wird mithin – wie in Das Bild des Kaisers – zweckentfremdet. Konkret verläuft die Konfrontation (mit dem Einstellungswandel Victors) wie folgt:

Das Übersetzen zur Insel. Auf dem Kahn erfährt Victor vom alten Schiffer, dass es auf der Insel »sehr schön war […] in den vergangenen Tagen« (Stifter 1982a [1845/1850]: 65) und sie in »sehr alter, alter Zeit« (ebd.) als christlich-religiöser Raum umgestaltet wurde, indem Mönche übersetzten und das Kloster erbauten. Die Insel repräsentiert einen Raum, der metonymisch die Christianisierung des Umlandes abbildet, zugleich in der Gegenwart aber als säkularer Raum erscheint, dem Victor in dieser Hinsicht im Verlauf angeglichen wird (»[Es] fiel ihm ein, daß er heute zum ersten Male sein Morgengebet vergessen habe«; ebd.: 85). Der Raum weist also einerseits die Semantik einer weit in die Vergangenheit reichenden Zeit auf. Zugleich, so hatten wir bereits gesagt, überlagert diese Zeitsemantik die ›Gegenwart‹ – erstens in Form blühender Bäume, zweitens durch die Präsenz Victors (vgl. ebd.: 88) – und vergeht Zeit langsamer als im Außenraum. Victor ist unfähig zu verstehen (vgl. ebd.: 68, 71, 76, 78 u. 82), er wird mit dem Raum-Zeit-Problem buchstäblich konfrontiert: Er hat sich, so wird deutlich, mit beidem auseinanderzusetzen.

Hagestolz vs. Victor. Der Gegensatz zwischen beiden Figuren wird maximal evoziert in der Opposition ›Leben‹ vs. ›Tod‹ (»Es war ein sehr starker Gegensatz, wie Victor in dem Zimmer dieses alten Mannes stand«; ebd.: 88). Der Oheim verweigert zunächst die Kommunikation:

›[D]as Mittagmal ist genau um zwei Uhr. Stelle deine Uhr nach dieser dort, und komme darnach.‹

Victor erstaunte und fragte: ›Ihr werdet mich also vor dieser Zeit gar nicht mehr zu sprechen verlangen?‹

›Nein,‹ antwortete der Oheim.

›So will ich hinaus gehen, um euch in eurer Zeitverwendung nicht zu stören, und will den See, die Berge und die Insel betrachten.‹

›Tue, was dir immer gefällt,‹ sagte der Oheim. (Ebd.: 89 f.)

Diese Barriere führt so weit, dass Victor zwischenzeitlich das Verwandtschaftsverhältnis aufkündigt (vgl. ebd.: 102). Die Situation ändert sich erst durch eine entscheidende Verschiebung auf beiden Seiten: Der Oheim erkennt die Andersartigkeit zwischen Victor und dessen Vater Hippolit (vgl. ebd.: 116 u. 119) und sieht ein, dass Victor Träger auch der eigenen Zukunft ist. Victor wiederum begreift die eigene Verantwortung gegenüber der Elterngeneration und die Hilfsbedürftigkeit des Alten und ändert daraufhin seine Einstellung:

Victor wußte nicht, wie ihm war. Er hatte lange auf den heutigen Tag gewartet – nun sah er den merkwürdigen Mann, den er eigentlich haßte, vor sich stehen und bitten. Das alte eingeschrumpfte Gesicht kam ihm unsäglich verlassen vor – ja es war ihm, als zittere sogar irgend ein Gefühl darinnen. (ebd.: 113)

Wir haben es mit Perspektivwechseln beider Figuren zu tun, von einer solipsistischen Einstellung hin zu einer altruistisch-verantwortungsbewussten bei Victor sowie von einer fatalistischen hin zu einer altruistisch-fürsorglichen beim Oheim. Beide Figuren werden im Sinne der Zukunftssicherung der Familie zusammengeführt. Eine Konfrontation von ›Vergangenheit‹ (in der Person des Oheims) und ›Gegenwart‹ (Victor) stellt der Text demnach als essenzielle Maßnahme zur Modellierung von ›Zukunft‹ aus.

Die Heranführung an die Familienhistorie und zwei Portraits. Die erste unliebsame Auseinandersetzung mit der Familiengeschichte erfährt Victor, als er das Bildnis seines Vaters zu Gesicht bekommt. Bemerkenswert ist, dass Victor seinem Vater sehr ähnelt, er demzufolge als dessen zweites Erscheinungsbild wahrgenommen wird. Die Gefahr des Zusammenhangs zwischen Bildnis und Victor besteht zunächst in der Interpretation durch den Oheim: Er hält Victor für einen zweiten Hippolit und verurteilt ihn indirekt, indem er dem Vater vorhält, »immer eitel gewesen« (ebd.: 97) zu sein, während er selbst »viel schöner« (ebd.) gewesen sei und sich im Gegensatz zu diesem nicht habe malen lassen.

Victor, der sich seines Vaters so wie seiner Mutter gar nicht mehr erinnern konnte, da sie ihm beide, zuerst die Mutter und sehr bald darauf der Vater in frühester Kindheit weggestorben waren, stand nun vor dem Bilde dessen, dem er das Leben verdankte. In das weiche Herz des Jünglings kam nach und nach das Gefühl, das Waisen oft haben mögen, wenn sie, während andere ihre Eltern in Leib und Leben vor sich haben, blos vor den gemalten Bildern derselben stehen. Es ist ein von einer tiefen Wehmut reiches, und doch einen traurig süssen Trost gebendes Gefühl. Das Bild wies in eine weite längst vergangene Zeit zurück, wo der Abgebildete noch glücklich gewesen war, so wie der Betrachter jezt noch jung und voll der unerschöpflichsten Hoffnungen für diese Welt ist. Victor konnte sich nicht vorstellen, wie vielleicht derselbe Mann später in dunklem einfachen Roke und mit dem eingefallenen sorgenvollen Angesichte vor seiner Wiege gestanden sein mag. Noch weniger konnte er sich vorstellen, wie er dann auf dem Krankenbette gelegen ist, und wie man ihn, da er todt und erblaßt war, in einem schmalen Sarg gethan und in das Grab gesenkt habe. Das alles ist in eine sehr frühe Zeit gefallen, wo Victor die Eindrücke der äußeren Welt noch nicht hatte, oder dieselben nicht für die nächste Stunde zu bewahren vermochte. Er sah jezt in das ungemein liebliche, offene und sorgenlose Angesichtchen des Knaben. Er dachte, wenn er noch lebte, so würde er jezt auch alt sein, wie der Oheim; aber er konnte sich nicht vorstellen, daß der Vater dem Oheime ähnlich sehen würde. (Ebd.: 97 f.; Hervorhebungen von mir, S. B.)

Die Bildbetrachtung löst eine Erinnerung aus, die der Figur nicht (mehr) vorhanden ist, und erfüllt damit eine initiale Funktion zur Auseinandersetzung mit ›Zeit‹. Was sich hier nachvollziehen lässt, ist eine Aktivierung des (virtuellen) Zeiterlebens: Victor imaginiert die vergangene Zeit seines Vaters. Dem Text erscheint dies an dieser Stelle wichtiger als die Konzeption von Zukunft, die die Figur ja zu Beginn der Erzählung noch ins Auge gefasst hatte. Die entscheidende Einsicht der eigenen Aufgabe in der Familienhistorie kommt dann allerdings Victor erst in der Betrachtung des anderen Bildnisses:

Endlich zog er es mit einer staubigen goldenen Kette aus einem Fache hervor. Er wischte das Glas des Bildes mit dem grauen Rokärmel ab, reichte es Victor, und sagte: ›Siehst du!‹ Dieser aber wurde eine Purpurflamme und rief: ›Das ist Hanna, meine Schwester.‹ ›Nein,‹ sagte der Oheim, ›das ist Ludmilla, ihre Mutter. Wie kannst du denn auf Hanna kommen? diese war noch lange nicht geboren, als das Bild gemalt wurde.‹ (Ebd.: 125)

Mit der Heirat Hannas kommt Victor dem Rat des Oheims nach (vgl. ebd.: 123), und mehr noch: Er ehelicht Hanna, die – das Bild beweist es – der jungen Ludmilla zum Verwechseln ähnlich sieht, und holt damit nach, was der Oheim zu seiner Zeit versäumt hatte: nämlich Ludmilla zu heiraten. Die Vereinigung der Kindergeneration ist der nachträglichen Vereinigung der Elterngeneration äquivalent.

Dies führt nun wohl nur eine Realisation der Konfrontation des Initianden mit der Vergangenheit vor. Und doch lässt sich in Anlehnung an deren zentrale Bedeutung, die ihr der Text zuschreibt, für das Literatursystem insgesamt ableiten, dass sie ein allgemeines Merkmal darstellt, das uns noch in mehrfacher Hinsicht begegnen wird, sei es in der Ausformung und strukturellen Gegenüberstellung von ›Regression‹ und ›Progression‹ oder im Rahmen kunstreflexiver und letztlich selbstreflexiver Textzusammenhänge.

2.3.2 Aktivierung des Zeiterlebens

Die Konfrontation mit der Vergangenheit ist also von besonderer Virulenz. Dabei ist jedoch eine Aktivierung des Zeiterlebens mit Übertritt in die Transitionsphase nicht notwendigerweise gegeben und kann für Protagonisten auch unbewusst ablaufen (vgl. Lukas 2012b: 170 ff.). Zwar haben auch sie die Aufgabe zu bewältigen, ›Vergangenes‹ in den eigenen Handlungskontext zu integrieren, sie vollziehen dies aber ohne dabei ein reflexives Augenmerk auf Zeit zu legen. Demgegenüber sind nun aber solche Fälle besonders sinnfällig, in denen Figuren klar wird, dass sie dem Problem ›Zeit‹ gegenüberstehen: Ihr Zeiterleben wird initialisiert. Wie schon gesagt: Bei Betreten des ihm fremden Raums ›Schwabenland‹ hebt Albert in Das Bild des Kaisers im Gespräch mit Robert zunächst auf die synchrone Differenz zwischen Nord- und Süddeutschland ab, die vornehmlich in Form unterschiedlicher mentaler Konzepte, im Umgang mit Fremdem und in sprachlicher Hinsicht hervorsticht. Im weiteren Geschehensverlauf jedoch wendet er sich zusehends der Familienhistorie und Fragen der eigenen Zukunft zu und wechselt damit in seiner Perspektive von der Erfassung des Gegenwartsmoments hin zur Konzentration auf die diachrone Historizität seines persönlichen Umfeldes – einschließlich auch der eigenen Zukunftsplanung. Folglich wird durch seine Erlebnisse rund um die Familien Thierberg und Willi sein Erleben von Zeit angestoßen und aktiviert. Etwas anders in Imagina Unruh: Imagina durchlebt die eigene Transitionsphase und überspringt sie gleichermaßen fremdmotiviert in Form der Zwangsheirat mit August. Die paradoxale Anordnung – wie auch ihr quasiromantisches Kindheitserlebnis – führt bei ihr zu einer latenten Retardierung, die sich in der Orientierung an der Vergangenheit äußert: Alle von ihr hervorgebrachten Erzeugnisse beziehen sich auf Sachverhalte der unmittelbaren Vergangenheit oder auf das einschneidende Erlebnis in den Bergwerkgruben.

Doch das Phänomen der Aktivierung des Zeiterlebens findet sich bereits in der Goethezeit. In Wielands Agathon beispielsweise sieht sich der titelgebende Protagonist nach seiner Verbannung aus Athen einer vermeintlichen »Ungewißheit ausgesetzt« (Wieland 1986 [1766/1767]: 21). ›Vermeintlich‹ deshalb, da das dominante Konsistenzprinzip der sinnstiftenden Ordnung, dem die dargestellte Welt unterliegt, natürlich die Behebung dieser Schieflage vorsieht und am Ende in größtmöglicher Harmonie – siehe etwa das höchst freundschaftliche Verhältnis zwischen Psyche und Danae – auflöst. Wiederholt verspricht sich die Figur eine »bessere Zukunft« (ebd.: 42), die ihr im Verlauf ihrer Entwicklung mehrfach probeweise zugedacht wird, bis zum Schluss jedoch immer wieder versagt bleibt – dazu zählen die Stationen in Delphi und Athen, dann bei Danae und Hippias und in Syracus. Der Text motiviert dies vom Ende her als Notwendigkeit, um den idealen Ausgleich von Tugend, Gemüt und Vernunft zu erkennen und zu erfüllen. Während seines Liebesabenteuers mit Danae etwa klagt Agathon über »die Kargheit der Zeit« (ebd.: 173), den Zustand der temporären Aufgabe seiner Tugenden erlebt er als Zustand des Zeitenthoben-Seins, zunächst mit der »Hoffnung einer immerwährenden Dauer« (ebd.: 176), dann als »Verschwendung von Zeit« (ebd.: 188). Im glücklichen Endzustand resümiert er: »Die glückliche Veränderung, welche die Versetzung in den Schoß der liebenswürdigsten Familie, die vielleicht jemals gewesen ist, in seinen Umständen hervorbrachte, veränderte notwendiger Weise auch die Farbe seiner Einbildungs-Kraft.« (Ebd.: 531) Er wird am Ende in Tarent heimisch, betätigt sich als Wissenschaftler, betreibt fächerübergreifende Studien – worin die Geschichtsschreibung und das Studium des Altertums eine besondere Stellung einnehmen (!) – und lebt innerhalb eines freundschaftlich-familiären Verbundes.

Die Bewusstwerdung von Zeit also ist ein durchaus prädeterminiertes Merkmal goethezeitlicher Prägung und für sich genommen kein Spezifikum der Zwischenphase. Beachtenswert wäre sie aber nicht nur im Rahmen einer systematischen Behandlung der Reflexion von Zeit und als (fakultative) Komponente zeitreflexiven Erzählens über Epochengrenzen hinaus, sondern tatsächlich ist sie hilfreich zur Auswertung der epochenspezifischen Zeitreflexion unseres Zeitraums. Wir möchten nämlich annehmen, dass sie als subjektinterne Weichenstellung die Konfrontation mit der Vergangenheit besonders befördert – obwohl sie kein Garant dafür ist, dass die Auseinandersetzung damit für die Figur erträglich oder gar wünschenswert ausgeht. Der Figur Eduard in Hebbels Der Brudermord ist die Zeitproblematik, in der sie sich in der Handlungsgegenwart befindet, durchaus bewusst – und doch bewahrt er nicht Ruhe genug, um nicht den Entführer seiner Geliebten zu töten und daraufhin in Verzweiflung sich selbst und seine Partnerin zu richten. Der Text korreliert zwar semantisch Zeitproblematik einerseits und anthropologische Problemstellung andererseits, nicht aber korreliert er sie kausallogisch. Das Bewusstsein über die Konfliktlage in der Gegenwart, das bei der Figur Trauer und Reflexion auslöst, bringt der Text, nicht aber die Figur, in Verbindung zur Katastrophe. So wird auf Basis des aktivierten Zeiterlebens klar: Das, was die Figur für sich selbst problematisch erachtet, entwirft der Text als problematische Anthropologie.

Doch erneut zurück zum ausführlich behandelten Beispiel. In Der Hagestolz äußert sich Victor zu Beginn: »Es ist nun für alle Ewigkeit ganz gewiß, daß ich nie heiraten werde.« (Stifter 1982a [1845/1850]: 13) Wesentlich daran ist die Relationierung von ›Ewigkeit‹ und ›heiraten‹: ›Ewigkeit‹T denotiert zugleich Zeit und ihre Aufhebung in Zeitlosigkeit; die Negation von ›heiraten‹ impliziert die Absage an einen Endzustand, der in dieser Konzeption allein auf soziale Bindung, Ehe und Gründung einer Familie reduziert wird und von ›Jung‹ so unbedingt vermieden werden will (»die lächerlichen Bande eines Weibes tragen, und wie der Vogel auf den Stangen eines Käfigs sitzen?«; ebd.). Angesprochen und in einen Sinnzusammenhang gesetzt sind damit zwar die beiden zentralen und miteinander korrelierten Problemfelder, die der Text verhandelt – Zeit und Initiationsgeschichte –; die Aussage aber wird direkt im Anschluss vonseiten der Erzählinstanz relativiert (vgl. ebd.: 14). Jene konstatiert damit (»welch ein räthselhaftes, unbeschreibliches, geheimnißreiches, lokendes Ding ist die Zukunft, wenn wir noch nicht in ihr sind«; ebd.) – bestätigt durch Ludmilla und den Oheim – Unwissen und Fehlverhalten der Jugend, die denn auch, zumindest in der Person Victors, durch dessen Aufenthalt auf der Insel, eines Besseren belehrt wird. Die Figurenäußerung leitet demnach nicht nur über zur verhandelten Grundproblematik, sondern zeigt den Status an, in dem sich der Jüngling befindet: nämlich noch im ›zeitlosen‹ Zustand des Kindes, obschon im biologisch vorgerückten Jugendalter. Während Ludmilla im Gespräch mit Victor fortwährend über Zeit resümiert – ihre Jugend, den Gegenwartszustand Victors und seine Zukunft, die Vergangenheit seiner Eltern thematisiert –, verhält er sich auffallend verschlossen und weiß allein gegenüber Hanna von der Notwendigkeit zu sprechen, als Mann »in unsern Zeiten« (ebd.: 42) auf Reisen gehen zu müssen und auf die Möglichkeit einer eventuellen Rückkehr hinzudeuten, um sich später im Geschwisterglück »ewig, ewig treu« (ebd.: 47) zu bleiben. Die Unwissenheit der Jünglinge ergibt sich vor der Vergleichsfolie desjenigen Wissens, das die Alten – vom Text gestützt – kommunizieren. Ihre Handlungsweisen werden zugleich indirekt als falsch gekennzeichnet, da sie in ihren Ansichten unglücklich sind (vgl. ebd.: 17, 22 u. 27).

Der Wechsel erfolgt dann nach Verlassen des Raums und mit Eintritt in ein »neues Thal« (ebd.: 53): »[D]er Raum legte sich zwischen ihn und das Haus, das er verlassen hatte, und die Zeit legte sich zwischen seine jetzigen Gedanken und die letzten Worte, die er im Haus geredet hatte.« (Ebd.) Der Naturraum wird in der Perspektive Victors »seltsam« (ebd.: 59; vgl. bes.: 68) und »undurchsichtig[]« (ebd.: 60) beschrieben, während sein Zeiterleben erst auf der Insel gestört und damit nachhaltig aktiviert wird. Die Insel zeichnet ein gegenüber der Außenwelt retardierendes Zeitteilmodell aus, das der Text als Entnarrativierung gestaltet. Auf Figuren- und Textebene wird dahingehend wiederholt auf die Langsamkeit des Zeitverlaufs hingewiesen, die in Verbindung mit einer betonten Ereignislosigkeit steht. Bereits am ersten Tag seines Aufenthalts fällt Victor die ›Zeitenkollision‹, die Schichtung von ›Vergangenheit‹ und ›Gegenwart‹ ins Auge, und er vermeint zudem, bereits ein Jahr auf der Insel zu verweilen (vgl. ebd.: 95). Am zweiten Tag sieht er das Bild seines Vaters, das »in eine längst vergangene Zeit« (ebd.: 97) zurückweist. Für die darauffolgenden Tage bemerkt die narrative Instanz massive Monotonie, gekennzeichnet durch einen immer gleichen Tagesablauf und auffallend rangniedrige Geschehensmomente. Verstärkt werden die schwer greifbare Raum-Zeit und ihre betonte Andersartigkeit an dieser Stelle auch durch die Vielzahl an unbestimmten Ellipsen.

Alles das hat den folgenden Effekt: Der Text konfrontiert den unbedarften Victor mit einer extremen Form des Zeitmodellwechsels, aktiviert sein Zeiterleben, versetzt ihn dadurch nicht nur in mentalpsychischer Hinsicht in den Status eines Jünglings, sondern schafft zugleich die Voraussetzung für die Hinwendung zum ›alten‹ Lebensmodell. Victors Bewusstwerdung von Temporalität und ihrer Konzeption durch die alte Generation substituiert den klassischen Bildungsweg des Helden und ist Grundlage, dafür die wesentlichen Werte ›Ehe‹ und ›Familie‹ zu erkennen, wohingegen das Bildungsideal eines autonomen Selbst beziehungsweise eines harmonischen Ausgleichs von Heteronomie und Autonomie verworfen wird. Zeitreflexion ist folglich eine wichtige Komponente der impliziten Poetik des Textes, dient sie schließlich der Domestizierung von ›Jugend‹ im Sinne von ›Alt‹ und fundiert das Modell einer vergangenheitsrestaurativen Zukunft, wie es für Stifter typisch ist (vgl. Blasberg 1998). Aktiviertes Zeiterleben befördert dabei beides: die Einsicht Victors, das ›richtige‹ Konzept zu wählen, und die zeitreflexive Anlage des Textes insgesamt.

2.3.3 Die Kollision zwischen Zukunftskonzept und Zukunftsmodell: Die ›Tendenz zur Mitte‹

Gesetzt nun also den Fall, dass der Initiand mit der Vergangenheit konfrontiert wird und diesen Vorgang gegebenenfalls zusätzlich reflektieren muss, so steht dadurch seine Zukunft auf dem Spiel: Das, was er sich für sein späteres Leben erhofft, ersehnt, erwartet und plant, tritt in einen Gegensatz zu dem, was tatsächlich auf ihn zukommen wird. Das Zukunftskonzept der Figur kollidiert mit dem Zukunftsmodell des Textes. Auch das begegnet uns bereits in der Goethezeit, etwa im Gegensatz zwischen angestrebter und realisierter Liebe oder im Falle der Opposition zwischen Zufall und Ordnungswirken (zum Beispiel in Wilhelm Meisters Lehrjahre [1795/96]). In der Zwischenphase erscheint das Auseinanderfallen von Konzept und Modell aber nun radikalisiert umgesetzt – und zieht dementsprechend diverse Effekte nach sich: die Reduktion als dominantes Strukturprinzip in Lebenslaufmodellen, die Domestizierung der Figur hinsichtlich jeglicher Leidenschaften, seine Ent-Erotisierung, Resignation und Pessimismus, ihre Absage an die Welt und ihre Neurotisierung sowie die bestimmte Abgrenzung vom Fremden bis hin zum unbedingten Endogamie-Bestreben.

Der Held oder die Heldin fügen sich am Ende in ihr Schicksal, sie durchlaufen einen Annäherungsprozess an eine Normkonformität, werden assimiliert und übernehmen einen vorgegebenen Werte- und Normenkanon. Oder aber sie scheitern und zeigen dadurch ex post die Notwendigkeit der Aufgabe ihres Zukunftskonzeptes an. Zu fragen wäre für glückende Initiationen – seien sie positiv gewertet oder resignativ hingenommen –, welches Bedeutungsraster ›Glück‹ aufweist, schließlich spielt diese Kategorie in den meisten Texten eine nicht unwesentliche Rolle – wobei Titel wie Laubes Das Glück und Mügges Der Weg zum Glück seine Bedeutsamkeit nicht nur nahelegen, sondern auch ihre Erscheinungsjahre verraten, dass ›Glück‹ ab Mitte der 1830er-Jahre eine Umsemantisierung hin zu einem reduzierten, gemäßigten Glück im ›Kleinen‹ erfährt, das als ernstzunehmende Option neben anderen steht. Obwohl die genannten Texte durchaus unterschiedlich damit umgehen: von einer betonten Hinwendung zum ›kleinen Glück‹ bei Laube und der ebenso betonten Abwendung davon bei Mügge. Zu klären wäre für beide Fälle des Verlaufs von Initiationen auch, welche alternativen Zukunftskonzepte angeboten und verworfen oder realisiert werden – und warum auch sie nur bedingt zum Erfolg führen. Beispielsweise für Tiecks Waldeinsamkeit ist das Abändern eines romantisierenden Lebenskonzeptes gleichbedeutend mit einer Verabschiedung auch eines ›romantischen‹ Daseins in der Zukunft. Der Held triumphiert, weil er sich von romantischen Vorstellungen und Lebensgrundsätzen distanziert und der Realität durch Flucht und ›Rettung seiner Braut in letzter Minute‹ ins Auge blickt – im Übrigen nicht ohne den Einfluss glücklicher Umstände und Zufälle. In Auerbachs Tolpatsch erfüllt der Protagonist hingegen alle ihm auferlegten Bürden, erhofft sich eine Zukunft mit der von ihm gewählten Partnerin und muss am Ende eine andere Frau ehelichen und ein unglückliches Dasein in Amerika fristen.

Für beide Fälle wie auch für scheiternde Initiationen müssen wir von einer ›Tendenz zur Mitte‹ ausgehen, die Texte der Zwischenphase als Orientierungspunkt festlegen und sich an ihr ausjustieren, und zwar hinsichtlich der Grundachsen der Heterogenität und der Anthropologie (vgl. Sottong 1992: 270–277; Hoffmann 2002: 378 ff.). Wenn, mit Sottong (1992: 254) gesprochen, Texte bis 1830 die Heterogenität von ›Welt‹ unaufgelöst bestehen lassen, obwohl ihre Harmonisierung angestrebt worden ist – Hauffs Das Bild des Kaisers wurde unter diesem Gesichtspunkt besprochen –, und Texte nach 1830 Heterogenität tendenziell entschärfen oder gar tilgen – wie bei Stifter –, so deutet doch beides auf jene ›Tendenz zur Mitte‹ hin, die die Ordnung der dargestellten Welt als übergeordnetes Merkmal des Literatursystems – sowohl in sozialer als auch in ideologischer und anthropologischer Hinsicht – zu dominieren scheint (vgl. auch Eke 1994: 46). Auch besteht auf ihrer Basis die Maßgabe eines Abgleichs mit Werte- und Normenkanons, um die Tragfähigkeit von Konzepten zu prüfen, ebenso wie mit ihr festgelegt wird, was ›Glück‹ überhaupt ist oder sein kann.

Die soziokulturelle Weltordnung wie auch die literarische Anthropologie orientieren sich dabei am Paradigma ›Bürgerlichkeit‹, das als tragendes Element dieses ›Systems der Mitte‹ fungiert. Sie formiert sich erstens in Form einer dezidiert bürgerlichen Anthropologie und dem »Entwurf eines neuen personalen Leitbildes […], dem ein spezifisch bürgerliches Selbstverständnis zugrunde liegt« (Lukas 2000: 335). Im Verlauf der 1840er-Jahre nimmt diese Anthropologie ob ihres pessimistischen und materialistischen Impetus extreme Züge an (hinsichtlich der Sanktionierung und Verdrängung menschlicher Leidenschaften [vgl. ebd.: 336 f., 338]) und stellt dem ›bürgerlichen‹ Personalleitbild ein variantenreich ›wildes‹ Gegenbild entgegen, das semantisch mit von der ›Mitte‹ abweichenden sozialen, ethnischen, verhaltensbezogenen oder mentalen Codierungen korrespondiert.Footnote 18 Die Versetzung von Figuren oder Figurenkonstellationen in das ›bürgerliche‹ System verläuft in diesem Zusammenhang mittels individueller oder kollektiver »Zähmungsprozesse« (ebd.: 355), gestaltet als Vorgänge der ›Normalisierung‹. ›Bürgerlichkeit‹ ist folglich zweitens das bestimmende und repräsentative Wertesystem in Textwelten (vgl. Sottong 1992: 138, 139 f. u. 143):Footnote 19

  • Es setzt einige der sozialgeschichtlichen Begrifflichkeiten und Merkmalssetzungen ebenfalls dominant: die Hochachtung individueller Leistungen, die Idealisierung der Familie, die Affinität für patriarchalische Organisationsformen, die Verpflichtung im Denken der Aufklärung, die Tendenz zu historischem Denken und die Vorliebe für Geschichtswissenschaften.

  • Zu beobachten sind positiv bewertete Protagonisten, die Angehörige der mittleren Schicht des dargestellten Sozialsystems sind.

  • Das System grenzt sich nach ›oben‹ (vom Adel) und nach ›unten‹ (von der Unterschicht) ab; bevorzugte Angriffspunkte sind der Adel und die (katholische) Orthodoxie.

  • Die ideologische Modellbildung verläuft in Richtung einer Besetzung der Mittelposition in dreigliedrigen Systemen; angesteuert und bekräftigt wird also das ›System der Mitte‹ – verstanden als ideologisches Zentrum, als Größe zwischen zwei anderen Größen, als ausgleichende, mäßigende, harmonisierende Kraft.

  • Und es umfasst darüber hinaus weitere ›bürgerliche‹ Theoreme, namentlich die betonte Dominanz des ›richtigen‹ Wertesystems gegenüber der (adeligen) ›Abstammung‹, die Möglichkeit des Übertritts bei positiven Persönlichkeitsanlagen und schließlich die Integrationswilligkeit des mittleren Systems und seine Fähigkeit einer Aufnahme der »Besten des Adels« (ebd.: 143) bei gleichzeitiger Isolierung des Adelstandes und dessen Unfähigkeit »zur ›Verjüngung‹« (ebd.).

›Bürgerlichkeit‹ dient als zukunftsentscheidendes Regulativ und wird von (positiven) Figuren angestrebt und gilt insofern als Leitbild, als Figuren – sollten sie es nicht anstreben – entsprechend auf den ›rechten‹ Weg gebracht werden, ihre Konzepte fallen lassen und andere, die eine bürgerliche Werteverpflichtung vorsehen, annehmen. Augenscheinlich liegt aber zumindest ein Problem vor: Unentscheidbar nämlich ist, ob es sich bei der literarischen Bürgerlichkeit um ein tatsächlich neuartiges Phänomen handelt, oder ob nicht vielmehr ein größerer Komplex zu denken wäre, in dem die Ausrichtung an einer ›bürgerlichen Mitte‹ zeitreflexiv funktionalisiert ist. Denn ›Bürgerlichkeit‹ ist im Kontext der Zwischenphase bekanntlich alles andere als neu, hat sie sich doch konzeptionell seit der Aufklärung ihren Weg gebahnt; sie erfährt wohl aber einen anderen Umgang als noch im 18. Jahrhundert und rückt bei Problemverhandlungen thematisch an zentrale Stelle.

So ist nun dieser Orientierungspunkt – konzipiert man ihn abstrakt als ›Tendenz zur Mitte‹ – nicht zuletzt auch in Initiationsgeschichten angelegt und fungiert darin als Zielpunkt der Handlung. Obgleich Albert in Das Bild des Kaisers am Ende resigniert nach Brandenburg zurückkehrt und die Heterogenität von ›Welt‹ in der semantischen Tiefenstruktur des Textes bestehen bleibt, wird die Tendenz einer Bewegung hin zu einer ideologischen Mitte für den topografischen Kontext des Schwabenlandes ja durchgespielt und ist demnach durchaus im Text – sogar im Handlungszentrum – präsent: So werden die Extrempositionen Thierbergs und Roberts eben nicht getilgt, sondern entschärft und in Richtung einer gemäßigten Mittelposition verschoben. Das Bürgertum als solches klammert der Text aus, er steuert vielmehr eine ideologische Mitte an, die am ehesten in der Befürwortung einer konstitutionellen Monarchie bestehen könnte. In Der Hagestolz wird das Handlungsziel von ›Alt‹ bestimmt; ›Jung‹ hat sich dem zu fügen. Deutlich am kulturellen und topografischen Außenrand positioniert erscheint der Oheim, der aber Victor gegenüber offensiv das ›richtige‹ Lebensmodell proklamiert. Er wird infolge seines Lebensweges – vornehmlich mit der Semantik im Endzustand – als Negativfolie (›Hagestolz‹ = Todesäquivalent) entworfen, vor der sich der ›Werdegang‹ Victors vollzieht und ihn in den heimischen Innenraum der Familie zurückführt. Die Aufgabe des geforderten Zukunftskonzeptes und das realisierte Zukunftsmodell fügen sich demgemäß in den Kontext einer anthropologisch-kulturellen und bürgerlichen Mitte. Das Modell richtet sich an dieser Mitte aus, Konzepte, die mit ihren Maßgaben und Bedingungen unvereinbar sind, müssen verworfen werden oder führen unvermeidlich zum Scheitern.

Die dahinterstehenden, zeitreflexiven Operationen, die ja zur Bestimmung der Zwischenphase wesentlich erscheinen, sind komplex und bedürfen einer weiteren Erläuterung. Erstens betrifft dies den Umgang mit Figuren: Wir werden zur Klärung dessen näher auf das Reduktionsprinzip im Initiationsmodell zu sprechen kommen müssen. Zweitens betrifft das die Frage nach der zukunftsbildenden Funktion von Liebe, die – wie auch in der Goethezeit – zentrales Thema des Literatursystems ist, hier jedoch – im Gegensatz zur Goethezeit – in Konkurrenz zu einer Reihe anderer Werte tritt und teils verharmlost und trivialisiert, teils in ihrer drastischen Effektivität für das Figurendasein verschärft wird. Drittens betrifft das den innertextuellen Kontext und generelle Fragen danach, warum Zukunftskonzepte erhoben und abgelegt werden. Dies wird uns beschäftigen, wenn wir zur Besprechung der paradoxalen Koppelung von Regression und Progression in Textwelten zu einem weiteren Großkapitel übergehen. Das zeitreflexive, ausdrücklich zukunftsreflexive Potenzial, das von der Kollision von Konzept und Modell ausgeht, wird uns darüber hinaus noch im letzten Kapitel beschäftigen.

2.3.4 Zeitkonflikte im Gegenwartssegment: Zur Überlagerung von Zeitsemantiken

Wenn wir mit dem Basiskonzept davon ausgehen, dass die dargestellte Gegenwart als krisenhaft-unsicherer Übergangszustand gestaltet, sie durch die temporalsemantische Überlagerung von ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ gekennzeichnet ist und dies für Figuren wie auch für ganze Weltmodelle Auswirkungen hat, so lässt sich das Ganze – mit Blick auf die postgoethezeitliche Initiationsgeschichte – nun konkreter fassen.

Varianten der Konfrontation mit der Vergangenheit und der Kollision zwischen Zukunftskonzepten und -modellen lassen sich erkennen in der Relation ›Vergangenheit‹ vs. ›Zukunft‹ ⊂ ›Gegenwart‹. Versteht man ›Gegenwart‹ als ein Zeitsegment, das deutlich von einem ›Vorher‹ und einem ›Nachher‹ abgegrenzt ist, so zeichnet dieses sich im Kontext der Initiationsgeschichte als diejenige Menge zeitstruktureller Propositionen eines Textes aus, die die Handlungsgegenwart darstellen und die konfligierende, für den Initianden höchstrelevante Gegenüberstellung von ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ evozieren. In Initiationsgeschichten gerät die Handlungsgegenwart zum segmentalen Kulminationspunkt der Aushandlung progressiver oder regressiver Zukunftskonzepte. Dies führt zu subjektiven und intersubjektiven Konflikten mit ›Zeit‹, wie sie zum einen der vom Text dargestellten Vergangenheit fremd sind und in der Zukunft möglichst überwunden sein sollen – und die zum anderen in der Goethezeit wie auch im Realismus in dieser Form nicht vorzufinden sind (Abbildung 2.7).

Abbildung 2.7
figure 7

Die Überlagerung von Zeitsemantiken im Gegenwartssegment

Mit ›Vergangenheit‹ können, wie zu sehen war, unterschiedliche Repräsentationseinheiten korreliert sein, vornehmlich Räume – wie die Burgen bei Eichendorff oder in Das Bild des Kaisers und die Insel in Der Hagestolz, der Wald in Hebbels Der Brudermord – und Figuren – der Hagestolz, Thierberg oder Imagina –, ebenso Erinnerungen an vergangene Erlebnisse und Geschehnisse (wie vonseiten des Hagestolzes expliziert oder von Thierberg hinsichtlich Napoleon erwähnt), überlieferte Sagen (wie in Der tote Gast), Werte und Normen, symbolische Formen und tradierte Handlungs- und Denkmuster (wie in Imagina Unruh) oder Gegenstände (Stifters Die Mappe meines Urgroßvaters).

›Zukunft‹ betrifft das Szenario, das Figuren prospektiv entwerfen, ihren Erwartungshorizont auf Basis (zukunftsdeterminierender) Bedingungen und Möglichkeit, wie sie die dargestellte Welt zur Realisierung unterschiedlichster Handlungen bereitstellt. Konkret sind damit solche Bedingungen und Möglichkeiten gemeint, die zum einen Optionen formieren, die für Figuren bestehen und entscheidend sind für den Fortgang des Geschehens – wie hauptsächlich Paarbildungsoptionen (Albert/Anna/Robert; Imagina/August/Otto/Feodore), aber auch mögliche Berufswege oder vorgeschriebene Handlungsgänge und spontane Handlungsoptionen. Derartige Optionen können entweder erkannt und genutzt werden oder nicht erkannt, ignoriert und umgangen werden. Dies ist ebenfalls abhängig davon, welche (subjektinternen und -externen) Restriktionen einer Figur auferlegt sind und welche Einstellung sie zu den gegebenen Möglichkeiten einnimmt. Bezeichnend nämlich für Victor ist, wie bereits angeklungen, dass er nicht Rosina ehelicht und er entgegen seinem Vorhaben über die von ihm abverlangte Zeitspanne hinaus auf der Insel verweilt. Es liegen hier zwei divergierende Zukunftskonzepte und ein von ›Alt‹ auf ein extremes Minimum reduziertes Set an Möglichkeiten vor, das an die Figur herangetragen wird. Subjektexterne Restriktionen ergeben sich auch aus der Gesetzmäßigkeit von ›Welt‹, der zufolge Figuren auffallend oft Zufällen und fatalen Schicksalsschlägen ausgesetzt werden – Hebbels Texte (Die Kuh; Der Brudermord; Anna) unterstreichen diesen Faktor aufs Bestimmteste. Subjektinterne oder -abhängige Einschränkungen wiederum gewinnen dann an Bedeutung, wenn sie zukunftsentscheidend und damit zeitsemiotisch funktionalisiert sind – wie im Falle des blinden Rudolphs in Fontanes Geschwisterliebe oder der körperlich geschädigten Protagonistin in Auerbachs Tonele mit der gebissenen Wange, aber auch im Falle der Figur Imagina in Gutzkows Novelle, deren Kindheitserlebnis sie daran hindert, gänzlich in der Gesellschaft Fuß fassen zu können und ihr damit Schranken setzt.

Handlungsmöglichkeiten eröffnen Zukunftsoptionen, Restriktionen dezimieren sie – beides sollte demnach als zukunftsdeterminierend erachtet werden. Im Falle unseres Beispieltextes von Stifter ist die Sachlage aber zusätzlich diffizil: Victor verlässt seine Herkunftsfamilie nur oberflächlich, verweilt tatsächlich in T1 und damit in demjenigen abstrakt-semantischen Raum, der von Vergangenheit determiniert wird. Die reflexive Zeitstruktur ergibt sich dabei aus der Tatsache, dass T2ʼ (als eine Art ›narrative Latenz‹) in der Handlungsgegenwart situiert ist und der Protagonist mit der Familiengeschichte wie auch mit der Zukunftsvorstellung (des Oheims) konfrontiert wird, die er als wünschenswerte anzuerkennen hat: In Der Hagestolz wird die Gegenwart von der Vergangenheit dominiert, um die Zukunft auszuhandeln.

Ersichtlich wird: Die Gegenwart konstituiert sich über ausgetragene Zeitkonflikte, und diese können in formenreichen Auseinandersetzungen zwischen Vergangenheit und Zukunft explizit gemacht und als solche bezeichnet werden, sie können aber genauso gut verankert in anthropologischen Konstellationen sein und sind dann aus der textuellen Tiefenstruktur zu rekonstruieren. Zudem ist es nicht verbindlich, dass Figuren diese Problematik bewusst wird. Wird indessen ein Zeiterleben aktiviert, steigert dies den Anteil reflexiver Zeitstrukturen und stößt die Konfliktlage auf Figurenebene an; es handelt sich um eindeutige und für Illustrationszwecke – siehe Stifters Text – äußerst dankbare Fälle.

In jedem Fall prägend, so eine Hypothese, ist in diesem Zusammenhang die ›Tendenz zur Mitte‹, dergestalt sie als Orientierungspunkt in der konfligierenden Schichtung aus Vergangenheitsdominanz und Zukunftsausrichtung mitgedacht und maßgeblich eingebunden wird. Demgegenüber machen Texte aber die paradoxale Koppelung regressiver und progressiver Strukturen, teils sogar über das Textende hinaus geltend – was dieser Tendenz ja zuwiderlaufen würde. Die Behandlung dieses Problems verschieben wir aber an dieser Stelle auf das folgende Kapitel.

Zu folgern wäre hier einstweilen, dass sich die Gegenwart im Gegensatz zu der Vergangenheit durch eine virulente ›Überlagerung von Zeiten‹ auszeichnet, die von Figuren – ob bewusst oder unbewusst – als problematisch erlebt und von Texten als temporale Problemzone verhandelt wird. Sowohl in der dargestellten Vergangenheit war diese Anlage nicht gegeben, noch ist sie für die Zukunft vorgesehen. Angestrebt wird ihre Aufhebung – das heißt in erster Linie: die Loslösung von der Vergangenheit oder die Versöhnung mit ihr –, unabhängig von der Frage, ob dies tatsächlich gelingt und welche Konsequenzen es nach sich zieht.

2.4 Anthropologische Reduktion: Relativierung und Radikalisierung im Endzustand

Zeitkonflikte im beschriebenen Sinne nehmen nachhaltigen Einfluss auf die Entwicklung des Initianden und haben damit auch entscheidende Auswirkung auf die Modellierung einer Zukunft. Und es lässt sich noch etwas deutlich ausmachen: Die Auseinandersetzungen von Protagonisten mit ›Zeit‹, wie sie oben beleuchtet worden sind, sind Reduktionsprozessen äquivalent und ziehen bestimmte Raster von Endzuständen nach sich, die sich als Relativierung und Radikalisierung beschreiben lassen. Figuren entwickeln sich degressiv oder befinden sich am Ende in einem relativierten Zustand. Oder sie entwickeln sich zwar positiv, stehen am Ende aber doch ›nur bedingt‹ erfolgreich da.

In den Texten äußert sich das wie folgt: In Imagina Unruh wird ein entsprechender Endzustand sogar zu Beginn narrativ vorweggenommen. Imagina gilt als angesehene Künstlerin, die jedoch nicht gesellschaftsfähig ist. Ihre Initiation als Künstlerin ist geglückt, während sie in gesellschaftlicher Hinsicht gescheitert ist. Freilich wird vonseiten Augusts ein anderer Trennungsgrund vorgeschoben – es geht ihm aber freilich darum, klar zu machen, dass die Ehe mit Imagina ausschließlich aufgrund ihrer Affinität zur Kunst keinen Fortbestand hat. Kunst impliziert Retrospektive und Retardierung. Und da Kunst – so eine der wesentlichen Textaussagen – im Umgang mit ›Zeit‹ anders funktioniert und aufgestellt ist als ›Gesellschaft‹, ist das Sozialleben der Künstlerin dysfunktional attribuiert und auch die Ehe mit August zum Scheitern verurteilt. Das heißt: In sozialer Hinsicht ist Imagina mit ihrer doppelten Entsagung am Ende also ›weniger‹ als zu Beginn, obwohl sie als Künstlerin ›mehr‹ ist. Insofern führt der Text eine Relativierung vor – die Frage nach Nachkommenschaft und eine dadurch abgesicherte Zukunft lässt er unberücksichtigt. Victors Initiation in Stifters Der Hagestolz glückt nur unter den Maßgaben einer Aufgabe des eigenen Lebenskonzeptes und einer Annahme desjenigen Konzeptes, das die Elterngeneration perpetuiert. Das Bild des Kaisers funktionalisiert das Erzählmodell zum Zweck der Homogenisierung politisch-ideologischer Heterogenität. Der Initiand Albert scheitert zwar, indem er, ohne die Liebe Annas zu gewinnen, in seinen Ausgangsraum zurückkehrt, er muss indessen aber keinen Selbstverlust hinnehmen. Ein radikales Modell liefert Hebbels Die Kuh – mit dem Tod aller Beteiligten und der Zerstörung des Teilraums und der Unterdrückung eines Lebenslaufs. Nicht gänzlich radikal, aber ebenso durch den Tod der Hauptfiguren geprägt, verfahren Gutzkows Die Wellenbraut und Mörikes Maler Nolten; einen nach radikalem Umschlag der Handlung resignativen Ausgang führt Vischers Cordelia vor. Auf der anderen Seite stehen markierte Ausnahmefälle wie Tiecks Der junge Tischlermeister, Mügges Zu spät! und Der Weg zum Glück mit ihren überschwänglich glücklichen Ausgängen. Die Mehrheit der Texte indessen vermeidet einen derart positiven Ausgang – mag er den Figuren auch noch so positiv erscheinen.

Es lässt sich voranstellen: Insbesondere im postromantischen Initiationsmodell sind Relativierung und Radikalisierung als Symptome literarischer Zeitreflexion zu werten, deren Kategorisierung wesentlich zur Erfassung der für die Zwischenphase prägenden Zukunftsmodelle (der Kappung, der Polysemie/Offenheit und der Restauration) beitragen.

2.4.1 Reduktion und Relativierung: Bedingungen, Formen und Konsequenzen eines relativierten Endzustands in Auerbachs Der Tolpatsch und Laubes Das Glück

Die Gegenwart ist im Literatursystem das zentrale Problemfeld, das sich an der Vergangenheit abarbeitet und eine konfliktfreie Zukunft ansteuert. Man möchte meinen, dass diese Formel zwar auf jedweden narrativen Text zutrifft; in der Zwischenphase aber ist sie nicht allein Merkmal von Narrationen, sondern auf vielfältige Weise bedeutungstragend, hauptsächlich auch aus dem Grund, da sie metatextuell funktionalisiert ist und selbstreflexiv auf das Kardinalproblem des Literatursystems zurückweist: Ablösungsprozess und Strukturwandel werden als ebensolche auf Ebene des singulären Textes semiotisiert; statistische Quantität und strukturelle Qualität ihrer Diskursivierung erheben das Merkmal zum prägenden Kennzeichen.

Sinnfällig in diesem Kontext ist auf Ebene der Figurenhandlung die Reduktion. Endzustände wären demnach gegenüber Ausgangszuständen hinsichtlich der fokussierten Subjekte durch ein ›Weniger‹ gekennzeichnet. Wenn ebendies nun von Belang ist zur Bestimmung von Zukunftsmodellen, stellt sich die Frage, welche innertextuellen Logiken innerhalb von Reduktionsvorgängen wirksam sind und unter welchen Bedingungen Subjekte existieren und handeln müssen, sodass ihnen ein solches Schicksal widerfährt. Kurz: Wie wird ein solcher Vorgang motiviert und wie wird er modelliert? So viel kann jedenfalls ‒ auch schon in Vorgriff auf das Kapitel zur Selbstreflexivität ‒ angefügt werden: Wenn Figuren an entscheidenden Etappengrenzen ihres Lebens ›Abstufungen‹ erfahren, so deutet dies eben auch metatextuell auf das Selbstverständnis des Literatursystems (im Abgleich mit dem Vorgängersystem) hin.

Zwei auffällige Grundzüge des vom Textkorpus offen ausgestellten Reduktionsprinzips sind hervorzuheben: Relativierung und Radikalisierung. Beide sind als Teilmerkmale gleichermaßen ausgeprägt und gleichwertig zu behandeln. Prinzipiell meint ›Relativierung‹ die qualitative Herabstufung oder Aufwertung derjenigen Eigenschaften, Merkmale, Rahmenbedingungen und -möglichkeiten zu einem Zeitpunkt in T3 gegenüber einem früheren Zeitpunkt, die einen Zustand positiv oder negativ kennzeichnen und ihn als solchen benennbar machen: Vorherrschend in T3 ist ein Zustand der (ideologisch, sozial, anthropologisch, ökonomisch) gemäßigten Mitte. Glück wie auch Scheitern/Verlust erscheinen eingeschränkt; in Tragweite, Ausmaß und Resultativität reduziert. Reduziertem Glück geht ein auf das Subjekt bezogener, stufenförmig oder schubweise verlaufender Reduktionsprozess voran. Am Ende ist die Figur weniger oder eben (im goethezeitlichen ›Bildungs-/Entwicklungs‹-Verständnis) nicht mehr als zu Beginn. ›Scheitern‹ erscheint analog dazu in abgeschwächter Form. Die Figur wird, obgleich ihre Initiation nicht erfolgt, kompensatorisch aufgefangen und für ihr Scheitern mehr oder minder entschädigt – und nicht durch eigentlichen oder uneigentlichen Selbstverlust bestraft.

Wir werden mit Laubes Das Glück und Auerbachs Der Tolpatsch im Folgenden zwei auf den ersten Blick unspektakuläre und doch einprägsame Texte zur Illustration dieses Theorems besprechen. Eines aber ist an dieser Stelle vorauszuschicken: Relativierende Reduktion impliziert eine Skalierung möglicher Endzustände. Es ist als weiterer Modifikationsaspekt hinsichtlich der Initiationsgeschichte zu werten, in dem das goethezeitliche Prinzip der Polarität (Scheitern vs. Glücken) appliziert und geändert wird, dergestalt es die Pole ›Glücken‹ und ›Scheitern‹ nach wie vor als gesetzt annimmt, zwischen ihnen jedoch eine Skala implementiert, die diverse Möglichkeiten von maximalem und minimalem Glück, über resignative Annahme des Gegebenen und minimales Scheitern, bis hin zu maximalem Scheitern versammelt. Und ebendies kann als Neuverhandlung dessen gelten, was ›Glück‹ und auch was ›Scheitern‹ bedeutet ‒ der Frage also, welche Bedeutungsraster sie aufweisen. Das Reduktionsprinzip stünde so im Dienste zeitreflexiven Erzählens, und zwar zur Klärung anthropologisch relevanter Fragen bezüglich der Konzeptionierung von Lebensläufen: Welche Endzustände neben denen, die die Goethezeit anbot, sind denkbar oder gar möglich, und welche Bedingungen müssen für sie geschaffen werden? Und andersherum: Welche Voraussetzungen sind gegeben, dass anthropologische Problemstellungen im Endzustand vorliegen oder Offenheit vorherrscht oder gar persönliches Glück realisiert werden kann? Grafisch dargestellt sieht das folgendermaßen aus (Abbildung 2.8):

Abbildung 2.8
figure 8

Die Skalierung der Zwischenphase zwischen den Polen ›Glücken‹ und ›Scheitern‹

Mit den Texten von Laube und Auerbach liegen nun Beispiele vor, deren Schlussgestaltung einer glückenden Initiation nahekommt, die jeweils aber eindeutig mit Verlusterfahrungen oder Umpolungsmechanismen – folglich mit Spielarten der Relativierung ‒ einhergeht, und in dem einen Fall (Das Glück) positiv, im anderen (Der Tolpatsch) negativ gewertet wird.

Auerbachs Text nimmt gegenüber Texten der Goethezeit nur geringfügige Änderungen vor ‒ Änderungen, die aber natürlich in unserem Zusammenhang von großem Interesse sind. Chronologisch, mit markierten Ellipsen durchsetzt und aus Sicht einer der Figuren erzählt wird die dreiphasige Geschichte des Protagonisten Aloys, der um die von ihm geliebte Marannele wirbt, in den entscheidenden Lebensabschnitten jedoch die falschen Entscheidungen trifft und schließlich resigniert nach Amerika auswandert. In T1 findet sich eine partiell typische Konstellation vor: Aloysʼ Familie ist unvollständig und stellt nicht den emotionalen Bezugspunkt des Initianden dar. Dahingegen zieht es ihn in das Haus seiner Tante, die Frau des Schmieds Jakob Bomüller, wo er vornehmlich die Nutztiere versorgt. Die im Dorf vorherrschende, soziale Stigmatisierung ist dort aufgehoben: Im Gegensatz zur restlichen Bevölkerung, die ihm den titelgebenden Beinamen gibt, nennt ihn diese Familie beim richtigen Namen. Neben dem im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Kollektiv verankerten Problem der Selbstbehauptung rückt der Text das Problem der Paarbildung in den thematischen Vordergrund und korreliert beides. Aloysʼ Rivale Jörgli ist innerhalb der gegebenen Sozialordnung der höchsten Klasse (den ›Pferdebauern‹) zugeordnet – Aloys der niedrigsten (den ›Kuhbauern‹) – und zudem in seinem Auftreten äußerst dominant. Aloys glaubt durch die eigene Annäherung an Jörglis militärischen Gestus – dieser ist Kavallerist und trägt eine Soldatenmütze ‒, Maranneles Liebe gewinnen zu können, und verlässt in T2 den Heimatort für eine militärische Ausbildung. Er durchläuft eine für ihn in sozialer Hinsicht zwar vorteilhafte Transformation und kehrt in den Ausgangsraum zurück. Er muss dort jedoch erfahren, dass Jörgli in seiner Abwesenheit Marannele verführt und geschwängert hat und sie infolge dieses Umstands ehelichen darf. Aloys wendet sich der Tochter seines Vetters, Mechthilde, zu, verlässt Deutschland in Richtung Ohio und richtet sich in einem Brief an seine Mutter, worin er seine wirtschaftliche Prosperität und sozial anerkannte Stellung als Ehemann Mechthildes schildert, zugleich aber persönliches Unglück offenlegt: Die von ihm erhoffte Vereinigung mit Marannele ist gescheitert, er sehnt sich nach seinem Herkunftsraum zurück.

In diesem Fall funktioniert die Relativierung des Gegebenen mit Hilfe zweier semantischer Achsen. In T1 ist die Zwischenposition des Helden zwischen dem Status eines Normalsubjekts und einer negativen Exponiertheit aufgrund seiner sozialen Stigmatisierung sinnfällig, die der Text aufzuheben ansteuert. In T2 wird der Held mit Verlassen seines Heimatraums im Gegensatz zu den anderen Figuren dynamisiert – Marannele ist gänzlich inaktiv (sie lässt sich verführen und wird verheiratet), Jörgli auf minimale Weise aktiv (er verführt sie, verweilt aber im Ausgangsraum) ‒, was der Text in der alternativen Paarbildung sanktioniert. Gegeben sind also erstens die Abweichung von der Normalität in persona des Protagonisten sowie zweitens das Potenzial maximalen Glücks. Beides behebt der Text in T3, indem er seinen Helden sozial angleicht und ökonomisch absichert und autonom werden lässt, ihm zugleich aber persönliches Glück verwehrt beziehungsweise es massiv reduziert und damit ein schillerndes Zukunftsmodell der Polysemie geltend macht. Relativiert wird das Personen-Konzept – die Figur ist am Ende nicht mehr der ›Tolpatsch‹ und seine Initiation ›glückt unglücklich‹ ‒, konsolidiert wird die Textwelt, insofern der Held dem Ausgangsraum maximal distanziert wird und somit das statische Gleichgewicht in der raumsemantischen Ordnung des Dorfes künftig nicht gefährdet. Polysemie bedeutet semantische Mehrschichtigkeit. Auffallend und durch die Briefform deutlich hervorgehoben ist am Ende allein die Bewertung des Zustands durch die Figur: »Es druckt mir oft schier das Herz ab, daß ich allʼ das viele Gut so allein genießen soll. Ich wünschʼ mir oft ganz Nordstetten herbei.« (Auerbach 1857a [1843]: 40) Und weiter: »Die Mechthilde ist eine tüchtige Schafferin, aber sie ist doch kein Marannele.« (Ebd.: 41) Und schließlich: »Ich vergessʼ das nie, und wenn ich hundert Jahr alt werde. Ich möchtʼ nur auch einmal wieder eine Stundʼ in Nordstetten sein, da wolltʼ ich auch dem Schultheiß zeigen, was ein freier Bürger von Amerika ist.« (Ebd.) Der Herzschmerz, die Substitution der Partnerin, die gedankliche Präsenz des Heimatortes, persönliche Einsamkeit und Freiheitsstatus in der Ferne weisen auf die Unzufriedenheit des Protagonisten mit seiner Situation hin, obgleich diese Situation an sich Unzufriedenheit nicht zwangsläufig impliziert. Es ist allein eine Zuschreibung durch die Figur. Sie wertet diese als Einschränkung, als hinzunehmende Abfindung für ein verpasstes, nicht erreichtes und realisiertes Glück. Sie kapituliert vor der Ordnung einer Welt, in der sie sich – ihr Initiationsprozess mit goethezeitlicher Prägung zeigt dies – richtig, das heißt systemadäquat, verhalten hat, dies aber nur scheinbar, da sie sich über die dominanten Mechanismen – Statik gegenüber Dynamik, mündliches Versprechen gegenüber leidenschaftlicher Schwäche – nicht im Klaren ist. Erneut entpuppt sich die dargestellte Welt – für Figur und Leser – als nichtgoethezeitliche Welt, worin goethezeitlich gepoltes Handeln eben sanktioniert wird. Und abermals scheitert der Protagonist auch darin, die Weltordnung zu unterlaufen, genauso wie Helden der Goethezeit die geheime Ordnung von Welt anzuerkennen und eigene Ansprüche mit ihr in Einklang zu bringen haben oder eben scheitern. Die Figur in Auerbachs Text resigniert im Moment der Einsicht, selbst einer Ordnung zu unterliegen, die sie falsch eingeschätzt oder unterschätzt hat. Die Folge ist eine voraussichtlich lebenslange Sinnkrise, indiziert durch seinen Aufenthalt im fremden Land, seine Ehe mit der ungeliebten Frau und die schmerzliche Trennung von der Heimat.

Im Vergleich zu Der Tolpatsch, der das am Ende Gegebene also insofern relativiert, als er trotz einer an sich zufriedenstellenden Gesamtsituation in der Personen-Konstitution ein resignatives Moment installiert und dominant setzt, legt Laubes Text einen noch deutlicheren Akzent auf ein dezidiert eingeschränktes Glück, und zwar abermals hinsichtlich sexuell-partnerschaftlicher Liebe und in ökonomisch-monetärer Hinsicht. In Der Tolpatsch bleibt dem Protagonisten jegliche Form von Sexualität versagt, während sie von anderen Figuren (Marannele und Jörgli) unbescholten ausgelebt werden darf und dort zu tragbaren und erträglichen Konsequenzen führt. Stand für den Helden dort mit der angestrebten Paarbildung mit Marannele eine gewiss auch durch Leidenschaft und gegenseitige Zuneigung geprägte Beziehung in Aussicht, so zeichnet sich die Vernunftehe mit Mechthilde konsequenterweise durch Leidenschaftslosigkeit aus. Laubes Das Glück verfährt anders, kommt aber zu einem ähnlichen Ergebnis. Auf seinem Lebensweg hin zur abgesicherten Ehe, darf der Protagonist hier temporär leidenschaftlich lieben und sogar sexuell aktiv sein. In dem einen Fall also wird Leidenschaft vermieden, im anderen nachträglich umgangen – beides hat Akzeptanzzwang einer durch Heteronomie geprägten Welt zur Folge, sei dieser nun resignativ hingenommen wie in Der Tolpatsch oder wohlwollend begrüßt wie in Das Glück.

Gustav von Dorn verliert in der frühen Kindheit seine Eltern (= Familiendefizit), hat jedoch das Glück, bei Onkel und Tante eine ökonomisch abgesicherte, ja sogar vermögende Existenz zu fristen. Sein ihm durch das Testament der Tante zustehendes Erbe geht an die ruchlose und gewinnsüchtige Verwandtschaft verloren, er befindet sich auf Reisen und steigt zunächst wirtschaftlich deutlich ab, bis er – vermittelt durch seinen Freund Schaller – eine Anstellung in einer Kanzlei erhält und schließlich doch – wie anfangs bereits angestrebt und von der Tante erwünscht ‒ Kaufmann wird. Verstrickt ist er vom Jugendalter an in amouröse Tändeleien, ohne diese zunächst als solche wahrzunehmen beziehungsweise überhaupt wahrnehmen zu können (Wlaska), um sie dann umso leidenschaftlicher (Angélique), sexuell aktiv (Laurette) und verzweifelter (Antonie/Toni) auszuleben, bevor er eine Vernunftehe mit dem wesentlich jüngeren Ännchen eingeht.

Auch bei Laubes Helden handelt es sich um ein Normalsubjekt, das zu Beginn der Erzählung ausdrücklich von dem ihm zeitweise an die Seite gestellten, ›romantischen‹ Victor abgegrenzt wird. So bekennt die Erzählinstanz: »Es schmerzt mich, sagen zu müssen, daß dieser Romantiker [Victor] nicht der Held unserer Geschichte wird, wenn auch Gustav, für den Augenblick sein Gefährte, weniger reizt.« (Laube 1837: 4) Die semantischen Achsen, die dieser Text einzieht und in denen er ›Glück‹ verankert, sind die Koppelung von Beruf und monetärer Ausstattung sowie die Liebe zwischen Mann und Frau. Die Auffassung und die konkrete Gestaltung von Glück ist Grundlage zur Zukunftsmodellierung. Der Held hat sich in das Konzept eines betont reduzierten Glücks einzufinden.

Den ›Überschuss‹ an Glück im Ausgangszustand macht der Text fest an der finanziellen Lage und nicht etwa wie andere Texte an der Familienidylle. Angesichts dessen ist die Gesamtsituation diffizil: Einerseits repräsentiert Gustavs Tante – nach dem baldigen Tod des Onkels ‒ einen zwar von ihm geliebten Ersatz, andererseits fehlt aber in diesem Familiensubstitut merklich eine Vaterfigur, nicht zuletzt auf Kosten einer für Gustav geeigneten Identifikationsfläche und Orientierungsmöglichkeit an einem Vorbild. Der folgenschwere Fehler, die Tante im Übergang zu T2 zu verlassen und auf Reisen zu gehen, kommt auch überhaupt erst dadurch zustande, dass Gustav und die Tante die Notwendigkeit einer kaufmännischen Ausbildung zu spät als eminent wichtig erachten und die Tante – aus Sicht der Figuren – ungeahnt früh der Tod ereilt. Anlass der Ausbildung ist auf Figurenebene die Vermögenssicherung, auf Textebene hingegen die Überführung des Protagonisten in einen abgeschwächten, glücksreduzierten Zustand in T3. Signifikant dabei aber ist, dass der Text diesen abgeschwächten Zustand eben nicht ausschließlich in der Vermögenssituation verankert, sondern ebenso in der Partnerwahl: Ännchen ist jung und liebreizend, aber weder großbürgerlich situiert, reich und leidenschaftlich (Angélique), noch gar adelig und aufgrund ihrer weiblichen Reize unnahbar (Antonie/Toni).

›Glück‹ wird mit Hilfe dieser Verschiebung in unterschiedlichen Semantisierungs- und Deutungsmustern aufgerufen, bis am Ende eine einzige Konzeption als wegweisend und wünschenswert ausgewiesen wird: Wlaska deutet ihr Verhältnis zu Gustav als gemeinsames Glück, obwohl dieser ihre Liebe nicht erwidert. Die Beziehung zwischen den Figuren basiert auf einem Missverständnis: Sie hegt bereits zu einem Zeitpunkt Ambitionen, als er in Liebesdingen noch unbedarft ist. In ihren Augen ist Liebe gleichwertig mit Glück, im Rückschluss unerwiderte Liebe gleichwertig mit Unglück. In der dargestellten Welt, in der alle Figuren mehr oder weniger offensiv nach Glück streben,Footnote 20 erscheint denn ihr Suizid aus unglücklicher Liebe, wenn auch theatralisch überhöht, so doch als unumgängliche Konsequenz (vgl. ebd.: 54 f. u. 208 f.). Eine ähnliche Variante wird von Gustav während seiner Beziehung zu Angélique entfaltet: Persönliches Glück beschränkt sich hier zum einen auf den Liebespartner, der das Wahrnehmungszentrum darstellt (»Göttin des Glückes«; ebd.: 90); Liebesverlust oder unglückliche Liebe sind mit Todesäquivalenten attribuiert (vgl. ebd.: 65 f.). Zum anderen ist die gegenseitige Liebe in einem sozialen Umfeld situiert, das die gesellschaftliche Stellung auf die Vermögenssituation rückbindet. Allein diese Variante verdeutlicht abermals die von Leidenschaft ausgehende Gefahr für Glücksempfinden und Zeiterleben, die bei einem Übermaß aus dem Gleichgewicht zu geraten drohen: »Ist denn alles an einem Tage vorgegangen? sagte er zu sich, kann man an einem Tag so grenzenlos unglücklich, und so grenzenlos glücklich sein?« (Ebd.: 87). Ein Unglückszustand bedeutet die Konzentration auf den Augenblick und steht in Opposition zu einem in die Zukunft gerichteten Zustand des Glücks (vgl. ebd.: 70 f. u. 88). Da aber Leidenschaft in der Konstellation Gustav/Angélique tatsächlich ein implizit vorgegebenes Maß zu überschreiten scheint (vgl. ebd.: 87), umgeht der Text die zunächst gegebene Möglichkeit einer Paarbildung, indem er Gustav in seinem Vermögensstatus herabstuft und damit eine Bindung an Angélique im gegebenen Sozialsystem – vertreten durch ihren Vater ‒ als undenkbar und unmöglich abweist.

Die Nicht-Realisierung der diversen Paaroptionen, die Lösung am Ende und das damit verbundene wünschenswerte Glückskonzept, das offensichtlich anthropologisch – in persönlicher und zwischenmenschlicher – wie auch soziokulturell – hinsichtlich des Funktionierens von ›Gesellschaft‹ – von höchster Bedeutsamkeit und Tragfähigkeit ist, motiviert der Text über die Feststellung der Vergänglichkeit irdischen Daseins und korreliert damit Komponenten eines modifiziert-goethezeitlichen Denkmodells und Eigenschaften von ›Bürgerlichkeit‹. Essenziell dafür sind erstens die persönliche Konzeptionierung (»Gustav hatte nur ein Gefühl eines Unglücks, aber keine Vorstellung desselben«; ebd.: 109), die wiederum zweitens ebenfalls die Abwendung vom momenthaften Augenblick hin zur zukünftigen Nachhaltigkeit beinhaltet; drittens die Umdeutung von Unglück und die qualitative Herabstufung von (partnerschaftlicher) Liebe (vgl. ebd.: 128 ff.) und viertens das Vertrauen auf den Wert individueller Leistung (vgl. ebd.: 135 f.) verbunden mit einem partiell ausgebildeten Bildungsgedanken (ebd.: 131 f. u. 271).

Der Held darf im Rahmen dieser Konzeption triumphieren: Er erarbeitet sich seinen Berufsstand selbst, ist demnach autonomer Leistungsträger im Sinne einer bürgerlichen Anthropologie. Er ehelicht die kleinbürgerliche Anna und darf »auf eine beschränkte, aber sichere Zukunft« (ebd.: 288) hoffen. Der – wie sich herausstellt: reiche und adelige ‒ Schaller ›trübt‹ dieses Glück nun am Ende daher nicht etwa durch ein Geldgeschenk, sondern unterstützt es und handelt ganz einvernehmlich, wenn er Gustav – dies setzt der Text programmatisch an den Schluss ‒ ein Regelkonvolut des bürgerlich orientierten Denkens und Handelns an die Hand gibt.

Hinsichtlich der behandelten Sachlage fügen sich beide Texte also umstandslos in den Reigen der anderen Beispiele ein. ›Relativierung‹ in allen Fällen meint die Problemlösungsfindung in einer gemäßigten Mitte, unabhängig von der Bewertung durch die Figuren. Sie bedeutet stets: Sogar bei unkompliziertem Glücken des Initiationsprozesses, müssen Abstriche im persönlichen Bereich hingenommen werden. Bei Nicht-Realisierung des angestrebten Endzustands erfolgt analog dazu meist kein Selbstverlust, sondern ein von Resignation bis hin zu Pessimismus reichender, teils in dieser Hinsicht in die Zukunft als offen-polysem gestalteter Endzustand. Der Akzeptanzbereich des Literatursystems in dieser Sache reicht offensichtlich von ›minimalem Glück‹ bis hin zu ›minimalem Scheitern‹. Man wird hier zu Recht behaupten können, dass ›Glück‹ an dieser Stelle umgewertet wird von einem subjektiven zu einem sozialen Wert ‒ dies jedenfalls scheint eine wesentliche Änderung gegenüber der Goethezeit zu sein. Unabhängig davon, wie Figuren mit ihrem Zustand am Ende umgehen, gemessen wird er an gesellschaftlicher Akzeptanz, vielleicht gar allein an der Akzeptanz des direkten sozialen Umfeldes.

2.4.2 Radikale Reduktion: Bedingungen und Formen eines radikal reduzierten Endzustands in Hebbels Der Brudermord

Während eine relativierte Reduktion gleichbedeutend ist mit der Ausrichtung eines Textes an einer ›Mitte‹, indem dieser das Geschehen auf diese hin zuführt, erscheinen Texte mit radikaler Reduktion anscheinend als Absage an das Modell, indem sie ›Zukunft‹ deutlich negativieren. Das kann Initianden oder ganze Teilwelten betreffen. In Gutzkows Die Wellenbraut oder Wally, die Zweiflerin sterben nur einzelne, wenngleich natürlich zentrale Figuren. Ein weiterer Extremfall ist Hebbels Die Kuh. Angesichts solcher Sachverhalte formulierten wir zu Beginn unser Anliegen, Rückschlüsse vom präsentierten Zukunftsmodell auf diejenigen Bedingungen zu ziehen, die Texte in dieser Hinsicht geltend machen.

Wenn nun auch mit dem nächsten Beispiel keine Initiationsgeschichte erzählt wird, so haben wir es doch mit einem äußerst anschaulichen Fall tun: In Der Brudermord trauert der Protagonist Eduard seiner ihm entführten Geliebten Laura nach und befindet sich in einer tiefen Sinnkrise. Er wandelt durch einen Wald, durch Zufall begegnet ihm der Entführer, er überwältigt diesen und befreit seine Geliebte. Nach der Feststellung, dass es sich beim toten Entführer um seinen eigenen Bruder handelt, tötet er ebenfalls die Geliebte und sich selbst. Die Radikalität dieser Reduktion besteht zum einen in der Tilgung aller zentralen Figuren durch Tod, weiterhin darüber hinaus gar in ihrer nachträglichen Anonymisierung. Am Textende zitiert die Erzählinstanz die Inschrift eines Grabkreuzes: »Einen fremden Herrn, eine fremde Dame und einen Bedienten, über welche keine Auskunft zu erlangen war, hat man im nahen Walde, elendiglich umgekommen, gefunden.« (Hebbel 1965b [1832]: 251) Mit dem Verlust ihrer Namen büßen die Figuren ihren Status als Individuen ein. Damit liegt eine Reduktion auf entindividualisierte und für ihre Umgebung fremde ›Personen‹ vor. Mehr noch: Der Text tilgt die beteiligten Figuren nicht nur aus dem semantischen Raum ›Leben‹, sondern ›entfernt‹ sie als individuelle ›Personen‹ auf der lexikalischen Oberfläche und nimmt durch die Anlehnung der narrativen Instanz an den Wissensstand des sozialen Umfeldes eine distanzierte Erzählposition ein. Das Hauptproblem, das für diese Gestaltung des Endzustandes entscheidend ist, besteht im Konflikt zwischen partnerschaftlicher Liebe und Herkunftsfamilie ‒ das ist der eigentliche Grund für den Tod der beiden Männer und der Frau. Appliziert wird einerseits – vertreten durch Eduard – das goethezeitliche Liebeskonzept mit existenzieller Funktion, Unbedingtheit und Absolutsetzung von Liebe. Korreliert ist dies mit einer stark zeitreflexiven Tendenz und der Semantisierung von Gegenwart und Vergangenheit. Wir hatten den Anfangspassus bereits im Zusammenhang der Temporalsemantik des Raums zitiert (vgl. Abschn. 2.2): Die Vergangenheit wird positiv konnotiert ‒ mit Schönheit, Frühling und Liebe –, die Gegenwart negativ – mit Traurigkeit, Liebesverlust, Winter und Tod. Nicht allein romantische Topoi wie die »mondhelle Winternacht« (ebd.: 250), der Rückzug des Subjekts in die Natur und seine psychomental angestrebte Verschmelzung mit ihr sowie überhöhte und alleinige Konzentration auf die Liebe lassen sich ausmachen. Bäume erscheinen Eduard wie »Denkmäler einer schönern Vergangenheit« (ebd.), der er selbst zugehörig ist: »Tröstet euch mit mir, ihr traurigen Bäume[,] nicht euch allein ist der Frühling dahin geschwunden, auch mir ist er entflohn.« (Ebd.) Durch dessen Verhalten und Äußerung verdeutlicht der Text die Klassifizierung des Helden als ›Figur der Vergangenheit‹, die in der Gegenwart hilflos erscheint. Seine Störung lässt sich an der von ihm konstatierten Substitution des Frühlings durch den Winter nachvollziehen, ein im zeitmetaphorischen Modus formulierter Hinweis auf destruiertes Zeiterleben, ein klares Indiz für Zeitreflexion.

Kontrastiert wird die zeitweilige Vereinigung der Liebenden (»zwei morgenrote Wolken, die in eine zergehen«; ebd.: 251) mit der höheren Wertigkeit von Familie, umsemantisiert damit werden Liebeskonzept wie auch Initiationsprozess: Denn der Perspektive des Protagonisten an die Seite gestellt ist die verinnerlichte und handlungsdeterminierende Schranke des Familienbundes, deren Effektivität so unromantisch wirkt wie sie für alle Beteiligten destruktiv ist.

Also: Die Romantisierung vonseiten der Figur entspricht der Entromantisierung des Textes; ihre Korrelation führt zur radikalen Reduktion in Form einer gänzlichen Negation der Anthropologie. Deutlich wird damit die Erodierung goethezeitlicher Konzepte und gleichsam die fehlende Tragfähigkeit ihrer Modifikation im postromantischen Literatursystem. Der Brudermord untermauert selbstreflexiv die eigene Problematik um handhabbare, gefestigte Konzepte: Die Radikalität des Textes zeigt sich im extremen Umgang mit Tod. Eine Reflexion von Zeit findet statt in Form einer Divergenz zwischen Figuren- und Textebene: Das, was die Figur ansteuert, wird vom Text sanktioniert, die dargestellte Anthropologie als untragbar etikettiert. Während die Figur an der Vergangenheit orientiert ist und an der Gegenwart scheitert, verweist der Text auf Zukunftslosigkeit und ausstehende Problemlösung.

Mit dem eskalierenden Konflikt zwischen Liebe und Familie, wie im besprochenen Fall, ist ein Fundamentalaspekt der gegebenen Spielart von Reduktion angesprochen. Die extreme Form des Scheiterns resultiert dabei aus der (zeit-)reflexiven Auseinandersetzung mit goethezeitlichen und nachgoethezeitlichen Konzepten. Man darf annehmen, dass sowohl eine gemäßigtere Einstellung zu ›Liebe‹ – eine weniger leidenschaftliche Liebe – nicht zum Tod des Bruders und, andersherum, ein vertrauensvolleres und respektvolleres Verhältnis zum Bruder nicht die Entführung zur Folge gehabt hätten. Die Konzepte ›Liebe‹ und ›Familie‹ sind brüchig und ihrer Kombination massiv vitiös. Paradigmatisch also für Der Brudermord ist die vorgeführte Radikalität als eine extreme Abweichung von der ›Mitte‹.

2.4.3 Abweichungen vom Reduktionsprinzip und seine Flexibilisierung: Fontanes Geschwisterliebe, Mügges Zu spät! und Der Weg zum Glück

Radikalisierung und Relativierung stellen zwei Muster ein und desselben Modells dar und sollten daher nicht gänzlich isoliert betrachtet werden. Nachvollziehen lässt sich dieser Gedanke an Fontanes Geschwisterliebe, der beispielhaft den Zwiespalt zwischen (entschiedener) Radikalisierung und (abwiegender) Relativierung verdeutlicht: Der blinde Rudolph und seine Schwester Clara befinden sich in einem bizarr anmutenden Geschwisteridyll, in dem sie sich mangels Eltern gegenseitig Bruder und Schwester, Vater und Mutter, Geliebter und Geliebte sind. Clara durchläuft daraufhin einen Initiationsprozess, verliebt sich in einen anderen Mann, wechselt über in ein gemeinsames Leben mit ihm und versucht, eine Familie zu gründen. Rudolph plädiert vehement für das Geschwisteridyll und verweigert das Angebot der beiden auf ein Leben zu dritt. Sie erkennt ihre Trennung vom Bruder als Fehler an, hat eine Totgeburt, erkrankt infolge ihrer seelischen Leiden und verstirbt. Die Männer folgen ihr in den Tod. Der Text begnügt sich an dieser Stelle allerdings – im Gegensatz zu Hebbels Texten – nicht mit der Tilgung der Figuren, sondern überführt sie ausdrücklich vom Diesseits in ein Jenseits und wiedervereint sie dort.

Die für die Zwischenphase in dieser Form wohl einzigartige Kombination von radikaler und relativierender Reduktion lässt sich mittels Propositionen rekonstruieren, die der Text kombiniert. Denn einerseits funktioniert er auf Basis der Aussage:

Alle Figuren sterben nach Fehlverhalten.

Das ist auch in Der Brudermord der Fall: ein Fehlverhalten vornehmlich aufgrund einer Schieflage von konfligierenden Werten und einer verworrenen Anthropologie. In Geschwisterliebe erkennt Clara als Initiandin zu spät die existenzielle Notwendigkeit der Verbindung zum Bruder. Rudolph ist egozentrisch-eigennützig veranlagt und starrköpfig und verzichtet auf ein Dreierverhältnis, in dem seine Rolle auf die des Bruders ›geschmälert‹ werden soll. Der Ehemann Eisenhardt stört das Geschwisterglück nachhaltig, zunächst von ihm weniger wichtig erachtet, im Nachhinein als Fehltritt anerkannt. Alle Figuren innerhalb des vom Text markierten ›alten‹ Teilraums sterben. Also:

Sterben ist ein Vorgang, der vom Text als Sanktion gekennzeichnet ist.

Auch in dieser Hinsicht verfahren die Texte einhellig. Die Relativierung aber des dabei massiv reduzierten Endzustands schafft nun Geschwisterliebe mittels Unterteilung der von ihm dargestellten Welt in die Räume ›Diesseits‹ und ›Jenseits‹. Allein das Diesseits sieht eine zeitliche Beschränkung menschlichen Daseins vor, im Jenseits ist diese in zeitloser Ewigkeit aufgehoben. Daher eröffnet er die Möglichkeit:

Die Zukunft findet für die Hauptfiguren im Jenseits statt.

Die gegebene anthropologische Anlage ist in der vorliegenden Konstellation nur bedingt kompatibel mit Maßgaben und Möglichkeiten der Textwelt. Ähnlich wie in Der Brudermord wird regressives Denken und Handeln einerseits mit Tod bestraft – mit der Sanktionierung erteilt der Text eine Absage an das Gegebene. Anderseits ›bewahrt‹ er es durch die Verlagerung ins Jenseits, hebt es nicht auf, sondern relativiert die eigene Absage. Bemerkenswerterweise erzeugt Geschwisterliebe dadurch die Doppelaussage: Die dargestellte Anthropologie ist untragbar und zugleich im Rahmen einer literarischen Modellierung von Welt unverzichtbar – und ebendieser Widerspruch erscheint als maßgebliches, textübergreifendes Bedeutungsmuster.

Schwieriger zu klassifizieren sind solche Fälle, die zwar zeitreflexiv konstituiert sind, sich aber nicht in das gegebene Raster einfügen und die ›Tendenz zur Mitte‹ zu umgehen scheinen, so zum Beispiel Mügges Zu spät! und Der Weg zum Glück. Während Mügge mit Die gute alte Zeit ein Paradebeispiel für eine relativierende Reduktion vorlegt – gleichwohl nicht in Form einer Initiationsgeschichte –, liegen mit den beiden anderen aus seinem umfangreichen Novellenwerk herausgegriffenen Texten bemerkenswerte Sonderfälle vor.

Der Weg zum Glück – eine »Novellette aus dem Leben« wie es im Untertitel heißt ‒ erzählt die Lebensausschnittgeschichte des »blutjungen« Assessors Gustav (Mügge 1846a: 257), der die Schwelle zu Berufsleben und Partnerwahl zu überwinden hat. Das Problem des Textes ist die Realisierung persönlichen Glücks: Gustav liebt die älteste Tochter eines Hofrats Täubner, Antonie, – die seine Liebe erwidert ‒, befindet sich aber ohne Anstellung nicht in der geeigneten Lage, sie zu ehelichen. Von seinem Vetter, einem Justizrat, wird ihm die Möglichkeit eröffnet, eine Anstellung als Syndikus in einem kleinen Ort zu erhalten. Zunächst vom Glück der Liebe gänzlich eingenommen, willigt er freudig in das Angebot ein. Durch einen misslichen Umstand – er gerät in eine Rauferei mit seinem künftigen Arbeitgeber ‒, kommt die Anstellung nicht zustande. Er besinnt sich auf die Notwendigkeit seines weiteren beruflichen Werdegangs zuungunsten des bis dahin geltenden Liebesprimats, verlässt seine Heimat für drei Jahre, kehrt als Regierungsrat zurück und darf Antonie, die ihn treu erwartet, heiraten.

Nun ließe sich diese Problemlösungsstrategie so erklären, dass der Protagonist der Textlogik folgend richtiggehend seine leidenschaftliche Liebe herabstuft und zugunsten einer vorherigen, vernunftgeleiteten Zukunftssicherung in ökonomischer Hinsicht zurückstellt. Der Wert dieser Absicherung ist höher angesetzt als der der Liebe ‒ die Initiation glückt, da er dies erkennt. Seine Initiation wäre damit auch deutbar als Loslösungsprozess vom goethezeitlichen Liebeskonzept. Die Frage, die damit aber nur zum Teil beantwortet wäre, ist, warum der Text seinen Protagonisten nicht in das zwischenzeitlich in Aussicht gestellte »bescheidene[], sichere[] Glück« (ebd.: 266) versetzt und ihn stattdessen umständlich vom zufälligen Zusammentreffen mit seinem Arbeitgeber bis hin zur Beichte bei der Geliebten und ihrem Vater für drei Jahre entfernt und ihn anschließend in einen deutlich glücklicheren Endzustand befördert.

Ähnlich verwunderlich funktioniert Zu spät!, ein Text, der ebenfalls Paarfindung und finanzielle Absicherung als Konfliktherde installiert, beides jedoch zusätzlich im Sozialgefüge der Welt verankert und das rivalisierende Verhältnis von Bürgertum und Adel fokussiert. Der junge Georg Bernardi geht nach einigem Für und Wider zu seiner weiteren Ausbildung als Industrieller auf Auslandsreisen und verlässt damit seinen Pflegevater, den reichen Fabrikanten Hartberg, und dessen Tochter Agnes, die er liebt, ohne dass diese seine Liebe erwidert. Noch vor seiner Abreise heiratet Agnes einen Adeligen, den Grafen Rudolph Tamnau. Geplant ist, Georg nach seiner Rückkehr zum Kompagnon zu machen, hatte dessen Vater immerhin in der Vergangenheit durch ein größeres Vermögen indirekt am Geschäftsaufbau mitgewirkt. Während Georgs Abwesenheit jedoch verstirbt Hartberg, ein Testament verschwindet, Georg steht vor dem Ruin. Die Auseinandersetzung mit (der von Grund auf veränderten und unglücklichen) Agnes und Tamnau, fördert das Testament zwar zutage, ein Versprechen Georgs gegenüber Agnes zwingt ihn jedoch dazu, auf sein Erbe zu verzichten. Bevor am Ende die Fabrik – Georgs letzte Chance auf eine Einnahmequelle – auf einer Auktion versteigert wird, erscheint Tamnaus Schwester Victoria mit einem Überschreibungsbrief, offenbart ihm ihre Liebe und allen Anwesenden die Verlobung.

Zwei Paarfindungsvarianten liegen demnach mit Blick auf die Transgression zwischen Adel und Bürgertum vor, wobei die eine negativ (Bürgertum ⇒ Adel) und die andere positiv konnotiert ist (Adel ⇒ Bürgertum) und letztere zusätzlich als Problemlösung fungiert. Während Agnesʼ Beziehung von Unglück und der Absenz von Liebe geprägt ist, verbindet das am Ende zusammengefundene Paar eben genau die beiden Eigenschaften des Glücks und der gegenseitigen Liebe. Doch auch hier: Warum wird der Protagonist dermaßen mit Glück bedacht? Warum bleibt ihm nicht nur eine ökonomische Zukunft gesichert, sondern wird ihm zusätzlich die Verlobung der adeligen und reichen Victoria zugedacht? Wenn wir von einer ›Tendenz zur Mitte‹ als für Erzähltexte der Zwischenphase prägendes Modell ausgehen, so muss in diesem Kontext auch die Stellung derartiger Texte geklärt werden.

Die Lösung des aufgeworfenen Problems ergibt sich aus einer bestimmten Strategie: Beide Texte umgehen lediglich das Reduktionsmodell und installieren eine Mittelposition unter dem Deckmantel eines maximalisierten Glücks. Der Weg zum Glück entwirft zu diesem Zweck eine verschachtelte Opposition. Erstens findet sich unsere Leitdifferenz ›Jung‹ vs. ›Alt‹ verankert in den Generationen: Während Gustav heißblütig und um jeden Preis die Heirat mit Antonie anstrebt, stellt Antonies Vater die Bedingung einer Berufsanstellung auf, Gustavs Vetter plädiert gar an allererster Stelle für eine ›vorteilhafte‹ Partie. Zweitens überdacht dies die Opposition Figuren vs. Text. Denn Verhalten und Handlung der Figuren entgegen setzt der Text das Ziel einer gleichrangigen Behandlung von sozialer Stellung und finanzieller Sicherung auf der einen und Liebe auf der anderen Seite. Vom Text nicht begrüßt – und durch das durch Zufall motivierte und unglücklich verlaufende Zusammentreffen verhindert – wird ein Zustand ›+ Liebe ˄ − Sozialstand‹. Der Text markiert dies als zu starkes Gefälle zwischen persönlichem Glück (der Liebenden) und räumlich-sozialer Situierung (im kleinen Ort der potenziellen Neuanstellung). Von den Figuren wird dieser Umstand nicht erkannt: Der Vetter bringt die kleine Anstellung Gustavs als Syndikus sogar auf den Weg, und auch Hofrat Täubner erklärt sich damit einverstanden. Vom Text jedoch realisiert wird ein Ausgleich beider Sphären: Maximal bedeutsame Liebe kann nur dann gelebt werden, wenn ebenfalls in beruflicher Hinsicht das Maximum des Erreichbaren ausgereizt wird. Hinter dem maximalen Glück im Endzustand des Initianden verbirgt sich demnach also durchaus die von uns bezeichnete Tendenz, allerdings in der Variante einer Aufhebung der anfangs gegebenen, differenten Werteausprägung. Den Hinweis zu Textbeginn, dass sich das Geschehen »vor ungefähr zwanzig Jahren« (ebd.: 257) zugetragen haben soll, unterstreicht die Unabdingbarkeit dieser Maßnahme durch den Text, hebt sie nicht allein auf die Trennung zwischen Erzählgegenwart und Handlungsgegenwart ab und markiert implizit die zweite von uns genannte Opposition Figuren vs. Text, sondern legt zudem das zukünftige Bestehen des Glücks vom Abschluss der Ereignisse hin bis zur Erzählwiedergabe zwanzig Jahre später nahe.

Zu spät! modelliert eine Welt im Spannungsfeld zwischen aufkommender Industrialisierung und ökonomischem Niedergang des Adels. Zwischen den Sozialklassen des Großbürgertums und des Adels lässt sich auch hier ein Gefälle ausmachen: Zwar verfügt der Fabrikant Hartberg über großen Reichtum, es mangelt ihm jedoch an gesellschaftlicher Reputation beziehungsweise an der Akzeptanz vonseiten der adeligen Gesellschaft. Andererseits genießt Rudolph Tamnau als Erbe eines angesehenen Staatsmannes eine hohe Reputation, ehelicht Hartbergs Tochter Agnes, dies aber allein bedingt durch Geldnot. Der Text differenziert – nach dem Tod Hartbergs ‒ weiterhin zwischen Vertretern der jungen Generation ‒ und zwar jeweils in Form der Opposition Mann vs. Frau, wobei diese Opposition in den semantischen Räumen ›Bürgertum‹ und ›Adel‹ diametral angeordnet erscheint: Agnes handelt mit ihrer Heirat aus Nobilitierungsstreben, Rudolph aus Geldgier, während andererseits Georg wie auch Victoria als Träger wünschenswerter Werte fungieren ‒ und die anzustrebende ›Mitte‹ verkörpern (Abbildung 2.9).

Abbildung 2.9
figure 9

Paarbildungsvarianten und ihre Evaluierung durch den Text in Mügges Zu spät!

Die Verbindung zwischen Georg und Victoria fungiert als harmonischer und harmonisierender Ausgleich zwischen Bürgertum und Adel, und zwar im Hinblick auf ihren finanziellen Stand – sie werden wohlhabend, ohne übermäßig reich zu sein – und hinsichtlich des von beiden vertretenen bürgerlich-liberalen Wertekanons (individueller Leistungsgedanke, persönliche und gegenseitige Liebe, Würde, Sittlichkeit, Rechtsgefühl; vgl. Mügge 1846b: 241). »Gleichmacherei« (ebd.: 176) – zu Beginn noch vonseiten des Adels verspöttelt – wird so am Ende positiv gewendet. »Zu spät!« wird damit zur Formel eines ehemaligen Glücks, das nicht nur als vergangen gekennzeichnet wird, sondern das sich in der Textwelt rückblickend auch als nicht zukunftsfähiges Glück entpuppt. Angesichts neuer Herausforderungen, vorzugsweise im Zusammenhang mit finanziellem Kapital – das fortwährend von allen Seiten thematisiert wird ‒, gilt es für die Figuren, ihre Zukunft zu sichern, und dies gelingt augenscheinlich nur dann, wenn Adel und Bürgertum fusionieren – den Bonus persönlichen Glücks erhalten diejenigen Figuren, die letztlich bürgerlich und von Liebe geleitet handeln. Dies erfahren sie plötzlich (»zu viel Seligkeit in einer kurzen Lebensminute«; ebd.: 254) und können sorglos in eine glückliche Zukunft blicken (»ein ganzes Leben erwartet uns, so laß uns denn wagen, glücklich zu sein!«; Ebd.).

Gleichwohl also das Reduktionsmodell als dominierendes Prinzip für die Initiationsgeschichte der Zwischenphase anzunehmen ist, ist ganz offensichtlich zugleich die ›Tendenz zur Mitte‹ als hierarchisch höherstehende Reglementierung zu werten. Denn auch bei Abweichungen – wie bei Mügges Texten zu sehen – wird eine ›Mitte‹ angesteuert. Und ebenso eine Flexibilisierung des Modells – wie in Geschwisterliebe ‒ weist auf den Sachverhalt hin, dass das Reduktionsmodell einerseits mehrheitlich in unserem Textkorpus vertreten ist, ohne dass nicht andererseits auch Gegenbeispiele ausfindig gemacht werden könnten, die ihm zuwiderlaufen. Hingegen intraepochal verankert sind die Operationen des Ausgleichs von Gegensätzen, der Annäherung von Extremen, der Mäßigung von Übermäßigkeit, der Tilgung von Nicht-Domestizierbarem und Nicht-Harmonisierbarem. Derartiges zeigen Texte nicht nur verbunden mit der Herabstufung von Glück oder der Minderung von Unglück beim Initianden auf, sondern auch auf abstrakterer Ebene verbunden mit Belangen der Sozialstruktur und der Anthropologie der dargestellten Welt. Im Verbund steht damit im Übrigen keine Präferenz einer bestimmten Zukunftsmodellierung: Polysemie/Offenheit, Restauration, Kappung – sie alle finden sich dieser ›Tendenz zur Mitte‹ zum Trotz. Und das wiederum bedeutet: Die Reglementierung ist nicht die alleinige Stütze reflexiver Zeitstrukturen in unserem Zeitraum, obwohl sicher eine wesentliche.

2.5 Das zeitreflexive Potenzial erotischer Liebe: Liebe und Zeit, Zukunftskonzipierung, der Determinationsfaktor ›Vergangenheit‹

Dass Liebe auch in der Zwischenphase eines der zentralen Themen darstellt und als solches die folgenreichsten Auswirkungen für Figuren, vor allem Initianden, anstößt, ist keine neue Erkenntnis (vgl. Begemann 2002). Wichtig aber für unseren Zusammenhang des reflexiven Umgangs mit der Initiationsgeschichte ist die Ausbildung eines neuen anthropologischen Modells, bei dem die erotische Liebe in eine (gegenüber dem literarhistorischen Vorgängersystem) neuartige, den Figuren unbewusste Konkurrenz zur (Herkunfts-)Familie tritt und ambivalent bewertet ist ‒ nämlich insofern, als sie für die Individualentwicklung notwendig erscheint und zugleich ›schuldhaft‹ semantisiert ist und sanktioniert wird (vgl. Lukas 2000: 336 f. u. Ders. 2006: 105 u. 114). Auch wird sie in einem textideologischen Kontext verhandelt, der materialistische Züge annimmt. Beides hat sich in der bisherigen Behandlung schon mehrfach gezeigt. Neben diesen Grundzügen des literarischen Liebesdiskurses kann nun aber ferner angenommen werden, dass die Geschlechtsliebe vor diesem Hintergrund im Rahmen reflexiver Zeitstrukturen funktionalisiert ist ‒ dass sie also nicht bloßer Selbstzweck ist, sondern innerhalb der Menge zeitreflexiver Merkmale unseres Zeitraums als regulativer Schalthebel dient, mit dessen Hilfe Texte ein Nachdenken über Zeit aufbauen, Semantiken steuern und metatextuell anschlussfähig werden.

Wichtig für die weitere Argumentation ist die erotische, zwischengeschlechtliche Liebe, sei sie einseitig oder gegenseitig, endogam oder exogam, glücklich oder unglücklich. Nicht von Bedeutung sind damit Formen karitativer Liebe, Formen der platonisch-geschwisterlichen, -elterlichen oder -freundschaftlichen Liebe, der Selbstliebe, der Liebe zu Dingen, Tieren, Einstellungen oder Tätigkeiten, es sei denn – und dieser Zusatz ist wichtig ‒, diese stehen in einem funktionalen Zusammenhang zu ersterer. Beispielsweise erläutert die junge Pflegetochter Elisabeth in Tiecks Der fünfzehnte November ihre Liebe zum stumpfsinnig gewordenen Fritzwilhelm:

Liebste Freundin […] sein Sie ganz ruhig, ich liebe ihn, gewiß, aber eben so gewiß nicht mit jener Liebe, die die Menschen gewöhnlich meinen, wenn sie das heilige Wort nennen, denn diese Empfindung wäre hier Frevel und Sünde, und mein Herz müßte zerbrechen. Soll es denn nur die eine Liebe geben? Ist unser menschliches Herz denn wirklich so arm? Ich will auf meinem Wege meine Wallfahrt zu dem heiligen Grabe beginnen, wo doch auch nur Steine für die glaubende Liebe angetroffen werden, und Sie und der Vater, auch unser Freund Thomas werden mich mit der Zeit verstehen; vielleicht unser Fritz tief tief in seinem Innersten, ohne daß er es selber weiß. Ich liebe Dich, sagen in unsrer dumpfen Räthselsprache Millionen zu Millionen, und wenn die Blume sich zur Sonne neigt, das Auge des Thieres für die Gabe dankt, Kinder spielen und lachen, und der arme Bettler über den unerwarteten Silbergroschen entzückt ist, da sehn sie die Liebe nicht. Ach! der Kranke, der linde gepflegt wird, der Weinende, der milden Trost empfängt, die darbende Mutter, deren Kinder genährt werden, sie verstehn das Wort Liebe, oft, sehr oft, meist besser, als jene mit rothen Wangen, die es in der Leidenschaft aussprechen, es vergessen und nachher verspotten. (Tieck 1853 [1827]: 174 f.)

Zum einen führt die Figur diverse Formen an, die augenscheinlich zum Paradigma ›Liebe‹ zählen und unsere obige Differenzierung veranschaulichen. Zum anderen ordnet sie ihre eigene Stellung zu Fritzwilhelm in ebendieses weite Begriffsverständnis ein. An Bedeutung gewinnt die Auffassung von ›Liebe‹ in diesem Textbeispiel allerdings dann vor dem Hintergrund ihrer Umsemantisierung am Textende, die aus der plötzlichen Genesung Fritzwilhelms resultiert und in der Folge Ehe und Familiengründung nach sich zieht.

Andere Beispiele führen weitere signifikante Varianten vor Augen. Besprochen haben wir bereits die überhöhte familiale Liebe in Fontanes Geschwisterliebe, die zur partnerschaftlichen Liebe umgedeutet wird, ähnlich wie in Eichendorffs Das Schloß Dürande, Stifters Der Hochwald oder Kühnes Die Geschwister. Immerhin quasigeschwisterlich erscheint die Liebe in Der fünfzehnte November und in Der Hagestolz; eine intergenerative Realisierung findet sich in Hebbels Barbier Zitterlein. Interessanterweise wird teilweise das einhergehende Endogamie-Bestreben der Texte so weit getrieben, dass derart inzestuöse oder quasiinzestuöse Beziehungen nicht nur nicht verhindert oder sanktioniert (oder aber wie noch in Tiecks Der blonde Eckbert von Figuren im Nachhinein überstark bereut) werden ‒, sondern sogar – wie bei Stifter, Kühne, Rellstab (vgl. Lukas 2006: 109 ff. u. 117‒120) – als solche nicht wahrgenommen oder erwünscht und sogar begrüßt werden ‒ und dann eindeutig korreliert sind mit einem restaurativen Zukunftsmodell, das in diesen Fällen die zyklische Rekapitulation des immer Gleichen perpetuiert. Dem entgegen laufen Handlungsmuster, die auf einen Ausbruch aus dem Familienverhältnis drängen und exogame Partnerfindung anstreben – wobei dies glücken (Barbier Zitterlein) oder aber scheitern kann (Geschwisterliebe; Das Schloß Dürande; Der Hochwald). In jedem Fall wird dadurch eine alternative Zukunftsoption eröffnet, die dem restaurativen Zukunftsmodell vorgezogen wird oder diesem weichen muss. Kurzum: In all diesen Texten wird der anfangs erwähnte Grundzug der Zwischenphase bedeutsam, bei dem die Konkurrenz zweier Wertesysteme (Familie vs. Liebe) insofern aufgebaut wird, als die Liebe zu einem Familienmitglied als erotische Liebe wahrgenommen und uminterpretiert wird.

Eine andere Variante wiederum – und auch dies eine entscheidende Änderungen gegenüber goethezeitlichen Liebeskonzepten ‒ fokussiert negative Auswirkungen ›übermäßiger‹ Liebe auf das Subjekt, seine Handlungen und sein Umfeld. Prinzipiell ist eine absolute Liebeskonzeption wie in Schlegels Lucinde im Literatursystem der Zwischenphase unter keinen Umständen mehr tragfähig. Dieser Umstand kann spielerisch-ironisch auf ein gutes hin Ende zugeführt werden, wie in Tiecks Des Lebens Überfluß, er kann aber ebenso – falls nicht ›gemäßigt‹ – zur Katastrophe führen, wie in Vischers Cordelia. In jedem Fall verliert ›Natur‹ ihre romantischen Attribute – die der Harmonie, der Ichhaftigkeit, des Organisch-Heilen (vgl. Marquard 1987: 199) – und wird zu einer (das Subjekt und dessen Umfeld gefährdenden) Triebnatur umgedeutet (vgl. ebd.: 178).

Ferner besteht eine Spielart in der ›verbotenen Liebe‹, eine Verbindung zwischen Figuren, die auf Basis bestimmter Restriktionen und aufgrund von sozialen, politischen oder kulturellen Schranken textintern als unmöglich gekennzeichnet ist (Die Wellenbraut; Die Selbsttaufe; Das Kloster bei Sendomir; Das Geheimnis der Reminiszenz; Das Bild des Kaisers; Die Lehnspflichtigen; Jud Süß; Der Hochwald). Stets müssen Figuren entweder einsehen, dass ihre Liebe – in Hauffs Jud Süß etwa ist von »verbotene[r] Neigung« (Hauff 1962b: 200) die Rede ‒ nicht ausgelebt werden darf und sie sich den gegebenen Beschränkungen zu beugen haben oder aber – in den meisten Fällen – sterben müssen oder schließlich auf anderer (zum Beispiel ideologischer oder sozialer) Ebene Verschiebungen hinnehmen, die ihre Liebe legitimieren.

Aufgegriffen und vielseitig problematisiert wird außerdem das goethezeitliche Konzept des Liebeszaubers. Anders als in Texten der Goethezeit tritt das Konzept nur noch in Einzelepisoden oder stark historisiert auf, vor allem aber ist es nicht mehr – wenn nicht epigonal nachgeahmt (wie bei Ungern-Sternberg) – im Okkulten verankert, sondern in Trivialisierung und Prosaisierung ›entzaubert‹. Allerdings prägt es in seiner Transformation die metatextuell-selbstreflexive Ausprägung der Zwischenphase. Künstler genießen dabei einen exponierten Sonderstatus (vgl. Lukas 2002b u. Abschn. 4.2) ‒ doch auch hier lassen sich wesentliche Differenzen zur Verschaltung von ›Kunst‹ und ›Liebe‹ der Goethezeit benennen (vgl. Begemann 2002 u. Titzmann 2012d [1990]).

Festzuhalten wäre demnach also der besondere Status familialer Liebe, ein doppelläufiges Verhältnis zu leidenschaftlich-partnerschaftlicher Liebe und – auf metatextueller Ebene – die Gegenüberstellung von goethezeitlicher und postgoethezeitlicher Liebeskonzeptionen. Anzunehmen bei alldem ist, dass Liebe und Zeitreflexion aufs Engste miteinander verschränkt sind: Das betrifft zum einen die zukunftsbildende Funktion von Liebe, zum anderen die Konfrontation mit der Vergangenheit in der Handlungsgegenwart. Auf der einen Seite ist Liebe deshalb prominentes Thema, da mit ihrer Hilfe Handlungsgänge der Figuren motiviert werden und über ihre Endzustände entschieden wird. Auf der anderen Seite konkurrieren mit ihr andere Werte, die Figuren insbesondere in ihrer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit abzuwägen und zu ordnen haben – sie sind daher oftmals ohne entsprechende Orientierung und nehmen den eigenen Gegenwartszustand als krisenhaft-unerträglich wahr.

2.5.1 Partnerschaftliche Liebe als zeitreflexive Funktion

Zunächst sind generelle Zusammenhänge dieses nicht unproblematischen, da weitreichenden und vielfältigen Komplexes zu entfalten. Schwierig gestaltet sich der Liebesdiskurs durch seine unklare Strukturierung, die aus der Relationierung diverser Formen von Liebe und einem allgemeingültigen emphatischen Sprachgebrauch hervorgeht, der das Feld auf den ersten Blick nur schwerlich zu differenzieren erlaubt. Signifikant ist dabei einerseits eine generelle Vielschichtigkeit klassifikatorischer Entwürfe (vgl. Susteck 2006): Liebe kann in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Bezügen vorliegen und beschränkt sich nicht allein auf die partnerschaftliche Variante. Zieht man Konversationslexika und (populär)wissenschaftliche Abhandlungen zurate, lassen sich anderseits aber durchaus Belege dafür finden, dass die sogenannte Geschlechtsliebe als ›eigentliche Liebe‹ im engeren Sinne aufgefasst, ihr jedoch zugleich mit wachsender Skepsis begegnet wird und deshalb das Diktum der Domestizierung oder Tilgung Eingang in den Diskurs erhält. Greifen wir zwei Beispiele heraus:

Vor allem ist es indeß nöthig, daß wir beachten wie verschiedenartig der Gegenstand der Liebe sein könne: ‒ Die Universalität und Macht dieses Gefühls spricht sich auch hierin aus, eine Universalität und Macht, deren das andere objective Gefühl, der Haß, niemals fähig ist. Durch unbewußten Zug und bewußte Erkenntniß kann nämlich eben die Liebe in Wahrheit das Geringste und hinwiederum das Höchste umfassen; vom Hangen am Boden und an der Wohnstätte, am Stein und Metall, von der Liebe zu Pflanzen und Thieren, wendet sie sich, als zum eigentlichen Mittelpunkte ihrer Existenz, zur Liebe zum Menschen, der Liebe zu sich selbst, zu Freunden, Eltern, Geschwistern, Kindern, und zumeist zur Liebe des andern Geschlechts, und steigert sich endlich bis zur Liebe zu Gott. Nach diesen verschiedenen Gegenständen nimmt sie selbst unendliche verschiedene Nüancen an, und breitet einen Reichthum und eine Mannichfaltigkeit von Zuständen aus, welche erschöpfend zu beschreiben und zu erklären gänzlich unmöglich wird. Fassen wir daher Das zunächst ausschließend und nahe ins geistige Auge, was wir den wahren Mittelpunkt dieses Gefühls, ich möchte überhaupt sagen, das Urgefühl nennen dürfen, und was auch die Sprache oft ausschließend mit dem Namen der Liebe bezeichnet, d. h. die Liebe der Geschlechter gegeneinander, und wir werden, eben weil dem so ist, daran das Wesen des Gefühls am lebendigsten zu begreifen vermögen […]. (Carus 1846: 283)

Carus rückt die Geschlechtsliebe zwar in den Mittelpunkt seiner allgemeinen Überlegungen zum Begriff, er verhandelt aber zudem auch mit ihr verbundene Gefahren für das Subjekt, so unter anderem das, was er »krankhafte[] Ausschweifungen der Liebe« (ebd.: 299) nennt, resultierend aus einer übersteigerten Leidenschaft. Die Geschlechtsliebe sei »ein mächtiger, Bewußtes und Unbewußtes durchdringender und bewegender Zug nach Vervollständigung unseres Daseins nach höchster und seeligster Vollendung unserer eigenen Existenz« (ebd.: 297). Da diese Liebe stets auch mit dem »heiße[n] Erglühen der Seele« (ebd.: 300) einhergehe, liege der Umschwung des Gefühls in Krankheit mit unterschiedlicher Ausformung nahe (vgl. ebd.: 302 f.). Diese krankhafte und überhöhte »Liebesleidenschaft« (ebd.: 305) ordnet Carus denn aber dem unreifen Subjekt zu und versucht, das Problem zwischen Einsicht ihrer Notwendigkeit für den Menschen und Verurteilung leidenschaftlicher Überhöhung zu lösen, indem er sie in der geistigen Entwicklung des Individuums verankert, das in der Folge seines »geistige[n] Wachsthum[s]« (ebd.: 309) im Normalfall »Verwandlungen« (ebd.: 312) der Liebe hin zu einer vernünftigen, »rein Geistigen« (ebd.: 313) anzustoßen und zu vollziehen vermag. Leidenschaftliche Geschlechtsliebe erscheint gleichermaßen essenziell wie ihre Mäßigung erforderlich.

Auch die 1879 publizierte Abhandlung Ueber das Wesen der Liebe ist in diesem Zusammenhang aufschlussreich, in erster Linie deshalb, weil sie sich im Gegensatz zu Carus Entwicklungsgeschichte der Seele ausschließlich dem Gegenstand zuwendet. Darin finden sich drei, im 19. Jahrhundert prominente und auch für Carus offensichtlich geltende Systematisierungsmaßnahmen: Erstens das Interesse an jedem Gefühl und die Differenzierung nach »Heftigkeitsgrad« von Emotionen (Teichmüller 1879: 241), wobei die Dichotomie ›vernünftige‹ Emotion vs. ›unvernünftige‹ Emotion hervorgehoben wird; zweitens – trotz der dezidierten Absage des Textes von Teichmüller ‒ die Einteilung von Liebesformen durch den Verweis auf Bezugsobjekte oder Subjekte der Liebe ‒ dadurch werde das »Feld der Liebe […] zu einem Feld der Bindestrich-Klassifikationen« (Susteck 2010: 89) ‒; und drittens die Einteilung in geschlechtliche und nichtgeschlechtliche Liebe – die Maßgabe der »Differenz des Geschlechts« (Teichmüller 1879: 224 f.) ist damit die grundlegende Differenzierungsmaßnahme.

Eine nun für unseren Zusammenhang entscheidende Vorarbeit hat Susteck ausgehend von der Idee geleistet, dass »Formen der Liebe nicht allein klassifikatorisch schematisiert, sondern narrativ und zeitlich geordnet« (Susteck 2010: 90) sind, diese Formen also im narrativen Nacheinander organisiert auftreten und zu unterschiedlichen Zeitpunkten unterschiedliche Strahlkraft haben können: Lebensläufe im 19. Jahrhundert, so Susteck, seien Liebesläufe. Als »organisierende Institute« bezeichnet er dabei Ehe und Familie, wobei das im allgemeinen kulturellen Wissen verankerteFootnote 21 »Narrativ bürgerlichen Liebens« (ebd.: 90 u. 92) – dies fügt sich in den Kontext von Grundachse 3 (literarische Anthropologie) ein ‒ in hohem Maße normativ fungiere: Durch Ehe und Familie werden »die Arten der Liebe in eine zeitliche Folge [eingestellt] und ›in Ordnung‹« (ebd.) gebracht. Gemäß einer solchen bürgerlichen Ausrichtung sieht dieses Narrativ die Transformation von Geschlechtsliebe in Gattenliebe vor, den Wechsel vom »Bild des Liebespaares als abgeschlossene Einheit« zum »Bild einer funktionierenden Sozialität« (ebd.: 94), die Umstellung des Zeitmodus von einer auf die Momenthaftigkeit ausgerichteten Liebe zu einer dauerhaft-lebenslangen Liebe, die gesellschaftlich verortet und sozial anschlussfähig ist und folglich mit entsprechenden Verhaltensregularien verbunden bestimmte Verpflichtungen gegenüber dem sozialen Umfeld einschließt. Die Herausforderung der Liebenden besteht demnach in der Umdeutung im Sinne einer »Zucht und Vollendung der Liebe« (Vischer, Ästhetik) hin zur Gründung einer »neue[n] Familie« (Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts); skeptisch beäugt wird nicht Liebe an sich, auch nicht die partnerschaftlich-erotische Liebe, sondern allein die überhöhte und leidenschaftliche Jugendliebe. Ziel ist ihre Mäßigung in der vernünftigen und sozialen Gattenliebe und ebendies ist eines der zentralen Themen auch der Zwischenphase – wobei der Akzent deutlich auf der Schnittstelle der Partnerwahl, Paarfindung und -bildung liegt und (noch) nicht – wie dann im Realismus ‒ auf der Problematik der Gattenliebe oder der Rekonstruktion ihres Verlustes.

Auszugehen ist für unseren Zeitraum von einer Fokussierung auf Geschlechtsliebe und der Eigenschaft von Liebe als zeitreflexive Funktion mit unterschiedlicher Ausrichtung. In der Regel ist Liebe eine der zentralen Antriebsfedern der erzählten Handlung. Dazu zählen nicht nur vorsexuelle Formen der Kinder- und Jugendliebe, sondern auch ungesteuerte, sexuell-amouröse Affekthandlungen, die Figuren bedingt durch für sie bis dahin unbekannte Liebeserfahrung vollziehen. Verbunden sind damit psychische Herausforderungen sowie Erfahrungen körperlicher Leidenschaften und Triebe (vgl. Burdach 1847: 564‒567 u. Teichmüller 1879: 233 f. u. 242‒246), mit denen sie sich auseinanderzusetzen und die sie zu bewältigen haben. Hinsichtlich der psychophysischen Tragweite des Phänomens erscheinen Texte der Zwischenphase in anthropologischer Hinsicht voll ausgebildet und sind sich über entsprechende Persönlichkeitsanlagen voll bewusst. Sie zeichnet vielmehr einerseits eine deutliche Latenz bestimmter Bereiche – die Verdrängung von Sexualität und Leidenschaft durch die Flucht vor der Partnerin (Der Condor) oder die Abtretung derselben an einen anderen Mann (Maler Nolten) (vgl. Lukas 2012b: 185‒189 u. 194) ‒ oder andererseits ihre strenge Sanktionierung in radikalen – negativierten oder gar negierten ‒ Zukunftsmodellen aus (Cordelia; Das Modell). Liebe ist demnach nicht nur das Thema der Literatur überhaupt, der Umgang mit ihr ist zugleich Nexus der vorfreudianischen Verhandlung des UnbewusstenFootnote 22 und bildet zugleich Grundlage einer Reflexion von ›Zukunft‹.

Folglich lassen sich zwei unmarkierte, aber wesentliche Aspekte eines zeitreflexiven Potenzials bestimmen: zum einen die Möglichkeit, über die Auseinandersetzung mit Liebe ›Gegenwart‹ zu reflektieren, und zum anderen die Funktionalisierung von Liebe als zukunftsgestalterisches Mittel. Obwohl beide Aspekte in der Regel nicht hervorgehoben werden und einer Auseinandersetzung mit Liebe seit der Aufklärung literarischen Texten beinahe zwangsläufig inhärent sind, sind sie doch epochenspezifisch ausgeprägt. Und hinzu tritt ein dritter epochenspezifischer Aspekt. Herausforderungen für Initianden bestehen nämlich nicht allein in der Erfahrung aufkommender Liebe und im adäquaten Umgang mit dieser Erfahrung als Voraussetzung einer wünschenswerten Zukunft. Liebe ist vielmehr stets in den Komplex der Konfrontation mit der Vergangenheit eingebettet; und ebendies wiederum erscheint durchaus als markierte, da literaturgeschichtlich von nicht zu unterschätzender Bedeutung.

2.5.2 Liebe als zukunftsmodellbildender Parameter

Im Rahmen der Behandlung des Reduktionsprinzips haben wir bereits feststellen können, dass Liebe als wesentliche Komponente zur Konzeption und Modellierung von ›Zukunft‹ dient. Wir möchten annehmen, dass sie eine der zentralen Funktionen zeitreflexiven Erzählens auf Ebene der dargestellten Aktzeit formiert. Dies unter anderem deshalb, da an der anthropologischen Fundierung des Phänomens ebenfalls das Hauptproblem der Zwischenphase – dem Schwanken zwischen Ablösung und Abhängigkeit von der Goethezeit – deutlich wird. Denn ein Konsens der Liebeskonzeptionen besteht ja darin, dass leidenschaftliche Liebe gleichzeitig essenziell für die Zukunft des Menschen ist und ebenso notwendig reduziert und transformiert werden muss in eine gemäßigte, durch Vernunft geleitete und auf Familiengründung und -führung konzentrierte Liebe mit stark sozialer Ausrichtung. Der anthropologische Impetus ist klar: Liebe erscheint ›lebensnotwendig‹ hinsichtlich der Personwerdung, der Realisierung bürgerlichen Glücks und nicht zuletzt der biologischen Reproduktion.

Ebendieser Nexus scheint nicht nur generell eine literarische Verhandlung herauszufordern, sondern fungiert auch als Mittel, auf dem die Reflexion von Zeit aufbaut. Denn Liebe ist, mit Susteck gesprochen, im Rahmen literarischer Texte narrativ und zeitlich organisiert, der anthropologische Transformationsprozess ist nicht nur konzeptionell vorgesehen, sondern wird als solcher literarisch diskursiviert und mit ihm werden verschiedene Möglichkeiten durchgespielt. Ferner tritt aber Liebe nicht nur temporal-sequenziert auf, sondern bestimmt maßgeblich die Zukunft der Figurenkonstellation. Welche Form sie im Endzustand annimmt und ob sie überhaupt gegeben ist, ist in der Regel gleichbedeutend mit dem dargestellten Zukunftsmodell. Und wenn wiederum Zukunftsmodelle diejenige Textgröße formieren, die die Spezifizität der uns vorliegenden zeitreflexiven Verfasstheit anzeigt, so muss die Interrelation beider Größen auch in dieser Hinsicht von großem Wert für die analytische Beschäftigung sein. Anzunehmen ist daher eine zeitreflexive Doppelcodierung von Liebe: Sie selbst ist zeitlich konstituiert und semantisiert zugleich ›Zukunft‹. Ihre temporale Sequenzierung kann zwar in der Realisierungsart divergieren; tiefenstrukturell verankert ist indessen stets ihre zielführende Funktionalisierung als motivationale Textgröße: Wenn Liebe in Texten auftritt, dann wird mit ihr ein Wunschendzustand angesteuert.

Auffällig sind vor diesem Hintergrund drei Umsetzungsvarianten: Im Hinblick auf Laubes Glück hatten wir indirekt konstatiert, dass die Geschichte des Helden Gustav auch als (epochentypische) ›Geschichte der Liebe‹ gelesen werden kann, als eine Art ›Liebesabenteuer‹. Der Held durchlebt eine Reihe von Liebesbeziehungen unterschiedlicher Art, bevor er am Ende eine Vernunftehe mit dem kleinbürgerlichen Ännchen eingeht. Bemerkenswert ist dabei die Vielseitigkeit der Liebesdarstellung mit unterschiedlichen Formen und mehreren, sich teils überlappenden Paarbildungen. Es resultiert daraus eine multisequenzielle Schichtung allein der Liebesthematik, die aufs Engste mit ›Glück‹ – dem Hauptproblem des Textes – verbunden ist: »Ja, Liebe ist der geheimnisvollste Mittelpunkt eines Glücks, das wir mit aller Weisheit definiren.« (Laube 1837: 285) Die Paarbildungsvarianten seien als solche benannt:

Einseitige, scheiternde Liebe I (Wlaska/Gustav). Noch in T1 geht Gustav eine engere Beziehung zu Wlaska ein – »das Wunder des kleinen Städtchens« (ebd.: 14) bei Prag, hübsch, belesen, poetisch, sanguinisch und physiognomisch fremdländisch markiert (vgl. ebd.: 21) ‒, die diese Beziehung offenkundig als Liebesbeziehung interpretiert. Es entwickelt sich eine einseitige, später unglückliche Liebe, die in Wlaskas Suizid mündet, nicht ohne allerdings Gustav ein Kind zu hinterlassen, das nicht von ihm gezeugt wurde. Zuvor taucht Wlaska an unterschiedlichen Stationen in Gustavs Transitionsphase auf: nach seiner Abreise in Prag – schon verwandelt und »totenbleich« (ebd.: 55) ‒, dann samt Knaben in Danzig, wo sie sich auf der Bühne mit einem Theaterdolch ins Herz sticht und verstirbt.

Gegenseitige, leidenschaftlich überhöhte und scheiternde Liebe (Angélique/Gustav). In T2 darf der Held Beziehungen zu drei potenziellen Partnerinnen eingehen. Die Verbindung zu Angélique beruht auf gegenseitiger Liebe und massiv überhöhter Leidenschaft (»wie ein Sturmwind«; ebd.: 48), die der Text als gefährlich, störend (vgl. ebd.: 57) und nicht wünschenswert ausstellt. Angéliques Äußeres erinnert Gustav »sehr an die geistreichen Frauenbilder aus Ludwigs XIV. Zeit« (ebd.: 46), zugleich ist »[a]lles an ihr […] jung und lockend« (ebd.: 42) ‒ sie entspricht damit der epochentypischen Überlagerung von ›Jung‹ und ›Alt‹ und wird vom Text als Option ausgeschlossen. Gustav verliert sein Erbe und wird im Gespräch mit Angéliques Vater – einem Vertreter des Großbürgertums – über den (damit verbundenen) Verlust seines Anspruchs auf die Tochter aufgeklärt. Der Held kompensiert dies durch Reisen und Bildungstätigkeit, gerät indessen aber in wirtschaftliche Not.

Erotisch-sexuelle ›Liebe‹ (Laurette/Gustav). In Paris gewährt ihm Laurette Unterkunft, die beiden führen eine ›lockere‹, nicht auf eigentlicher Liebe beruhende Sexualbeziehung, die im gegenseitigen Einverständnis und ohne weitere Konsequenzen wieder aufgelöst wird.

Einseitige Liebe, scheiternde Liebe II (Antonie/Gustav). Gustav verliebt sich in die adelige und reiche Toni, die seine Liebe zwar erkennt, jedoch nicht erwidert und »herausfordernd, lockend, aber nie gewährend« (ebd.: 291) auftritt. Der Text macht an dieser Stelle die Unmöglichkeit einer ständeübergreifenden Paarbeziehung deutlich, auch indem er Schaller in seinem Brief an Gustav zu Ännchen raten lässt und explizit auf die Unmöglichkeit des Gegebenen hinweist.

›Bürgerliche‹ Liebe (Ännchen/Gustav). Die Heirat mit dem jüngeren und noch naiven Ännchen entspricht ganz einem ›bürgerlichen‹, hier gewöhnlichen, aber willkommenen Glück:

Sie sind ein gewöhnlicher Mensch, Gustav, und dürfen in keiner Weise plötzlich verfahren, um nicht unglücklich zu werden; gewöhnliche Menschen sind eben solche, die nur in den regelmäßigen, herkömmlichen Verhältnissen ihr Glück machen können. (Ebd.: 281)

Die Selbstfindung des Helden ist offensichtlich einer Findung der ›richtigen‹ Liebe äquivalent, die im Falle Gustavs einer bürgerlichen Anthropologie verpflichtet ist und klar der ›Tendenz zur Mitte‹ folgt: Der Initiand ›erlernt‹ gewissermaßen die Liebe, wie sie der Textwelt angemessen erscheint. Bezeichnend im Hinblick darauf ist die Korrelation dieser Verbindungen mit Reflexionen von ›Zeit‹ im Allgemeinen und mit Modellierungsversuchen von ›Zukunft‹ im Besonderen. Denn stets wird über die Gegenwart und die Zukunft nachgedacht und dies wiederum auf besondere Weise. Bedeutsam am Ende ist, dass der »schönste Frühling« (ebd.: 287) semantisch korreliert wird mit der »beschränkte[n], aber sichere[n] Zukunft« (ebd.: 288): der Beginn eines künftigen und im Kontext der dargestellten Welt nun akzeptablen Lebenszustands. An eine Heirat mit Wlaska ist nicht zu denken, eine Zukunft ausgeschlossen – und doch ist das Kind, das nach ihrem Tod bei Gustav verweilt und seinen Namen trägt, das Signum einer minimalen Zukunftsrealisierung. Denn zwar handelt es sich bei ihm nicht um ein gemeinsames Kind, gleichwohl aber bildet es als Wlaskas Nachkomme und Adoptivsohn Gustavs semiotisch deren lebenslange Präsenz in Gustavs Dasein ab (ebd.: 210 f.).Footnote 23 Das Verhältnis zu Angélique wird vom Vater gleichermaßen an geschäftliche Projekte geknüpft, die »in weite Zukunft« (ebd.: 88) reichen, so wie er es plötzlich und unvermittelt ‒ wenngleich nicht unvorhersehbar ‒ wieder auflöst. Im Moment der Erkenntnis dieses durch soziale Restriktionen herbeigeführten Bruchs zwischen den Geliebten macht der Text, wie schon angedeutet, die Gefahr deutlich, die mit Leidenschaftlichkeit einhergeht, nämlich die Konzentration auf die Augenblicklichkeit und ausschließliche Gegenwärtigkeit des Daseins anstelle einer prospektiven Zukunftsausrichtung: »Der Augenblick, das wirkliche Leben ist ein Riese gegen alle Zukunft« (ebd.: 114); und: »Von Zukunft wußte er nichts, und wollte nichts wissen« (ebd.: 116). Eine ähnliche Ausdeutung von Zeit findet sich in der von Gustav als »Passion« bezeichneten, nicht auf emotionalem Zugehörigkeitsgefühl basierenden Beziehung zu Laurette, bei der es primär darum geht, mit den wenigen Ersparnissen und Einkünften über die Runden zu kommen: »Ah, ein Weilchen ist Alles, jede nächste Zukunft ist ein Weilchen, nous verrons.« (Ebd.: 150) Und nach seiner Abreise über Stettin nach Danzig ist er ebenso »unbekümmert um Börse, Herz und Zukunft.« (Ebd.: 160) Für diese ›gefährliche‹ Orientierung spricht letztlich ferner seine ›blinde‹, einseitige Liebe zu Antonie, durch die er »all die lange Zeit des Leides« (ebd.: 248) vergisst. Demnach wird durch Leidenschaft augenscheinlich sowohl der Bezug zur Zukunft als auch zur Vergangenheit gekappt, was der Text in Form des Scheiterns des jeweiligen Liebesverhältnisses sanktioniert. Dominant gegenüber letzterem ist aber vornehmlich die Eigenschaft der Zukunftsorientierung als konstitutive Komponente der hier aufgezogenen bürgerlichen Anthropologie. Es lebt derjenige ›richtig‹, der in die Zukunft denkt.

Gänzlich anders gestaltet ist die Liebesthematik in Stifters Hagestolz. Im Gegensatz zu Das Glück rückt ›Liebe‹ in allen ihren Facetten deutlich in den Hintergrund: Victor durchlebt keine ›Liebesabenteuer‹ und muss sich stattdessen mit dem Oheim auseinandersetzen. Doch das heißt nicht, dass Liebe gar keine Rolle spielt. Vielmehr ist sie von Beginn an subjektintern angelegt und tritt erst verbalisiert zutage, nachdem Victor Ludmillas Gemälde entdeckt und die gescheiterte Beziehung zwischen ihr und dem Oheim erfahren hat. Zwar ist sie bereits beim Abschied zwischen Victor und Hanna als gegenseitige Liebe erkennbar, kann aber nicht ausgesprochen werden und gerät damit zu einem Problem. Der Protagonist befindet sich im Dilemma zwischen der eigenen Zukunftsvorstellung – die keine Liebe vorsieht – und der faktischen Liebe zu Hanna, die er nicht wahrhaben will. Liebe ist demnach zwar nicht Handlungsantrieb, aber doch zukunftskonstituierend: Der Text macht über den Umweg der ›Reise des Helden in die Vergangenheit‹ nicht nur die fünfphasige Lebensabschnittsgeschichte plausibel, sondern unterstreicht die Legitimation der am Ende realisierten, maximal-endogamen Paarbildung. Liebe in dieser Form erhält insofern eine zukunftsbildende Funktion, als sie die Rückkehr des Helden in den Familienverbund garantiert. Angestoßen wird ihre Realisierung durch die Bewältigung von ›Vergangenheit‹: Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit mit der Modellierung einer Zukunft in Beziehung gesetzt. Liebe ist in diesen Konnex eingebunden.

Eine weitere, stark ausgeprägte Form der zukunftsbildenden Funktionalisierung stellen erotische oder quasierotische Beziehungen zwischen Geschwistern oder Eltern und Kindern dar. In Geschwisterliebe ist die ›allumfassende‹ Liebe zwischen Rudolph und Clara zum einen – zumindest aus Claras Sicht – in Belang auf ihre erotische Komponente widernatürlich und muss umgelagert werden, zum anderen belegt der Text Liebesverlust mit Tod beziehungsweise sanktioniert Claras Ausbruch aus dem Idyll. In der Variante, wie sie Barbier Zitterlein vorführt, widerstrebt dem Vater die außerfamiliale Liebe seiner Tochter – er erkennt die Sinnhaftigkeit damit einhergehender Handlungen und die eigene Störung erst im Anblick des Enkelkindes.

Obwohl diese drei mutmaßlich die dominanten Realisierungs- und Funktionalisierungsformen darstellen mögen – das Bestreben zur Reduktion von leidenschaftlicher Liebe, die (tendenzielle) Latenz auf Figuren- und Textebene und die Opposition von exogamer und endogamer Konstellation – findet sich darüber hinaus ein durch die Goethezeit vorgeprägtes, weitreichendes Arsenal an Spielarten. Unabhängig von glückenden oder unglücklichen und scheiternden Ausgängen unterscheidet das Literatursystem zwischen (a) der Liebe zwischen zwei Personen – unter Umständen gar bis ins Kinderalter zurückreichend – (s. o.), (b) mehreren Liebschaften einer Person (s. o.), (c) Dreieckskonstellationen (Cordelia; Geschwisterliebe; Das Schloß Dürande; Die Wellenbraut; Die Selbsttaufe; Das Geheimnis der Reminiszenz; Das Modell), und (d) (selten) zwischen mehreren Liebschaften mehrerer Personen (Die Zerrissenen).

Neben ihrer Funktion als Motivationsfaktor zur Reflexion gegenwärtigen Handelns und zukünftigen Daseins mit dem angestrebten Ziel einer unter den (›bürgerlichen‹) Maßgaben der dargestellten Welt glücklichen und abgesicherten Existenz im Endzustand, lässt sich an einer realisierten Liebe ferner auch ablesen, wie Texte ›Zukunft‹ semantisieren. Wir hatten bislang vorläufig davon gesprochen, dass T3 mit ›Zukunft‹ äquivalent ist und hatten dies konkretisiert, indem wir die Zukunftsmodellierung im Literatursystem generell als Implikat eines degressiven Reduktionsprozesses bezeichnet und behandelt haben. Da nun offenkundig Liebe eines der aufwendig verhandelten Themen darstellt, erscheint es daher gewinnbringend, Rückschlüsse von ihrer Realisierung auf die Semantisierung von ›Zukunft‹ zu ziehen.

Für das Literatursystem und die Modellierung von ›Zukunft‹ scheint prinzipiell von Relevanz zu sein, (1a) ob die Möglichkeit der biologischen Reproduktion besteht beziehungsweise unter welchen Umständen sie eben nicht gegeben ist und (1b) ob Nachkommen gezeugt werden, (2) in welchem gesellschaftlichen Rahmen Liebe situiert ist, insbesondere (3) in welcher Relation sie zu ›Familie‹ steht und (4) ob sie überhaupt realisiert und wenn nicht kompensiert wird oder Figuren dennoch eine Beziehung – ohne Liebe – eingehen oder nicht. Mit alldem sind verschiedene Effekte auf das Figurendasein verschränkt, die wiederum repräsentativ für die Zukunft dargestellter Welten oder Teilwelten zu lesen sind.

(1) Die Bedeutsamkeit von Familiengründung und der Zeugung von Nachwuchs für eine nachhaltige, über das individuelle Dasein hinausreichende Zukunft kann für die Zwischenphase gar nicht hoch genug eingeschätzt werden und tritt dann in aller Deutlichkeit zutage, wenn biologische Reproduktion ausbleibt.Footnote 24 Der Hochwald funktioniert in seiner Strukturanlage bereits realistisch und macht in der Rahmung, die das Ende proleptisch vorwegnimmt, deutlich, dass es sich um eine Verlustgeschichte handelt, die buchstäblich Ruinen hinterlässt; und dies obwohl die geschwisterliche Liebe zwischen den Schwestern Clarissa und Johanna zur Geltung kommt, nicht aber die tatsächlich zukunftsweisende zwischen Ronald und Clarissa, die vom Text im Irrealis der Figurenwahrnehmung bis zum Tode Clarissas mitgedacht wird. So sehr Stifter dann in Der Hagestolz die maximal-endogame Paarbildungsvariante anstrebt, mit Der Hochwald unternimmt er erneut einen Fingerzeig auf das Problem der Vergänglichkeit irdischen Daseins: Nach Kriegsende und Rückkehr in die heimatliche Burg durchleben die Schwestern zwar ein gemeinsames Liebesglück, ihr Altern und Tod sowie die verlassene Ruine zweihundert Jahre später zeigen allerdings markant die implizit gesetzte Notwendigkeit einer Fortpflanzung zur Zukunftssicherung auf. Ohne Nachwuchs wird Zukunft negativiert. Die Umstände also, unter denen Fortpflanzung als unmöglich ausgewiesen wird, verhindern nicht nur die Produktion von Nachwuchs, sondern werden zugleich auch als Zukunftshemmnisse ausgestellt und wirken daher als virulente Probleme auf die Zukunft ein.

Das Wort ›Nachwuchs‹ ist kein zwangsläufig auftretender Term auf der Textoberfläche, gleichwohl die Aussicht auf Nachwuchs auf semantischer Ebene natürlich impliziert ist, wenn Frau und Mann zusammenfinden – sofern sie altersmäßig noch zeugungsfähig und fruchtbar sind. Wichtiger als der Hinweis darauf, dass Paare Kinder hervorbringen und damit das Familienglück komplettieren, ist dem Literatursystem allerdings die Funktionalisierung von Kindern im Geschehenszusammenhang und im Rahmen zeitreflexiven Erzählens. Nicht zufällig lässt der Vater in Barbier Zitterlein von seinem Wunsch nach intergenerativer Wiedervereinigung erst im Anblick seines Enkels ab. Und mehr noch: Der Term ›Kind‹ ist zum Textende hin dermaßen hochfrequent auftretend, dass seine Signifikanz in der Semantisierung von ›Zukunft‹ außer Frage steht.Footnote 25 Anders wiederum in Geschwisterliebe und Dronkes Das Unvermeidliche, Texte, die den Nachwuchs sterben lassen: Geschwisterliebe indiziert mit der Todgeburt die Zukunftslosigkeit des Geschehens infolge der Fehlentscheidung Claras, sich aus dem Verhältnis mit ihrem Bruder zu lösen – unabhängig von der Schlusswendung, in der der Text die drei Figuren im Jenseits wiedervereint. Das Unvermeidliche erzählt den Rachefeldzug eines jungen Helden gegen einen strengen Justizrat, mit dem dieser jenen für den Tod der Eltern zur Rechenschaft zieht und nacheinander dessen Kinder ums Leben bringt. In derartigen Texten wird ›Zukunft‹, für die der Nachwuchs metonymisch steht, unterdrückt oder destruiert und dadurch umso vehementer auf die Korrelation beider Größen – ›Kinder‹ und ›Zukunft‹ – im Vorgang der Zukunftsmodellierung gepocht. ›Zukunft‹ endet, wird semantisch ›geleert‹, gekappt beziehungsweise mit Tod, Wahnsinn und Rückzug aus der Gesellschaft belegt oder im gesonderten Fall durch jenseitige Zeitlosigkeit substituiert.

(2) In Auseinandersetzung mit den bisherigen Beispielen fiel auch ins Auge, dass die gesellschaftliche Rahmung ausschlaggebend dafür ist, wie Liebe aufgestellt und damit ›Zukunft‹ modelliert ist, das heißt, dass sie darüber bestimmt, ob Liebe überhaupt realisierbar ist und wenn ja, mit welchen Auflagen. Zukunftsmodelle der Restauration kommen dabei so zustande, dass Paar und Gesellschaft in gegenseitiger Annahme und Akzeptanz harmonieren. Dem können mehrere Möglichkeiten vorausgehen. Prinzipiell scheint dem Denkmodell der Konnex eingeschrieben zu sein, dass – wie in Mügges Bilder der Zeit – in Liebesdingen »Gedanken an die Zukunft« (Mügge 1845a: 108) stets an »Gesetze der Gesellschaft« (ebd.: 90) gekoppelt sind. Das titelgebende Glück wiederum in Laubes Novelle ist ein eingeschränktes und willkommenes – es ist aber ein darüber hinaus sogar schriftlich definiertes und damit auf einem gesellschaftlichen Konsens beruhendes Glück, das Gustav am Ende auslebt. Seine Entwicklung verläuft zirkulär: Er befindet sich am Ende in demjenigen Umfeld, das er zu Beginn verlassen hatte, mit dem Unterschied eines hinter sich liegenden amourösen Experimentalgangs. Interessant auch Das Bild des Kaisers: Eine psychische Entwicklung der Kindergeneration bleibt aus, abgesehen allein von der ‒ gesellschaftlich bedeutsamen ‒ politisch-ideologischen Mäßigung Roberts, die denn seine Liebe zu Anna auch nach außen hin ermöglicht. Anzuführen wären auch diejenigen Fälle, in denen aufgrund von sozialen Bestimmungen, Normsetzungen und Wertevorstellungen, Liebe unterbunden wird und das Geschehen in ein Modell der Offenheit oder gar der Negation überführt wird. Der Protagonist in Die Ahnenprobe weist per Zertifikat seine adelige Abstammung nach, wodurch sein Liebesverhältnis gesellschaftliche Akzeptanz gewinnt. In Das Geheimnis der Reminiszenz glaubt die bereits verheiratete Charlotte, im Bedienten Johann ihren Seelenverwandten entdeckt zu haben, brennt mit ihm durch und betrügt ihren Ehemann. Ihre Liebe ‒ die zwischen platonischer Hingezogenheit und sexuellem Verlangen wechselt – hat in der sozialen Wirklichkeit der dargestellten Welt keinen Geltungsanspruch und richtet beide am Ende zugrunde. Nicht nur, dass der Text damit eine Absage an die Gültigkeit absoluter und idealisierter Liebe erteilt, die er zugleich ambivalent zeichnet und einseitig installiert, er verankert das Scheitern durch missliche Zufälle, Intrigen und fatales Unglück auffallend paarextern – und unterscheidet sich hierin etwa von Goethes Werther, der diese Problematik dezidiert als subjektinternen Konflikt verhandelt. Der Tolpatsch wurde als Paradebeispiel der Relativierung vorgestellt. Auch dort scheitert die Liebe zwischen Aloys und Marannele nicht aufgrund einer bewussten Entscheidung einer der beiden Figuren gegen eine Bindung, sondern deshalb, weil Aloys, um seine soziale Stellung zu verbessern, den Handlungsraum verlässt. In einem anderen Text der Schwarzwälder DorfgeschichtenFlorian und Creszenz ‒ wird Kriminalität als Folge sozialer Ungleichheit, eines grassierenden Materialismus und Armut gezeichnet, die Liebe zwischen beiden Hauptfiguren erscheint unerschütterlich und muss – das Landstreicherdasein macht das deutlich ‒ insbesondere in gesellschaftlicher Hinsicht bestehen und hat am Ende tatsächlich Bestand. Negativ attribuiert ist der Endzustand in Weills Selmel, die Wahnsinnige. Gegenseitige Liebe ist gegeben, kann aber weder kommuniziert noch realisiert werden und führt zu Psychopathologie und notdürftigen Familialisierungsmaßnahmen.

Die Reihe ließe sich fortführen. Wir sehen: In allen Fällen liegt ein direkter Zusammenhang zwischen Liebe und sozialem Umfeld vor. Der Umgang des Literatursystems mit Liebe impliziert neben bestimmten Zukunftskonzepten stets auch bestimmte Zukunftsmodelle. Getragen werden diese verstärkt durch die Größe ›Gesellschaft‹, die einen wesentlichen Anteil an der Konstituierung dreier eminenter Ausformungen hat: dem Restaurationsmodell, dem Modell der Polysemie/Offenheit und dem Modell der Kappung.

(3) Neben der Legitimation von Liebe durch den breiten gesellschaftlichen Kontext, spielt dafür seit den 1830er-Jahren auch das familiäre Umfeld eine immer entscheidendere Rolle. Dies ist natürlich eine der wesentlichen Modifikationen der Initiationsgeschichten mit zeitreflexiven Konsequenzen: Die Herkunftsfamilie hat derart großen Einfluss auf das Subjekt, dass es sich nicht lösen kann oder will, oder eben dann sanktioniert wird, wenn es sich löst. Problematisch ist die Relation von Familie und Liebe in zeitreflexiver Hinsicht stets, sei es, dass der Wert ›Familie‹ höherstehend ist als ›Liebe‹ und diese dadurch verhindert oder prädeterminiert, sei es, dass familiale Liebe umgedeutet wird zu erotischer Liebe und dadurch ›Zukunft‹ infrage stellt. Beides sind temporale Vorgänge, die auf Figuren- und auch auf Textebene die Thematisierung von ›Zeit‹ anstoßen. Der Wert der Familie ist subjektiv fest verankert und wird hochrangig wahrgenommen und ist zugleich in eine Struktur eingebettet, die brüchig ist. Wenn denn eine Semantisierung von Liebe – und in der Folge eine von ›Zukunft‹ – Merkmale der (Herkunfts-)Familie trägt, so wird sie hinsichtlich dessen – subtil oder drastisch – als problematisch gekennzeichnet, unabhängig davon, wie die Figuren zu ihr stehen. In Der Hagestolz ist dies die (kaschierte) Absage an das Initiationsmodell, in dem ein autonomes Subjekt vorgesehen war: Ein durchaus problematischer Konzeptwechsel bei ›Jung‹ wird als Lösungsvorschlag unterbreitet – genau aus diesem Grund ist dieser Text von Stifter ja ein besonders illustratives Beispiel hinsichtlich der Modifikationsmaßnahmen rund um die Initiationsgeschichte. Der Hochwald funktioniert in dieser Hinsicht eindeutiger; und Die Narrenburg verharmlost die ›Last der Vergangenheit‹ gar und trivialisiert das gegenwärtige Geschehen wie auch den Zukunftszustand gegenüber der Vergangenheit. Hochgradig problematisch erscheint sie in solchen Texten, in denen sie sogar zum Tode von Figuren führt, wie in Das Schloß Dürande, Die Lehnspflichtigen und Geschwisterliebe.

(4) Wird Liebe also nicht realisiert, wird sie unterbunden oder gar – durch Tilgung von Figuren – gänzlich negiert, indiziert dies stets die Offenheit oder durch die Kappung von ›Zukunft‹. Seit Mitte der 1830er-Jahre spielt eine weitere denk- und realisierbare Ausnahme in den literarischen Liebesdiskurs hinein, die in der Möglichkeit einer leidenschaftslosen Paarbildung besteht – und zwar ausdrücklich ohne den Zusatz einer Fundierung durch Liebe. In diesem Fall wird ›Zukunft‹ nicht zwangsläufig negiert – wie in Seidls Sie ist versorgt –, sondern den Figuren eingeräumt, oftmals aber unter der gänzlichen Aufgabe persönlichen Glücks. Die Absenz von Glück zieht eine nur bedingt wünschenswerte und damit offene Zukunft nach sich (Der Tolpatsch u. Zu spät!), es sei denn, Figuren begrüßen die Absage an eine leidenschaftlich überhöhte Liebe zugunsten eines ungeliebten und leidenschaftslosen Partners (Clementine u. Das Glück): die Entsagung als Form des Reduktionsprinzips also und die Entsagung als essenziell-begrüßenswertes Konzept.Footnote 26 Kompensationen nach Entsagung oder Verlust finden sich in diesem Zusammenhang zuhauf: durch Kunst und soziale Aktivitäten in pädagogischer oder karitativer Funktion (vgl. Lukas 2002a: 125‒128). Vischers Cordelia etwa schließt mit einem für die Figuren trostlosen Ende: Die geliebte Frau und Adoptivtochter verstirbt, Partner und ›Vater‹ fristen ein gemeinsames Dasein als Freunde. Der Partner Theobald versucht seinen Verlust durch Sozialdienst – in der Funktion »als liebevoller Tröster der Unglücklichen« (Vischer 1892 [1836]: 141) – mental aufzufangen. Die Zukunft ist mit dem Verlust von Liebe negativ konnotiert und offen.

Die Zwischenphase erkennt Liebe angesichts dieser weitreichenden Phänomene insofern einen für die Selbstfindung und Personwerdung immens wichtigen Wert zu, als es den Figuren einen Verhandlungsspielraum zugesteht. Dieser Spielraum ist prospektiv auf die Modellierung von ›Zukunft‹ ausgerichtet, wohingegen im Nachfolgersystem des Realismus auf der Textoberfläche ausgeblendet und aus dem Figurenbewusstsein verdrängt und als Problem vornehmlich retrospektiv, als etwas Vergangenes und Verlorenes ‒ und doch auch als etwas Sinnstiftendes ‒, reflektiert wird.

2.5.3 Die Determination durch und die Konfrontation mit der Vergangenheit

Die merklichen Signen des modifizierten Lebenslaufmodells sind die Bewältigung von ›Vergangenheit‹ und die Öffnung des Zukunftshorizonts. Das Gegenwartssegment, so kann anhand des Basiskonzepts nachvollzogen werden, ist dadurch gekennzeichnet, dass in ihm ›Zeiten‹ (oder besser Zeitsemantiken) kollidieren: Die wesentliche Aufgabe des Initianden besteht vor diesem Hintergrund darin, Elemente der Vergangenheit in das eigene Handeln zu integrieren und Zukunftspläne mit ihnen abzustimmen – hauptsächlich hat er (oder sie) Resultate zu berücksichtigen, die sich aus dieser Konfrontation ergeben und entscheidend für die Zukunftsaussicht sind. Folglich ist das Gegenwartssegment bedeutungsgenerierend strukturiert als Zeitabschnitt der temporalsemantischen Überlagerung. Wie zu sehen war, kann ›Vergangenheit‹ unterschiedlich besetzt sein ‒ es handelt sich um ein Set von ›alten‹ Elementen ‒ und sie ist insgesamt determinativ und muss daher auch im Zusammenhang mit der Liebesthematik gesehen werden. Ein solcher Zusammenhang besteht insofern, als im Zuge der Konfrontation der Gegenwart mit der Vergangenheit hochrelevante Komplexe offengelegt werden, deren Lösung für ein Gelingen der Handlung, für eine Realisierung von Liebe unabdingbar ist.

Zwei Denkfiguren können bis hierher expliziert werden: zum einen die Funktionalisierung der ›Vergangenheit‹ im Rahmen der Umsetzung von Liebe, zum anderen die Verhinderung von Liebe infolge einer retrospektiv-regressiven Vergangenheitsausrichtung vonseiten einzelner Figuren oder Kulturen. Beides hat den Effekt, dass die zukunftsbildende Funktion, die der Liebe als Strukturelement ja ohnehin schon von vornherein inhärent ist, eine spezifische Ausbildung erfährt. Inwiefern das Element als Schlüsselglied zwischen ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ steht, gilt es im Weiteren auszuführen.

Bedeutsam sind drei, sich teils überschneidende und für das Literatursystem repräsentative Konkretisationen des Zusammenhangs zwischen zeichenhaft-konkreter Vergangenheit auf der einen und Paarfindung und -bildung auf der anderen Seite:

  1. (1)

    die Konfrontation mit Hilfe zeitkonservierender Artefakte,

  2. (2)

    die retrospektive Anlage von Liebe selbst und

  3. (3)

    die Determination durch vergangene (Liebes-)Verhältnisse.

Die beiden ersten Felder sind eng mit kunstreflexiven Strukturen verwoben, die wir an dieser Stelle nur andeuten: (1) Figuren haben es fortlaufend mit einer Vielzahl an Artefakten zu tun. Von Interesse dabei sind solche, die zeitkonservierend fungieren und entsprechend temporalsemantisch aufgeladen sind – und zwar konkret im Zusammenhang mit der Handlung und mit Partnerschaften: Bilder und Gemälde, Zeichnungen oder Lieder, Dichtungen und jede Menge andere Artefakte. Intraepochal invariant ist dabei die Funktionalisierung dieser Artefakte als Katalysator, als Möglichkeitseröffnung, als Problemlösungsmittel in Liebessachen. Für Figuren eröffnen sich dadurch für sie positive Handlungsoptionen und Zukunftsaussichten – und das obwohl (oder gerade weil) Artefakte oftmals als ›Texte der Vergangenheit‹ semantisiert sind und Figuren dadurch mit der Vergangenheit konfrontiert werden und entsprechende Schwierigkeiten zu bewältigen haben. Konkret wird dies freilich in unterschiedlichster Realisierung etwa in Der tote Gast, Das Bild des Kaisers, in Der Hagestolz, Der Familienschild, Der Hochwald, Die Narrenburg, Imagina Unruh, Die Mappe meines Urgroßvaters. Sogar dann, wenn Liebe, wie in Imagina Unruh, scheitert, bestand doch vorher zumindest die – zwar angesprochene, aber unwahrscheinliche und letzten Endes nicht umgesetzte – Möglichkeit einer Paarbildung. In allen anderen genannten Texten kommt dem zeitkonservierenden Artefakt nicht nur eine eminente Position im Rahmen der erzählten Handlung zu, sondern ihm wird zugleich auch eine Schlüsselfunktion bei der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zugeschrieben: Es fungiert als Weichenstellung funktionierender Paarfindung, Partnerwahl und Paarbildung. Realisiert-glückliche Liebe erscheint denn stets als symbolisches Glücken der individuell-subjektiven Auseinandersetzung mit diesen Artefakten, aus denen die Figur die richtigen Handlungsschlüsse zieht. Dass dies allerdings oftmals nur oberflächlich betrachtet vollends harmonisch gelöst ist, wurde mit Das Bild des Kaisers, Der Hagestolz und Der Hochwald angesprochen. Besonders Stifters Texte zeigen deutlich die seit den 1840er-Jahren beinahe unumgängliche Verschränkung von Artefakt und Vergangenheitskonfrontation mit der Kollision endogamer und exogamer Liebesoption auf, die vornehmlich zugunsten der Endogamie reguliert wird. Gerade die literarische Einbindung von künstlerischen Produkten ist vielgestaltig und muss daher gesondert behandelt werden.

(2) Eine zweite Gruppe semantisiert eine der Hauptfiguren als Träger einer Retrospektive: Die Liebe selbst ist vergangenheitsorientiert. In Imagina Unruh bleibt die Paarbeziehung allein imaginatives und retrospektiv funktionierendes, mentales Konstrukt – eine PhantasieliebeFootnote 27 – und kann von der Protagonistin realiter nicht ausgelebt werden – obwohl sie für Entscheidungen, die Figuren treffen, wie auch für die zwischenmenschliche Interaktion insgesamt von höchster Signifikanz ist: Man denke an die wechselhafte Beziehung zwischen Otto von Sudburg und Feodore Zaluska, an die ehebrecherische Tendenz des Verhältnisses zwischen August und Feodore und an dessen Begründung zur Scheidung von Imagina. Die beiden Hauptfiguren in Des Lebens Überfluß wiederum leben ihre Liebe, die ironisch überzeichnet ist und in ihrer Auslegung als romantisch-überhöhte Liebe als unmöglich ausgestellt wird – unterstrichen durch die Lektüre eines gemeinsamen Tagebuchs, das den Gang der Handlung bis zur Gegenwart nachzeichnet. Neben diesen speziell in kunstreflexiver Hinsicht bemerkenswerten Konstellationen, sind dieser Gruppe auch solche Texte zuzurechnen, in denen im Ausgangszustand eine familiale Liebe zur partnerschaftlichen Liebe umsemantisiert wird und nach Aufbruch aus diesem Zustand die Sehnsucht handlungsdeterminierend ist: Sowohl Rudolph in Geschwisterliebe als auch Renald in Das Schloß Dürande sind darauf bedacht, einen unwiederbringlichen Zustand im Geschwisteridyll wiederherzustellen, während in Der Hochwald die Retrospektive Clarissas das Idyll nur vorübergehend bedroht und die Partneroption mit dem Tode Ronalds zwar erlischt, die Liebe der Schwestern aber keine zukunftsweisende Funktion einnimmt. In allen diesen Fällen gibt es mindestens eine Figur, die dominant ist und sich in Denken, Sprechen und Handeln stark an der Vergangenheit orientiert. Auch nimmt Geschwisterliebe eine – im Vergleich zu Imagina Unruh jedoch abgeminderte – Form der Doppelcodierung einer seiner Hauptfiguren vor: Rudolph sehnt sich nicht nur zurück in den vergangenen Zustand der Paarbeziehung zu seiner Schwester, sondern kommuniziert dies zugleich im Modus lyrischer Gesangseinlagen, die der Text ganz getreu der Goethezeit direkt wiedergibt. Die Konfrontation mit Rudolph ist also zugleich auch eine Konfrontation mit der Vergangenheit, und zwar ersichtlich an dessen mental-psychischer Orientierung und Hang zu einer veralteten Kommunikationsform. Die Gegenperspektive auf den Konnex bestehend aus familialer und partnerschaftlicher Liebe macht Hebbels Der Brudermord geltend. Auch dort ist der Protagonist in der Handlungsgegenwart eindeutig regressiv veranlagt. Seine Verblendung im Liebesunglück ist ja der entscheidende Punkt, von dem angestoßen das Ganze derartig fatal endet. Kurzum: In allen diesen Anordnungen geraten Figuren in einen Konflikt mit der Vergangenheit, und das deshalb, weil sie nicht (oder nur unzureichend) offen für andere als die ihnen bekannten Lebensumstände sind und neue Liebesbeziehungen nicht akzeptieren können (Geschwisterliebe) oder aber zu Beziehungen dieser Art nicht fähig sind (Imagina Unruh u. Der Brudermord).

(3) Eine wieder andere Textgruppe lässt sich ausmachen, die Paarbeziehungen der Elterngeneration in den Fokus rückt. Das Literatursystem tendiert dabei dazu, diese Beziehungen nachträglich irgendwie zu kompensieren, ins rechte Licht zu rücken, in anderen Konstellationen aufzufangen. Den Hintergrund für diese Maßnahme bildet die (partielle oder gänzliche) Absenz der Eltern in der dargestellten Gegenwart. Groß angelegt erscheint uns diese Variante in Immermanns Die Epigonen, worin der Held Hermann von seiner adeligen (aber unehelichen) Abstammung erfährt und dies für ihn und seine psychische Konstitution zwischenzeitlich größtmöglich negative Folgen hat: Der Fehltritt des Vaters und die problematische Beziehung zur Mutter wirken massiv in die Handlungsgegenwart ein und stören erheblich die Selbstwahrnehmung des Protagonisten – mit entsprechenden Folgen auch für sein Umfeld. Auch in Auseinandersetzung mit Der Hagestolz hatten wir darauf verwiesen, dass die Heirat zwischen Hanna und Victor eigentlich ein nachträgliches Glück der Elterngeneration bedeutet, sie also metonymisch die Heirat der Elterngeneration abbildet und damit die Restauration der Vergangenheit begünstigt. Dahingehend Ähnliches ist in Die Ahnenprobe auszumachen (vgl. Lukas 2002a: 126 ff.). Und wie in Geschwisterliebe begreift in Barbier Zitterlein der Mann (Vater) die ihm nahestehende Frau (Tochter) nach dem frühen Tode seiner Gattin als Liebespartnerin – hier indem er die absente Gemahlin durch jene ersetzt – und er vermag es nicht, sie mit einem anderen Mann ziehen zu lassen. Hervorgebracht werden hier wie dort Figuren mit neurotischer Persönlichkeitsstörung. Zitterlein: »[F]ühlst du dich nicht ebenso fest und unauflöslich an mich gebunden, wie ich mich an dich? Bist du nicht mein Fleisch und Blut? Mir kommst du vor wie ein Teil meiner selbst« (Hebbel 1965c [1836]: 324). Die Figur weiß, so wäre zu folgern, um die Verwandtschaftsbeziehung, interpretiert sie aber gänzlich falsch. Von außen wird das Verhalten Zitterleins verurteilt und er für verrückt erklärt: »[A]ls ob er, verzeih mirs Gott, sie selbst heiraten könnte oder mögte« (ebd.: 322). Die Störung der Figur besteht zum einen in der zukunftsunterdrückenden Fehlinterpretation des Verhältnisses zur Tochter und korreliert zudem ein Übermaß an Leidenschaft (»er fühlte das Erwachen einer rasenden Leidenschaft«; ebd.: 327), die hier abermals mit Gefährdung attribuiert ist. Anders aber als in Geschwisterliebe glückt die Beziehung der Tochter zu einem anderen Mann, sogar hinsichtlich der Zeugung von Nachwuchs, bei dessen Anblick Zitterlein seinen Fehler erkennt und – dies bezeichnend – in Ohnmacht sinkt. Wie selbstverständlich drückt der Text die Loslösung der Tochter vom Vater dabei in zeitreflexiven Begriffen aus, wenn ein Geistlicher im Zuge der Heirat Agathe dazu auffordert, »sich nun endlich dem heitern Genuß der Gegenwart hinzugeben und nicht mehr unter den Gräbern der Vergangenheit zu nachtwandeln« (ebd.: 335; Hervorhebungen von mir, S. B.).

Wenn also die Determination von ›Liebe‹ durch die Vergangenheit ein Kennzeichen unseres Textkorpus ist und damit als Merkmal des Literatursystems gelten kann, und wenn ›Vergangenheit‹ auf der histoire-Ebene als Regulativ für das Zustandekommen von Paarbeziehungen funktionalisiert ist, dann müssen wir das eingangs aufgegriffene Verständnis von ›Liebe‹ als narrativ und zeitlich organisiertes Strukturset an dieser Stelle mit Blick auf das im Rahmen dieser Studie beleuchtete Literatursystem minimal – aber literaturhistorisch wohl entscheidend – revidieren: Auch die Zwischenphase verarbeitet ›Liebe‹, indem sie diese in einen erzählerischen Kontext einbettet und als ein zeitliches Phänomen begreift, das zwischenmenschlich abgestimmt und in sozialen Kontexten legitimiert werden muss und eine Zukunftsgarantie sein kann. Das Literatursystem nimmt ferner verschiedene Formen an, die es zeitlich organisiert: Kinds- und Elternliebe, erotisch-sexuelle Geschlechtsliebe, Gattenliebe. Neben Frage- und Problemstellungen, die die Übergänge zwischen diesen Formen wie auch die Realisierung zur Wegbereitung einer wünschenswerten Zukunft betreffen und die Figuren zu meistern haben, ergibt sich für jene die unumgängliche Konfrontation mit der Vergangenheit:

In allen Fällen wird Liebe mit Vergangenheitsbewältigung korreliert, deren Gelingen oder Misslingen darüber entscheidet, wie und ob einem Endzustand Liebe und damit persönliches Glück eingeschrieben ist.

Zeitreflexiv relevant ist dabei dreierlei: Erstens können Übergänge zwischen den genannten Formen nicht mehr ohne weiteres als solche erkannt und vollzogen werden. Rekurrent verwechseln Figuren (bewusst und unbewusst) Liebesformen und drängen damit andere Figuren in Rollen, denen diese nicht gerecht werden können; Übergänge werden nicht vollzogen, sondern Formen überlagert – erst so sind Gebilde wie in Geschwisterliebe überhaupt denkbar. Zweitens stellt dies eine nicht zu unterschätzende Hürde für die Modellierung von ›Zukunft‹ dar. Wenn Liebe nicht erkannt wird, wenn Figuren ›Familie‹ in Konkurrenz zu erotischer Liebe bringen, wenn sie Liebe gleichermaßen als Notwendigkeit ansehen und ihre Implikationen nicht akzeptieren und Liebende sanktionieren, dann ist auch die Zukunft in Gefahr, und zwar nicht allein eine Zukunft, in der geliebt wird, sondern eine Zukunft auch in existenzieller Hinsicht. Zwar sind leidenschaftslose Verbindungen denkbar (Der Tolpatsch u. Clementine), oftmals sind Entsagungen oder der Verlust des Partners durch Tod allerdings mit Kompensationsmaßnahmen durch Aktivitäten verknüpft, die keine alternative Partnerwahl zulassen und somit keinen Nachwuchs vorsehen, der ›Zukunft‹ über das eigene Dasein hinaus garantieren würde – problematisch aber wird dies allein aus dem Grund, da ›Welten‹ lediglich ein diesseitiges Dasein vorsehen und ein eschatologisches Modell ausschließen. Offensiv findet sich das verhandelt bei Stifter, die Ausnahme bildet Fontanes früher Text Geschwisterliebe. Drittens wird ›Zukunft‹ in Frage gestellt durch den Einfluss von ›Vergangenheit‹. Figuren müssen das eigene Dasein wie auch die eigene Handlung abgleichen mit Bedingungen, die ihnen das ›Elemente-Set der Vergangenheit‹ diktiert. So kommt es zur ›Überlagerung von Zeiten‹, deren Effektivität im gegebenen Fall symbolisch an ›Liebe‹ durchexerziert wird: Insbesondere Initianden erscheinen in dieser Hinsicht als ›Zerrissene‹, die zwischen einer ihnen auferlegten Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und der eigenen Zukunftsplanung stehen. Ob und unter welchen Auflagen Liebe realisiert werden kann, ist häufig abhängig von dem Tatbestand, der sich durch die Einwirkung der Vergangenheit in die Gegenwart ergibt.

Diese Punkte deuten auf eine reflexive Zeitstrukturanlage hin, die über das Verhältnis von Figur und Aktzeit aufgebaut ist. Aber nicht allein erscheinen Konflikte von Figuren temporalsemantisch aufgeladen, auch werden sie als ›Zeitprobleme‹ – hinsichtlich der Aufdeckung von ›Vergangenheit‹, der Planung von ›Zukunft‹, der Aktivierung des Erlebens einer fragilen Gegenwart – zugleich explizit auf der textuellen Oberfläche thematisiert. Texte begreifen folglich ›Liebe‹ nicht nur als temporalsemantisches Phänomen, sie zentrieren dieses Phänomen zudem in einen Zusammenhang, der mit anderen Verhandlungsgebieten vernetzt ist. Die Liebe mag prominentes Thema des Literatursystems sein, aber auch sie ist strukturell eingebunden in übergeordnete Reflexionseinheiten.

2.6 Reflexive Zeitstruktur I: Das postgoethezeitliche Lebenslaufmodell

Auf Grundlage der Ausführungen lässt sich ein erster, für das Literatursystem der Zwischenphase tragender Strukturkomplex abstrahieren, der die modifizierte Initiationsgeschichte auf epochenspezifische Weise mit der Reflexion von Zeit verbindet. Komplementär zu und anschlussfähig mit noch zu behandelnden Komplexen wollen wir dieses Merkmalscluster rund um das postgoethezeitliche Lebenslaufmodell reflexive Zeitstruktur I nennen und greifen die wesentlichen Erkenntnisse auf, die bis hierher gesammelt werden konnten. Die Zeitstrukturmenge I umfasst die folgenden Bausteine (Abbildung 2.10):

Abbildung 2.10
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Übersicht über die Komponenten der reflexiven Zeitstruktur I

Wir fassen diese Übersicht weniger typologisch als taxonomisch auf. Es geht uns mit ihr nicht um eine Fixierung literarischer Phänomene in einem terminologischen Raster, sondern um die Benennung der für eine Theoretisierung der Zeitreflexion der Zwischenphase wesentlichen Felder, in denen sich diese Phänomene lokalisieren lassen. Die genannten Komponenten stellen metasprachlich-theoretische Begrifflichkeiten dar, die eine analytische Erfassung ermöglichen und eine heuristische Annäherung an den Gegenstandsbereich erlauben. Sie decken repräsentative Merkmale und Regularien ab, können in ihrer Zusammenstellung aber sicher nicht allumfassend sein, sondern grundieren an erster Stelle den spezifischen Umgang mit Zeit und gruppieren sich um das modifizierte Erzählmodell der Initiationsgeschichte.

Die reflexive Zeitstruktur I stellt sich als Phänomen der histoire-Ebene dar beziehungsweise als semantische Strukturmerkmalsmenge, die den Teilbereich der fiktionalen Aktzeit betrifft. Zwar sind ebenfalls Modifikationsaspekte des Modells zu beobachten, die auf der discours-Ebene liegen – etwa bei der Homologisierung des discours mit dem Unbewussten der Figuren in der Auseinandersetzung mit Liebe, der Isomorphie zwischen Zeiterleben der Figur und narrativer Vermittlung oder auch den Varianten 1 (chronologisches Erzählen) und 2 (retrospektives Erzählen) als Eigenschaften der Textzeit. Allerdings wurden die letzteren an diesem Punkt der Untersuchung noch weitestgehend ausgeblendet. Als Maßnahme erschien uns dies deshalb gewinnbringend, da der Blick dadurch zunächst für einen schon für sich genommen komplexen Teilbereich des Literatursystems geöffnet werden konnte – zumal zeitreflexive Aspekte der Textoberfläche in den reflexiven Zeitstrukturen II und III sehr viel deutlicher ausgeprägt sind und an gegebener Stelle noch Eingang in die Argumentation finden werden.

Verankert ist die reflexive Zeitstruktur I vor allen Dingen in einer anthropologischen Neuausrichtung der Zwischenphase, deren Grundzug in der nachhaltigen Prägung durch die Goethezeit einerseits besteht, andererseits aber auch in der Unterminierung und Erodierung applizierter Einheiten. Der ihr eingeschriebene Widerspruch zwischen möglicher Denkbarkeit und unmöglicher Realisierbarkeit der Initiationsgeschichte gestaltet das Literatursystem zeitreflexiv und zwar hinsichtlich der Temporalität des Erzählten und der Umsemantisierung der Lebensphasen in der diachronen und synchronen Struktur des Erzählten.

Die genannten Modifikationen des Modells gegenüber der Goethezeit legen ein neues (Nach-)Denken über Zeit nahe: über die Zeit des Subjekts, über die Zeit der Welt und die Divergenz zwischen subjektivem Zeiterleben und Zeitkonzept auf der einen Seite und (fiktionsintern) ›geschichtlicher‹ Zeit auf der anderen. Initiationsmodell und Zeitreflexion bedingen sich dabei gegenseitig: Reflektiert wird ›Zeit‹ im Rahmen des Modells so wie dieses im spezifischen Umgang mit ›Zeit‹ überhaupt erst jene Veränderungen erfährt, die es vom Vorbild der Goethezeit abgrenzen. So ist auch dessen qualitative Herabstufung im Zuge seiner Funktionalisierung thematisiert worden: Die Initiationsgeschichte ist nicht mehr – wie etwa im klassischen Bildungsroman nach dem Modell Wilhelm Meister – Selbstzweck, sondern wird anderen (etwa politischen) Belangen neben- oder untergeordnet. Gar zur bloßen narrativen ›Hülle‹ degradiert wird es in Texten, die zirkulär verfahren und den Protagonisten dorthin überführen, wo seine ›Entwicklung‹ begonnen hatte. Zirkularität und Restaurationsmodell sind eng miteinander verflochten.

Dominierend ist ferner der Kontrast zwischen Kontinuität und Diskontinuität, der zwar schon im Vorgängersystem als Problem in der anthropologischen Theoriebildung benannt worden war, hier nun aber innerhalb der Zeitstruktur literarischer Texte rekurrent als Problem offensichtlich wird und virulent-gefahrvoll zutage tritt. Die Gegenwart erscheint als Segment der temporalen Überlagerung, die sich aus der Konfrontation mit ›Vergangenheit‹ und dem massiv betriebenen Aufwand bei der Zukunftsgestaltung ergibt. Darüber wird in den nachfolgenden Kapiteln noch zu sprechen sein. Festhalten lässt sich an dieser Stelle aber dies: Die Zustandssemantiken und Phasenmerkmalszuschreibungen treten gegenüber der Goethezeit verändert auf. T1 ist – beinahe durchgängig – durch das Fehlen der Eltern oder das eines Elternteils gekennzeichnet. Zur Folge hat dies die Schwierigkeit für Protagonisten, sich von der Familie zu lösen, ein Vorgang, der im Denkmodell des Initiationsprozesses aber vorgeschrieben ist. Wenn die Figur jedoch die Loslösung anstrebt und gleichzeitig mental im Familienraum verweilt, dann zieht dies entwicklungshemmende Effekte nach sich, die wiederum zeitreflexiv zu lösen versucht werden. Daher manifestiert sich T2 – allein schon aus Sicht des fokussierten Subjekts – als Gegenwartssegment der gegenläufig strukturierten Zeitschichtung resultierend aus dem Spannungsfeld zwischen Konfrontation mit der Vergangenheit und Ausrichtung auf die Zukunft, die unterschiedlich angedacht wird und ausgehandelt werden muss. T3 gehen mithin divergierend-konfligierende Zukunftskonzepte voraus, ›Zukunft‹ selbst ist in der Regel Resultat eines degressiven Reduktionsprozesses.

Der Aufbau des spezifischen zeitstrukturellen Gerüsts reicht mit der Temporalsemantisierung der Räume und der Figuration über die Diachronie des Lebenslaufs und die Synchronie der Lebensphasen hinaus: Temporalsemantische Elemente organisieren und regulieren die dem Basiskonzept immanente Leitdifferenz ›Alt‹ vs. ›Jung‹, indem sie die Gesamtmenge diegetischer Einheiten in abstrakt-semantische Räume aufgliedern, die oftmals komplex, das heißt: teils sogar mikrostrukturell in überlagerter Form vorzufinden sind (zum Beispiel in Figuren). Die Opposition ›Alt‹ vs. ›Jung‹/›Neu‹, so zeigt sich, ist ein einzeltextübergreifendes Merkmal, ihre Realisierung jedoch variantenreich ausgeprägt und nicht typologisch fixierbar, sondern allenfalls taxierbar. Die Temporalsemantik des Raums und der Figuren bilden dasjenige Setting ab, in dem sich Initiationsprozesse vollziehen: Lokale und figürliche Einheiten werden mit temporalsemantischen Merkmalen versehen, diese dominant gesetzt und so bedeutungskonstitutiv organisiert. Setting deutet darauf hin, dass die Temporalsemantik maßgeblich an der Grundordnung dargestellter Welten beteiligt ist und als Schlüsselstelle zugleich die Diegese installiert, wie auch Zeitreflexion fundiert. Mit der statischen Grundordnung der dargestellten Welt lässt Zeitstruktur I noch Verschiebungen unberücksichtigt, denen Textwelten ausgesetzt sein können und schließt nur bedingt ereignisstrukturelle Dynamiken ein, die Texte in der paradoxalen Koppelung von ›Regression‹ und ›Progression‹ auflösen. Überhaupt lässt sie offen, wie Zeitreflexion in Texten funktioniert, die keine Initiationsgeschichte erzählen, und ob diese von den bisherigen Funktionsweisen abweichen und der Merkmalspool zeitreflexiven Erzählens entsprechend ausgeweitet werden muss.

Und doch führt Zeitstruktur I die Spezifik der Beschäftigung mit ›Zeit‹ vor Augen, wie sie das Literatursystem aufweist. Die Zwischenphase stellt Zeit als Problem dar und verankert dieses Problem in der Wahrnehmung der Figuren und in der ›kulturellen‹ Auslegung. Daraus ergeben sich zwar keine Paradoxien im herkömmlichen Sinne – also logisch-widersprüchliche Textpropositionen in Bezug auf Zeit –, aber eben auch keine simplen Aufstellungen der semantischen Räume ›Alt‹ und ›Jung‹ – sondern teils komplexe textstrukturelle Gestaltungen des In-, Über- und Gegeneinanders von Zeitsemantiken.

Letzten Endes mag in Anbetracht dieser Merkmalsmenge auch der Gedanke aufkommen, dass hier eine strukturelle Teilklasse von Selbstreflexivität vorliegt, bei der semiotisch ein allgemein regulativer Komplex umgesetzt ist: Tatsächlich, so ließ sich erahnen, lässt sich mit der Initiationsgeschichte ein wesentlicher Teilbereich benennen, an dem sich der Zwiespalt zwischen Gültigkeit und Ungültigkeit tradierter Denkmodelle vollzieht und so auf selbstreflexive Weise literarischer Wandel und die Standortbestimmung des Literatursystems angegangen werden. Zeitreflexion scheint immer auch einen selbstreflexiven Grundzug zu haben.