1.1 Die Zeitproblematik als Symptom der Zwischenphase: Eingangsüberlegungen am Beispiel von Hebbels Die Kuh

Die uneinheitliche Literatur im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts ist in einem Punkt erstaunlich homogen: in ihrem Bestreben nämlich, über Zeit nachzudenken. Indem sie den eigenen Status als Übergangsepoche entwirft, erhebt sie die Störung von Zeit zu einem ihrer kardinalen Verhandlungsgegenstände und erzeugt ein Konzept von ›Zukunft‹, das vor allem eines ist: vielgestaltig. So, wie der Realismus besessen ist vom Tod und die Frühe Moderne vom Leben, wie der Sturm und Drang von der Freiheit und die Romantik vom Ungenügen an der Realität – so ist die Zwischenphase besessen von der Reflexion von Zeit. Die Zeit als Störung, die Unsicherheit des Lebenslaufmodells und die Insuffizienz der eigenen Gegenwart, die regressive Orientierung an der Vergangenheit und der progressive Fortschrittsglaube – überhaupt: das fortwährende Nachdenken über Zeit und Zeitlichkeit, gebunden an die Erkenntnis, dass etwas vorbei ist, ohne dass etwas Anderes schon gefunden worden wäre oder sich etabliert hätte – allesdies zeichnet die literaturgeschichtliche Phase aus, die wir um 1820 ansetzen und um 1850 enden lassen und Zwischenphase nennen wollen. Zeitreflexion ist – dies die Grundidee der nachfolgenden Ausführungen – Dreh- und Angelpunkt eines weitreichenden und tiefgreifenden literar- und mentalitätshistorischen Wandels, der von der Zwischenphase als solcher wahrgenommen und verarbeitet wird.

Den Ausgangspunkt bildet dabei die Beobachtung, dass literarische Texte die Reflexion von Zeit an nichttemporale Problemkomplexe binden. Es geht also nicht ausschließlich um explizite Bezugnahmen auf die Kategorie ›Zeit‹ in all ihren Facetten – als geschichtliche, metaphysische oder mythologisch geformte Größe, als natürlicher Orientierungsmaßstab innerhalb der jeweiligen Lebenswelt, als Grunddimension und überhaupt Voraussetzung des persönlichen und des kulturellen Lebens und so weiter –, sondern ebenso um die Verbindung temporalsemantischer Einheiten mit nichtzeitlichen Termen, die Verschränkung von Zeit mit anderen Texteinheiten, mit diegetischen Komponenten oder mit narrativen Strategien, und zwar in einem bedeutungserzeugenden Funktionszusammenhang. Dementsprechend geraten jene Texte dieses literarhistorischen Segments in den Blick, die Zeit und Zeitlichkeit ganz offen verhandeln – aber eben auch solche, die dem ersten Anschein nach nur am Rande mit dieser Problematik zu tun haben. Aus dieser Menge von Texten also ließen sich, so könnte man meinen, spezifische Regularitäten und Merkmalscluster rekonstruieren, die aufschlussreiche Erkenntnisse über die Literatur dieser Zeit in Aussicht stellen.

Soweit die Hypothese. Aber wie äußert sich das Ganze konkret? Zum Einstieg ein Beispiel: Friedrich Hebbels kurzer Text Die Kuh (1849)Footnote 1 erzählt den Tod einer Bauernfamilie nach fatalen Missverständnissen und einer unglücklich verlaufenden Ereigniskette.

In seiner Wohnstube, die sehr niedrig und auch etwas räucherig war, […] saß der Bauer Andreas an dem noch vom Großvater herstammenden alten eichenen Tisch und überzählte vielleicht zum neunten Male ein kleines Häufchen Talerscheine. Er hatte die Pfeife im Munde, und daran konnte man sehen, daß es Sonntag sei, da er sich die mit dem Rauchen verbundene Zeit- und Geldverschwendung bei seiner knappen, ängstlich-genauen Natur an keinem anderen Tage erlaubt haben würde; sie brannte aber noch nicht und war auch noch gar nicht angezündet gewesen […]. Um ihn herum […] spielte sein Kind, ein munteres, braunes Knäblein von zweieinhalb bis drei Jahren. »Den da – murmelte Andreas und hielt einen der Scheine mit sichtlichem Behagen in die Höhe – bekam ich für die Fuhre Sand, die ich dem Maurermeister Niclas in die Stadt lieferte, als es, wie mit Mulden, vom Himmel goß; ich kenne ihn an dem Riß. […]«

[…]

»Freilich, freilich – begann er abermals, indem er einen Zehn-Taler-Schein ergriff – es würde noch eine gute Weile gedauert haben, wenn das Glück mich nicht begünstigt hätte! Ha, ha! […] Ich will einmal vor die Tür gehen!« Andreas stand auf und tat jetzt den ersten Zug aus der Pfeife. »Ja so – rief er aus – du brennst noch nicht, und ich meine, schon eine halbe Stunde zu schmauchen! Nun, umsonst will ich dich nicht gestopft haben.« Er nahm ein altes brüchiges Zeitungsblatt vom Tisch, in das die Scheine eingewickelt gewesen waren. »Jetzt brauche ichs nicht mehr – sprach er, indem er es beim Licht anzündete – noch heute geht das Geld aus dem Hause, denn der Müller kommt gewiß mit; ich täts an seiner Stelle auch!« Er steckte die Pfeife in den Brand und warf das Blatt an die Erde. Das Kind hatte dem plötzlichen Aufflammen desselben mit leuchtenden Augen zugesehen, es rief jetzt: Ah! und hob das Blatt wieder auf. »Brenn dich nicht!« sagte Andreas und ging hinaus. (Hebbel 1965a [1849]: 489 ff.)

Diesem expositorischen Geschehen schließt der Text eine bemerkenswerte, ja spektakuläre Ereignisfolge an: Der Kleine, fasziniert vom Feuer, verbrennt in der Abwesenheit des Vaters Schein für Schein des Geldes. Jener bemerkt die Tat zu spät, wirft den Sohn in einem Anfall von Tobsucht gegen die Wand und erhängt sich – die Auswirkung seiner Tat begreifend – auf dem Dachboden. Kurz darauf kehren Frau und Knecht samt Kuh zuhause ein: Die Mutter fällt beim Anblick des zerschmetternden Kindes in Ohnmacht, der Knecht erschrickt auf der Suche nach seinem Herrn vor dessen Leichnam, lässt die Kerze fallen und brennt damit das gesamte Anwesen nieder. Auch die Kuh, so heißt es abschließend, »dem diesen armen Tieren angeborenen unseligen Trieb folgend, [ist] ins Feuer hineingelaufen und mit verbrannt« (ebd.: 493).

Auf den ersten Blick scheint Hebbels Text den Konnex von ökonomischem System eines in der Textwelt aufkommenden Kapitalismus und Denk- bzw. Handlungsmustern zu verhandeln: Das angestrebte Ziel und der allen wirtschaftlichen Handlungen zugrundeliegende Zweck ist der ökonomische Aufstieg. Kuh wie auch Esel und Pferd sind verbunden mit unterschiedlich hierarchisierten sozialen Stufen innerhalb der entworfenen Gesellschaftsgruppe ›Bauern‹ und fungieren darin als Statussymbole. Gewährleistet wird ein Aufstieg der Wirtschafter wiederum durch ein Substitutionsprinzip, das allen kapitalistischen Systemen mehr oder minder komplex ausgeprägt zugrunde liegt: (körperliche) Arbeit ⇒ Geld (in Form von Papieren) ⇒ Ware (in Form des Nutztieres Kuh). Durch einen Handlungsüberschuss im Bereich ›Arbeit‹ wird eine über die zum Leben notwendige Summe hinausreichende Menge an Geld akkumuliert, die per Kaufhandel gegen eine bestimmte Ware eingetauscht wird, die ihrerseits nicht nur einen entsprechenden monetären Wert repräsentiert, sondern als Reputationssymbol funktionalisiert ist und somit neben einem wirtschaftlichen ebenfalls den sozialen Aufstieg korrelieren kann. Die abzuleitende Textproposition in dieser Hinsicht lautet: ›Der Vater tötet das Kind, da dieses eine dem System zuwiderlaufende Handlung vollzogen hat, und richtet eben durch sein Denken und Handeln seine Familie zugrunde.‹

Allerdings stellt dies nur einen und zudem einen nur recht oberflächlichen Teilaspekt des Bedeutungsaufbaus dar. Der zentrale Kulminationspunkt ist nämlich der durch die entworfene Anthropologie und die Handlungsmotivation implizierte, auffallend markierte Umgang mit temporalen Semantiken. Angelegt sind diese Semantiken zunächst in der Konstellation bestehend aus Vater und Sohn als Vertreter jeweils einer ins Blickfeld gerückten Eltern- und Kindergeneration: Bauer Andreas ist Repräsentant eines anthropologischen Modells, das vornehmlich an der Vergangenheit ausgerichtet ist – ersichtlich sowohl an seiner direkten, »vom Großvater herstammenden alten« (ebd.: 489) räumlichen Umgebung, als auch an seinem Redeakt, mit dem er narrative Versatzstücke der vorgelagerten Vergangenheit nachliefert –, einem Modell, das auf Basis dieser Ausrichtung aber zugleich auch ein Zukunftskonzept benennt, das den angesprochenen sozialen Aufstieg und die Weitergabe des Besitztums an den Sohn vorsieht. Der Sohn repräsentiert seinerseits ein Modell, das die Zukunft selbst verkörpert: Er ist (sehr) jung und tritt im Gedankenspiel des Vaters nicht nur dessen Erbe an, sondern wird den sozial-ökonomischen Aufstieg weiter vorantreiben; dies aber im Rahmen des erzählten Geschehens nur virtuell. Er selbst ist (noch) nicht in der Lage, die Rede des Vaters zu verstehen, geschweige denn ein eigenes Zukunftsbild zu entwerfen. Vielmehr orientiert sich das Kind an der unmittelbaren Gegenwärtigkeit seiner Erlebnissphäre, beobachtet den Vater – ohne diesem sprachlich folgen zu können – und substituiert zum Zweck eines kurzen, augenblickshaften Spektakels die Zeitung, die der Vater verbrannt hatte, durch die Geldscheine. Was hier vorliegt, ist ein folgenschweres Kommunikationsproblem zwischen den Generationen: Der Vater kommuniziert mit intendierter Informationsvermittlung auf verbaler und mit nichtintendierter Informationsvermittlung auf nonverbaler Kommunikationsebene, ohne dass ihm der Sachverhalt bewusst ist, dass der Sohn lediglich die Botschaft auf nonverbaler Ebene zu decodieren imstande ist. Der Sohn ohne Sprachkompetenz versteht nicht den Vater, der Vater nicht die Tat des Sohnes, die jener der nicht bewusst vermittelten Information folgend vollzieht. Die Generationen, so wie hier konfiguriert, sind durch eine nur partiell überbrückbare Kommunikationsbarriere voneinander getrennt; ›Jung‹ und ›Alt‹ sind konfligierend angeordnet.

Dem wäre anzuschließen, dass der weitere Geschehensverlauf einer besonderen und natürlich bedeutungstragenden Logik folgt. Bedeutsam ist zunächst, dass der Vater das Problem nicht anders zu lösen imstande ist, als durch die gewaltsame Tötung des Sohnes. Er verliert buchstäblich die Kontrolle über sich selbst und vollzieht eine Tat, für die er sich später selbst richtet (er »stürzte auf sein Söhnchen zu, faßte es, seiner selbst nicht mehr mächtig, bei den Haaren und schleuderte es ingrimmig gegen die Wand« [ebd.: 491; Hervorhebung von mir, S. B.]). Bedeutsam ist auch, dass Frau und Knecht ebenfalls die ›(Selbst-)Kontrolle‹ verlieren und sterben müssen – homolog im Übrigen zur Kuh, wodurch die Figuren dem Menschlichen entfernt und dem Tierischen angenähert werden: Zum einen erscheint dies als Notwendigkeit des dieser Ereigniskette eingeschriebenen und strengen Kausalitätsprinzips, zum anderen als Resultat der offenkundig gefährlichen, unangemessenen Affekte, Leidenschaften, Emotionen. Der Kontrollverlust der Figuren impliziert als unmittelbare Folge Krankheit (»ihn fing zu fiebern an«; ebd.: 492) und Todesnähe (»Leichenblässe«; ebd.), Bewusst- und Besinnungslosigkeit, ungesteuertes Handeln, Willenlosigkeit und Verzweiflung und führt handlungsbedingt in den Tod. Daneben legt der Text die Inklusion ›ausgewachsene bzw. erwachsene Lebewesen‹ ⊂ ›Leidenschaften‹ nahe,Footnote 2 die hier auf Basis ebendieses Kontrollverlustes ereignishaft funktionalisiert ist. Der (erwachsene) Mensch und das Tier sind gleich. Bedeutsam ist daneben auch, dass der Text eine Korrelation geltend macht zwischen temporaler Situierung (»es wird ja schon Nacht«; ebd.: 490) und dem Tod der Figur Andreas (»Gute Nacht, Andreas«; ebd.: 492). Dahinter steht die Verbindung von Zeitlichkeit von ›Welt‹ und die Semantik des temporalen Segments ›Nacht‹ einerseits und das metaphorische Sprechen über den Tod andererseits, dem die Analogie aus ›Ende des Tages‹ : ›Ende des Lebens‹ zugrunde liegt. Demnach versieht der Text nicht nur sein Weltmodell unmarkiert mit Zeitlichkeit, sondern belegt zudem den wesentlichen Zustandswechsel mit einer Zeitsemantik und zeichnet ihn damit als temporal markiert und als zeitreflexiv relevant aus. Bedeutsam ist ferner das Zeiterleben der in der Grundkonstellation gegebenen Figuren. Denn offensichtlich steht das Warten des Vaters (»lange währts aber«; ebd.: 490; »wo sie nur bleibt«; ebd.: 491) in Opposition zur Unterhaltung des Kindes (»aber die Freude hatte nicht lange genug gedauert«; ebd.). Diese Relation – das heißt ›Erleben einer (zu) langen Dauer‹ vs. ›Erleben einer (zu) kurzen Dauer‹ – steht ihrerseits in Opposition zum konstanten und linearen Zeitverlauf der dargestellten Welt, die im discours – abgesehen von Andreasʼ Rekapitulation des Gelderwerbs – eine auch darstellerische Entsprechung erfährt: Nach Abschluss des Berichts durch Andreas werden die Ereignisse chronologisch aufeinanderfolgend präsentiert. Der Text grenzt demzufolge die subjektive Zeit sowie divergentes Zeiterleben der Generationen (Kindergeneration vs. Elterngeneration) von einer objektiven Zeit seiner Welt ab, die der Sukzessivität der temporalen Situierung, der Gegenwärtigkeit und einer hohen Ereignishaftigkeit äquivalent ist, und bindet zugleich das Schicksal zumindest der Figur Andreas an ebendiese Zeit. Bedeutsam ist schließlich außerdem, dass das erzählte Geschehen in der gänzlichen Auflösung des diegetischen Teilraums mündet. Das Ende und die vom Text modellierte und über das Textende hinausweisende Zukunft entsprechen dabei in keiner Weise dem von Andreas entworfenen Zukunftskonzept und weisen in ihrer Endgültigkeit und Irreversibilität, mit der ihre Negativierung korrespondiert, auf das vorangegangene Erzählte und die Defektivität der anthropologischen Anordnung zurück. Die Zeitstruktur geht neben der angesprochenen, statischen Ausgangslage in der Ereignisstruktur auf: Alle (fokussierten) Figuren werden vom Leben in den Tod überführt; die Tilgung des Teilraums entspricht dabei zwar keinem diegetischen Ordnungswechsel, kommt aber einer Löschung des narrativen Blickfeldes gleich. Die Teilwelt kippt in die ›Leere‹.

Diese Textlogik zeigt auf indirektem Wege auf, welche Optionen sie gerade nicht vorsieht: eine gelingende Kommunikation zwischen Vater und Sohn, die Unterdrückung von Leidenschaften und die Nachsicht des Vaters, positiv einwirkende Zufälle, die Verschonung von Figuren unter den gegebenen Bedingungen sowie eine Zukunftsfähigkeit der dargestellten Welt. ›Zukunft‹ wird vom Text regelrecht drastisch zerstört. Das Kind liegt nach dem Angriff des Vaters »laut- und leblos mit geborstenem Schädel und mit verspritztem Gehirn am Boden« (ebd.: 413). Das ist makaber. Ist der Sohn, wie unternommen, als Zukunftsrepräsentant semantisiert, so wird mit seinem Tod ›Zukunft‹ eindeutig negiert; und diese Negation ist im Hinblick auf ihren umfassenden Charakter fundamental und ihre Drastik bedingungslos zu nennen. Ähnliches kann über die Kuh gesagt werden: Vorgesehen ist ihre Funktion als Zukunftsoptimierer für die Familie, zugleich fungiert sie aber als Auslöser des Unglücks. Und schließlich ist die Überführung der Figuren in den Tod einer Transformation in »ein verschrumpftes Gerippe« (ebd.: 493), einer doppelten Schwundstufe (›verschrumpft‹ und ›Gerippe‹) äquivalent. Sie unterstreicht einerseits die Drastik des Dargestellten und demonstriert andererseits den offensichtlichen Verzicht des Textes auf ein christlich-religiöses Jenseitsdenken und eschatologisches Zeitmodell. Angesichts dessen gewinnt Die Kuh eine deterministische Dimension: Das Kausalitätsprinzip mit unweigerlicher Todesfolge ist als negative Bewertung des Geschehensinitials zu werten. Es impliziert einen nicht anzustrebenden Handlungsgang und einen nicht wünschenswerten Endzustand.

Zeitreflexion, dies ist festzustellen, baut sich über ein radikales Zukunftsmodell auf – dessen Betrachtung gibt Aufschluss über die zugrundeliegenden Probleme, die ganz offensichtlich ungelöst bestehen bleiben. Die Auslöschung der Familie beschränkt sich nämlich nicht auf eine potenziell denkbare, nur partielle Einschränkung, indem etwa lediglich das Kind getilgt wird, sondern umfasst ja beide Generationen und kommt damit einer Auflösung von menschlich gelebter Zeit gleich. Denn wenn die Vergangenheit des Großvaters in Form des Hauses wie auch Andreas und seine Frau als Repräsentanten von Vergangenheit sowie Sohn und Kuh und mit ihnen das gesamte Anwesen verbrennen, so weist die fundamentale Negierung im Zukunftsmodell die Besonderheit auf, dass der Endzustand semantisch leer, insbesondere auch temporalsemantisch leer erscheint.

Problembehaftet und ereignishaft in Hebbels Text ist mithin der als unmöglich gekennzeichnete Übergang zwischen Vergangenheit und Zukunft ‒ Grundproblem dabei ist das Zeitsegment ›Gegenwart‹. Denn an ihm ist die Anreicherung einer Vergangenheitssemantik auszumachen – die Übergabe von materiellen Dingen und immateriellen Werten und Normen ist in der Vorgängergeneration, so muss angenommen werden, geglückt und wird verkörpert durch Bauer Andreas. Auch ist die vom Text selegierte Gegenwart zugleich Schauplatz der schlagartigen Zerstörung und wird als Zeitraum des ›Umkippens‹ und Scheiterns markiert. Wenn also ›Zukunft‹ als unmöglich ausgestellt wird, so ist dies bedingt durch die Konstellation von Ereignissen in der Gegenwart und durch deren Resultativität. Und während in der Vergangenheit eine kontinuierliche zeitliche Linie zu beobachten ist, so wird diese in der Gegenwart unterbrochen. Ein Metaereignis ist nicht gegeben, die bestehende Ordnung wird nicht durch eine andere ersetzt. Allerdings werden zugleich auch Lösungsansätze dafür, wie ein anzustrebender und wünschenswerter Zustand von Welt zu erreichen wäre, vom Text vorbehalten.

Um ebensolche Arten von literarischen Problembenennungsphänomenen und Bedingungen der Lösungsfindung und -verweigerung sowie ihre Koppelung an die Reflexion von Zeit soll es im Folgenden gehen. Bezeichnend nämlich ist, dass hier ein Komplex einzeltextübergreifender Merkmalsbündel offengelegt werden kann, an dem das Selbstverständnis des literarhistorischen Abschnitts zwischen Goethezeit und Realismus als Übergangs- und Zwischenphase ersichtlich wird. Die Kuh ist in dieser Hinsicht als Metatext aufzufassen: Das, was er mit Bezug auf sein Weltmodell aussagt und verhandelt, trifft ebenfalls auf das Literatursystem zu, das im Zeichen der Ablösung von der Goethezeit und einer Neufindung eigener Regularitäten steht. Insofern befinden sich die temporalsemantischen Implikationen des singulären Textsystems und die in ihm angelegten Propositionen über Zeit in einem Zusammenhang mit denjenigen des Literatursystems, und zwar in Form einer Homologie-Relation: Textsystem : Zeit :: Literatursystem : Zeit. So, wie Texte wie Hebbels Die Kuh Zeit modellieren, verhält sich gleichermaßen das Literatursystem zum vorangegangenen und zum nachfolgenden Literatursystem. Einerseits finden sich tradierte Strukturen weiterhin ‒ teils sogar dominant ‒ in den repräsentativen Texten wieder, zugleich werden sie unterlaufen, erodiert oder gänzlich destruiert, neben andere, nichtkompatible Strukturen gestellt und als veraltet und überholt semantisiert. Diese Kollision ist meist jedoch ergebnisoffen, da eben Lösungsansätze fehlen. Ein krisenloser Endzustand ist (noch) nicht in Sicht. Der Zustand der Krise ist das Resultat.

Zeit – ihre Repräsentation und Reflexion – jedenfalls ist, wie eingangs formuliert, Kulminationspunkt, an dem sich literahistorische Wandlungsprozesse ablesen und bestimmen lassen. Aufgeworfen wird dadurch allein die Frage, wie diesem Gegenstand methodisch zu begegnen wäre, insbesondere dann, wenn Aussagen nicht allein über einen einzelnen Text, sondern über ein ganzes Textkorpus zu treffen und allgemeine Regularien und Merkmale zu benennen wären.

1.2 Drei Grundachsen: Heterogenität ‒ metatextuelle Selbstreflexivität ‒ literarische Anthropologie

Ein erster Schritt zur Klärung dieser Frage besteht in der Formulierung einer These, ein zweiter in der Benennung von verfahrenstechnischen Orientierungshilfen. Unser Untersuchungsgegenstand stellt, soweit den Eingangsüberlegungen zu entnehmen, die semiotische Repräsentation von Zeit und ihre Reflexion in der deutschsprachigen Erzählliteratur von 1820 bis 1850 dar sowie ihre Spezifik, das heißt, regelhaft auftretende Strukturen der Relevanzsetzung von temporalen Einheiten, insbesondere im Hinblick auf die Modellierung von ›Zukunft‹. Die Wahl eines solchen Gegenstands hat heuristische Gründe, zu deren Erläuterung die folgende These dient:

(1) Literarische Texte des Zeitraums von 1820 bis 1850 verhandeln zentrale außerliterarische Problemkonstellationen, Diskursformationen, Fragestellungen und Konzepte, die mit einem sich wandelnden Verständnis von Zeit korrelieren. Sie nehmen dahingehend nicht etwa eine Spiegelfunktion ein, sondern verarbeiten kulturelles Wissen im Kontext der jeweiligen Modellierung von ›Welt‹. (2) Literarische Diskursivierungen und Semantiken dieses Zeitraums kreisen dabei stets um Zeit und Zeitlichkeit: Alle entsprechenden Textstrukturen sollen als ›reflexive Zeitstrukturen‹, die Gesamtheit dieser Strukturen als ›(literarische) Zeitreflexion‹ bezeichnet werden. (3) Texte bilden damit einen literaturgeschichtlichen Wandel ab. Erzählmuster der Goethezeit werden in der Zwischenphase teils getilgt und substituiert, teils modifiziert. Die Zwischenphase zeichnet sich daher durch ein ganz bestimmtes Verhältnis zum Vorgängersystem aus, das grundsätzlich in Abgrenzung, dann jedoch vornehmlich in Dependenz und (sukzessiver) Loslösung besteht, wobei dies grundsätzlich in der Reflexion von Zeit aufgeht.

Angesichts des umrissenen literarhistorischen Segments herrscht in der Literaturwissenschaft nach wie vor große Uneinigkeit vor. Nicht befriedigend und nachhaltig zu lösen scheint der Tatbestand, dass das literarische Feld mutmaßlich uneinheitlich konstituiert ist und keine gemeinsamen Regularitäten aufweist – nicht also ein Literatursystem formiert: Zur Folge hat dies bis dato eine enorme Begriffsvielfalt, um dem Gegenstandsbereich aus historischer und systematischer Sicht gerecht zu werden. Andererseits ist zu Beginn der 1990er-Jahre der Vorschlag unterbreitet worden, weniger deduktiv von Begriffen wie ›Biedermeier‹ oder ›Vormärz‹ – und insbesondere nicht von der politischen Ereignisgeschichte ‒ auf literarische Phänomene zu schließen, als vielmehr andersherum vorzugehen: auf einen Epochenbegriff zu verzichten und von den Textphänomenen selbst auszugehen. Dieser Grundzug soll auch im Folgenden Berücksichtigung finden. Aufbauend auf der bisherigen Forschung ist es das Ziel, dem spezifischen Umgang mit literarischer Zeit der Zwischenphase näher zu kommen. Dabei wird die Ansicht vertreten, dass der Merkmalskomplex auf unterschiedlichen Abstraktionsniveaus angesiedelt ist und mehrere, teilweise bereits herausgearbeitete Teilphänomene einschließt und daher wohl ‒ dies eine Grundannahme dieser Arbeit ‒ als Fundamentalregularität der Literatur dieses Segments fungiert: Zeitreflexion ist das dominante Strukturmerkmal der Zwischenphase, ›Zukunft‹ dabei das diskursive und thematische Kardinalproblem. Der analytische Ausgangspunkt wird daher Teilthese (2) sein, da mit ihrer Hilfe der Blick zunächst auf die Literatur selbst, ihre Modellbildungen und Umgangsweisen mit dem Komplex gelenkt wird. Teilthese (3) zielt ebenfalls auf literaturwissenschaftliche Frage- und Problemstellungen ab ‒ die Einbettung der Analyseergebnisse nämlich in den Kontext der Benennung und Auswertung übergeordneter, interepochaler Varianzen zwischen Goethezeit, Zwischenphase und Realismus ‒ und sei daher wiederum stärker gewichtet als Teilthese (1), deren Zusammenhänge (des Denk- und Wissenssystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts) zwar ein wichtiges, kontextbezogenes Interpretationspotenzial generieren, die für das Literatursystem und die Rekonstruktion seiner Bedeutungen allerdings nur von nachrangiger Bedeutung sind. Kurzum: Diese Studie versteht sich als Beitrag einer systematischen Revision des Literatursystems ›Biedermeierzeit‹, das hier ›Zwischenphase‹ genannt werden soll,Footnote 3 und sie versteht sich als Beitrag einer Lokalisierung und Kategorisierung intraepochaler Varianzen und Invarianzen ebendieser Phase in der deutschsprachigen Kultur.

Ausgegangen wird von drei Grundeigenschaften der genannten Phase: (1) die Dominantsetzung von Heterogenität – sowohl innerhalb der Textwelten als auch hinsichtlich der textuellen Diskursivierung; (2) die metatextuell-selbstreflexive Grundanlage der Texte; (3) die Implikation von Zeitreflexion durch die literarische Anthropologie. Bezeichnen wollen wir diese Zuschreibungen als Grundachsen zeitreflexiven Erzählens. Ihre Nummerierung impliziert keine Hierarchisierung; vielmehr sind sie – mal mehr, mal weniger – in allen Texten ausgeprägt und formieren die strukturgebenden Komponenten, an denen sich reflexive Zeitstrukturen ausrichten und durch die deren Spezifität fassbar wird.

1.2.1 Grundachse 1: Heterogenität

Die erste Grundachse zeitreflexiven Erzählens wollen wir ›Heterogenität‹ nennen. Bezug nehmen wir damit auf Hermann Sottong, der gegen die Behauptung Viktor Žmegačs argumentiert, es handele bei der Zwischenphase um keine literarische Epoche. Dessen Begründung, es gebe angesichts der produzierten Texte mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zu beobachten, hält Sottong seine Hypothese entgegen, »daß diese poetologische Heterogenität an der Oberfläche der Texte genau ein epochenspezifisches Merkmal der Literatur zwischen GZ [Goethezeit] und Realismus ist« (Sottong 1992: 316).

Auf Korpusebene bildet diese Heterogenität der Stile und poetischen Mittel der Darstellung genau dasjenige Phänomen ab, das die Texte jeder für sich und korpusintern rekurrent als relevantes Merkmal von ›Welt‹ thematisieren und konstruieren, nämlich deren Heterogenität. (Ebd.)

Mit dieser Idee führt Sottong eine Forschungsrichtung fort,Footnote 4 die gegenüber einer politisch motivierten oder auch diskursanalytischen Literaturgeschichtsschreibung die Gegensätzlichkeit und Komplexität des Segments von circa 1820 bis 1850 ganz bewusst hervorstreicht und anhand einer korpusbasierten Rekonstruktion literarischer Modelle übergeordnete Regularitäten und Merkmale zu bestimmen versucht. Sottong selbst widmet sich dem Modell historischen Erzählens, konzentriert sich auf historische Romane und Erzählungen am Ende der Goethezeit (1815–1834) und öffnet anschließend den Blick für wesentliche Aspekte des Phänomens in der Zeit von 1830 bis 1850.Footnote 5 Heterogenität ist dabei ein grundlegendes Konstituens der Zwischenphase und betrifft sowohl ideologische Gegensätze, gesellschaftliche Unordnungen, kulturelle Differenzen und Kämpfe, in summa: sowohl die Vielfalt und Unterschiedlichkeit dargestellter Welten einerseits als auch die Vielfalt und Diversität derjenigen literarischen Mittel, mit denen diese Welten modelliert sind, andererseits. Ihre Textmerkmale, da auch für unseren Kontext wichtig, sollen an dieser Stelle aufgegriffen werden (vgl. Sottong 1992: 263):

Sottong folgend ist Heterogenität in drei Punkten gegeben, nämlich erstens in Form der Koexistenz bestimmter Größen oder Elemente eines Textsystems, die sich »in mindestens einem relevanten Merkmal unterscheiden« und »genau diese distinktiven Merkmale oppositionell sind«, wobei die »oppositionellen Größen/Elemente im Text einer gemeinsamen Obermenge« zugehörig sind. Ferner ist sie dann gegeben, wenn die Anzahl dieser Größen oder Elemente zweitens »relativ zu dem, was die Kultur, in der der Text entstanden ist, als normal, gemäßigt, durchschnittlich ansieht, signifikant erhöht ist«. Drittens liegt Heterogenität dann vor, wenn die genannten Aspekte »von mehr als einem Sachverhalt erfüllt werden«, Heterogenität also »auf mehr als einer Ebene des Textes auftritt«. Für unseren Zusammenhang ist hauptsächlich der erste Gesichtspunkt entscheidend, weniger ausschlaggebend sind das kontextuelle Kriterium und das Quantitätskriterium. Für den Befund, dass Heterogenität vorliegt, ist ein Abgleich mit dem kulturellen Wissen des Entstehungskontextes an erster Stelle irrelevant, da allein auf Basis der Textdaten entschieden werden kann, ob wir es mit einer heterogenen Struktur zu tun haben oder nicht. Auch ist die quantitative Menge solcher Daten weniger entscheidend als der qualitative Status von Heterogenität für den Bedeutungsaufbau eines Textes. Sicherlich kann Heterogenität mit Sottong als skalierbare Struktureinheit aufgefasst und somit durch eine quantitative Steigerung von Daten, die dieser Einheit zugeordnet werden können, intensiviert werden. Entscheidend jedoch ist zunächst allein ihre Existenz.

Aufschlussreich und anschlussfähig sind darüber hinaus einige der von Sottong genannten Hypothesen und Regularitäten (ebd.: 296 ff.). Als grundlegend erachtet er den zentralen Stellenwert des rekurrent auftretenden Phänomens für Texte des besagten Zeitraums. Wenn nun Zeitreflexion ebenfalls ein zentral-fundamentales Merkmal dieser Texte ist, so muss sie in einem Zusammenhang mit den genannten Kennzeichen stehen; und dies auch deshalb, weil Sottong zufolge Heterogenität mit ›Unordnung‹ und ›Instabilität‹ einhergeht und dies wiederum für Texte, die selbst ›Übergangsphasen‹ modellieren, wesentlich zu sein scheint. Hierin schwingt – wie auch beim Begriff ›Zwischenphase‹ als Bezeichnung für das Literatursystem – die Implikation von Temporalität mit und setzt ›Heterogenität‹ in Verbindung zu einem ›Interim‹, einem temporalen Zwischenabschnitt.Footnote 6 Ebenfalls temporal semantisiert und somit an dieser Stelle zu berücksichtigen, ist das Bestreben von Texten, Heterogenität zu beseitigen und auf verschiedenen Wegen durch eine stabile und homogene ›Ordnung‹ zu substituieren (vgl. ebd.: 272). Vorzumerken in diesem Zusammenhang ist Sottongs Untersuchungsergebnis, dass sich seine Textkorpora A (bis 1830) und B (ab 1830) in diesem Punkt unterscheiden. Bis 1830 überwiegen Sottong zufolge »Umbruchsituationen mit offenem Ausgang« (ebd.: 254), während diese in den Folgejahren »definitiv entschieden werden« (ebd.). Ob offen oder entschieden hat freilich signifikanten Einfluss auf die Modellierung von ›Zukunft‹ und veranlasst zu unterschiedlichen Interpretationen bezüglich der Bedingungen und Möglichkeiten von ›Welt‹ wie auch bezüglich der Reflexion von Zeit. Eine ganz deutliche Ausrichtung hin zu hoher Relevanz im Kontext von Zeitreflexion weist letztlich auch das »zentrale[] ideologische[] Modell« (ebd.: 317) ›Alt‹ vs. ›Neu‹ auf. Wir haben dies bereits ansatzweise am Beispiel von Hebbels Text aufzeigen können.

Mit dem historischen Erzählen bezieht sich Sottong auf Texte, die für eine Beschäftigung mit Zeit und Zeitreflexion prädestiniert scheinen. Er selbst thematisiert diesen übergeordneten Konnex und nennt diverse, ebenfalls hier relevante Aspekte eines sogenannten Supertyps, dem der historische Roman und der Zeitroman gleichermaßen subsumiert werden können:

  • mehrsträngige Handlung

  • alternierende Fokalisierung auf mehrere Figuren

  • Relevanz von ›Zeit‹ und ›Geschichte‹ als ›Wandel‹

  • umfassende Darstellung sozialer, politischer, kultureller Gegebenheiten

  • zentrale ideologische Modellbildung ›Alt‹ vs. ›Neu‹

  • Darstellung der Ablösung/des Untergangs einstmals relevanter Größen

  • Heterogenität der dargestellten Welt

  • Fokussierung der Relation ›Individuum‹ : (soziale) Umwelt‹ und die Bedingungen historischen Wandels/ökologischer Inkonsistenz

All diese Punkte stehen in engem oder zumindest losem Verhältnis zur Reflexion von Zeit: Die mehrsträngige Handlung wie auch die alternierende Fokalisierung auf mehrere Figuren verweisen auf die Loslösung des Erzählens vom Einzelsubjekt (wie noch im goethezeitlichen Bildungsroman in höchstem Maße gegeben) und geben zugleich Aufschluss über den Entwurf einer zusehends komplexeren und multiperspektivischen Welt, deren Bewohner innerhalb eines gemeinsamen zeitlichen Rahmens agieren und in diesem wahrnehmbar gemacht werden. Komplexität und Multiperspektivität werden auf discours-Ebene übertragen und determinieren die Art und Weise der erzählerischen Vermittlung. Dazu zählt auch die umfassende Darstellung sozialer, politischer und kultureller Gegebenheiten und im weiteren Sinne die Konzentration auf die Relation zwischen Individuum und Umwelt. Die Fokussierung der Bedingungen historischen Wandels und ökologischer Inkonsistenz sowie die Darstellung der Ablösung oder des Untergangs ›einstmals relevanter Größen‹ können als spezifische Konkretisationen der Relevanz von Zeit und Geschichte als Wandel verstanden werden, die ganz offensichtlich als Probleme auftreten und zu lösen sind.

Nun besteht die These unseres Vorhabens ja gerade darin, dass Zeitreflexion nicht allein für derart offensichtliche Fälle von zentraler Bedeutung ist, sondern gar ein übergreifendes Spezifikum der Literatur der Zwischenphase darstellt. Von daher werden hier vornehmlich auch solche Texte von Interesse sein, die nicht (unbedingt) vordergründig mit Zeit zu tun haben – jedenfalls nicht wie jene Fälle, die Sottong im Blick hat –, sondern eben ganz ›herkömmliche‹ Novellen, die lediglich unter der Maßgabe der Ausbildung der drei Grundachsen ausgewählt worden sind.

Für die erste dieser Grundachsen halten wir fest: Heterogenität ist ein Merkmal ebenfalls solcher Texte, die nicht dem Zeitroman, dem Aktualitätsroman oder sonstig dem Supertyp Sottongs angehören. Zwar sind Beziehungen zwischen den genannten Merkmalen des Supertyps und Zeitreflexion offensichtlich, sie repräsentieren aber nur eine Teilmenge. Andere subordinierte Merkmale gilt es im Folgenden herauszuarbeiten und zu benennen. Heterogenität – als abstraktes und übergeordnetes Merkmal ‒ jedenfalls steht in Relation zur epochenspezifischen Zeitreflexion, insbesondere aufgrund des ihm inhärenten Grundmodells ›Alt‹ vs. ›Jung‹/›Neu‹.Footnote 7 Es zeigt sich auf unterschiedlichen Textebenen und ist potenziell auf verschiedenen Abstraktionsstufen anzutreffen. In dem Merkmal der Heterogenität konkretisiert sich die Korrelation von temporalen Strukturen ‒ seien sie semantisch oder lexikalisch – mit nichttemporalen in für dieses Literatursystem typischer Weise.

1.2.2 Grundachse 2: Metatextuelle Selbstreflexivität

Die Überlegungen zur ersten Grundachse hängen in Teilen mit der zweiten zusammen. Wie Sottong unter anderem hervorhebt, modellieren Texte, die das Merkmal ›Heterogenität‹ aufweisen, diegetische ›Phasen des Interims‹. Im Zuge der Fokussierung von Bedingungen des historischen Wandels und der (ökologischen) Inkonsistenz wird so die Erosion von einstmals relevanten oder gar dominanten Größen vorgeführt und ihre Substitution durch andere Größen abgewogen. Nimmt man diesen Tatbestand als gesetzt an, so haben wir es mit reflexiv funktionierenden Textsystemen zu tun, die selbstreferenziell das durchspielen, was sich ebenfalls auf übergeordneter Ebene des Literatursystems ereignet: nämlich der vielschichtige Ablösungsprozess von der Goethezeit. Das System durchläuft einen historischen Transformationsprozess.Footnote 8 So ließe sich folgern, dass diese Strukturen innerhalb solcher Vorgänge autoreflexive, das heißt auf das eigene System bezogene Vertextungsmuster aufzeigen, anhand derer die Tragfähigkeit und Adäquatheit des Systems im Abgleich mit dem Wissen und Denken der Kultur geprüft werden.

Vor diesem Hintergrund möchten wir behaupten, dass die Zwischenphase maßgeblich durch Selbstbezüglichkeit geprägt ist und dass dieses Strukturmerkmal wiederum mit Zeitreflexion in Verbindung steht. Der Bezug von Texten auf die eigene Stellung innerhalb des Literatursystems und generell auf Bedingungen von Literatur innerhalb ihres kulturellen Kontextes insgesamt schließt die Thematisierung von historisch relevanten Umschwüngen bezüglich bestimmter Denkmodelle und Erzählmuster ein und soll entsprechend terminologisch gefasst werden: Auf theoretischer Ebene voneinander getrennt, hängen Selbstreferenzialität und Selbstreflexivität objektsprachlich zusammen. Denn eine selbstreflexive Strukturanlage impliziert stets einen Bezug auf sich selbst und ist damit auch selbstreferenziell: Narrative Selbstreflexion, um die es in unseren Überlegungen gehen soll, ist verbunden mit ›Verdopplung‹ und kommt einer besonderen Form der ›Wiederholung‹ gleich (vgl. Scheffel 1997: 48), akzentuiert, verdeutlicht und verändert die eigene Funktionsweise und erzeugt auf diese Weise spezifische Sinnbildungsmuster (Köller 2006: 12). Das heißt: Liegt Selbstreflexion vor, so weist ihre Struktur eine selbstreferenzielle Funktion auf und verdoppelt beziehungsweise wiederholt sich im eigenen System – sei dies nun erfasst durch Terminologien wie ›Betrachtung‹ oder ›Spiegelung‹ (vgl. Scheffel 1997: 54 f.), der impliziten und expliziten (Selbst-)Thematisierung (vgl. Wünsch 2002), des Thematisierens des eigenen Kommunikationsaktes (vgl. Petersen 2003) beziehungsweise des eigenen Mediums (vgl. Kallweit 1998) oder durch den Begriff der gestuften und paradoxen »Potenzierung« (Fricke 2003: 144–147). Selbstreflexivität beschreibt eine besondere Eigenschaft von Texten, Selbstreflexion die strukturellen Zusammenhänge, die diese Eigenschaft auszeichnen, Selbstreferenzialität das konstitutive Charakteristikum von Selbstreflexivität.Footnote 9

Texte der Zwischenphase sind nun seltener selbstreflexiv im engeren Sinne zu nennen – in Bezug auf das eigene System – als – und dies häufiger – selbstreflexiv im weiten Sinne, nämlich bezüglich ihrer Eigenschaft, ein Beziehungsgefüge herzustellen zwischen dem eigenen System und dem System, dem sie infolge ihrer Entstehungszeit angehören. Sie referieren, dies ließ sich bereits an Hebbels Text illustrieren, nicht nur auf die eigenen Möglichkeiten und Problemstellungen, sondern dadurch auch auf die des Literatursystems. Beide Komponenten dieses Gefüges verhalten sich homolog (vgl. Krah 2005: 6): Das, was für die jeweils dargestellte Welt gilt, gilt ebenfalls für das Literatursystem. Literarische Selbstreflexivität der Zwischenphase zeichnet also auch das Merkmal der Metatextualität aus. Texte funktionieren (selbst-)reflexiv und weisen zugleich über sich selbst hinaus auf ihnen übergeordnete, einzeltextübergreifende Regularitäten und Merkmale.Footnote 10 Jene Spezifik der metatextuellen Selbstreflexivität – dies also ein weiterer Ausgangspunkt unserer Überlegungen – charakterisiert die Vernetzung mit Reflexion von Zeit in den folgenden Punkten:

Erstens anzuführen ist die Thematisierung des übergeordneten Systems in synchroner Hinsicht, indem Texte ihm bestimmte Strukturen zuschreiben, und in diachroner Hinsicht, indem »sie die Phase in einem Geschichtsprozess situieren, nämlich in Abgrenzung vom Vorgängersystem und im Hinblick auf ein späteres unbekanntes Nachfolgersystem« (Wünsch 2002: 269).Footnote 11 Zweitens liegen einzeltextübergreifende Merkmale dargestellter Welten vor: Installiert werden (a) »drei temporal-sukzessive Zustände« (ebd.: 279) – ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹, ›Zukunft‹ –, die »vom Individuum nicht beeinflußbare Rahmenbedingungen« (ebd.) repräsentieren und entweder als voneinander getrennt wahrgenommen werden oder tatsächlich in der Eigenschaft disjunkter temporaler Teilräume entworfen sind. ›Gegenwart‹ entspricht (b) einem Zustand der Ausdifferenzierung, einem Zwischenzustand des Übergangs. Situiert ist die dargestellte Welt (c) in der Gegenwart, der Systemzustand aber »funktional abhängig« (ebd.) von ›Vergangenheit‹ und bezogen auf einen zukünftigen Zustand. ›Vergangenheit‹ wird als Belastung semantisiert. Mit dieser Konstellation wird (d) ›Zukunft‹ als Problem gestaltet und tritt ambivalent in Erscheinung. Ein weiteres Schlagwort ist drittens das des literarischen Traumas »ausgelöst durch die Goethezeit« (Decker 2005b: 45). Niederschlag findet es im »paradoxalen Versuch, das Literatursystem Goethezeit zu überwinden« (ebd.) und zugleich »den Wandel des Biedermeier als Übergangsepoche zwischen Goethezeit und Realismus« (ebd.) zu reflektieren: ›Paradox‹ deshalb, da Texte der Zwischenphase dazu tendieren, Elemente der Goethezeit »zu negieren, [gleichzeitig aber auch dazu, diese] in die eigene Rede [zu integrieren] und […] als Folie relevant [zu setzen], von der man sich abgrenzt« (ebd.: 57). Als bedeutungstragend in diesen Texten fungieren demnach Integration und Überwindung, Aufnahme und Neu- beziehungsweise Umsemantisierung, Perpetuierung und Verfremdung, Beibehaltung und Erosion goethezeitlicher Modelle. Daher erklärt es sich, warum viele Texte deutlich über das Paradigma der ›Romantisierung‹ strukturiert sind und Bedeutung aufbauen: Sie kodifizieren ›Romantik‹ als dominant und unterminieren sie zugleich als Zusammenhang, von dem es sich zu lösen gilt. Im Zuge dessen werden Erzählmuster des Literatursystems ›Goethezeit‹ (insbesondere der Romantik) über bestimmte Zeichenrepertoires abgerufen.Footnote 12 Bei dieser ambigen Strukturmodifikation wird hier in Anlehnung an Lukas von ›Entromantisierung‹ gesprochen (Lukas 1998b: 264).

1.2.3 Grundachse 3: Literarische Anthropologie

An Hebbels Die Kuh wird aber auch ersichtlich, dass Zeitreflexion mit anthropologischen Modellanordnungen verschränkt ist, und zwar auf signifikant-konstitutive Weise: Literarische Anthropologie impliziert Zeitreflexion wie auch Zeitreflexion bestimmte anthropologische Konstellationen (literarische Anthropologie ↔ Zeitreflexion). Aus dieser Beobachtung resultiert die Notwendigkeit einer theoretischen Fundierung und Nachzeichnung der Grundlinien dieses Komplexes, den wir als dritte zeitreflexive Achse bezeichnen möchten.

Das Konzept einer Literaturanthropologie, so wie es im Rahmen dieser Studie aufgestellt wird,Footnote 13 erfasst und beschreibt literarische Propositionen über den Menschen, seine Verfasstheit und das Verhältnis zu seinem (sozialen) Umfeld in Einzeltexten und abstrahiert aus Textkorpora anthropologische Modelle ganzer Literatursysteme.Footnote 14 Literatur wird dabei als Medium anthropologischen Wissens einer Epoche angesehen.Footnote 15 Wie beispielsweise auch bezugnehmend auf Gattungs- und Erzählmuster lassen sich – dies ihr Anspruch – Aussagen über epochenspezifische, literarisch-anthropologische Modellierungen treffen, über ihre Merkmale, Inkonsistenzen und Regularitäten, wie auch über die Relation eines literarischen Verständnisses zum allgemeinen Verständnis einer gegebenen Kultur.Footnote 16

Damit hängen für unseren Kontext wesentliche Präsuppositionen zusammen, die das Personen-Konzept, die Relationierung und Konditionierung von ›Innen‹ und ›Außen‹ sowie die Modellierung von ›Welt‹ betreffen. Denn bezeichnend ist, dass Texte der Zwischenphase in der Tradition der AufklärungFootnote 17 stehend erstens die menschliche Existenz reflektieren und evaluieren und nicht als bloß Gegebenes annehmen. Personen-Konzepte umfassen Bezüge auf Physis und inneres Befinden (Geist, Seele, Psyche, Unbewusstes, Innenleben und so weiter), Akte des Denkens, Fühlens, Verhaltens und Handelns, die fiktionsinterne Aufstellung von Konzepten (wie ›Liebe‹, ›Leben‹, ›Ehre‹, ›Kultur‹ und ›Familie‹, aber eben auch: ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹), Erfahrungen und Wissen, die (biologische) Ontogenese, die (mentale) Entwicklung im Rahmen eines soziokulturellen Gefüges und die Interaktion mit anderen Subjekten. Insofern stehen die Umstände der Existenz von Figuren im Fokus, ferner die für das Subjekt bestehenden Möglichkeiten oder ihm auferlegte Restriktionen, wie auch die Frage, ob eigene Bedürfnisse gestillt werden können oder verworfen werden müssen, sowie weiterhin ethisch-moralische, juristische oder andere Gesetzmäßigkeiten, die die Relation von Individuum und Kollektiv regulieren und Konsequenzen für den Einzelnen nach sich ziehen. Diese »wechselseitigen Konditionierungen und semantischen Koppelungen von menschlicher Natur und Kultur/Moral« (Lukas/Ort 2012: 10), um die sich diese Aspekte anordnen, erscheinen zweitens vernetzt mit subjektinternen und subjektexternen Vorgängen. Zum einen sind dies Vorgänge, die eine einzelne Figur betreffen, Verhaltensweisen, Charakterzüge, Entscheidungsfindungsprozesse, emotionale Reaktionen, generell: innere Befindlichkeiten, mentale Fähigkeiten des Denkens und psychische Verarbeitungskompetenzen von Gefühlen und Handlungsmotivationen; zum anderen Vorgänge in und Rahmenbedingungen von ›Welt‹, die von außen auf ein Individuum einwirken: Normen- und WertekanonsFootnote 18 von Kulturen und ihren Denk-, Wissens- und Verhaltenssystemen, habitualisierte Handlungsmuster und altersbezogene oder normierte Verhaltensweisen sowie traditionell-fixierte Riten aller möglichen Art. Die Literaturanthropologie mit der Annahme in Verbindung zu setzen, dass Texte ›Menschsein‹ mit allen Implikationen eben nicht als unreflektierte Tatsache hinnehmen, tangiert wiederum drittens die Modellierung von ›Welten‹.Footnote 19 Mit der Evaluierung von Daseinsbedingungen, realisierten oder zumindest als potenziell realisierbar aufgezeigten Problemlösungsstrategien, mit Ereignistilgungen und textinternen Sanktionen/Glorifizierungen von Handlungsträgern, glücklichen und unglücklichen Endzuständen zeigen Texte implizit oder explizit wünschenswerte oder nicht wünschenswerte Welten auf. Nachvollziehbar wird hieraus, dass eine literarische Anthropologie neben dem Individuum auch das Kollektiv, Gesellschaften und Subkulturen involviert, in denen sich der Einzelne bewegt. Die Perspektive veranschaulicht ferner, warum Literatur im kultursemiotischen Sinn als kultureller Speicher (Nies 2011: 214–217) oder als Korrektiv (Richter 1997: 131–138) fungiert, ist mit ihr doch der Konnex zwischen Text und Kontext dergestalt gegeben, dass sie außerliterarische Diskurse aufgreift und mit Hilfe der Modellierung anzustrebender oder nicht anzustrebender Werte und Ordnungen eine regulative Tendenz einnimmt. Dies alles zeigt vorderhand allerdings nur potenzielle Realisierungen in Texten auf und liefert in allererster Linie ein Handwerkszeug zur Erfassung literaturanthropologischer Konzepte.

Getragen wird nun die gegenseitige Implikation zwischen Anthropologie und Zeitreflexion, auf die es hier ankommt, durch unterschiedliche Teilbereiche: Grundsätzlich verknüpft ist die Gestaltung anthropomorpher Figuren mit Blick auf unsere Texte mit Erzählmustern (vgl. Lukas 2012a). Das heißt, der literarische Entwurf des Menschen geht in Präsentationsformen auf, die untrennbar mit Zeit verbunden sind, denn Erzählen impliziert Zeit und Zeitlichkeit. Wir kommen auf diesen Punkt in der Begriffsentwicklung zur Semiotisierung von Zeit noch ausführlicher zu sprechen.

Hinzu tritt der literarhistorische Hintergrund im Umgang mit Zeit. So ist eine Verquickung von Anthropologie und Zeit im gegebenen Zeitraum im Zuge der Dynamisierung des Subjekts sowie der Homogenisierung und Interiorisierung von Zeit ab 1750 nachzuvollziehen (vgl. Werner 2011: 156). Die Homogenisierung von diegetischer Zeit bietet – in Abgrenzung zur heterogenen Zeit der Vormoderne – die Grundlage für das in der Goethezeit dominante Erzählmuster der Initiationsgeschichte und damit überhaupt erst die Möglichkeit einer Modellierung von Figurenentwicklungen, das heißt: eines menschlichen Daseins in der Zeit. Daneben wird durch die Zeitinteriorisierung durch das Subjekt eine Differenzierung vorgenommen zwischen einer ›Zeit der Welt‹ und einer ›Zeit des Subjekts‹, die wir im Folgenden ›Zeitmodell‹ und ›Zeitkonzept‹ (sowie daran gekoppelt: ›Zeiterleben‹) nennen und die sich seit Mitte des 18. Jahrhunderts in der Erzählliteratur abzuzeichnen beginnt. Diese Entwicklung macht eine vielschichtige Zeitdiskursivierung denk- und sagbar, einschließlich der Möglichkeit, Zeitreflexion in der vorliegenden, komplexen Form auszubilden, wie sie in unseren Texten vorliegt.

Zu berücksichtigen ist aber zusätzlich zu dieser grundsätzlichen denkgeschichtlichen Neuerung vor allem auch eine »neue[] Anthropologie« (Lukas 2000: 335), die im Verlauf des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts an Dominanz gewinnt und epochenspezifische Probleme offenlegt – und gleichzeitig mit den neuen subjektbezogenen Zeitumgangsformen in Beziehung steht. In ihr nimmt ›Bürgerlichkeit‹ als Konzept und Brennpunkt von Richtwerten eine zentrale Position ein: Es formiert ein ›System der Mitte‹ (Sottong) und gilt als tragendes Element und Ziel literarischer Normalisierungsprozesse.Footnote 20 Sie determiniert nicht allein auf paradigmatischer Textebene die Elemente ›Zugehörigkeit‹ beziehungsweise ›Bekanntes‹ und ›Nicht-Zugehörigkeit‹/›Fremdes‹, sondern legt zudem auch Richtlinien fest, an denen sich Subjekte (ganz gleich, welchen Alters, welcher sozialen Klasse, welchen Geschlechts und so weiter) zu orientieren haben, um Stellung, (Selbst-)Verwirklichung, (Daseins-)Berechtigung und soziale Reputation zu erreichen.Footnote 21 Verbunden sind Normalisierungsprozesse stets mit Zeitlichkeit: Angenommen und problematisiert wird die Möglichkeit der Überführung einer Figur von einem Zustand des Anormalen hin zu einem Zustand des Normalen, an deren Bedingungen sich die Literatur abarbeitet, und dies vorzugsweise auch dann, wenn eine Überführung als unmöglich gesetzt wird. Die Versetzung einer Figur verläuft entweder zeitlich kontinuierlich oder diskontinuierlich. Bemerkenswert daran ist, dass Texte unseres Korpus zwar das kontinuierliche Modell als unmarkiert-gesetztes und das diskontinuierliche als markiert-abweichendes codieren, beide sich aber in der Regel überlagern. Dazu mehr in den Erläuterungen zum Basiskonzept.

Die literarische Anthropologie der Zwischenphase impliziert demnach Zeitreflexion, indem nichttemporale Bereiche verstärkt mit temporalen Semantiken versehen werden, oder aber Zeit in Bereichen, die temporalsemantisch belegt sind, als virulentes Problem hervortritt. Für Figuren ist Zeit ein bewusstes oder unbewusstes ProblemFootnote 22 und wird von ihnen selbst oder von der Erzählinstanz benannt und proliferiert im Gesamtzusammenhang: Im Zentrum steht der Mensch als Wesen (in) der Zeit.

1.3 Textoperationen der Semiotisierung und Relevantsetzung von Zeit: Struktural-semiotische Beschreibungskategorien

Die literarische Beschaffenheit von Zeit, ihre epochenspezifische Ausprägung, die Literaturgeschichte ihrer Darstellungsverfahren und deren ästhetisches Bedeutungspotenzial sowie nicht zuletzt die Diskursivierung außerliterarischer Zeitkonzepte sind unleugbar Gegenstände eines äußerst heterogenen und schier uferlosen Forschungsfeldes.Footnote 23 Und freilich nicht nur dort. Zugegebenermaßen ist Zeit eines der prominentesten Themen wissenschaftlicher Auseinandersetzung überhaupt, und dies in den weitläufigsten Fachkontexten.Footnote 24 Bei Verwendung des Suchbefehls ›Zeit‹ in Bibliothekskatalogen stellt sich demgemäß der unmittelbare Eindruck ein, dass das Thema Hochkonjunktur hat.Footnote 25 Genau genommen, so ein direkter Befund, benötigt jede Einzelwissenschaft einen entsprechenden Arbeitsbegriff, bildet diesen fortlaufend aus und revidiert ihn; und jede*r namhafte Vertreter*in einer Disziplin, so meint man, hat sich in irgendeiner Weise zu logischen, ontologischen und erkenntnistheoretischen Gesichtspunkten der Zeit, ihrer Erfassung durch den Menschen hinsichtlich des subjektiven Zeitbewusstseins, des Erinnerungsvermögens, der Zeitplanung in psychologischer oder kognitionswissenschaftlicher Perspektive, ihrer Bedeutung für die Realitätsauffassung und für unsere Welt oder zu anderen Zusammenhängen geäußert – Aristoteles, Augustinus, Newton, Kant, Heidegger, Einstein, Bachtin, Bergson, Deleuze und Hawking sind dabei nur die geläufigsten Namen. Besonders spannend erscheint da die Forschung in den Sozial- und Kulturwissenschaften – seien es insbesondere die Arbeiten von Koselleck, Gumbrecht, Hölscher, Assmann und anderen mehr:Footnote 26 Ihnen geht es stets um die Frage, was Zeit in einer Gesellschaft/Kultur/Epoche bedeutet, wie Zeit gedacht und gelebt wird ‒ und nicht zuletzt auch, wie sich dies in Textzusammenhängen niederschlägt beziehungsweise wie es aus gegebenen Texten zu rekonstruieren wäre. Die Frage nach der Ontologie von Zeit in einer Kultur steht also auch hier im Zentrum, letztlich spielt aber eine allgemein textwissenschaftliche Frage mit hinein: wie nämlich Zeit in ihrer Verfasstheit analytisch zu greifen wäre.

Auch die Semiotik hat einen reichhaltigen Fundus an Publikationen vorzuweisen, die Zeit unter Maßgabe der Analyse und Interpretation ihrer Zeichenhaftigkeit zu erfassen versuchen. Als »Grunddimension der Zeichen, der Zeichenprozesse und Zeichensysteme« (Nöth 2000: 287) wird sie bereits bei Saussure, Peirce und Jakobson bearbeitet und in verschiedene Zusammenhänge eingebracht: Saussure integriert sie insofern in seine Überlegungen, als er in seinen Achsen der Diachronie und der Synchronie sprachprozessuale Zeit von einer Zeit des Systemwandels abgrenzt (vgl. Saussure 1986). Jakobson hebt die Opposition auf, spricht von einer Überlagerung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in der Synchronie der Sprache und deutet damit Wandel nicht nur als diachrones, sondern zugleich auch als synchrones Phänomen (vgl. Jakobson 1971 [1962] u. 1985; Bradford 1994: 143‒199). Peirce untersucht wiederum den zeitlichen Aspekt des Semioseprozesses und benennt die Elemente seiner Zeichenauffassung als zeitlich gebundene Einheiten, wenn er das ›Repräsentamen‹ als Zeichen der Gegenwart auffasst, das dahinterstehende Objekt der Vergangenheit und schließlich den Interpretanten der Zukunft zuordnet. Außerdem stellt Peirce Zeitbezüge in seinen Hauptzeichenklassen ›Ikon‹, ›Index‹ und ›Symbol‹ her.Footnote 27 Inzwischen beschäftigen sich mehrere Zweige der Disziplin mit ihr,Footnote 28 so etwa die Kultursemiotik mit der Kultur- und Sozialgeschichte und der Bedeutung von Zeit im denkgeschichtlichen Kontext (vgl. Wright 1968; Zerubavel 1981; Wendorff 1985; Nies 2011) und die Mediensemiotik mit dem medialen Codewandel (vgl. Hess-Lüttich/Posner 1990) und der mediendeterminierten Ausprägung von Zeit (vgl. Brössel/Kaul 2020). Ein Spezialgebiet der Semiotik, die Chronemik, theoretisiert die Bedeutung von Zeit für die zwischenmenschliche Kommunikation in kultureller, sozialer und psychologischer Hinsicht (vgl. Poyatos 1976; Bruneau 1977, 1980 u. 1985). Dabei wurden unter anderem berücksichtigt: die Unterscheidung und das Verhältnis von emischer (kulturspezifischer) Zeit und etischer (kulturübergreifend wahrnehmbarer) Zeit (vgl. Bruneau 1980: 102; Hall 1983: 127–145), die Mehrfachcodierung kultureller Zeit in biologischer, mythologischer, formeller und informeller Ausprägung, das Potenzial der Zeichenhaftigkeit von Zeitsegmentierungen (Zeitpunkte, Dauer, zeitlicher Rhythmus) (vgl. Hall 1959; Doob 1971: 63–66 u. Hömberg/Schmolke 1992) wie auch die Eigenschaft von Zeit als suprasegmentale Struktur. Die Literatursemiotik schließlich orientiert sich bekanntlich deutlich an der Narratologie und nimmt das Verhältnis und die Spezifik von Erzählzeit und erzählter Zeit sowie die Historizität literarischer Texte und von LiteratursystemenFootnote 29 (auch im Abgleich mit Denk- und WissenssystemenFootnote 30) in den Blick. Nichtsdestotrotz ist gleichzeitig aber die nur marginale Beachtung der Kategorie etwa im Vergleich zum Raum sinnfällig: Sie kann als eine zwar im Gesamtzusammenhang angenommene und taxonomisch berücksichtigte, aber (mit Blick auf ihre Modellierung und im Zusammenhang mit anderen Einheiten) noch weitgehend unhinterfragte Teilgröße gelten, deren theoretische Erfassung teils simplifizierend stattfindet, teils im Detail noch aussteht (vgl. Titzmann 2003: 3066, 3074 f.).

Es kann nun weder Aufgabe dieser Studie sein, eine differenzierte und detaillierte Sondierung verschiedener Forschungsansätze vorzunehmen, noch, das Gesamtfeld auf irgendeine Weise zu ordnen oder gar eine literatursemiotische Gesamttheorie der Zeit zu entwickeln. Der Vielschichtigkeit und weiten Verzweigungen zum Trotz – oder gerade deswegen – ist aber an vorderster Stelle ein transparenter Umgang mit dem methodischen Zugang unerlässlich, sollte dieser doch nicht zuletzt verdeutlichen, welches Interesse unsere Auseinandersetzung verfolgt, was sie einbezieht und ausgrenzt und was sie letzten Endes anstrebt. Untersucht wird daher Zeit im gegebenen Rahmen als text- und literatursemiotisches, genauer: als schriftsprachliches Phänomen – vornehmlich in literarischen Texten, aber auch in anderen, nichtkünstlerischen Texten, die Aufschluss über kulturell erzeugte Zeitkonzeptionen geben. Zum einen von Wichtigkeit ist dabei der Zusammenhang zwischen Zeitbegriff, der kulturellen Vorstellung von Zeit, der Geschichte einer ›Verzeitlichung des Denkens‹ (Koselleck) und einer semiotischen Analyseperspektive. Das heißt, wir sprechen nicht über eine wie auch immer geartete abstrakte Zeit, sondern leiten konkrete Zeitkonstruktionen aus Textpropositionen ab, die das ›Denken‹ über Zeit und ihre Konzeptualisierung zeichenhaft materialisieren. Untersucht werden mithin Diskursformationen im Denk- und Wissenssystem der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Zentral ist zum anderen der Umgang mit Zeit im Literatursystem der Phase zwischen Goethezeit und Realismus, zusammenhängend mit der Frage, welche vorherrschenden Textlogiken die Zeitreflexion als Fundamentalmerkmal dieser Phase plausibilisieren. Mehrere Anhaltspunkte in diese Richtung sind bereits angeklungen – der Fokus hier liegt nun auf der systematischen Beschreibungsebene.

Zeit als Zeichen auszulegen und als entsprechende Analysekategorie zu operationalisieren, eröffnet ein großes Problemfeld. Mecke etwa stellt seiner Analyse moderner Romane einige Teilkapitel voran, in denen er sich an die Historizität von Zeit im kulturellen Bewusstsein, an ihre Polymorphie und Anomalie wie auch an ihre Relationalität und Zeichenhaftigkeit annähert. Es handelt sich also um ein Feld, das eine Menge Fragen aufwirft und einen enormen Klärungsbedarf mit sich bringt. Verengt man indes die Gemengelage auf eine literatursemiotische Handhabe hin – der es im engeren Sinne um die literarische Vertextung von Zeit und um temporale Strukturanordnungen geht –, so sind vorrangig vier Aspekte von Bedeutung:Footnote 31

Erstens kann Zeit als suprasegmentales Zeichen verstanden werden, »das allein in Verbindung mit dem, was in seiner Zeitdimension variiert, zeichenhaft werden kann« (Nöth 2000: 287). In dieser Perspektive setzen sich Zeit-Zeichen stets aus nichttemporalen Einheiten zusammen; Zeit ist immer auch Teil eines nichtzeitlichen Phänomens (vgl. auch Bies 2018: 350). Damit einher geht das von Kant in seiner Transzendentalphilosophie angesprochene Problem der Anschaulichkeit: Der Mensch verfügt über kein Organ, das ihm eine sensorische Erfassung von Zeit ermöglichen würde; und doch muss ja – etwa ausgehend von Augustinus oder Locke – ein subjektives Zeitempfinden angenommen werden.Footnote 32 Mecke argumentiert dahingehend in Richtung ›Anomalie‹ und ›Instabilität‹ von Zeit (bedingt durch subjektives Zeitempfinden) und schließt sich der International Society for the Study of Time an, die für »eine Menge einzelwissenschaftlich zu erforschender Zeitformen« (Mecke 1990: 10) plädiert.Footnote 33 Die anzunehmende Divergenz im individuell-subjektiven Erleben jedenfalls hat unter anderem zur Folge, dass ihre kulturell strukturierende Erfassung (in Kalendern, Uhren, regelmäßig stattfindenden Ereignissen und so weiter) und mediale Darstellung nicht segmental, sondern eben immer suprasegmental stattfindet, das heißt: in anderen Ausdruckssubstanzen.Footnote 34 Schriftsprachlich-narrative Texte konkretisieren Zeit aufbauend auf der Funktionalisierung und Semantisierung der natürlichen Sprache und auf Basis narrativer Repräsentationsformen.Footnote 35 Zeitstrukturen finden sich grundsätzlich auf Ebene des Sprechens (discours) und des Besprochenen (histoire): Fiktive Welten sind temporal situiert und temporal strukturiert. Zeit wird von Individuen und Kollektiven, die diese Welten bewohnen, verschieden behandelt – und dies wiederum wird in unterschiedlichem Maße spezifiziert, in unterschiedlicher Extension und mit unterschiedlicher Gewichtung von Zeitsegmenten. Das Erzählte wird in diversen Formen der Ordnung, Dauer und Frequenz auf discours-Ebene repräsentiert, die discours-Ebene durch eine (unterschiedlich spezifizierte) temporale Situierung und Strukturierung gekennzeichnet. Hinsichtlich dessen fungiert Zeit alles in allem als strukturierende Kategorie (vgl. Titzmann 1992: 251).

Zweitens wird Zeit – wie andere Elemente auch – im Rahmen eines Textgefüges modelliert (vgl. Blödorn/Brössel 2020). Das wird auch aus dem ersten Punkt deutlich. Ein literarischer Text entwirft seine eigene Zeit, entwickelt sein Konzept von Zeitlichkeit, realisiert eigene temporal-diegetische Teilabschnitte ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹, legt eigene temporale Gesetzmäßigkeiten fest, schreibt Figuren die Fähigkeit zu, mit Zeit psychisch-mental und handlungsbezogen umzugehen. Und er bestimmt ein Zeiterleben und -bewusstsein der Figuren und unterscheidet zwischen Figurenvorstellungen und einer fiktionsintern tatsächlichen Verfasstheit von Zeit. Wir hatten dies bereits an Hebbels Die Kuh erörtert.

Auszugehen ist folglich drittens von einer Konkretisation von Zeit im Text, die wir Semiotisierung nennen möchten und in der die beiden ersten Aspekte – Zeit verstanden als suprasegmentales Zeichen und die Zeitmodellierung – aufgehen. Dieser Vorgang umfasst auf unterschiedlichen Textebenen angesiedelte, sprachlich-narrative Formen der Repräsentation von Zeit. Im Gegensatz zu den meisten Formen der Lyrik fungiert Zeit in narrativen Texten als essenzielle Dimension: Zeit und Erzählen, so lehrt uns die Narratologie, sind fundamental miteinander verschränkt (vgl. Weixler/Werner 2015: 1), und zwar insofern, als im Erzählen ein Modell von ›Welt‹ aufgebaut wird, das temporale Eigenschaften und Gesetzmäßigkeiten aufweist und aufgrund von Geschehensabläufen und Ereignissen temporal situiert und strukturiert ist ebenso wie die Ebene der narrativen Mediatisierung temporal strukturiert und situiert ist. Ausgehend von diesem Punkt wären die terminologischen Herausforderungen zu klären, die mit der Analyse von Zeitsemiotisierungen einhergehen, wie auch eine (narratologische) Standortbestimmung vorzunehmen, um zu verdeutlichen, welche Heuristik unsere Studie verfolgt und welche genauen Ansatzpunkte sie anbringt.

Zeitreflexion, um die es im Nachfolgenden ja hauptsächlich gehen soll, wird viertens als strukturelle Anordnung in literarischen Texten verstanden, die auf der Repräsentation von Zeit aufbaut und deren Implikat die Relevantsetzung von Zeit ist – und Relevantsetzung meint, dass Zeit als bedeutungstragendes Element codiert ist. Zeitreflexion der Zwischenphase ist ein statistisch häufig anzutreffendes Merkmal und in qualitativer Hinsicht komplex gestaltet. Von der Zeitreflexion zu sprechen, ohne ihre strukturelle Vielschichtigkeit zu beachten, wäre simplifizierend wie unzulässig und zudem interpretatorisch wenig gewinnbringend. Die drei Grundachsen werden daher lediglich als Verankerungen von Zeitreflexion aufgefasst, sie manifestiert sich letztlich in der Modifikation von literarisch-tradierten ›Lebenslaufmodellen‹ (Kap. 2), der zeitsemantisch gegenläufigen Strukturierung von ›Welt‹ (Kap. 3), der selbstreferenziellen Behandlung von ›Kunst‹ (Kap. 4) und der Auseinandersetzung mit ›Zukunft‹ (Kap. 5). Ausgebildet sind demnach grosso modo verschiedene Teilphänomenbereiche, in denen Zeitreflexion zu beobachten ist. Wir fassen diese Bereiche im Folgenden als reflexive Zeit(-teil-)strukturen.

1.3.1 Die literarisch-narrative Repräsentation von Zeit: Semiotisierung

Repräsentation von Zeit bedeutet in unserem Kontext Semiotisierung von Zeit: Alle Phänomene, die Zeit mit all ihren Implikationen bezeichnen, werden als suprasegmentale Zeichen aufgefasst, und gelangen, so konnten wir bislang generell feststellen, in diversen Texteinheiten zum Ausdruck. Unser Arbeitskonzept der Zeitsemiotisierung wird daher an erster Stelle mit Hilfe der Differenz zwischen textueller Zeitstruktur vs. Produktionszeit vs. Rezeptionszeit nachvollziehbar. Hauptaugenmerk liegt nämlich – wie Teilthese 2 zu entnehmen – auf der Rekonstruktion der textinternen Zeitstruktur als einem unter mehreren Textphänomenen und als Spezialfall der SignifikationFootnote 36. Der Vorgang der Semiotisierung ist wohl mit allen drei Dimensionen verbunden, insofern er als Konnex zwischen Semiotik einerseits und Pragmatik (vgl. Morris 1938: 30 u. 1946: 365) und Kommunikation (vgl. Stappers 1966 u. Luhmann 1984: 193–195) andererseits entwickelt worden ist. Als Produktionszeit kann von der Dauer der Texterstellung gesprochen werden, das heißt dem zeitlichen Umfang einer »Praktik im Bereich der Zeichenhandlung, also […] mit einer bestimmten Absicht ausgeführte[] Zeichenprozesse (= Semiosen)« (Siefkes 2013: 363), der dem Schreibprozess unterliegt und produktionsästhetisch auf einer »ontologischen Hypostasierung [basiert], die ›werden‹ und ›vergehen‹ in zeichenhafte Repräsentationen substantivierter Zeitformen verwandelt.« (Mecke 1990b: 13) Derartig intendierte Prozesse indizieren offen oder verdeckt kulturelles Wissen, denn sie werden im Denk- und Wissenssystem diskursiv gesteuert beziehungsweise angereichert. Damit inkorporiert Zeitsemiotisierung einen intersemiotischen Verweis auf Zeichen oder Zeichenkomplexe eines anderen Zeichensystems oder die Referenz auf Propositionen anderer schriftsprachlicher (literarischer und nichtliterarischer) Texte, die dem Zeitdiskurs einer Epoche angehören. Plausibel wird die Bezugnahme der Analyse darauf – so Teilthese 1 zu entnehmen –, wenn sie andere relevante Texte des Zeitraums einbezieht und wiederkehrende und maßgebliche Propositionen rekonstruiert. Produkt dieses Prozesses jedenfalls ist ein Text, der zeitliche Strukturen fixiert, gemäß seinen medialen Eigenschaften modelliert und innerhalb seines Bedeutungskontextes codiert – dessen Strukturen aber »nicht mit derjenigen Zeit verwechselt werden [dürfen], die ein Erzählwerk zum Entstehen braucht« (Müller 1947: 15). Die Decodierung durch den LeserFootnote 37 wiederum erfolgt ebenfalls innerhalb einer individuell-subjektiv ausfallenden Dauer, der Rezeptionszeit, und ist einem mental-kognitiven und zeitlichen Prozess unterworfen. Beide – Rezeptions- und Produktionszeit – sind nicht Teil dieser Untersuchung.

Wie auch immer eine Relevantsetzung von Zeit – über die noch zu sprechen sein wird ‒ in einem gegebenen Text genau in Erscheinung tritt, eingebettet ist sie stets in ein Erzählmodell, das in syntaktischen und semantischen Erzählstrukturen realisiert ist und Zeit beziehungsweise Zeitlichkeit entwirft: Zeit wird literarisch-narrativ semiotisiert. Bis heute orientiert sich die Narratologie vornehmlich am Entwurf Gérard Genettes, der sich jedoch, wie eindrücklich von Alfonso de Toro gezeigt, in mehreren Hinsichten als unterkomplex erwiesen hat und für eine fundiertere Analyse revidiert werden musste. Seitdem arbeitet sich die Forschung an der literarischen Zeitformung ab, ohne bislang allerdings ein allumfassendes und verbindliches Modell entwickelt zu haben.

De Toro selbst liefert ein Begriffsinventar, erweitert Genettes Modell und nennt Komponenten der von ihm sogenannten Zeitbehandlung. Unter »Zeitstruktur« versteht er die »Menge der Relationen zwischen zeitlichen Elementen eines Textes« (de Toro 1986: 4), wobei sich »die Art der Relationen […] aus dem Typ der Zeitbehandlung« ergeben (ebd.). »Zeitbehandlung« wiederum bezeichnet ein »spezifisches Verfahren für die zeitliche Organisation der Geschichte« (ebd.) und liegt konkret im ›Zeitarrangement‹, in der ›Dauer‹ und der ›Frequenz‹ vor. Dauer und Frequenz sind angelehnt an Genettes Terminologie. Als wichtigste Organisationsform erachtet de Toro das Zeitarrangement und definiert es als Summe von discours-Verfahren »für die Anordnung von histoire-Einheiten« (ebd.). Den Begriff der »Zeit der Geschichte«, den er synonym zur fiktionalen Aktzeit verwendet, fasst er als »die linear fiktionale [Zeit], d. h. [die] textexterne[] historisch unabhängige[], zeitliche[] Handlungsabfolge, die taxonomisch der histoire-Ebene zuzuordnen ist« (ebd.: 4 f.). Seine differenzierende Ergänzung der Teilbereiche im Feld der Zeitbehandlung – unter anderem Zeitüberlagerung, Zeitverflechtung, Simultaneität im Bereich der Ordnung – rechtfertigt de Toro damit, dass textintern von einem Bedeutungspotenzial eines jeden der zeitlichen Organisationstypen auszugehen ist, was auch mit entsprechenden Folgen für die Textinterpretation verbunden sei (vgl. ebd.: 27).

De Toro nimmt folgerichtig die theoretische Unterscheidung zwischen externer und interner Zeit vor: Erstere meint Zeitkonzepte außerhalb des Textes und betrifft die »empirische, historische Zeit des Autors, des Lesers und […] die, in der der Text geschrieben worden ist« (ebd.: 29), die letztere ist durch »Aktzeit« und »Textzeit« konstituiert. Die Textzeit findet sich im discours und ist anhand der Position bestimmbar, in der ein bestimmtes Geschehensmoment auf dieser Ebene vorkommt. Die Aktzeit entspricht einer Grundebene der Geschichte und entfaltet sich chronologisch und mehrdimensional in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sie wird weiter unterteilt in reale Aktzeit – »eine an die empirisch historisch externe Zeit pragmatisch gebundene Zeit« (ebd.: 30) – und fiktionale Aktzeit – »eine auf sich selbst bezogene und im künstlerischen Text immanent konstituierte, referenzlose, pragmatisch ungebundene Zeit« (ebd.).

Taxonomie und Typologie, wie hier aufgerollt, stehen unserem Vorhaben recht nahe, ohne dass freilich beide Studien dasselbe Ziel verfolgen. De Toro entwickelt schließlich seinerseits ein eigenständiges Analysemodell und bewegt sich vornehmlich auf metasprachlich-theoretischer Begriffsebene. Unsere Absicht hingegen ist nicht, einen alternativen Ansatz der Zeit-Narratologie zu formulieren als vielmehr einen Objektbereich, nämlich den des in Rede stehenden Literatursystems, zu bestimmen. Wir werden uns daher sowohl für die weitere Begriffsentwicklung als auch in den Analyseteilen, da methodologisch kompatibel, grob an de Toro orientieren und an gegebener Stelle – wie in diesem Theorieteil – auf terminologische Ergänzungen hinweisen. Diese Ergänzungen sind indessen nicht unwesentlich und bedürfen daher einer gewissen Ausführlichkeit.

Die Semiotisierung von Zeit, dies nun für unsere Argumentation zentral, umfasst die Gesamtmenge an Zeitstrukturen in ihrer textuellen Verfasstheit. Genau genommen betrifft sie das Produkt der Semiose und nicht den Vorgang selbst, gleichwohl ein Zusammenhang zwischen Diskursformationen um das Thema ›Zeit‹ im Archiv einer Kultur und textinternen Zeitentwürfen zweifellos anzunehmen ist.Footnote 38 Funktionalisiert werden Zeit und Zeitlichkeit auf allen Ebenen eines gegebenen Textes als (natürliche) Größen der dargestellten Welt und des Erzählens, als fundamentale Dimensionen des Lebens und der Erfahrung sowie des narrativen Prozesses und gewinnen allein dadurch an Bedeutung, dass in ihnen oder durch sie fiktives Geschehen abläuft und in einem fiktionalen Vermittlungsmodus präsentiert wird. Sie sind aber ansonsten, was den Bedeutungsaufbau anbelangt, gegenüber anderen Termen und Strukturen hierarchisch rangniedrig angelegt. Und genau in diesem Punkt liegt die Ungleichheit zwischen Zeitsemiotisierung und Zeitreflexion. Denn letztere erhebt Zeit zu einer maßgeblichen, bedeutungstragenden Größe und setzt sie gegenüber anderen Termen relevant.

Im Rückgriff nun auf de Toros feinmaschiges Typennetz der Zeitbehandlung seien zur ergänzenden Bestimmung der Kategorie ›Zeitsemiotisierung‹ klärende Anmerkungen zur Sphäre der Aktzeit (oder diegetischen Zeit) angebracht, deren kategoriale Beschreibung bis heute einige blinde Flecken aufweist.Footnote 39 Für unser Vorhaben sind folgende Kategorien allgemeiner Art von Belang, deren heuristische Tragfähigkeit ebenfalls am Eingangsbeispiel ersichtlich wurde: Prinzipiell sind die Begriffe des Zeitmodells, des Zeitkonzepts und des Zeiterlebens zu differenzieren. Auszugehen ist nämlich von der Annahme, dass Zeitstrukturen von weit mehr Textinformationen getragen werden als von Verfahren der Zeitbehandlung, die schließlich allein die idealgenetische Schnittstelle zwischen ordo naturalis und ordo artificialis abdecken. Man denke etwa an temporale Gesetzmäßigkeiten der Diegese, die beispielsweise im Science-Fiction-Genre erheblich von allgemein-lebensweltlichen Prinzipien abweichen können, an die soziokulturelle oder individuelle Ordnung und Strukturierung von Zeit in institutionellen Abläufen innerhalb von Textwelten, an den Umgang mit natürlichen oder individuellen Zyklen (wie Jahreszeitenwechsel, Geburtstagen und so weiter), an die Festlegung und rituelle Gestaltung von kulturell verankerten Festen, an die Planung des Alltags und an routinierte Abläufe, aber auch an die Synchronisierung von persönlichem Biorhythmus und überindividueller Zeitsegmentierung als Verständigungsbasis. Die Liste könnte fortgeführt werden. Alle diese Punkte jedenfalls stellen Aspekte dar, die die Chronemik – wir haben diese Disziplin bereits erwähnt – durch die Rekonstruktion nichtliterarischer Kommunikation in kulturanthropologischen und kommunikationstheoretischen Kontexten zu erschließen anstrebt,Footnote 40 deren Gültigkeit jedoch gleichermaßen für fiktionale Zeichengebilde (wie literarische Texte) angenommen werden muss, solange diese Gebilde anthropologische Modellentwürfe vornehmen.

Grundsätzlich voneinander zu trennen sind Thematisierungsformen (ausgehend von Figuren oder personalisierten Erzählinstanzen) einerseits und Modellanordnungen eines Textes andererseits. Wir unterscheiden das Zeitmodell (oder auch -teilmodelle) eines Textes von Zeitkonzepten (vgl. Abschn. 5.2). Die für die dargestellte Welt geltenden Charakteristika von Zeit müssen nämlich nicht notwendigerweise übereinstimmen mit Ansichten von Figuren, ihrem Empfinden und Bewusstsein. Texte wie Hebbels Die Kuh sind zwar prinzipiell einem monochronen (das heißt: zeitplanerisch hochgradig strukturierten) Zeitsystem verpflichtet, erheben es aber gleichzeitig zu einem Problem.Footnote 41 Auch Die Kuh führt vor Augen, wie abhängig die Figur von dieser Zeitvorstellung ist und wie fatal diese Abhängigkeit sein kann. Denn in der Manifestation des jeweiligen Zeiterlebens wird Zeit nicht nur greifbar, sondern zugleich Andreas’ Überforderung ersichtlich, mehrere Dinge simultan zu bewältigen. Zum Problem erhoben wird also zum einen grundsätzlich das Verhältnis der Kulturteilnehmer*innen (und von Kulturen insgesamt) zu ihrem monochronen Zeitsystem; zum anderen ferner das Verhältnis zur Zeit als übergeordnete, metaphysische Kategorie. Denn ›Zeit‹ in Die Kuh ist nicht allein Problem der Figuren, sondern auch der Textwelt, in der die Zukunft gekappt wird. Zur Verständigung über beide Sphären, wird die kulturell geformte Zeit in Anlehnung an die Chronemik emische Zeit, die objektiv-physikalische etische Zeit genannt.Footnote 42

Das Zeiterleben (oder die subjektive Zeit) ist semantisch an die Wahrnehmungs- und Erlebnissphäre einer individuellen Figur gekoppelt.Footnote 43 ›Wahrnehmungssphäre‹ meint die perzeptiv-mentale Auffassungsgabe, ›Erlebnissphäre‹ die psychomentale Konstitution eines anthropomorphen fiktiven Wesens.Footnote 44 Zu unterscheiden wäre dahingehend zwischen dem Figurenerleben auf histoire-Ebene und seiner Darstellung im discours, also zwischen zwei theoretisch getrennten Objektbereichen und ihrer Relation zueinander. Ob und wie eine Figur Zeit erlebt, kann durchaus unterschiedlich vermittelt sein: kommuniziert oder introvertiert verhandelt, bewusst oder unbewusst, im Einklang mit äußeren Verhältnissen oder nicht. Wird jedenfalls Zeit einmalig oder rekurrent von oder mit Blick auf Figuren thematisiert, so kommt deren Zeiterleben ins Spiel: Figuren entwickeln eine Vorstellung von Temporalität, bilden Erfahrungswerte, gleichen diese mit neuen Wahrnehmungseindrücken ab und bestimmen dadurch »Ich-Kontinuität, Erinnerung, Planung und Lebensperspektive« (Payk 2015: 126). Tatsächlich ist dieser Bereich hochkomplex und umfasst neben den genannten Faktoren eine ganze Reihe weiterer, so das individuelle Erleben von ›schleppender‹ Zeit, von komprimierter und expandierter Zeit, die Verschränkung von Konzentration oder Einbildungsvermögen mit der Zeitwahrnehmung, der Konnex aus Altern und Zeiterleben, Zeiterleben in unmittelbarer Aussicht einer persönlichen Herausforderung, der Einfluss von Gefühlen, psychischen Zuständen und Stimmungen auf das Zeiterleben sowie die Einschätzung von Echtzeit und so weiter (vgl. Hall 1983: 127–152). Dies alles findet sich auch in unserem Gegenstandsbereich. Allein, wie Gegenwart erfahren werden kann, lässt sich im Rahmen des modernen Zeitregimes nur mehrdimensional beschreiben.Footnote 45 Zeiterleben, so lässt sich generell sagen, ist äquivalent zur Bewusstwerdung von Zeit und zugleich Voraussetzung der Bewusstwerdung des eigenen Selbst im Abgleich von Welt- und Ich-Zeit (vgl. Bieri 1986: 268 u. 272–281). Obwohl Figuren (wie reale Personen) keinen physiologisch-organischen ›Apparat‹ zur Wahrnehmung von Zeit vorweisen können, verfügen sie doch über komplexe und miteinander in Beziehung stehende, rezeptive, registrative und projektive Fähigkeiten im Umgang mit Zeit (vgl. Payk 1979: 20), operieren mit mehrfachen Codierungen des kulturellen Zeitkonzeptes und orientieren sich an Systemen zur Darstellung der objektiv-physikalischen Zeit (vgl. Achtner/Kunz/Walter 1998: 8 f. u. 13–114).

Die Konzeption von Zeit (oder das Zeitkonzept) bezeichnet die aus dem Zeiterleben hervorgehende, individuelle oder kollektive Vorstellung von Zeit im Sinne einer mental-ideologischen Konstruktion von Zukunftsszenarien und einer Auffassung von Geschichte bezüglich ontogenetischer Lebenslaufmodelle, der Sozialhistorie des Kollektivs und der Phylogenese. Es kann unterschiedlich motiviert und fundiert (mythisch, philosophisch, religiös, wissenschaftlich) und den Teilnehmer*innen einer Kultur bewusst oder unbewusst sein, wahrgenommene Formen der objektiv-physikalischen Zeit reaktiv verarbeiten (indem eine Kultur jene strukturiert, kategorisiert und interpretiert) und zudem

produktiv eigene kulturelle Zeitsysteme, ideologische Konstrukte transkultureller Zeitverläufe, wie das mythische antike Modell der vier Weltalter, das eschatologische Modell des Christentums, die Geschichtsphilosophien seit der Aufklärung, in die die eigene Kultur eingebettet wäre, ebenso wie intrakulturelle soziale Praktiken der Zeitorganisation wie etwa regelmäßig wiederkehrende Ereignisinszenierungen (Feste, Veranstaltungen) oder die zeitliche Organisation von Arbeit [umfassen] (Titzmann 1996a: 155).

Ferner interagieren Zeitkonzepte mit Techniken der Zeitmessung, der Zeitersparnis oder -überwindung, der Konservierung und der Beeinflussung der menschlichen Lebensdauer und werden auf verschiedene Weise medial fixiert und/oder (verbalsprachlich im Alltagsgespräch zwischen Figuren, künstlerisch, didaktisch-vermittelnd, juristisch-regulativ) kommuniziert. Die Fundierung der Kategorie ist vielschichtig und komplex.

Von entscheidender Bedeutung ist hier das Konzept, das Assmann das Zeitregime der Moderne nennt.Footnote 46 Dieses Regime ist dem zeitreflexiven Prisma der Zwischenphase übergeordnet und verhält sich determinativ. Es wird von regulativen Teileinheiten getragen, die die kulturelle Vorstellung von Zeit lenken und fundieren und ihre Grenzen festlegen: Durch eine »Ausdifferenzierung der Zeitstufen« (Assmann 2013: 132; Hervorhebung von mir, S. B.), durch die wiederholte Setzung eines Neuanfangs, durch eine forcierte und als solche inszenierte ›Zerstörung‹ der Vergangenheit, durch die Erfindung des Historischen und schließlich durch den Aspekt der Beschleunigung. Wir kommen mit dem Basiskonzept der Zwischenphase auf diesen Ansatz zurück.

Die aufwendige (und doch notwendige) Differenzierung zwischen Zeitkonzept und Zeitmodell ist heuristischen Maßnahmen geschuldet. Denn während wir in außerliterarischen Systemen von diversen Konzepten ausgehen dürfen, die vom jeweiligen Denksystem diskursiv gelenkt und im Wissenssystem eingelagert werden, handelt es sich in Textsystemen um Modelle gemäß dem Status von literarischen Texten als sekundäre, modellbildende Systeme (Lotman 1981 [1970/1972]: 22–27 u. 61): Zeit wird modelliert, ebenso wie ›Welt‹ modelliert wird. Zwar können diese Modelle außerliterarische Zeitkonzepte aufgreifen und verhandeln, sie müssen es aber nicht: Sie können demgegenüber auch eigene ›Zeiten‹ erschaffen. Dabei bestätigen Texte oftmals – jedoch nicht immer – von Figuren entworfene Konzepte. Das ist dann der Fall, wenn die dargestellte Welt nach denjenigen Prinzipien funktioniert, die ein kommuniziertes Zeitkonzept ebenfalls aufweist. Allerdings führen Texte wie Die Kuh vor, dass dieser Fall nicht zwangsläufig gegeben sein muss. Wird jedoch ein Zeitkonzept – in der Regel im Zuge des Zeiterlebens – formuliert, geht dieses aus demjenigen Zeitsystem hervor, dem eine Kultur folgt – der spezifischen emischen Zeit –, und geht mit der Semiotisierung von Zeit im Text einher.

Das Zeitmodell eines Textsystems ist demzufolge unabhängig davon zu verhandeln. Obschon natürlich auch Erzählinstanzen – seien es diegetische oder nichtdiegetischeFootnote 47 – Zeit wahrnehmen und (Zeit-)Konzepte zum Ausdruck bringen können, handelt es sich bei Zeitmodellen um die fiktionsintern konkrete Realisierung eines Konzeptes: verankert in »basale[n] erzählerische[n] Verfahren« (Werner 2018: 207) wie Verbalisierung, Komposition, Auswahl und Perspektive ‒ gegeben also mit der temporalen Situierung und temporalen Strukturierung der Textwelt ‒ und ferner verankert in der Temporalsemantik des Raums und der Figuren sowie schließlich im Handlungsverlauf.Footnote 48 Texte erstellen semiotische Modelle, in deren Zusammenhang Zeit vermittels der im Code der natürlichen Sprache zur Verfügung stehenden Zeicheninventare semiotisiert wird. Modellcharakter erhält sie dadurch, dass jeder Text für sich festlegt,

  • wann ein Geschehen situiert ist oder ob diese Situierung als solche überhaupt gekennzeichnet und damit von Bedeutung ist,

  • wie ›Welt‹ zeitlich strukturiert ist, das heißt, welche Anzahl temporaler Teilwelten er bestimmt und wie sich diese zueinander verhalten,

  • wie hoch die Dichte von Geschehensmomenten und damit der Grad der Konkretisation von Zeitpunkten des Erzählten ist,

  • in welcher zeitlichen Relation Erzählen und Erzähltes stehen und wie schließlich das Erzählen selbst strukturiert ist, das heißt, welche Zeitbehandlung der Text geltend macht.

Das Zeitmodell steht in Relation zur TemporalsemantikFootnote 49, die ein Text in seinen Einheiten entfaltet. Die Temporalsemantik konstituiert sich potenziell durch jedweden Textterm und jedwede Textproposition. Sie bezeichnet die Menge derjenigen einer Einheit auf der lexikalischen Textoberfläche zugeordneten Merkmale, die Zeit und Zeitlichkeit indizieren, und verweist damit auf einen Teilbereich des Bedeutungsumfangs dieser Einheit. Wie die bislang erörterten Termini dient auch die Temporalsemantik zur Ermittlung der Repräsentation und Reflexion von Zeit, ist aber einstweilen im Zuge der Semiotisierung zu nennen, da mit ihr Zeit konkret und manifest wird. Bestimmbar ist sie mikrostrukturell für einen singulären Term oder eine Proposition und makrostrukturell für ein ganzes Textsystem – sie stellt folglich ein Korrelat dar, das in Beziehung zum holistischen Zeitmodell steht.

Ganz konkret sichtbar wird sie in nichttemporalen Einheiten: in Räumen und Figuren, die als Strukturcluster temporalsemantisch aufgeladen sein können. Auch dies ist nichts Neues: Liegen unter anderem mit Bachtins Theorie des Chronotopos (2008 [1937/1938]), Lotmans Raummodell (1981 [1970/1972]) und Semiosphäre (1990) sowie mit Foucaults Überlegungen zur Heterotopie (2005 [1966]) wegweisende und innovative Ansätze zur Bestimmung des Verhältnisses zwischen den Dimensionen von Zeit und Raum vor (vgl. Spanke 2015: 260 f.), so muss der Forschung heute in Teilen doch auch vorgehalten werden, dass sie diese Ansätze nur stellenweise überzeugend fortgeführt hat.Footnote 50 Ähnliches ist für die Figur festzustellen, die zwar hinsichtlich ihrer Historizität (vgl. Bachtin 2008 [1937/1938]; Störmer-Caysa 2007 u. Werner 2018: 144–148), vornehmlich der Identitätskonfiguration in der Zeit (vgl. Kraus 1996; Hillmann/Hühn 2001 u. Lăcan 2015) und der Modellierung von Lebensläufen (vgl. Titzmann 1996b) untersucht worden ist, mit der aber insbesondere in systematisch-narratologischen Zusammenhängen – obwohl dort »im vergangenen Jahrzehnt ein[] große[r] Aufschwung« (Martínez 2011: 149) verzeichnet werden konnte – bezüglich ihres Verhältnisses zur Zeit teils fahrlässig umgegangen wurde.Footnote 51

Für unsere Auseinandersetzungen ist besonders die Semantisierung von Raum und Figur durch temporale Merkmale bedeutsam – ähnlich dem, was Bachtin zur Vergegenständlichung der Zeit im Raum und Barthes zur Figuren- und Personensemantisierung ausgeführt haben. Denn zum einen – dies die vielzitierte Aussage – verschmelzen im »künstlerisch-literarischen Chronotopos […] räumliche und zeitliche Merkmale zu einem sinnvollen und konkreten Ganzen. Die Zeit verdichtet sich hierbei, sie zieht sich zusammen und wird auf künstlerische Weise sichtbar« (Bachtin 2008: 7).Footnote 52 Zum anderen ist die Figur, die Barthes, wenn sie über ein Ich und einen Eigennamen verfügt, als ›Person‹ bezeichnet, ein »Produkt der Kombinatorik [von Semen aufzufassen]: die Kombination ist relativ stabil (von der Rückkehr der Seme markiert) und mehr oder weniger komplex (mit Merkmalen, die mehr oder weniger kongruent, mehr oder weniger widersprüchlich sind)« (Barthes 1987 [1970]: 71).Footnote 53 Ausgegangen wird im vorliegenden Zusammenhang in Anlehnung daran von partikularen Merkmalsmengen ( =  Größen) ›Raum‹ und ›Figur‹, der grundsätzlichen Möglichkeit ihrer Verbindung zu ›Zeit‹ sowie der besonderen analytischen Fokussierung temporaler Merkmale innerhalb dieser Mengen. Unsere Aufgabe wird sein, die spezifische Charakteristik zu erfassen, die Texte der Zwischenphase hinsichtlich dieser semantischen Koppelungen auszeichnet. Eine derartige Charakteristik kommt durch die Art des verkoppelten temporalen Merkmals (beziehungsweise mehrerer Merkmale), die Zusammensetzung der Größe bezüglich anderer ihr zugeordneten Merkmale und die textinterne Kontextualisierung dieser Größen, das heißt ihre Relationierung zu anderen Größen und Strukturen eines Textes zustande.

Machen wir alles dies einmal am Beispiel deutlich: Was die Zeitbehandlung anbelangt, erscheint Die Kuh auf den ersten Blick wenig spektakulär. Die Zeitelemente der histoire sind vornehmlich chronologisch arrangiert, abgesehen von der ‒ temporalsemantisch natürlich bedeutsamen – figürlichen Analepse. Zum Textende hin lässt sich eine marginale zeitliche Auslassung ausmachen, die in der Anlehnung der Erzählinstanz an das unwissende Umfeld der Familie mündet (»hat sich nicht ermitteln lassen«). Rekapitulieren wir aber zur Illustration der vorgestellten Kategorien und ihres Nutzens, was hinsichtlich der Temporalsemantik, des Zeiterlebens, des Zeitkonzepts und -modells in Anwendung auf diesen Text zu sagen wäre: Figuren und Teilraum, dem die Figuren zugeordnet sind, sind temporalsemantisch determiniert und bilden die statische Grundordnung. Bauer Andreas kann aufgrund seines Alters, seiner Zugehörigkeit zur Elterngeneration, seines Bezugs zum Anwesen und seiner kommunikativen Handlung als Repräsentant der Vergangenheit aufgefasst werden – sein Sohn als Repräsentant der Zukunft (= Temporalsemantik der Figuren). Schauplatz des Geschehens ist der von der Großelterngeneration stammende Hof, der somit die semantische Präsenz der Vergangenheit untermauert (= Temporalsemantik des Raums). Die Ereignis- struktur wird außerdem durch die konfligierende Anordnung und die resultierenden Interrelationen zwischen Zeiterleben, Zeitkonzept und Zeitmodell getragen. Der Endzustand ist überdeterminiert, mit mehrschichtigem Bedeutungspotenzial versehen, da er zum einen durch anthropologische Problemverhandlungen und zum anderen durch Zeitreflexion motiviert und konfiguriert ist. Das Warten des Vaters steht in Opposition zur Unterhaltung des Kindes, das Erleben einer (zu) langen Dauer in Opposition zum Erleben einer (zu) kurzen Dauer. Diese Relationen hebt der Text wiederum von der konstant und linear verlaufenden Zeit der dargestellten Welt ab, die mit der (weitestgehend) chronikalischen Darstellung im discours korrespondiert. Der resultierende Effekt ist die Distanzierung des Textes von den Figuren: Der Umgang mit Zeit vonseiten der Figuren (= Konzepte und Erleben) weicht signifikant ab vom Umgang mit Zeit vonseiten der literarischen Ästhetik (= Modell). Gefestigt wird dieser Befund auch in der Gegenüberstellung von Andreasʼ Zeitkonzept und weiteren Aspekten des Zeitmodells: Das Konzept der Figur sieht für die Zukunft die Weitergabe von materiellen und immateriellen Werten an die Kindergeneration vor sowie sozialen Aufstieg und Prosperität. Im Verlauf der Handlung aber ereignet sich eine Katastrophe, die das Konzept auf maximale Weise unterbindet. In der Vergangenheit stimmen Konzept und Modell überein, in der dargestellten Gegenwart brechen sie auseinander, eine Zukunft wird negiert. Die Negation aber ist gar äquivalent zur Auflösung von ›Zeit‹ auf der Figurenebene, denn die Tilgung der Figuren und des diegetischen Teilraums entspricht ja dem ›Auslöschen von Vergangenheit‹ (in Form der Elterngeneration und des Anwesens) und ›von Zukunft‹ (repräsentiert durch den kleinen Sohn und das Nutztier). Das entworfene Modell problematisiert folglich den Übergang von der Vergangenheit zur Zukunft, indem mit ihm in der Gegenwart Kontinuität, die in der Vergangenheit noch gegeben war, aufgehoben wird. Das Modell verzichtet implizit auf eine eschatologische Stütze zugunsten einer semantischen ›Leere‹, die es mit Hilfe einer Radikalität herstellt, die der Negation eingeschrieben ist.

Mit Hilfe dieser Ausführungen lässt sich das Kardinalproblem des Literatursystems der Zwischenphase einmal mehr bestätigen – und dies anhand des ambivalenten Status, den Die Kuh einnimmt: die doppelläufige Verschränkung von Absage und Bestätigung des Dargestellten. Denn einerseits wird eine nicht wünschenswerte Welt, ein nicht anzustrebender Endzustand herbeigeführt, andererseits aber wird ebendies und eben kein alternatives Modell vom Text selegiert. Ersichtlich wird, dass Hebbels Text an einer ästhetischen ›Zwischenstelle‹ positioniert ist, er Wissen vermittelt, das auf (ästhetisch-anthropologische) Missstände hindeutet, ohne Lösungsansätze zur Behebung dieser Missstände liefern zu können – sondern am Ende vielmehr, wie auch das Umfeld der Familie, lediglich vor den Auswirkungen eines Desasters steht.

1.3.2 Die literarisch-narrative Reflexion von Zeit: Reflexive Zeitstruktur und Zeitrelevantsetzung

Der Beispieltext weist nun aber auch deutlich über die bloße Semiotisierung von Zeit hinaus. Er repräsentiert sie nicht nur, sondern funktionalisiert sie im Bedeutungsaufbau. Die Zeit ist Gegenstand eines reflexiven Umgangs. Ablesbar ist diese Texteigenschaft in den obigen Ausführungen bereits an den Begriffen der Determination und der Überdetermination, an der Gegenüberstellung von Zeitkonzept und -modell, insgesamt am übersättigten Paradigma ›Zeit‹, das Hebbels Text in Anschlag bringt.

Der Grat zwischen Semiotisierung und Reflexion ist in der Regel – wie auch am vorliegenden Fall zu ersehen – schwer zu bestimmen und bedarf zusätzlicher Kategorien, die es ermöglichen, genauere Aussagen darüber zu treffen, wie ein Text mit Zeit operiert und wann er Zeitstrukturen als reflexiv kennzeichnet. Wenn wir im Folgenden von Zeitreflexion sprechen, so meinen wir damit die für ein Text- oder Literatursystem angenommene Menge reflexiver Zeitstrukturen, Strukturen, die Zeit nicht bloß semiotisch abbilden, sondern sie relevant setzen. Zeit ist dem Erzählen generell inhärent, bestimmte Voraussetzungen wiederum grundieren eine Reflexion von Zeit. Relevant gesetzt – und damit reflektiert – werden Terme eines Textes genau dann, wenn sie in Relation zu anderen Termen eine hierarchisch hohe Wertigkeit einnehmen. Zeitreflexion wäre dann als Potenzierung von Zeitrepräsentation zu verstehen. Sie baut auf Operatoren der literarischen Zeitsemiotisierung auf und ordnet diese in mannigfaltigen Relationen, setzt temporale Merkmale in Texteinheiten dominant oder belegt Einheiten mit temporalen Merkmalen, die sie dann in abstrakt-semantischen Räumen zusammenführt oder voneinander abgrenzt.

Ausgangspunkt ist demgemäß die Relevantsetzung von Zeit im Text: Zeit ist nicht bloße Grunddimension, in der sich das Geschehen ereignet und in der das Erzählen abläuft, sondern wird selbst zum expliziten oder impliziten Thema, wird problematisiert, hinterfragt, zu bestimmen versucht – sie ist ›wichtig‹, ›wertig‹, ›bedeutend‹. ›Relevantsetzung‹ meint demnach die Verschränkung von Zeit und Textbedeutung; sie unterliegt bestimmten Kriterien, die Zeit erfüllen muss, um als relevante Textgröße angesehen werden zu können. Den Hintergrund bildet dabei die literatursemiotische Annahme, dass Terme mit Hilfe der ihnen zugeordneten Merkmale in logisch-semantischen Relationen organisiert sind (vgl. Titzmann 2003: 3050–3056). Aufgrund dieser Tendenz zur Organisation lassen sich auf analytischem Wege Textstrukturen benennen und rekonstruieren und Aussagen über den Bedeutungsaufbau treffen. Relevanz haben in diesem Kontext diejenigen, auf unterschiedlichen Textebenen angesiedelten Einheiten inne, die paradigmatisch sind. Diese Eigenschaft kommt ihnen durch eine bestimmte Form der Semantisierung, durch Funktionalisierung und Rekurrenz zu. Zeit wäre dann in dem Sinne ein in semantischer und funktionaler Hinsicht herausragendes Element, das die Gesamtmenge semantischer Relationen eines Textes determiniert.

Rekurrenz – als erste primäre und grundlegende Eigenschaft, die zur Bestimmung eines Textes als zeitreflexiven Text ausschlaggebend ist – wird durch relative Häufigkeit eines Elementes im Textgefüge erzeugt: Was »rekurrent ist, ist notwendig relevant« (Titzmann 2003: 3061). Das bedeutet, je häufiger Formen des Zeiterlebens thematisiert auftreten und über Zeitkonzepte diskutiert wird, je häufiger also vonseiten der Figuren oder der Erzählinstanz Zeit und ihre Äquivalente explizit angesprochen werden, desto bestimmter baut ein Text reflexive Zeitstrukturen auf. Das gilt auch für die Zeitbehandlung nach de Toro: Ein Text ist dann zeitreflexiv zu nennen, wenn er die (idealgenetische) Überführung des natürlichen Verlaufs des Geschehens in den discours makrostrukturell rekurrent markiert – durch Ellipsen, Analepsen und Prolepsen, durch explizite Anachronien, Zeitpermutationen, Überlagerungen, Verflechtungen oder Zirkularität, aber auch durch wiederholte Formen von Zeitraffung und -dehnung oder wiederholte Simultaneitätseffekte. Unser Konzept von Zeitreflexion erlaubt es dabei, die Gesamtheit aller Rekurrenzen temporaler Semantiken – ganz gleich, auf welcher Textebene angesiedelt – in die Klassifikation eines Textes als [+  zeitreflexiv] einzubeziehen: Zeitreflexion ist über das häufige, explizit-offene oder implizit-strukturelle Aufrufen von Zeit und ihrer Äquivalente fundiert, sei es auf semantischer oder auf semiotischer, sei es auf narrativer oder auf narratorial-mediatisierender Ebene.

Wenn nun zusätzlich dazu oder auch unabhängig davon Zeit und ihren Äquivalenten zusätzliche Signifikate zugeordnet werden, wenn also beispielsweise die Zeitsegmente ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ deutlich hervorgehoben – das heißt, über ihre Eigenschaft als aufeinanderfolgende Abschnitte und ihre unmarkiert zugehörigen Merkmale hinaus – mit nichttemporalen Merkmalen versehen werden, sprechen wir von einer Semantisierung von Zeit.Footnote 54 Alternativ können Semantisierungsprozesse mit Blick auf Zeit auch andersherum verlaufen – und auch diese sollen hier Beachtung finden: Nichttemporalen Termen werden temporale Merkmale zugeschrieben, oder innerhalb einer gegebenen Merkmalsmenge eines Terms werden die ihm bereits immanenten temporalen Merkmale dominant gesetzt. Zeitsemantisierung im einen wie im anderen Fall tritt bei singulären Termen oder Propositionen auf (vgl. Lyons 1977: 79 f.). So finden in diesem Zusammenhang nicht allein Fälle der Figuren- und Raumsemantik Berücksichtigung, wie wir sie oben ausgeführt haben, sondern auch Ordnungen von ›Welten‹. Wir könnten dahingehend auch behaupten: Je stärker die Ordnung der dargestellten Welt oder der Zustand eines Subjekts zu zwei Zeitpunkten tn und tn−1 oder tn+1 semantisch voneinander abweichen, desto deutlicher arbeitet der Text mittels Semantisierung und Zeitreflexion, und zwar makrostrukturell getragen durch die Substitution.Footnote 55 Ein Subjekt durchläuft eine Phase seines Lebens (oder das Leben insgesamt) und hat dabei die Möglichkeit, sich zu verändern – im goethezeitlichen Sinne: sich zu entwickeln –; ›Welten‹ können einem Metaereignis unterliegen, bei dem eine Ordnung A zu einem Zeitpunkt t1 in eine Ordnung B zu t2 überwechselt. Zeit im letzteren Fall formiert folglich nicht allein eine strukturierende, sondern selbst strukturierte – und damit semantisierte – Größe (vgl. Titzmann 1992: 251). Auch können solche Semantisierungsoperationen mit pluriregionalen Welten verbunden sein (vgl. Martínez/Scheffel 2012: 137 f.) – in der einen Teilwelt vergeht Zeit anders als in einer anderen. Diese Form findet sich zwar in der Zwischenphase selten, sollte aber an dieser Stelle doch genannt werden.

Zeit wiederum ist – unabhängig von der Eigenschaft der Rekurrenz – funktionalisiert, wenn sie als Folge oder Voraussetzung anderer Terme gesetzt wird.Footnote 56 Damit ist nicht etwa die (vermeintliche) Trivialität gemeint, dass Figuren mit fortschreitender Lebensdauer und als Folge ihres Daseins in der Zeit altern. Vielmehr werden uns in der folgenden Auseinandersetzung – beinahe formelhafte – Äußerungen begegnen wie ›Unsere Gegenwart ist keine eigentliche Zeit, weil die Vergangenheit vergangen ist‹ oder ›Die Vergangenheit ist vorbei; deshalb trauere ich‹ – Propositionen also, die Zeit in kausale Verbindung bringen mit positiv oder negativ erfahrenen Zuständen, mit subjektinternen oder -externen Konflikten sowie mit Konzepten bezüglich ›Welt‹, ›Person‹, ›Familie‹, ›Liebe‹, ›Kunst‹ und so weiter. Ist demnach Zeit als Voraussetzung oder Folge eines anderen Elementes gestaltet, so gilt es auf analytischem Wege zu prüfen, (a) welche Semantik sie aufweist, das heißt mit welchen Signifikaten sie selbst belegt wird, oder (b) welchem Signifikanten sie ihrerseits zugeordnet ist und wie dieser Träger selbst hinsichtlich seiner anderen semantischen Merkmale aufgestellt ist. (a) und (b) wiederum sind einzuordnen in den texteigenen Zusammenhang, in dem Zeit steht: Ist sie in ihrer spezifischen Semantik (c) Folge oder (d) Voraussetzung für einen wie auch immer gearteten anderen Term? Semantisierung und Funktionalisierung sind demgemäß notwendigerweise nicht trivial und erheben Zeit zu einem relevanten Element eines gegebenen Textes (vgl. Titzmann 1993 [1977]: 361).

Neben diesen primären Relevanzkriterien sind weitere Kriterien zu nennen, die an dieser Stelle zumindest vermerkt werden müssen: Anzunehmen ist, dass solche sekundären Kriterien lediglich Teilbereiche der primären abdecken und daher in der Praxis zu vernachlässigen sind. So oder anders formuliert lauten sie:

  • Fokussierung von Zeit durch den Text

  • potenzielle, thematische Relevantsetzung von Zeit

  • explizite Relevantsetzung von Zeit durch die Erzählinstanz oder durch Figuren

  • syntagmatische Exponiertheit von Zeit

  • Abweichung der Zeit vom (textuell oder kulturell) ErwartbarenFootnote 57

Potenzielle, thematische und explizite Relevantsetzung können auch als Thematisierungsformen gefasst werden. Die eine verläuft offen, die andere implizit-strukturell. Die Thematisierung aber ist der Semantisierung äquivalent (vgl. Titzmann 1992: 251) und daher lediglich als Teilphänomen dieses Relevanzkriteriums aufzufassen. Ähnliches lässt sich zur Fokussierung von Zeit durch den Text festhalten, die stets in Semantisierung, Rekurrenz oder Funktionalisierung realisiert ist: Ein temporaler semantischer oder lexikalischer Term ist fokussiert, wenn er wiederholt auftritt, er gerät dann zwangsläufig zu einem zentralen Aspekt des Textes. Syntagmatische Exponiertheit von Zeit wiederum kann, sie muss aber nicht von Relevanz sein. Ist sie es, so geht dies mit Thematisierung und folglich auch mit Semantisierung einher. Wichtig erscheint demgegenüber der letzte der obigen Punkte, der zugleich auf eine Text-Kontext-Relationierung im Umgang mit Zeit und auf die zeitmodellierende Eigenschaft von Literatur hindeutet. Eine Abweichung von einer kontextuell erwartbaren Zeitvorstellung impliziert die Tatsache einer Neumodellierung von Zeit durch den literarischen Text ‍– obwohl dies in der Regel weniger ›revolutionär‹ und offensichtlich stattfindet als durch die Formulierung nahelegt. Dennoch: Sie ist als zeitreflexives Moment hinreichend markiert. Sie macht die Problematisierung von Zeiterleben, Zeitkonzepten und -modellen sinnfällig. Wenn Zeitvorstellungen, die erwartbar sind, unterlaufen werden, ist zugleich immer auch Zeitreflexion gegeben.

Mit Hilfe dieser zusätzlichen Begrifflichkeiten zur Reflexion von Zeit können wir die bisherigen Überlegungen zu Die Kuh ergänzen: Die uns vorliegende Textfassung weist einen Umfang von knapp 167 Zeilen auf. Verschaffen wir uns angesichts dessen einen Überblick über alle auf syntagmatischer Textebene auftretenden Daten, in denen Zeit manifest wird, so erhalten wir folgende tabellarische Liste:

S. 489

490

491

492

493

Z. 4

(»vom Großvater herstammenden alten Tisch«)

2

(»ehe der Regenguß kam«)

3 f.

(»plötzlichen Aufflammen«)

3

(»so lange ersehnte Gebrüll«)

6

(»Nun«)

8

(»Sonntag«)

7 f.

(»morgen wird aus dem meinigen geantwortet werden«)

8

(»jetzt«)

5

(»Gute Nacht, Andreas«)

7

(»dann«)

9

(»Zeit- und Geldverschwendung«)

10

(»noch heute«)

10

(»bald ungeduldig«)

7

(»schon am Mittag«)

9

(»vorher«)

10

(»an keinem anderen Tage«)

11

(»endlich so weit gebracht«)

19

(»eben«)

9

(»eilte er schnell«)

9 f.

(»in wenigen Minuten«)

13

(»schon lange geflackert haben mußte«)

12

(»schon unterwegs«)

21 f.

(»nicht lange genug gedauert«)

11

(»Nun«;»bald darauf«)

10 f.

(»als dies alles geschah«)

14 f.

(»bald« …»bald«)

15

(»abermals«)

23

(»vorher«)

12

(»Fast in demselben Augenblick«)

11

(»noch nicht wieder«)

17 f.

(»zweieinhalb bis drei Jahren«)

16 f.

(»gute Weile gedauert haben«)

35

(»schneller […] Blick«)

14

(»pflegst du doch sonst nicht zu tun, eh du«)

12

(»aufs schnellste«)

18 [–28, S. 490]

figurenmotivierte Analepse

19 f.

(»immer, wie jenen Abend«)

 

17

(»während«)

 

28

(»als es«;»nach Feierabend«)

25

(»drei Tage nachher«)

 

18

(»Gleich darauf«)

 

30

(»nach einer Pause«)

28

(»lange währts aber, es wird ja schon Nacht!«)

 

23

(»dann«)

 
 

33 f.

(»brennst du noch nicht«)

 

31

(»jetzt«)

 
 

34

(»halbe Stunde«)

 

35

(»anfangs«)

 
 

38

(»noch heute«)

 

36

(»dann«)

 
   

37

(»ihn fing zu fiebern an«)

 
   

38

(»Jetzt«)

 

Bei einer Auswertung fällt an erster Stelle ins Auge, dass eine relative Häufigkeit von Daten dieser Art insgesamt und Ballungen an bestimmten Stellen im Text vorliegen. Dabei lassen sich allerdings Daten mit weniger Relevanz von solchen mit deutlicher Relevanz unterscheiden – die ersteren reichern die dargestellte Welt mit Temporalität an, die letzteren sind über diese Eigenschaft hinaus ›wichtig‹ und ›wertig‹. Das bedeutet zunächst rückschließend auf die Ausführungen zum Kriterienkatalog, dass Rekurrenz nicht hinreichendes Kriterium zur Bestimmung von Zeitreflexion sein kann, da Zeit dem narrativen Geschehen wie auch der erzählerischen Vermittlung von vornherein eingeschrieben und daher automatisch gegeben ist – ganz im Gegensatz zu anderen Termen wie etwa ›Broterwerb‹ oder ›Rauchen‹, deren Selbstverständlichkeit nicht vorauszusetzen ist. Daher ist Rekurrenz stets unter Berücksichtigung von Semantisierung und Funktionalisierung zu untersuchen, in deren Zuge ein bestimmtes Textdatum potenziert wird. Ist eine solche Konstellation gegeben, ist auch Zeit als ›nicht selbstverständliche Größe‹ gestaltet.

In dieser Hinsicht wird entweder Zeit selbst semantisiert oder aber anderen Termen werden temporale Merkmale zugeschrieben beziehungsweise durch Dominantsetzung ihrer temporalen Merkmale hervorgehoben. ›Nacht‹ stellt in unserem Text ein fokussiertes Zeitsegment dar, in dem sich das Geschehen abspielt und das durch ›Tod‹ semantisiert wird: zum einen explizit durch die Figurenrede (»Gute Nacht, Andreas.«), zum anderen implizit durch die Tilgung aller auftretenden Figuren im Tod. Daneben stehen, so lässt sich der obigen Übersicht ebenfalls entnehmen, ›Plötzlichkeit‹, ›rasche‹ und ›unmittelbare‹ Geschehensabfolge sowie ›Zufall‹ kontrastiv zum Zeiterleben insbesondere von Andreas, seiner Auffassung und Wahrnehmung von Zeit, seiner Zeitkonzeption, seinem Agieren in der Zeit (»schon am Mittag«). Dem Zeiterleben (von Andreas, aber auch dem seines Sohnes) – so kann nun nochmals bestätigt werden – wird die für die dargestellte Welt anzunehmende objektiv-physikalische, etische Zeit diametral entgegengestellt: Zeit ist mithin komplex und mehrdimensional angelegt, wenn auch als Grunddimension selbst nicht problematisiert. Des Weiteren ist die Gegenwart mit Ereignishaftigkeit semantisiert, die zur Katastrophe führt, während demgegenüber die Vergangenheit zwar ebenfalls ereignishaft ist, dahingegen aber ›Gewinn‹ und ›Aufstieg‹ impliziert (»endlich so weit gebracht«). Zu beidem in Opposition steht die Zukunft, die ereignislos und semantisch ›leer‹ erscheint. Auch wird ›Sonntag‹ als Wochentag klar exponiert (»an keinem anderen Tage«), einerseits im regelmäßig-routinierten Ablauf der Woche (»Zeit- und Geldverschwendung«), andererseits als selegiertes Segment, in dem sich die Katastrophe ereignet. Schließlich – auch dies sei wiederholt – dient die Analepse der Semantisierung der Figur: Die retrospektive Sichtweise im Erzählen entspricht dem ausgeprägten Vergangenheitsbezug des Protagonisten (– gleichwohl er sich mit seinem Handeln natürlich ebenso auf die Zukunft ausrichtet [»morgen wird aus dem meinigen geantwortet werden«]).

Die Temporalsemantiken der Figuren und des Raums wiederum sind also insofern bedeutungstragend, als sie im Rahmen des Welt- und Zeitmodells funktionalisiert erscheinen: Neben den Termen ›Kommunikationsdefizit‹ und ›Unglück‹ fungiert die Relation etische Zeit vs. Figurenzeit (= Temporalsemantik der Figur A [›Alt‹] vs. Temporalsemantik der Figur B [›Jung‹]) als Auslöser für die fatalen Ereignisse und die Negativierung von ›Zukunft‹. Die Temporalsemantik im Text stellt die funktional geschaltete Ursache für das Erzählte dar – und zwar dadurch, dass aufgrund ebendieser Voraussetzung das Geschehen so und nicht anders verläuft. Semantische ›Leere‹ erzeugt der Text durch Tod und das Unwissen des sozialen Umfeldes (und der Erzählinstanz): Eine wie auch immer geartete, fortdauernde Existenz des Figurenensembles wird unterbunden. Das Desaster besteht, das Problem bleibt ungelöst.

1.4 Das zeitreflexive Basiskonzept: Literarische Realisation und Bedingungen von Zeitreflexion in der Phase zwischen Goethezeit und Realismus

Kommen wir zu der Frage, wie die Zwischenphase Zeit konzipiert. Abstrahiert werden kann ein einzeltextübergreifendes Modell (der Erzählliteratur), das angesichts der Grundachsen und der Spezifik reflexiver Zeitstrukturen bestimmte, der Phase eigene Merkmale vereinigt und den nachfolgenden Untersuchungsbereichen zugrunde gelegt werden soll. Grafisch lässt sich dieses Basiskonzept wie folgt fassen.

Abbildung 1.1
figure 1

Das allgemeine zeitreflexive Basiskonzept der Zwischenphase

Die Erläuterung verweilt zunächst auf einem relativ hohen Abstraktionslevel. Ihr Sinn und Zweck besteht darin, die bisherigen Überlegungen zu bündeln und damit zu den noch anstehenden Analysen der Teilphänomenbereiche überzuleiten, sowie darin, eine Übersichtsfolie zu liefern, auf die die detaillierteren Passagen bei Bedarf und zur Orientierung rückgebunden werden können. Erläutert werden die Punkte (1) bis (6) der Grafik.

(1) Gerahmt ist das hier angenommene Textbasiskonzept durch spezifische Konstellationen kulturellen Wissens, das heißt durch Zeitkonzepte formuliert in den Wissenschaften, der Politik, in Lexika und so weiter, Auffassungen größtenteils mit Wurzeln in der Aufklärung (vgl. Göttsche 2001: 9 f.). Man kann hier in Anlehnung an Assmann von ›kulturellen Zeitregimes‹Footnote 58 sprechen, wobei sie das übergeordnete Zeitregime (seit der Frühen Neuzeit) das ›Zeitregime der Moderne‹ nennt. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, so lässt sich nachvollziehen, setzt eine Phase zunehmender Beschäftigung mit geschichtlicher Zeit ein, um 1800 artikuliert sich diese Auseinandersetzung in einem emphatischen Sprachgebrauch rund um den Begriff ›Zeit‹ (vgl. Koselleck 1979: 321);Footnote 59 ein Befund, der Rückschlüsse auf die kontemporäre Virulenz des Themas innerhalb der Kulturen Europas zulässt, der zudem aber auch die Notwendigkeit einer Literaturanalyse hinsichtlich der Frage nahelegt, wie ein solches Konzept emphatischer Zeit gestaltet ist und wie es diskursiviert und von nichtemphatischem Sprechen abgesetzt wird. Ebendies, so sollte inzwischen deutlich geworden sein, ist Aufgabe der Analyse zeitreflexiven Erzählens.

Angesichts der für das Literatursystem wesentlichen Diskursformationen können drei Beobachtungen vermerkt werden: Es ginge über unser Vorhaben einer literaturwissenschaftlichen Untersuchung hinaus, die Hintergründe der für das 19. Jahrhundert relevanten Zeitkonzepte aufzurollen – seien es die diversen Zeitrechnungen, sei es die Erfassung natürlicher Zeit in unterschiedlichen Kalendarien, sei es die nicht zu unterschätzende Bedeutung des 14. Jahrhunderts hinsichtlich der Einführung von Schlaguhren und der Ablesbarkeit von Äquinoktialstunden, sei es die feindifferenzierte Unterscheidung zwischen objektivistischen und subjektivistischen Zeittheorien in der Philosophie, die Entwicklung des Fortschrittsbegriffs und anderes mehr.Footnote 60 Maßgeblich für das allgemeine kulturelle Wissen, auf das sich die Literatur unseres Textkorpus bezieht, ist in der Hauptsache das Zeitverständnis Newtons und Kants, die ihrerseits jeweils naturgemäß Vorläufer haben. Auch sie seien, da hinlänglich bekannt, nur angedeutet: Newton unterscheidet zwischen absoluter und relativer Zeit. »Die absolute, wirkliche und mathematische Zeit fließt in sich und in ihrer Natur gleichförmig, ohne Beziehung zu irgendetwas außerhalb ihrer Liegenden, und man nennt sie mit einer anderen Bezeichnung ›Dauer‹.« (Newton 1988: 44) Diese Konzeption wird terminologisch auch mit dem Begriff der objektiv-physikalischen Zeit gefasst. Sie verläuft unabhängig von der individuell-subjektiven Wahrnehmung und wird linear, gleichförmig und unidirektional gedacht. »Die relative Zeit, die unmittelbar sinnlich wahrnehmbar und landläufig so genannte, ist ein beliebiges, sinnlich wahrnehmbares und äußerliches Maß der Dauer, aus der Bewegung gewonnen […], welches man gemeinhin anstelle der wahren Zeit benützt, wie Stunde, Tag, Monat, Jahr.« (Ebd.) Während die absolute Zeit eine Größe darstellt, deren »Fluß […] sich nicht ändern« (ebd.: 46) kann und die allen Dingen übergeordnet anzunehmen, aber nicht fassbar, da nicht erfahrbar ist, ist die relative Zeit bewegten Körpern eigen und daher messbar.Footnote 61 Diese Zeitauffassung liegt inventarisiert in Konversationslexika vor: »Von einer bestimmten Zeit aber (relative Zeit) reden wir nur in Hinsicht Dessen, was die Zeit erfüllt. Hiernach unterscheiden wir Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als ihre relativen Bestand-theile, die stetig ineinander übergehen.« (Conversations-Lexikon 1827: 468) Bezeichnet wird diese Zeit als physikalische oder astronomische Zeit; in den späteren Auflagen (ab 1837) dann auch als mathematische Zeit (vgl. Conversations-Lexikon 1837). Sie wird abgeleitet aus der Naturzeit (»von der Natur uns gleichsam als Norm des Zeitmaßes selbst gegeben«; Conversations-Lexikon 1848: 499) und ist Richtmaß für die sogenannte »bürgerliche Zeit« (ebd.). Kant bewegt sich näher an der Zeitdefinition von Newtons Lehrer Isaac BarrowFootnote 62, reflektiert sie transzendentalphilosophisch und spricht bei ›Zeit‹ und ›Raum‹ von ›Anschauungsformen‹ und Voraussetzungen unserer Wahrnehmung: »Die Zeit ist die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt.« (Kant 1952: 127) Und: »Hier füge ich noch hinzu, daß der Begriff der Veränderung und mit ihm der Begriff der Bewegung (als Veränderung des Orts) nur durch und in der Zeitvorstellung möglich ist« (ebd.: 125).

Die Zeit ist also lediglich eine subjektive Bedingung unserer (menschlichen) Anschauung und an sich, außer dem Subjekte, nichts. Nichtsdestoweniger ist sie in Ansehung aller Erscheinungen, mithin auch aller Dinge, die uns in der Erfahrung vorkommen können, notwendigerweise objektiv (ebd.: 127 f.).Footnote 63

Wir müssen an dieser Stelle darauf verzichten, Prämissen und Präliminarien, Begriffsauffassungen und Deduktionen Kants und des deutschen Idealismus insgesamt in Bezug auf Zeittheorien zu rekapitulieren (vgl. Gent 1930: 13 f. u. 44‒89; bes. 49‒54). Wichtig allein ist, dass sich die Neufassung von Zeit durch Kant und andere Philosophen – auch zunächst über das Ende des Idealismus hinausFootnote 64 – ebenfalls ansatzweise im allgemeinen kulturellen Wissen niederschlägt. Im Konversationslexikon heißt es:

Zeit. Als eine dem wahrnehmenden Geiste nothwendige Form, durch welche das wahrnehmbare Mannichfaltige als nacheinander bestehend zur Einheit verbunden wird (s. Raum), ist die Zeit kein äußerer Gegenstand, auch kein Verhältnis äußerer Dinge zueinander; sie ist vielmehr, wie die Erscheinungswelt, deren Form sie ist, unendlich und ohne Unterbrechung. (Conversations-Lexikon 1848: 498 f.)

Eine dritte Säule des Zeitverständnisses, wie es auch in der Literatur offensichtlich wird, basiert auf subjektivistischen Zeittheorien – fundiert durch Augustinus, Locke, Leibniz und Fichte –, die alle auf die Instabilität und Anomalie von Zeit und ihre Verankerung im Subjekt (vgl. Gent 1930: 147) abheben: Beispielsweise Locke, der am Ende des 17. Jahrhunderts ›Dauer‹ als »the simple modes whereof are any different lenghts of it whereof we have distinct ideas, as hours, days, years, etc., time and eternity« (Locke 1998: 122) definiert. Zeit gerät damit zu einer Kategorie des Subjekts, die aus dem Fluss von Ideen resultiert. Kanalisiert ist dieses Zeitkonzept in einem kulturell ausgeformten und praktizierten monochronen Zeitsystem, in dem das soziokulturelle Leben in Form eines Nacheinanders organisiert ist (vgl. Hall 1983: 48 u. 53) – in den Konversationslexika begrifflich gefasst in der ›bürgerlichen Zeit‹, die die Organisation des kulturellen Lebens bezeichnet. Eine physikalische Grunddimension von ›Welt‹, ein Ordnungsschema der (sinnlichen) Erfassung von ›Welt‹ und schließlich eine rein subjektiv konstituierte und reglementierte Größe im Rahmen der Monochronie – dies stellt – bestätigt auch in WörterbüchernFootnote 65 – primär den Grundstock allgemeinen kulturellen Wissens der Zwischenphase dar.

Zweitens ist »das Bewußtsein der Übergangszeit« (Koselleck 1979: 328) nicht allein im Literatursystem der Epoche auszumachen, sondern überspannt auch außerliterarische Systeme. Bereits Wilhelm von Humboldt führt 1815 rückblickend auf das 18. Jahrhundert aus: »Unser Zeitalter scheint uns aus einer Periode, die eben vorübergeht, in eine neue nicht wenig verschiedene überzuführen« (Humboldt 1960: 398 f.). Es schließen sich an: Ernst Moritz Arndt, der ebenfalls bereits 1806 eine Flüchtigkeit der Zeit annimmt und von »große[n] Verwandlungen« (Arndt 1877 [1806]: 55) spricht,Footnote 66 und Friedrich Schlegel, der seinerseits 1828 schreibt: »Es ist noch nie eine Zeit so stark, und so nah, und so ausschließend und so allgemein an die Zukunft angewiesen worden, als unsere jetzige.« (Schlegel 1971 [1828]: 417) Koselleck folgert im Anschluss daran: »Schließlich reißt die Kluft zwischen bisheriger Erfahrung und kommender Erwartung auf, die Differenz zwischen Vergangenheit und Zukunft wächst, so daß die erlebte Zeit als Bruch, als Übergangszeit erfahren wird, in der immer wieder Neues und Unerwartbares zutage tritt.« (Koselleck 1979: 336) Angezeigt werde dadurch ein sich wandelnder Blick der Kultur auf die eigene Gegenwart, aber auch auf die Zukunft: »Die Zukunft wurde zur Herausforderung oder zum Rätsel« (ebd.: 332), die Gegenwart als »Vakuum« wahrgenommen, als »leere Zeit« (Hess 1997: 22).Footnote 67 Ergründet wird dies in auch im Conversations-Lexikon (1841): dem »Zeitgeist« im politischen und sozialen Bereich, in Wissenschaft, Kirche, Kunst, Literatur und Philosophie wird eine »wichtige Phase« (ebd.: 461) zugeschrieben. Den Ausgangspunkt stellt das Bestreben dar, über das Verstehen der eigenen Gegenwart ebenfalls die Vergangenheit zu erfassen und Zukunft zu gestalten:

Denn in der That, es gibt nichts Höheres, als die Gegenwart, in der ja auch die Geschichte der früheren Jahrhunderte mit ihren dauernden Folgen fortlebt, zu begreifen, um sich ihr handelnd für alle Zukunft zu widmen, um sich damit selbst eine Zukunft und eine Unsterblichkeit zu schaffen. (Ebd.)

Die besondere Stellung resultiere nun zum einen aus dem Umstand, überhaupt eine Vorstellung von Geschichte (im Kollektivsingular) zu verfügen, zum anderen zusätzlich aus Umbrüchen in den genannten Bereichen: die Französische Revolution als Protest gegen veraltete politisch-soziale Strukturen, der Bruch der Wissenschaften mit »schon zerfallenden Schranken der zunftmäßig eingehegten Gelehrsamkeit« (ebd.: 462), der soziale Reaktionismus mit der Eigenschaft, »über die jüngste Geschichte leichtfertig wegzuspringen, um die Fäden, die ihm nur willkürlich und gewaltsam abgegriffen schienen, wieder an Altes und Veraltetes zu knüpfen« (ebd.) und so weiter. Die zeitgenössische Problemlage ergibt sich, so lässt sich erkennen, aus der gegenläufigen und konfligierenden Orientierung an Vergangenheit und Zukunft (vgl. ebd.). Gehen etwa Kant, Hegel und Lessing von der Geschichtlichkeit von Zeit aus und versuchen, je eigene, jedoch noch klar im aufklärerischen Denken verankerte Lösungen für den Hiatus aus individueller und kollektiver Zeit zu finden, bricht das Gefüge im 19. Jahrhundert zunehmend auseinander und führt, wie gar mancherorts behauptet, regelrecht zu einer Zeitaporie (vgl. Hölscher 2016: 55 f. u. Lampart 2002: 24 u. 55–61).

Drittens korreliert das epochendiagnostische Denken einer Übergangszeit mit »Prozesse[n] der Verzeitlichung« (Göttsche 2001: 13; vgl. auch allgemein Göttsche 2011), die gleichfalls mehr oder minder deutlich in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens diskursiv Eingang finden und sich damit im kulturellen Wissen niederschlagen und vertextet werden. Dazu zählen Ansätze der Geschichtsphilosophie, die, im Gegensatz zur rationalen Prognostik – die ihrerseits im 17. und 18. Jahrhundert eine Blüte erlebte (vgl. Koselleck 1979: 28)Footnote 68 – Geschichte dynamisieren (vgl. ebd.: 34 u. 321). Der Kollektivsingular ›Geschichte‹ richtet sich »nicht mehr auf die Wiederholung von etwas Bekanntem, sondern auf das Neue, andere und Einmalige« (Assmann 2013: 56). Dazu zählt die (erneute) Entdeckung der Zeit in den Naturwissenschaften, die das Denken einer Geschichtlichkeit von ›Natur‹ anstößt, so in Biologie, Geologie und Astronomie (vgl. Toulmin/Goodfield 1985; Engelhardt 1979 u. Lepenies 1978). Dazu zählen ferner die Neuperspektivierung sozialer Zeit – eingedenk der »Modernisierung von Gesellschaft und Lebenswelt« (Göttsche 2001: 12), die unter anderem TraditionsbrücheFootnote 69 etwa im sozioökonomischen Bereich nach sich zieht (Brandmeyer 1982: 157) – und die neue Qualität der Zeitgeschichte im Zuge der Französischen Revolution (vgl. Koselleck 1979: 321 u. Hasubek 1968: 220). Dazu zählt auch – wie bereits angesichts der dritten Grundachse erläutert – die theoretische Konsolidierung einer individuell-subjektiven Zeit (das heißt: Lebenszeit und Zeitbewusstsein), wie sie im Rahmen der Anthropologie vorgenommen und in Form von Konzepten inventarisiert wird.Footnote 70 Und dazu zählt nicht zuletzt die selbstdiagnostische Zuschreibung einer ›Weltkrise‹, die – ablesbar am häufigen Gebrauch des eminenten und zeitreflexiv aufgeladenen Ausdrucks ›Krise‹ – Koselleck zufolge im 19. Jahrhundert alle Kulturbereiche Deutschlands erfasst (vgl. Koselleck 1982: 635 ff.). Mit diesen Prozessen korrespondieren unterschiedlich verortete und gestaltete Reflexionsmaßnahmen, um die Erfahrung des ›Epochenumbruchs‹, die »Ungleichzeitigkeiten der Epoche« (Blasberg 1998: 371) wie auch die »aporetische Situation« (Lampart 2002: 24), wie sich alles dies offenkundig vielseitig bahnbricht, greifbar zu machen.

Der erstgenannte Punkt ‒ die skizzierte Vorstellung von Zeit und Zeitlichkeit und die Vorstellung ihrer Dimensionalität ‒ untermauert das Zeitregime der Moderne; die beiden letztgenannten Punkte – das Bewusstsein einer Übergangszeit und die Verzeitlichungsprozesse – deuten auf ein Revisionsmoment des Regimes hin, auf einen Bruch, der Selbstreflexivität generiert. So selbstverständlich die Trennung der drei Zeitstufen ›Vergangenheit‹, ›Gegenwart‹ und ›Zukunft‹ ‒ auch für unsere historische Phase ‒ ist und so unumwunden in Konversationslexika von physikalisch-mathematischer Zeit (mit eingeschriebenem Fortschrittsgedanken) und von subjektiver Zeit die Rede ist: Es handelt sich um Denkmodelle, die sich von der Frühen Neuzeit an bis zur Aufklärung ausgebildet haben (vgl. Assmann 2013: 75 f.). Die Revision des Regimes, die die Zwischenphase als Segment auszeichnet, ist dabei aber vielmehr als Impuls oder ›Schub‹ zu werten, der ein Nachdenken über die eigene Zeit, die eigene Geschichte und Geschichtlichkeit anstößt, um revolutionäre Umgestaltungsprozesse und Modernisierungsschübe begreifbar zu machen und sie in einer ›Theorie der Moderne‹ einzuordnen (vgl. ebd.: 88, 92 ff., 97 u. 99‒103). Zeitreflexion ‒ und gerade emphatische Zukunftsorientierung ‒ scheint hier offenkundig notwendig zu sein, um das Zeitregime der Moderne zu bestätigen und aufrechtzuerhalten. Programmatisch für die Zwischenphase ist ja, »die Gegenwart von jeglichen Ansprüchen, Erfahrungen und Vorbildern der Vergangenheit zu befreien, um sie umso enger mit dem Projektions-, Imaginations- und Planungspotential der Zukunft zu verkoppeln« (ebd.: 138). Diskursbestimmend für unser historisches Segment ist der Loslösungsprozess und das Ausloten einer Orientierung auf mögliche ›Zukünfte‹.

(2) Literarisch realisiert wird ein aus dem Wissenssystem adaptiertes, linear-chronologisches, unidirektionales und monochrones Zeitkonzept, die Vorstellung einer sukzessiv-gleichförmig verlaufenden Zeit gebunden an und manifest in individuellen Lebenslaufmodellen und in der geschichtlichen Entwicklung dargestellter Kulturen.

Doch es unterliegt einer Unterminierung. Eingebettet wird es nämlich in einen seit den 1820er-Jahren zunehmenden Reflexionskontext, der dem der Textwelt eingeschriebenen Konzept divergierende, offen formulierte oder implizierte Wahrnehmungen, Gegenentwürfe, Zeitbewusstseinsinhalte entgegenstellt. Das an Newton angelehnte Modellierungsmuster setzt einen Zeitstrahl voraus, auf dem sich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft anordnen, es grenzt ferner über weite Teile das christlich-eschatologische Konzept aus (vgl. Göttsche 2000: 2)Footnote 71 und legt den Fokus auf eine diesseitige und endliche Welt. Gekappt wird also die Diesseits-Jenseits-Semantik zugunsten einer Neugewichtung der drei Zeitdimensionen, wobei speziell der Zukunft eine besondere Beachtung zukommt. Angesichts einer solchen literarischen Säkularisierungssemantik ist interessant zu beobachten, welche Problemlösungsstrategien Texte entwickeln, um die ›Zukunft‹ ihrer ›Kulturen‹ (neu) zu gewährleisten beziehungsweise welche Lösungen Figuren finden müssen, um das Einbüßen eines ewigen ›Jenseits-Daseins‹ im Diesseits zu kompensieren. Als Lösungsstrategie in Die Kuh – wie auch in vielen anderen Texten – fungiert die zukunftsgarantierende Weitergabe des Gutes an den Sohn als Fortbestand des eigenen Selbst in der Zukunft der Familie. Für das Zeitmodell charakteristisch ist auch die Kollision von Kontinuität und Diskontinuität resultierend aus dem Umstand, dass die Gegenwart einen wie auch immer gearteten Bruch mit tradierten Mustern impliziert, die ihrerseits aber – teils überdeutlich – präsent sind. Wir werden noch sehen, in welchen diversen Formen dies auftritt (Stichwörter sind: paradoxale Temporalsemantik des Raums und der Figur, die Koppelung von Regression und Progression, ›Entromantisierung‹ als Charakteristikum von Kunstreflexion). In Die Kuh überlagern sich Kontinuität und Diskontinuität insofern, als die Regelmäßigkeit des intergenerativen Ablaufs, der in der Vergangenheit als gegeben gelten durfte, unterbrochen wird, und ebendies mit maximaler Konsekutivität und mit der schlimmstmöglichen Konsequenz. Die Konstitution eines solchen heterogenen Zeitmodells kann auch durch die Mehrdimensionalität individueller Zeit in der Gegenwart gegeben sein: zum Beispiel dann, wenn ein protagonistenzentriertes Erzählen einer eindimensionalen Handlung (wie im Bildungsroman) zugunsten mehrerer fokussierter Handlungsstränge aufgegeben wird.Footnote 72 Im Fokus des Modells stehen folglich nicht die »Zeit der Natur und des Kosmos« (Göttsche 2001: 28), sondern »Probleme der Lebenszeit, des inneren Zeitbewußtseins, der sozialen und der geschichtlichen Zeit« (ebd.: 29) – man sollte hinzufügen: der literaturgeschichtlichen Zeit. Es geht – dies unsere Annahme – um Zeitreflexion basierend auf dem interrelationalen Verhältnis zwischen Heterogenität, Literaturanthropologie und metatextueller Selbstreflexivität gegeben in singulären Texten, die über sich selbst hinaus auf das Literatursystem hindeuten.

(3) Literarische Welten weisen die Separationsmarker a und b zwischen x, y und z auf und nehmen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft als gesetzt an (siehe Abb. 1.1). Zugleich werden mit a und b – dies geht mit Punkt (2) einher und betrifft gleichermaßen die Ebene des Individuums wie die des Kollektivs – keine sukzessiven Ablösungs- beziehungsweise Substitutionsprozesse korreliert, sondern Abgeschlossenheit. Die zwischen ihnen liegenden Zeiträume x (zu T1), y (zu T2) und z (zu T3) bilden semantische Teilräume (Vergangenheit = sR1; Gegenwart = sR2; Zukunft = sR3) ab, die sich teils überlagern und Schnittmengen darstellen, teils in sich abgeschlossene und separierte Mengen formieren. Zwar könnte das erstgenannte Charakteristikum einen fließenden Übergang garantieren, es wird aber zugunsten der dominant gesetzten Divergenz zwischen den Mengen funktionalisiert. Wie in Die Kuh: Die Vergangenheit ist semantisch präsent, kommt aber in der Handlungsgegenwart nicht zum Tragen. Damit verbundene Effekte: Kontinuierliche Prozessualität wird durch Diskontinuität substituiert, Wechsel werden ›plötzlich‹, ›unmittelbar‹, ›umbruchartig‹ inszeniert. Daher wird auch die Überschreitung der Teilraumgrenzen als ereignishaft wahrgenommen. Beiden Protagonisten in Die Kuh ist die Grenzsetzung zwischen ihnen (Jung vs. Alt) nicht bewusst, insbesondere der Vater unterschätzt die Virulenz der Barriere, indem er fahrlässig mit hochrangigen Werten umgeht. Übergang b im Text wird von den Figuren nur ›beschritten‹, indem sie mit ihm aus dem Leben getilgt werden. Es ist eben die synchrone Präsenz der Merkmalsbündel ›Vergangenheit‹ und ›Zukunft‹ in der Gegenwart, die die Übergänge a und b so ›gefährlich‹ erscheinen lässt – und zwar infolge der Tendenz von Texten unseres Korpus, ›Zeiten‹ von der diachronen Ebene auf die synchrone Ebene zu übertragenFootnote 73 und zusätzlich die Schichtung konfligierend zu attribuieren. Nicht selten kollidieren im Zuge dessen Zeitkonzept und Zeitmodell: Zeitreflexion funktioniert ganz offensichtlich auf Grundlage der Kluft zwischen dem, was sich die Figuren vorstellen, was sie erinnern und erhoffen oder befürchten, und dem, was tatsächlich geschehen ist, geschieht oder geschehen wird.

(4) Die Modellierung und die Wahrnehmung der Gegenwart als krisenhafter Übergangszustand, als Phase eines Interims, als temporalsemantisches Zwischenglied zwischen Vergangenheit und Zukunft ohne den Status eines eigenständigen Systems kommt auf der Grundlage der unter (2) und (3) erläuterten ›Schichtung von Zeiten‹ zustande und lässt sich als temporalsemantisches Kippmodell beschreiben. Pauschal gesprochen handelt es sich dabei um dasjenige Zeitsegment, das auf einer temporaldeiktischen Achse erkennbar zwischen zwei anderen Segmenten positioniert ist. Doch mehr noch: Als abstrakt-semantischer Teilraum und segmentale Menge betrachtet, vereint ›Gegenwart‹ Merkmale sowohl von ›Vergangenheit‹ – die sie umsemantisiert, in ihrer Gültigkeit auf- oder abwertet oder schlicht ›generiert‹, indem sie ein ›Zur-Vergangenheit-Erklären‹ betreibt (vgl. Assmann 2013: 142) – als auch von ›Zukunft‹ – in Form von Tilgungs- und Substitutionsmöglichkeiten – und sie setzt beides zueinander in Beziehung. Da die Vergangenheit vergangen, mit ihr in Verbindung stehende und noch präsente Systeme (des Denkens, Handelns, Sprechens und so weiter) als überholt und die Zukunft ihrerseits ungewiss erscheint, manifestiert sich die Gegenwart als unsicher – und dies gilt nicht nur für Figuren, die offenkundig ebenfalls in Texten der Goethezeit ‒ sei es in der romantischen Künstlernovelle oder im klassischen Bildungsroman ‒ temporären Unsicherheiten und Gefahren ausgesetzt werden, sondern ausdrücklich auch für das gesamte, vom Text vermittelte Weltmodell. Die Lage der dargestellten Welt, so macht das Literatursystem deutlich (und dies macht das Moment des ›Kippens‹ aus), steht im Zeichen eines hochvirulenten ›Entweder-Oder‹ zwischen Glücken und Scheitern. Wir hatten diese Funktion von ›Gegenwart‹ hinreichend am Beispiel erläutert; wir werden sie in den folgenden Analyseteilen eingehender ausdifferenzieren.

(5) a und b sind deshalb als exponierte Zeitpunkte innerhalb des Basiskonzepts zu betrachten, da sie Weichenstellungen zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft repräsentieren. Auch erhalten sie diese Zuschreibung vor dem Hintergrund einer nicht nur im historischen Erzählen (Sottong) oder im Zeitroman (Göttsche) anzutreffenden, temporal weit in die Vergangenheit reichenden Spanne dargestellter Welten, in deren Zuge nicht allein w (während T0) einbezogen wird, sondern w und x – sowie alle weitere in der Textvergangenheit situierten Teilwelten – durch reibungslose Kontinuität gekennzeichnet sind. Das bedeutet: Übergänge an i sind durch tradierte, feststehende und unhinterfragte Übergangsriten reguliert und verlaufen harmonisch. Die Schwierigkeit für die Gegenwart in der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit besteht in ihrem ambivalenten Verhältnis: Zum einen lehnt sie Systeme der Vergangenheit als überholt ab, zum anderen dominiert die Vergangenheit aber, sodass die Absage an sie zugleich als ›Verlust‹ semantisiert wird. Das Basiskonzept folgt dahingehend einer Logik, in der eine (wie auch immer geartete) ›problematische Gegenwart‹ eine ›nicht problematische Vergangenheit‹, umgekehrt wiederum eine ›glorreiche/prosperierende/funktionierende/glückliche Vergangenheit‹ eine ›scheiternde/krisenhafte/nicht funktionierende/unglückliche Gegenwart‹ implizieren kann. Die Gegenwart büßt den Status eines eigenständigen Systems zugunsten eines heterogenen Grundzugs ein, begründet durch die ›temporale Expansion‹ von Vergangenheit: Die Gegenwart ist (auch) ›modifizierte Vergangenheit‹ (y = x’); in ihr sind aus der Vergangenheit stammende Leitsätze, Normen, Regeln, Vorstellungen und so weiter noch denkbar, haben aber nur eingeschränkte Geltung. Die Vergangenheit stellt paradoxerweise das dominante System dar (Verhaltens-, Denk-, Gesellschafts-, Wissens-, Ideologiesystem), ist zugleich allerdings nicht mehr tragfähig, nicht mehr kompatibel mit Bedingungen der gegenwärtigen Welt.

(6) Eine zentrale Frage, die Texte unseres Korpus zu beantworten versuchen, lautet: Wie lässt sich das problematische Verhältnis von Vergangenheit und Gegenwart auflösen und lässt es sich in der Zukunft harmonisieren? Für unseren Zusammenhang bedeutet das: Eine Rekonstruktion des jeweiligen Zukunftsmodells kann dabei helfen, Erkenntnisse über Problembenennungen und Lösungsstrategien zu eruieren, die – durch die metareflexive Grundausrichtung dieser Texte – auch von Bedeutsamkeit für die Betrachtung des Literatursystems insgesamt sind. Die Zukunft vereinigt die Menge an Resultaten, die eine Geschehensfolge mit sich bringt, gemäß den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der dargestellten Welt und dem Handlungsgang der Figuren. Dies vorausgesetzt, gilt die wechselseitige Implikation von Gegenwart und Zukunft. Ein wie auch immer geartetes Zukunftsmodell samt seinen Merkmalen setzt eine Gegenwart voraus, die die Möglichkeiten zu ihrer Realisierung überhaupt erst bietet. Andersherum zieht eine bestimmte Anlage der Gegenwart bestimmte Folgen nach sich und impliziert damit paradigmatisch bestimmte Zukunftsaussichten und andere wiederum nicht: Manche Zukunft ist möglich, andere Zukunftsoptionen werden ausgeschlossen. Dabei spielen freilich ›Denkbarkeit‹ und ›Machbarkeit‹ eine entscheidende Rolle, eingedenk der problematischen Anlage von ›alten‹ und ›neuen‹/›jungen‹ Systemkomponenten. Drei Zukunftsmodelle sind hier maßgeblich und spezifisch ausgeprägt: das der Kappung, das der Restauration und das der Polysemie beziehungsweise der Offenheit. Zu erläutern wären Bedingungen und Konkretisationen, um der Spezifik dieser Modellierungsformen auf den Grund zu gehen und weiterführende Schlüsse für das Literatursystem ziehen zu können.

1.5 Untersuchungsgegenstand und Zielsetzung

Kommen wir abschließend auf einige methodische Punkte zu sprechen. Die Textauswahl hat, sofern sie dem Untersuchungsvorhaben Rechnung tragen möchte, bestimmte Prämissen zu berücksichtigen.

Das gebildete KorpusFootnote 74 umfasst Texte, die (a) die Bedingung einer literarischen, das heißt auf Basis des primären Zeichensystems der natürlichen Sprache ›Deutsch‹ basierenden Repräsentation von Zeit und Zeitlichkeit erfüllen. Vermutlich handelt es sich beim Komplex der Zeitreflexion im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts – die Arbeiten Kosellecks und Göttsches legen das nahe – um international beobachtbare Sachverhalte; unsere, in der germanistischen Literaturwissenschaft angesiedelte Studie konzentriert den Blick jedoch aus Gründen der Praktikabilität auf den deutschsprachigen Raum.

Das Korpus umfasst Texte, die (b) im engeren Sinne narrativ sind (vgl. Schmid 2014 [2003/2005]: 3 f., 14 f. u. 71 ff.): ›Narrativ‹ sind solche Texte zu nennen, die (i) eine minimale Struktur der Zeitpunkte t1, t2, t3 aufweisen, und dabei t1 und t3 jeweils Ausgangs- und Endzustand abbilden. t1, t2 und t3 durchläuft (ii) in minimaler Realisierung ein einziges Subjekt, wobei t2 eine Zustandsveränderung darstellt und die Zustände in t1 und t3 in oppositioneller Relation zueinander stehen. Vermittelt wird diese Struktur (iii) von einer Erzählinstanz, die Texte explizit oder implizit entwerfen.

Weiterhin schließt das Korpus Texte ein, die (c) in der Zeit von 1820 bis 1850 publiziert worden sind, die wir in Anlehnung an Sottong, Frank und Schönert ›Zwischenphase‹ nennen wollen. Der Datierung liegen zwei Vorannahmen zugrunde. Texte dieses Zeitraums weisen (i) Abweichungen vom Literatursystem der Goethezeit und vom Literatursystem ›Realismus‹ auf – sie sind hinsichtlich der Konstitution ihrer Systeme nicht (mehr) als goethezeitliche Texte und (noch) nicht als realistische Texte zu bezeichnen, und wenn doch, dann als ›Ausläufer‹ beziehungsweise als ›prärealistische‹ oder frührealistische Texte. Die Goethezeit läuft in den 1820er-Jahren allmählich aus; der Realismus konstituiert sich spätestens in den 1850er-Jahren (vgl. Titzmann 2002b; Nies 2007 u. Schönert 2017). Die Menge der singulären Textsysteme des Zeitraums weisen (ii) generalisierbare thematische und formale Merkmale und Regularitäten auf, aufgrund derer sie – trotz der gegebenenfalls in ideologischer und politischer Hinsicht divergierenden Position ihrer Autor*innen – ein Literatursystem formieren. Eine Aussage wie diese erfordert eine Erläuterung. Anzunehmen ist eine integrative Matrix: Wie an anderer Stelle erörtert (vgl. Brössel 2019), wird die Heterogenität des Literatursystems nicht bestritten – koexistent sind mehrere Systeme in unterschiedlichen Statusphasen: Für den Zeitraum von 1820 bis 1850 lässt sich die Reduktionsphase der Literatur der Klassik und Romantik beobachten, die Gleichzeitigkeit der Teilsysteme ›werte- und stilekonservativer Literatur‹ und ›Tendenzliteratur‹ sowie die Konstitutionsphase der Literatur des Realismus. Aber: Überlagert wird diese Gemengelage von einer systemisch fixierten und doch intraepochal dynamischen Merkmalsschicht mit zeitreflexiver Stoßrichtung, die von den unterschiedlichen Subsystemen aus gespeist wird. Wenn im Folgenden von einem Literatursystem ›Zwischenphase‹ die Rede ist, dann wird damit auf das Raumzeitsegment abgehoben, in dem eine Gleichzeitigkeit der genannten Systeme wie auch ihre gemeinsame Merkmalsmenge ›Zeitreflexion‹ anzunehmen ist.Footnote 75

Das Korpus umfasst Texte, die (d) der Novellistik angehören. Dieses Feld im besagten Zeitraum ist, bedingt durch die schier inflationäre Begriffsverwendung, äußerst schwierig abzustecken (vgl. Schröder 1970: 56–73 u. Meyer 1998: 249 f.), und auch aus systematisch-gattungstheoretischer Sicht ist nicht recht klar, wie die Novelle zu greifen wäre (vgl. Aust 2006 [1990]: 1–18 u. Rath 2008: 9). Es liegt keine absolute Menge normativer Bedingungen oder deskriptiv erfassbarer Merkmale vor, die einen Text als Novelle kennzeichnen würden (vgl. Kiefer 2010: 18). Andererseits aber stellt sie für die Zwischenphase eine offenkundig repräsentative Textgattung dar, deren inflationäres Auftreten auf ihre immense Popularität hindeutet: Die Novelle scheint ein literarischer Ort zu sein, an dem die Probleme des Literatursystems besonders gern verhandelt werden. Wir verstehen im Folgenden ›Novelle‹ und ›Erzählung‹ synonym und beziehen alldiejenigen Texte in die engere Untersuchung ein, die im Paratext entsprechende Selbstkennzeichnungen aufweisen – unabhängig von der Frage, ob sie nun aus systematischer Sicht zur Novellistik zählen oder nicht, ob sie das Staiger’sche Kriterium der ›mittleren Länge‹ aufweisen und sie als unselbstständige Texte veröffentlicht wurden oder nicht.Footnote 76 Der Studie kommt es vornehmlich darauf an, narrative Formen zu beleuchten, nicht darauf, eine Gattungsbestimmung vorzunehmen; die Gattungswahl dient allein als quantitatives Eingrenzungskriterium für das Textkorpus. Falls zur Illustration einzelner Phänomene notwendig, werden darüber hinaus repräsentative Texte anderer Gattungen in die Untersuchung einbezogen.

Schließlich formieren (im Sinne der strukturalen Textanalyse nach Titzmann [1993 [1977]: 388]) solche Texte unser Korpus, die (e) Zeit reflektieren, das heißt aufbauend auf den drei Grundachsen, die sie als solche in unterschiedlicher Ausprägung aufweisen, die Größe ›Zeit‹ relevant setzen und durch dieses Strukturmerkmal Bedeutung aufbauen. Sie weisen dabei Gemeinsamkeiten mit dem Supertyp nach Sottong auf (vgl. Abschn. 1.2), unterscheiden sich aber von Zukunftsromanen und sonstigen Formen der literarischen Science Fiction (vgl. Friedrich 1995).

Was die Textmenge anbelangt, so lässt sich eine Entwicklung nachzeichnen, die mehrere Phasen umfasst, drei wesentliche Zäsuren beinhaltet und folgendermaßen grob zusammengefasst werden könnte:Footnote 77 Eine erste Zäsur – die biedermeierliche Novellenwende – kann um 1820 angenommen werden. Mit dem allmählichen Ende der Arbeit von Hoffmann und dem Neuansatz von Tieck in seinen Dresdner Novellen sowie mit debütierenden Autoren wie Hauff, Alexis, Immermann, Waiblinger, Schefer, Zschokke und Schreyvogel beginnt die sukzessiv-›behutsame‹, für den Gesamtzeitraum aber signifikante Ablösung von Denkmodellen und Erzählmustern, die die Goethezeit gekennzeichnet hatten, insbesondere in Auseinandersetzung mit der Initiationsgeschichte und der Abwendung vom Okkultismus. Vier Merkmale sind für diese Phase kennzeichnend: (1) Die Hinwendung zur Erzählprosa, zum einen aufseiten der Autoren, die gegenüber dem Drama und der Lyrik vermehrt die Prosa als literarische Ausdrucksform wählen, zum anderen auf Ebene der Texte selbst, die, nicht mehr wie in der vorherigen Blütephase der Romantik, zunehmend ohne generische Mischformen auskommen. Dieses Merkmal setzt sich in der Zwischenphase nicht endgültig durch, sondern wird in den 30er- und 40er-Jahren immer wieder umspielt, indem vorzugsweise Lied- und Gedichtformen Eingang in den discours nehmen. (2) Die zunehmende Integration von Realitätsbereichen und Erzählstoffen, die von der Goethezeit als ›prosaische‹ Bereiche ausgegrenzt wurden. (3) Die Ausprägung eines ›biedermeierlichen Realismus‹, in dessen Zuge vor allem die Liebesproblematik verharmlost oder trivialisiert und Liebe gegenüber dem goethezeitlichen Konzept der maximalen Unbedingtheit, massiven Leidenschaftlichkeit und Absolutsetzung reduziert wird und das exponierte Subjekt der Goethezeit durch ein dezidiertes Normalsubjekt substituiert ist, teils entpsychologisiert, in jedem Fall aber unfähig zur psychischen Transformation, der Dominanz der biologischen Eltern ausgesetzt ist und das daher Tendenzen der Resignation und der sozialen Anpassung aufweist. (4) Auffallend oft findet dies im Kontext einer »Romantisierung mit gewandelter Anthropologie statt« (Lukas 1998b: 264), die auch unter dem Schlagwort der ›Entromantisierung‹ firmiert. Obgleich aber ›Liebe‹ durch den Text evaluativ ›herabgesetzt‹ sein mag, werden an Paarfindungen und -bildungen noch immer die wesentlichen anthropologischen und nun eben auch zeitreflexiven Problemstellungen abgehandelt.

Die zweite Phase zwischen dem Ende der 1820er- und Ende der 1830er-Jahre zeichnet ein verstärkt destruktiver Charakter aus, zumindest sind deutliche Modifikationsmaßnahmen zu erkennen, die an goethezeitliche Modelle angelegt werden und in deren Zuge die Prozesse der ersten Phase weiter radikalisiert auftreten: (1) Romantische Topoi, Motive, Denkmodelle werden nach wie vor aufgriffen, zugleich aber offensiv in Frage gestellt. (2) In der Konzeption von Liebe dominiert die Orientierung an wirklichen Verhältnissen. Damit einher geht (3) eine generelle Verschiebung der Wertehierarchie, in der nun sozioökonomische Selbstständigkeit, Macht und Geld, aber auch die (Herkunfts-)Familie anstelle von Liebe ins Zentrum rücken. Mit zwei wesentlichen Folgen: (4) die prinzipielle Verzweiflung an der Welt in Form von Pessimismus und Sinnkrise und (5) die psychopathologische Ausprägung bei Figuren, die zwischen Autonomie und Heteronomie, zwischen den eigenen Bedürfnissen und von ihrem Umfeld auferlegten Normalitätsvorgaben schwanken, eine Harmonisierung zwischen beiden Bereichen, wie noch in der Goethezeit als höchstes Ziel angestrebt, nicht länger im Blick haben. Texte verfahren dabei – so konstatiert auch Lukas – (6) deutlich selbstreflexiv, installieren und funktionalisieren die Diskrepanz zwischen Textebene und Figurenebene, tendieren zu Diskursivierung und Entnarrativierung oder auch zu fundamentaler Negativierung des Dargestellten (Lukas 2001: 68). Zu beobachten ist dieser Prozess sowohl bei fortschreibenden Vertretern der Romantik (Eichendorff und Tieck) als auch bei der jungen Generation (Hauff).

Eine dritte Phase steht im Zeichen der ›prärealistischen‹ Novellistik der 1840er-Jahre und dem Auftreten abermals einer neuen Autorengeneration (Stifter, Auerbach, Kurz, Schücking, Droste-Hülshoff, Gotthelf). Sie zeichnet sich aus durch (1) ein neues ethnologisches Interesse, (2) die Korrelation von Individualebene und Ebene des Kollektivs, die sich in den 20er- und auch in den 30er-Jahren bereits stellenweise abgezeichnet hatte, (3) eine dezidierte Sozialpsychologie (anstelle einer Individualpsychologie der Goethezeit) und (4) die Normalisierung des Subjekts, seine ›Zähmung‹ in sozialer und anthropologischer Hinsicht.

Diese bewusst gegenüber anderen Vorschlägen präferierte Periodisierung soll als Orientierungshilfe zur Erstellung unseres Textkorpus dienen. Die Unterteilung in die Korpora A, B und C erfüllt dabei den Zweck, mögliche intraepochale Varianten hinsichtlich der Reflexion von Zeit voneinander scheiden zu können. Die Gesamtmenge der selegierten Texte wiederum erlaubt es, Aussagen bezüglich interphasiger Invarianten treffen zu können, also bezüglich einzeltext- und phasenübergreifender Merkmale bezüglich der Reflexion von Zeit, während im anderen Fall phasenspezifische Merkmale herausgearbeitet und relationiert werden können.

figure a
figure b
figure c

In den folgenden Kapiteln wird jeweils ein Textbeispiel als Ausgangspunkt dienen, um mit seiner Hilfe die Problematik zu entfalten. Die Analyse wird dann ausgeweitet und bezieht weitere Texte des Korpus ein. Dieses Vorgehen soll die wechselseitige Rückversicherung von einzeltextbezogenen und einzeltextübergreifenden Aussagen garantieren, die uns zur sinnvollen Beschäftigung mit dem hier untersuchten Literatursystem notwendig erscheint. Das hinter alldem stehende Erkenntnisinteresse – das klang nun mehrfach an – ist ein zweifaches und besteht darin, allgemeine Aussagen über ein dominant-konstitutives Merkmal der Phase zwischen Goethezeit und Realismus zu treffen, nämlich über die Auseinandersetzung mit Zeit und Zeitlichkeit. Literarische Zeitreflexion ist mit der Auseinandersetzung nichttemporaler Komplexe korreliert und basiert auf den drei Grundachsen der ›Heterogenität‹, der ›metatextuellen Selbstreflexivität‹ und der ›literarischen Anthropologie‹. Angestrebt werden sodann Aussagen über die »ästhetische Kommunikation als kultureller Speicher« (Nies 2011: 214), die ›Konservierung‹ von außerliterarischen Wissensmengen durch die Literatur der Zwischenphase, über die von ihr vorgeführten Problembenennungen und erprobten Problemlösungsstrategien, insbesondere über die Differenzierung zwischen angestrebten, wünschenswerten und zu vermeidenden und nicht wünschenswerten Zuständen.