Skip to main content

Georg Kaiser: Die Rückkehr zum Menschen

  • Chapter
  • First Online:
Literatur als Arbeit am Menschen
  • 310 Accesses

Zusammenfassung

Der deutsche Dramatiker Georg Kaiser äußert sich insbesondere in seiner expressionistischen Werkphase (zwischen 1912 und 1922) in einer großen Anzahl von Aufsätzen, öffentlichen Korrespondenzen und Interviews über seine Arbeit als Autor und über die Ideale und Ziele, die er mit seiner Arbeit verbindet. Das erkennbare Selbstbewusstsein, mit welchem Kaiser in dieser Zeit in der Öffentlichkeit auftritt, ist nicht zuletzt auf den großen Erfolg der zwischen 1912 und 1914 verfassten Werke Von morgens bis mitternachts und Die Bürger von Calais zurückzuführen, welche bis heute integral mit dem Namen ihres Autors verbunden sind und einen großen Teil des Forschungsinteresses auf sich gezogen haben.

This is a preview of subscription content, log in via an institution to check access.

Access this chapter

Chapter
USD 29.95
Price excludes VAT (USA)
  • Available as PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
eBook
USD 49.99
Price excludes VAT (USA)
  • Available as EPUB and PDF
  • Read on any device
  • Instant download
  • Own it forever
Softcover Book
USD 64.99
Price excludes VAT (USA)
  • Compact, lightweight edition
  • Dispatched in 3 to 5 business days
  • Free shipping worldwide - see info

Tax calculation will be finalised at checkout

Purchases are for personal use only

Institutional subscriptions

Notes

  1. 1.

    Ernst Schürer schlägt eine Einteilung verschiedener Werkphasen Kaisers in eine vorexpressionistische Phase (1898–1912), eine expressionistische Phase (1912–1922), eine nachexpressionistische Phase (1922–1932) und eine Phase der inneren und äußeren Emigration (1933–1945) vor, weist aber zugleich darauf hin, dass es sich hierbei nur um eine „Hilfestellung“ handelt. Vgl. Schürer, Ernst: Georg Kaiser und die Neue Sachlichkeit (1922–1932): Themen, Tendenzen und Formen. In: Holger A. Pausch und Ernest Reinhold (Hrsg.): Georg Kaiser. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposium in Edmonton/Kanada. Berlin: Agora Verlag 1980. S. 98–99.

  2. 2.

    Vgl. Huder, Walther (Hrsg.): Georg Kaiser: Werke. Frankfurt am Main und Berlin: Propyläenverlag 1971 (Band 4). S. 543 und S. 562. In einer kurzen Notiz von 1917 (vgl. Ebd. S. 542) erwähnt Kaiser außerdem eine Beschäftigung mit Dostojewski und Schopenhauer in seiner Jugendzeit. Im Folgenden werden alle Zitate aus diesem Werk, erkennbar durch die Sigle GK (+Nummer des Bandes), nur noch mit einfachen Seitenangaben in Klammern ausgeführt.

  3. 3.

    So spricht sich Nietzsche u. a. in der Götzendämmerung explizit gegen Platon selbst, dessen Lehrer Sokrates und vor allem gegen den in die christliche Glaubenslehre übernommenen Neoplatonismus aus. Vgl. Montinari, Mazzino und Giorgio Colli (Hrsg.): Nietzsche. Werke. Abt. 6, 3. Band. S. 149–150.

  4. 4.

    Auch ob der genannte Erkenntnisgewinn durch die konkrete Aufführung des Dramas (bzw. dessen Rezeption) oder durch die bloße Konzeption desselben erzielt wird, bleibt unklar.

  5. 5.

    An dieser Stelle sei kurz auf die, in der Forschung immer wieder diskutierte, Frage hingewiesen, inwiefern man den Expressionismus als avantgardistische Strömung verstehen kann. Üblicherweise wird der Expressionismus dabei nicht zu den Avantgarden gezählt, u. a. mit dem Hinweis, dass sich die expressionistischen Autoren zu stark an etablierten kulturellen Inhalten orientierten. Ohne diese Frage hier in der Breite beantworten zu können, sollte die freie Umgangsweise Kaisers mit den historischen Vorbildern in diesem Zusammenhang beachtet werden. Vergleiche hierzu auch: Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag 1999 (2. Auflage).

  6. 6.

    Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. Zum dramatischen Werk Georg Kaisers. Kronberg: Scriptor Verlag 1978 (Monographien Literaturwissenschaft 41). S. 172.

  7. 7.

    Huder, Walther (Hrsg.): Georg Kaiser. Stücke, Erzählungen, Aufsätze. Köln und Berlin: Kiepenheuer&Witsch 1966. S. 774.

  8. 8.

    Dass Nietzsche innerhalb der expressionistischen Bewegung intensiv rezipiert wurde, kann als gesichert gelten. Besondere Aufmerksamkeit wurde dabei, ähnlich wie im Futurismus, dem Zarathustra gewidmet: „Auch für die Expressionisten bildet das ‚Zarathustra‘-Epos, das als eines der ‚Schlüsselbücher‘ der Epoche gilt, den Kristallisationspunkt ihrer Auseinandersetzung mit Nietzsche.“ Oehm, Heidemarie: Subjektivität und Gattungsform im Expressionismus. München: Fink 1993. S. 22.

  9. 9.

    Stattdessen entsteht vielmehr der Eindruck, dass Kaiser in seinen Formulierungen eine gerade Linie zwischen der Vergangenheit (der bereits zurückgelegten Strecke) und der Zukunft zieht. Es geht ihm also offenbar nicht darum, die Bedeutung vergangener Epochen abzustreiten. So betont er an anderer Stelle, dass sich der Dichter die Figuren für seine Werke aus „jeder Zone und Epoche“ zusammensucht um seiner „Vision“ Ausdruck zu verleihen (vgl. GK4 S. 551).

  10. 10.

    So argumentiert er an anderer Stelle: „Wenn ich die Gegenwart auf den Vergleich mit der Vergangenheit einlasse, annulliere ich die Werte des Heute zugunsten des Gestrigen und umgekehrt auf die einfachste Formel gebracht: eine Tradition, die nicht stündlich ermordet wird, hat keinen Anspruch überliefert zu werden“ (GK4 S. 552). Aussagen wie diese könnten sich durchaus auch innerhalb der futuristischen Manifeste wiederfinden.

  11. 11.

    Diese zeitliche Unbestimmtheit bringt Klaus Petersen zu dem Schluss, die Ideen Kaisers als vollständig abstrakt und damit, ähnlich wie das Konzept des Übermenschen bei Nietzsche, als „unhistorisch“ zu verstehen. Vgl. Petersen, Klaus: Georg Kaiser. Künstlerbild und Künstlerfigur. Bern: Herbert Lang Verlag 1976 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur Band 15).

  12. 12.

    Auch diese Metapher erinnert auf den ersten Blick an die ‚explosive‘ Rhetorik Marinettis im Vorwort zum Mafarka, wobei aber die aggressiven und zerstörerischen Implikationen bewusst ausgespart werden.

  13. 13.

    Gertrude Cepl-Kaufmann zufolge waren „Futuristen und Expressionisten […] zwar der gleichen Gegenwartsproblematik ausgesetzt und hatten das gleiche Krisenbewußtsein, doch zeigen beide wesentliche Unterschiede in ihren literarischen Reaktionen“. Diese unterschiedlichen literarischen Reaktionen, die Cepl-Kaufmann im Folgenden zusammenfasst, lassen sich zu einem großen Teil auch in Kaisers Gas-Trilogie wiederfinden. Vgl. Cepl-Kaufmann, Gertrude: Die literarische Rezeption des Futurismus in Deutschland. In: Margarethe Jochimsen (Hrsg.): Avanti! Avanti! Futurismus im deutschen Expressionismus. Bonn: Verein August-Mack-Haus 1998 (Schriftenreihe 25). S. 129–131.

  14. 14.

    Die Reduktion des Menschen auf einzelne, übermäßig ausgeprägte Teile des Körpers ist mit einiger Wahrscheinlichkeit auf Zarathustras Beschreibung der „umgekehrten Krüppel“ im Kapitel „Von der Erlösung“ zurückzuführen (vgl. ZA S. 173–178). Siehe hierzu die weiteren Ausführungen anhand der konkreten Textanalyse in Abschnitt 5.2.2.

  15. 15.

    Dietrich Mathy beschreibt die im Futurismus erkennbare „Positivierung der Maschine im Sinne eines Befreiungsinstruments“ als „ein wesentliches Differenzkriterium zum Expressionismus“. Vgl.: Mathy, Dietrich: Europäischer Futurismus oder: Die beschleunigte Schönheit. In: Hans Joachim Piechotta, und Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.): Die literarische Moderne in Europa. Band 2: Formationen der literarischen Avantgarden. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. S. 92.

  16. 16.

    „Mit keinem Vorwurf – mit keinem Spott treten wir diesem Menschen gegenüber oder gehen an ihm vorbei.“ (GK4 S. 568). Aussagen wie diese stehen in einem deutlichen Gegensatz zu der unmissverständlich abwertenden Haltung, die die Futuristen gegenüber den „Passatisten“ einnehmen.

  17. 17.

    Einige Absätze später folgt dagegen eine Feststellung, die eher aus einem naturwissenschaftlichen Kontext entnommen zu sein scheint: „Denn was ein Ziel hat, erhält sich beständig. Die Energie unterliegt keinem Wettersturz oder Blitzeinschlag“ (GK4 S. 568). Formulierungen wie diese zeigen, dass Kaiser, ähnlich wie Marinetti, bemüht ist, Argumente aus den unterschiedlichsten Diskursfeldern und Wissensgebieten zur Unterstützung seiner Thesen anzuführen.

  18. 18.

    Bussmann definiert den Begriff „Weltordnung“, den er aus Die Koralle übernimmt und auf den er im zweiten Teil seiner Analyse der Gas-Trilogie immer wieder verweist, vereinfachend als die „Situation des Menschen in der Gesellschaft“ (vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 123), womit er auf ein ähnliches Erklärungsmuster zurückgreift, wie es Foucault mit seinen Überlegungen zur „épistémè“ tut. Dennoch bleibt der Begriff bei Bussmann bis zuletzt uneindeutig.

  19. 19.

    Vgl. Ebd. S. 202.

  20. 20.

    Womit selbstverständlich nicht behauptet werden soll, dass diese Ereignisse nicht trotzdem Eingang in die Gestaltung der Dramen finden. So lassen sich innerhalb der Gas-Trilogie an verschiedenen Stellen Stellungnahmen und Reflexionen in Bezug auf den Ersten Weltkrieg und seine Folgen finden. Es soll vielmehr argumentiert werden, dass diese Ereignisse nicht als alleinige Auslöser von Kaisers Denkbewegung gelten können.

  21. 21.

    Dabei scheint Kaiser in der bereits zitierten Passage bewusst offen zu lassen, ob es sich bei dieser negativen Entwicklung um einen individuellen oder einen historischen Prozess handelt, ob sich also das Individuum im Verlauf seines Lebens von der ursprünglichen Perfektion entfernt oder ob die gesamte Menschheit diesen Prozess über Generationen hinweg durchlaufen hat.

  22. 22.

    Manfred Kuxdorf sieht in dieser Tendenz Kaisers auch einen wesentlichen Unterschied zum Konzept des Übermenschen bei Nietzsche: „Es muß betont werden, daß es um ein Hervorbringen dessen geht, was bereits vorhanden ist, und nicht um die Erschaffung von etwas völlig Neuem. Nietzsches Mensch soll über sich hinaus gehen; Kaisers Mensch soll auf seinen guten Ursprung zurückgeführt werden“. Kuxdorf, Manfred: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers. Bern und Frankfurt a. M.: Herbert Lang & Cie 1971 (Kanadische Studien zur deutschen Sprache und Literatur Bd. 4). S. 15.

  23. 23.

    Dass Kaiser die Gattung des Dramas als die geeignetste Form der literarischen Einflussnahme einschätzt, wird vor allem in dem Aufsatz Formung von Drama deutlich (vgl. GK4 S. 572–574).

  24. 24.

    Ähnlich wie im Zarathustra erhalten die Aussagen Kaisers damit prophetischen Wert, was durch die stellenweise mit christlich geprägten Metaphern durchsetzte Rhetorik noch unterstrichen wird.

  25. 25.

    Zum Selbstverständnis der expressionistischen Autoren vergleiche: Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 216–218.

  26. 26.

    Die aus dem industriellen Handwerk entnommene Metaphorik des Schmelzens und in Form Gießens verweist noch einmal auf Kaisers Beschäftigung mit industriellen Arbeitsverhältnissen seiner Zeit und deutet zudem an, dass eben solche Beschreibungen innerhalb seiner Werke auch in einem abstrakten Sinne verstanden werden können. Dies ist bei der Detailanalyse der Gas-Trilogie zu beachten.

  27. 27.

    So u. a. in dem Aufsatz Dichter und Regisseur, in welchem Kaiser die konkrete Ausführung des Stücks vollständig an den Regisseur delegiert (vgl. GK4 S. 552–554) oder auch in einer später verfassten Aussage: „Dichter haben mit dem Publikum nichts zu schaffen.“ (GK4 S. 586).

  28. 28.

    Eine ähnliche Wirkungsabsicht stellt Horst Denkler auch für andere expressionistische Dramatiker fest: „[Die Expressionisten wollen] bekennen und verkünden, auffordern und aufreizen, bewegen und verändern mit Hilfe ihrer Dramen“. Vgl. Denkler, Horst: Das Drama des Expressionismus. In: Wolfgang Rothe (Hrsg.): Der Expressionismus. Theologische, soziologische und anthropologische Aspekte einer Literatur. Frankfurt a. M.: Klostermann 1977. S. 141.

  29. 29.

    Die expressionistische Bewegung war in ihrer Haltung zum italienischen Futurismus gespalten: zwar wurde die Veröffentlichung der ersten futuristischen Manifeste in der expressionistischen Zeitschrift Der Sturm von verschiedenen Vertretern der Bewegung (u. a. Alfred Döblin) begrüßt, dennoch gab es im weiteren Verlauf von verschiedenen Seiten Kritik am futuristischen Programm und dessen Umsetzung. Für eine ausführliche Darstellung vergleiche: Schmidt-Bergmann, Hansgeorg: Die Anfänge der literarischen Avantgarde in Deutschland. Über Anverwandlung und Abwehr des italienischen Futurismus. Karlsruhe: M&P Verlag 1991.

    Und: Demetz, Peter: Worte in Freiheit. Der italienische Futurismus und die deutsche literarische Avantgarde (1912–1934). München: Piper 1990.

  30. 30.

    Dieses enorme Vertrauen in das Potenzial der Kunst zur Veränderung unterstellt Bussmann der expressionistischen Bewegung insgesamt: „Der Expressionismus zeichnet sich durch ein ungeheures Vertrauen in die Kunst aus. Was der Realpolitik, was der Wirtschaft nicht möglich ist, die Erneuerung der Gesellschaft, glauben die Expressionisten durch die Kunst zu erreichen, […]“. Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 207.

  31. 31.

    Die Tatsache, dass Kaiser diese Dramen nie offiziell als Trilogie zusammengefasst hat, hat dazu geführt, dass in einigen (zumeist älteren) Forschungsbeiträgen entweder nur die beiden Gas-Dramen zusammengefasst werden und Die Koralle für sich betrachtet wird oder dass der gennannten Trilogie noch das Drama Hölle Weg Erde hinzugefügt wird, sodass sich eine ‚Tetralogie‘ ergibt. Beide Varianten erscheinen wenig plausibel, zumal die Handlungsstränge von Die Koralle bis Gas II inhaltlich wie konzeptuell aufeinander aufbauen.

  32. 32.

    Denkbar wäre auch, dass Gas I etwa zu Kaisers Gegenwart und Die Koralle eine Generation früher, also im ausgehenden 19. bzw. Anfang des 20. Jahrhunderts, spielt. Diese Vermutungen lassen sich allerdings nicht eindeutig verifizieren oder falsifizieren.

  33. 33.

    Hierzu gehören vor allem die hohe Arbeitslosigkeit in den Städten und die mangelhafte soziale Absicherung von Arbeiterfamilien.

  34. 34.

    Sehr deutlich wird dies bei der ersten Bittstellerin: „Ich hatte meinen Kinderglauben nicht verkauft – Gott war mir nicht feil – nun sucht er mich mit seinem Boten – meines Gottes Boten – […]. Mehr – mehr, Gott selbst geht wieder unter uns – wir sind alle gerettet – halleluja amen!“ (vgl. GK1 S. 656). Beachtenswert ist hier allerdings, dass das Verhalten der Frau in den Szenenanweisungen als „hysterisch“ bezeichnet wird. Auch der Ausdruck „Kinderglauben“ für das Festhalten an der Religion, wirkt kritisch-distanziert. Die späteren Kommentare des „Herrn in Grau“ lassen eine ähnlich kritische Haltung gegenüber der Religion erkennen (vgl. GK1 S. 659–660).

  35. 35.

    Obwohl der Herr in Grau eindeutig politische Ziele vertritt, wird er keiner Partei zugeordnet und grenzt sich sogar selbst von den sozialistischen Parteien ab (vgl. GK1 S. 660–661). Die Farbe Grau steht hier höchstwahrscheinlich für die Aufhebung der politischen und gesellschaftlichen Gegensätze, für die die Figur eintritt.

  36. 36.

    Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 46–47.

  37. 37.

    Implizit wird an dieser Stelle die Vorstellung vermittelt, dass es nicht eine einzige vorherrschende Weltordnung gibt, sondern verschiedene Ordnungen, die von der jeweiligen individuellen Perspektive abhängen. Auch diese Vorstellung fügt sich in die bisherigen Überlegungen zur epistemischen Lücke ein.

  38. 38.

    Diese Flucht bedeutet also gerade nicht den im Zarathustra geforderten Prozess der Überwindung, da hierfür zunächst einmal eine direkte Konfrontation mit der Vergangenheit notwendig wäre.

  39. 39.

    Der für den Milliardär weitestgehend abstrakte Begriff des „Furchtbaren“, konkretisiert sich für die einfachen Fabrikarbeiter durch die ständigen Gefahren, denen sie in ihrem Arbeitsalltag ausgesetzt sind und welche bei ihnen einen ähnlich instinktiven Fluchtreflex auslösen (vgl. GK1 S. 680).

  40. 40.

    Eine Position, die er mit dem Satz „Alle sind auf der Flucht“ auch seinen Mitmenschen unterstellt (vgl. GK1 S. 664).

  41. 41.

    Bussmann beschreibt die skeptische Haltung gegenüber dem technischen Fortschritt als ein wesentliches Merkmal der expressionistischen Bewegung insgesamt. Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 200–201.

  42. 42.

    Dieser Personenkreis hat offensichtlich kein Verständnis und wohl auch keine Vorstellung von den Arbeitsbedingungen, die ihnen ihren Wohlstand ermöglichen. Dies wird deutlich, wenn die Tochter des Milliardärs, nachdem ihr Bruder auf die Situation der Heizer auf der Yacht aufmerksam zu machen versucht, zu einem „neuen Rekord“ aufruft (vgl. GK1 S. 676).

  43. 43.

    Wie viele andere Passagen in Kaisers Dramen ist auch die vom Milliardärsohn geschilderte Aufteilung des Schiffes mit christlich konnotierter Symbolik aufgeladen: „Auf Deck spazieren die Passagiere in hellen Kleidern, schwatzen – sind lustig. Wenige Meter tiefer die Hölle. Da verbrennen Menschen zuckenden Leibes in heißen Schächten vor fauchenden Feuerlöchern“ (GK1 S. 677).

    Diese Zweiteilung in ‚Paradies‘ und ‚Hölle‘ erscheint in den Aussagen des Milliardärsohns willkürlich und ungerecht. Mit dem zunehmenden Bedeutungsverlust des christlichen Wertsystems, so ließe sich argumentieren, geht auch die Rechtfertigung einer ungleichen Klassengesellschaft verloren.

    Für eine Analyse dieser Raumstruktur siehe auch: Bussman, Rudolf: Einzelner und Masse S. 61–62.

  44. 44.

    Auch hier ist eine christlich-religiöse Konnotation zu unterstellen, wenn man die Abkehr des Sohnes von seinem Vater als eine Abkehr des Menschen von Gott interpretiert, die durch den Widerspruch der behaupteten Güte Gottes und der grausamen Realität der Schöpfung verursacht wird. Der ‚Tod Gottes‘ wird dabei zwar nicht ausgeführt, da der vom Sohn mitgebrachte Revolver zunächst unbenutzt bleibt (vgl. GK1 S. 686), dennoch bleibt die Möglichkeit desselben präsent. Zur Haltung der Expressionisten gegenüber der christlichen Religion und der Theologie siehe auch: Rothe, Wolfgang: Der Mensch vor Gott. Expressionismus und Theologie. In: Ders.: Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Berlin und München: Francke Verlag 1969. S. 37–66.

  45. 45.

    Vergleiche hierzu auch: Kenworthy, Brian J.: Georg Kaiser. The Ambiguity of The Expressionist New Man. In: Holger A. Pausch und Ernest Reinhold (Hrsg.): Georg Kaiser. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposium in Edmonton/Kanada. Berlin: Agora Verlag 1980. S. 98–99.

  46. 46.

    Man beachte auch hier die markante Metapher des Untergehens eines Menschen in einen anderen, welche auf die Beschreibung des Menschen als einem „Untergang“ und „Übergang“ (vgl. ZA S. 11) verweist. Dabei ist der Gedanke des Untergehens für den Milliardär erkennbar positiv konnotiert.

  47. 47.

    Im Gegensatz zum Milliardär denkt der Sohn dabei in weitaus größerem Maßstab: „Die Aufgabe ist ungeheuer. Es gibt keine Bedenken. Es dreht sich um das Schicksal der Menschheit. Wir vereinen uns in heißer Arbeit – und in unserem unermüdlichen Eifer sind wir verbunden wie Vater und Sohn!“ (GK1 S. 707). Diese Pläne des Milliardärsohns bleiben vorerst unbestimmt und werden erst im folgenden Drama, Gas I, konkretisiert.

  48. 48.

    Kaiser wählt an dieser Stelle wohl auch deshalb die Koralle als zentrale Allegorie, weil sich diese in der Natur über lange Zeiträume hinweg aus kalkhaltigen Ablagerungen bilden. Diese Ablagerungen der natürlichen Koralle stehen in Kaisers Symbolik für die Vergangenheit des Individuums und vielleicht auch der Menschheit als Ganzes, welche sich immer weiter aufschichtet und dabei erstarrt. Die Interpretationen Bussmanns gehen in eine ähnliche Richtung: Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 131.

  49. 49.

    Die soziale Problematik, welche nach Bussmann ein wesentliches handlungstreibendes Element in Die Koralle war, fällt damit weg und wird durch eine neue, tiefergehende Problematik ersetzt. Bussmann spricht von einem „Übergang von der Interaktion zwischen Menschen (in der Koralle) zu einer solchen zwischen Menschen und nicht-sozialem Objekt [in Gas I]“. Vgl. Bussmann, Rudolf. Einzelner und Masse. S. 65.

  50. 50.

    Das diesem „Gas“ auch eine tiefere symbolische Bedeutung beikommt ist offensichtlich. So ließe sich das Gas als Allegorie für das im Menschen ursprünglich angelegte Potenzial verstehen, welches einerseits als Quelle aller Energie und Dynamik verstanden wird, welches aber zugleich, aufgrund seiner Instabilität, die Gefahr birgt, die Grenzen des Menschlichen zu ‚sprengen‘ und somit Schaden anzurichten. Siehe hierzu auch weiter unten.

  51. 51.

    Für einen allgemeinen Überblick über die veränderten Arbeitsverhältnisse um 1900 und wie diese sich in der zeitgenössischen Literatur niederschlagen, vergleiche: Freier, Carolin: Arbeit und Nichtarbeit in der Literatur. Texte dreier Jahrhundertwenden. In: Susanna Brogi und Carolin Freier (Hrsg.): Repräsentationen von Arbeit. Transdisziplinäre Analysen und künstlerische Produktionen. Bielefeld: transcript Verlag 2013. S. 70–78.

  52. 52.

    Die Szenenanweisungen (vgl. GK2 S. 17) lassen erahnen, dass Kaiser diese Explosion auch bühnentechnisch sehr effektvoll zu gestalten beabsichtigte, womit auch eine entsprechende Schockwirkung auf die Zuschauer ausgelöst werden sollte.

  53. 53.

    „Kaiser spricht zwar die soziale Dimension der Technik an, wenn er im Verlauf der Trilogie verschiedene Eigentums- und Produktionsverhältnisse mit ihren Folgen zeigt. Sein Interesse ist aber eher anthropologisch, nämlich auf die Problematik der Naturbeherrschung überhaupt gerichtet, bzw. metaphysisch, da er die technische Produktion als unbeeinflußbare und übermenschliche Größe darstellt, […].“ Vgl. Esselborn, Hans: Das Drama des Expressionismus. In: Hans Joachim Piechotta und Ralph-Rainer Wuthenow (Hrsg.): Die literarische Moderne in Europa. Band 2: Formationen der literarischen Avantgarden. Opladen: Westdeutscher Verlag 1994. S. 277.

  54. 54.

    „Die Verkehrung der Errungenschaften ins Desaster erfolgt nicht durch menschliches Versagen, negative Einwirkungen von aussen oder einen Defekt der Maschinerie, vielmehr aus einem in der Materie selbst angelegten Impuls, der sich aller Vorhersehbarkeit, jedem Kalkül entzieht“. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 138–139.

  55. 55.

    Vergleiche hierzu auch die Bemerkung Bussmanns, dass „[d]ie ‚Handlung‘ der Materie […] das Geschehen des ersten Aktes [bestimmt]“. Vgl. Ebd. S. 67.

  56. 56.

    So wird die Explosion selbst von einem der Arbeiter als „weiße Katze“ beschrieben gegen die sich die Arbeiter zu stemmen versuchen, der sie aber letztendlich unterliegen (vgl. GK2 S. 17)

  57. 57.

    Denkbar wäre auch, das Gas als Symbol für den auseinanderstrebenden Menschen zu verstehen, welcher wieder zu seiner ursprünglichen Vollständigkeit verdichtet werden muss. Auch diese Deutung ließe sich auf die physikalischen Eigenschaften des Gases zurückführen.

  58. 58.

    Die Vertreter der Arbeiter warnen zudem vor der zunehmend erregten „Haltung der Arbeiter“, eine „Gärung, die anschwillt“ und einen „Ausbruch“ zur Folge haben wird (vgl. GK2 S. 22). Hierdurch wird noch einmal ein klarer symbolischer Bezug zwischen den physikalischen Eigenschaften des Gases und der Gefühlslage der Arbeiter hergestellt.

  59. 59.

    Dies wird gegen Ende der Szene durch den Ingenieur selbst noch einmal bestätigt: „Es rechnet mit Menschenverstand – und Menschenverstand rechnet nur so!“ (GK2 S. 25).

  60. 60.

    Geschildert wird hier also dieselbe finale Konsequenz des technischen Fortschritts, die schon am Ende des Mafarka deutlich geworden ist.

  61. 61.

    Dies zeigt sich nicht zuletzt an dem zunehmend prophetischen Tonfall und den verwendeten Allegorien, die auffällig an biblische Gleichnisse erinnern.

  62. 62.

    „Das Verhalten der drei Delegierten ist Ausdruck automatisierten und fixierten Denkens“. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 76.

  63. 63.

    In ähnlicher Weise spricht Bussmann von der „psychische[n] Konsequenz einer Arbeitskonzeption, die ausschliesslich im Dienste der technischen Evolution steht und den Menschen als Werkzeug einsetzt, ohne nach seinen Werten, Anlagen und Bedürfnissen zu fragen“. Vgl. Ebd. S. 75.

  64. 64.

    Wie genau sich diese Verstümmelung auswirkt, wird im folgenden Akt deutlich. Siehe hierzu weiter unten.

  65. 65.

    Als reales Modell, an dem sich Kaiser hier orientiert, nennt Bussmann ein geplantes Siedlungsprojekt des sozialistischen Schriftstellers Gustav Landauer, mit dem Kaiser nachweislich in Kontakt stand. Gleichzeitig weißt er aber auf die wesentlichen Unterschiede zwischen der im Stück vermittelten Vision und dem realen Projekt hin. Vgl. Ebd. S. 173–176.

  66. 66.

    Tatsächlich entwickelt sich der Ingenieur im weiteren Verlauf des Dramas zum direkten Antagonisten des Milliardärsohns.

  67. 67.

    Wobei der Milliardärsohn den Menschen, in Abweichung von Nietzsche, offenbar nicht als Übergang definiert, sondern als Ziel aller historischen Anstrengungen: „- Pilgern wir nicht zu ihm die lange Straße – durch Epoche in Epoche – deren eine sich heute schließt, um die nächste zu öffnen, die die letzte ist?“ (GK2 S. 37). Die Wahrnehmung der Gegenwart als eines markanten Schnittpunktes, wird in diesen Aussagen sehr deutlich.

  68. 68.

    „Übersehen Sie aber nicht das Ergebnis, das auf dem Boden dieser Einrichtung gezeitigt wurde. Aus der Gewinnbeteiligung höchste Spannung der Leistung – aus höchster Leistung stärkstes Produkt: Gas!“ (GK2 S. 32). Die Gleichsetzung der veränderten Arbeitsmethoden mit ihrem Ergebnis stellt noch einmal klar, dass Veränderungen wie diese, also innerhalb des bestehenden Systems, letztlich zu keiner dauerhaften Lösung führen können.

  69. 69.

    Dieses grundlegende Verständnis von einem systembedingten Aufbau der Gesellschaft ähnelt den Thesen Foucaults in Les Mots et les Choses.

  70. 70.

    Dass dieser Lösungsweg über die breite Masse gewissermaßen nur ‚die zweite Wahl‘ darstellt, lässt nicht nur Rückschlüssen auf die Denkmuster des Milliardärsohns, sondern auch des Autors Georg Kaiser zu. So wird schon in dessen theoretischen Schriften deutlich, dass er sich zwar verständlicherweise eine breite Wirkung seiner Dramen wünscht, dass er dabei aber immer den Autor, bzw. allgemein den (expressionistischen) Künstler, als wesentlichen Impulsgeber im Blick hat. Dieses elitäre Verständnis des Verhältnisses zwischen Autor und Publikum grenzt Kaiser in gewisser Weise von den verschiedenen avantgardistischen Strömungen ab, welche eine wesentlich engere Beziehung und direktere Wirkung ihres Schaffens propagiert haben.

  71. 71.

    Monologe dieser Art werden dabei gerne als Massenszenen inszeniert, wie es auch hier der Fall ist. Die Anwesenheit eines möglichst großen Publikums macht den hochpathetischen Sprachgestus, der diese Monologe durchzieht, plausibler und unterstützt den dramatischen Effekt auf das Theaterpublikum.

  72. 72.

    Die Arbeiter selbst scheinen diesem Prozess keinerlei Gegenwehr entgegen zu setzen: „Hatte mein Bruder gefeilscht um den Preis, als man die Hand von ihm für den Hebel brauchte? Streifte er nicht willig den Bruder ab – und verschrumpfte in die zählende Hand?“ (GK2 S. 39)

  73. 73.

    „[…]; the task that the workers in the Gas-plays perform all day and every day has so conditioned their minds, that their mental reactions have grown as mechanical as the actions of their bodies: they can only vaguely imagine a differently ordered existence, and they lack the will even to wish for any other“ Vgl. Kenworthy, Brian J.: Georg Kaiser. Oxford: Blackwill 1957. S. 24.

    Diese Unfähigkeit der Arbeiter, sich eine abweichende Existenz vorstellen zu können, rückt sie in die Nähe des „letzten Menschen“, wie er zu Beginn des Zarathustra als Negativbild entworfen wird (vgl. ZA S. 13–14).

  74. 74.

    Manfred Kuxdorf zufolge sind solche Vorgänge der „Entmenschung“ schon in den frühen Dramen Kaisers (z. B. Der Schellenkönig oder Der Präsident) zu beobachten, wobei die Rückentwicklung hier noch nicht mit der Angleichung an die Maschine begründet wird, sondern mit einem generellen Verhaftetsein der Figuren in gesellschaftlichen Systemen. Vgl. Kuxdorf, Manfred: Die Suche nach dem Menschen im Drama Georg Kaisers. S. 20–31.

  75. 75.

    Weiterhin wird der parodistische Umgang mit den Inhalten des neuen Testaments deutlich, wenn die Krüppel Zarathustra auffordern „Blinde [zu] heilen und Lahme laufen [zu] machen“, was Zarathustra dann aber ablehnt (vgl. ZA S. 173). Parallelen zwischen Zarathustra und Christus werden über das gesamte Werk hinweg immer wieder hergestellt, um sie im Anschluss sofort wieder zu verwerfen. Vermutlich ging es Nietzsche an dieser und ähnlichen Stellen darum, zu veranschaulichen, wie Zarathustra die grundlegenden ‚Fehler‘ des Christentums korrigiert (vgl. Abschnitt 3.2.1).

  76. 76.

    Immerhin kann aber der Zusammenhang zwischen der überspezialisierten Arbeitswelt und der ‚Zersplitterung‘ des Menschen als originäre Beitrag Kaisers’ gesehen werden, was den produktiven Umgang mit dem gedanklichen Ausgangsmaterial bei Nietzsche unterstreicht.

  77. 77.

    Man beachte an dieser Stelle die bewusste Mehrdeutigkeit des Begriffs „Dichten“, der sowohl für die sprachliche oder literarische Produktion stehen kann, wie auch für den abstrakten Vorgang des ‚Verdichtens‘, dem der zersplitterte und verstreute Mensch unterzogen werden soll.

  78. 78.

    Die Aussagen Zarathustras zur notwendigen, bewussten Akzeptanz des „Es war“ durch den Willen bereiten dabei das Kapitel „Vom Gesicht und Räthsel“ im folgenden Band vor, in welchem die bekannte ‚Torwegparabel‘ und damit das Konzept der „ewigen Wiederkehr des Gleichen“ vorgestellt wird (vgl. ZA S. 193–198). Dieses Konzept scheint Kaiser allerdings nicht für sein Drama übernommen zu haben, da die Möglichkeit einer Wiederholung der Katastrophe als offensichtlich wahnsinnige Handlung eingestuft wird.

  79. 79.

    Zugleich weist der Begriff, ähnlich wie bei Nietzsche, auf die gelungene Harmonisierung von Körper und Geist hin.

  80. 80.

    Ob die Worte des Milliardärsohns tatsächlich bei den Arbeitern ankommen, bzw. ob sie eine Wirkung zeigen, bleibt offen, da die versammelten Arbeiter dem Monolog still folgen, ohne zustimmende oder abwehrende Reaktionen zu zeigen (vgl. GK2 S. 47–48).

  81. 81.

    Zu den unterschiedlichen rhetorischen Strategien des Ingenieurs und des Milliardärsohns siehe auch: Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 83–85.

  82. 82.

    Dieser Verweis auf die wesenhafte Unterlegenheit des Menschen gegenüber dem Tier ist insofern auffällig, als der Ablauf der Explosion im ersten Akt des Dramas selbst mit einer außer Kontrolle geratenen „Bestie“ verglichen wird (vgl. GK2 S. 17). Implizit wird somit die Frage gestellt, ob es wirklich das Tier ist, welches eine Bedrohung für den Menschen darstellt oder ob die größere Gefahr von der Maschine ausgeht.

  83. 83.

    Zum arbiträren Verhältnis Nietzsches zur Technik auch und gerade im Kontext der industrialisierten Arbeit vergleiche: Oldemeyer, Ernst: Leben und Technik. Lebensphilosophische Positionen von Nietzsche zu Plessner. München: Wilhelm Fink Verlag 2007. S. 23–26.

  84. 84.

    Natürlich schwingt auch hier eine gewisse Sozialkritik mit, wenn die Arbeiter bestrebt sind, sich von den Bauern abzugrenzen. Eine Einigkeit der Arbeiterschaft, wie es der Sozialismus oder der Kommunismus vorsehen, scheint nicht gegeben zu sein, wodurch alle Versuche über diese Ideale eine Veränderung zu bewirken zum Scheitern verurteilt sind.

  85. 85.

    Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 84.

  86. 86.

    Nach Bussmann kann „der Fortschritt [] vom Ingenieur nur als negativ, als Kette von Rückschlägen, formuliert werden […]“. Vgl. Ebd. S. 139.

  87. 87.

    „Die Paralysierung der Arbeiter durch die von der Maschine diktierte Arbeit erweist sich hier in einer totalen Perspektive: Sie schlägt sich nicht nur im blinden Willen zur gewohnten Arbeit nieder, sondern wird zum verinnerlichten Antrieb, welcher gegen die Interessen der Masse läuft“. Vgl. Ebd. S. 79.

  88. 88.

    Siehe hierzu auch die oft zitierte Feststellung Walter Benjamins, dass „[n]ur der Krieg es möglich [macht], die sämtlichen technischen Mittel der Gegenwart unter Wahrung der Eigentumsverhältnisse zu mobilisieren.“ Vgl. Tiedermann, Rolf und Hermann Schweppenhäuser. Walter Benjamin. Gesammelte Schriften. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1974 (Band 1, 2. Teil). S. 506.

  89. 89.

    Vergleiche hierzu das bereits genannte Kapitel „Von alten und jungen Weiblein“, indem Zarathustra an die Frauen gewandt sagt: „Eure Hoffnung heisse: ‚möge ich den Übermenschen gebären!‘“ (ZA S. 85). Die eindeutige Analogie dieser Textstelle mit den abschließenden Worten in Gas I macht es noch einmal wahrscheinlicher, dass Kaiser sich an bestimmten Stellen des Dramas gezielt aus dem rhetorischen Inventar des Zarathustra bedient.

  90. 90.

    Eine genaue Zeiteinteilung gestaltet sich schwierig und ist vermutlich vom Autor auch nicht intendiert. Immerhin bietet die Tatsache, dass der „Milliardärarbeiter“ als Enkel des Milliardärsohns vorgestellt wird, einen ungefähren Anhaltspunkt, da hiermit ein erneuter Generationswechsel markiert wird.

  91. 91.

    Zur Raumsemantik im ersten Akt des Dramas vergleiche: Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 114–115.

  92. 92.

    Bussmann betont in seiner Analyse den fortgeschrittenen Prozess der Entindividualisierung und Entmenschlichung, der sich bis auf die Sprache der Figuren erstreckt: „Sie gleichen Robotern, eigene Bewegungen oder Denkvorgänge kennen sie nicht; ihre Sprache ist erstarrt in verblosen Formeln, die mechanisch wiederholt werden.“ Ebd. S. 101. Zur Sprache der Blaufiguren siehe auch: Ebd. S. 148–151.

  93. 93.

    „Die Blau- und Gelbfiguren nehmen die in Gas zur Diskussion gestellte Problematik der Technisierung auf und stellen sie in einen weiteren Zusammenhang: Sie demonstrieren ein jeglicher Verantwortung entbehrendes Verhalten gegenüber der fortgeschrittenen Produktionstechnologie und gegenüber der die Produktion in Gang haltenden Arbeitermasse“. Ebd. S. 100.

  94. 94.

    „In Gas II sind nicht mehr die Gefahren der Produktion selbst Anlass der Dramenhandlung, sondern diejenigen, die aus der Anwendung der Technik durch den Menschen entstehen.“ Ebd. S. 100.

  95. 95.

    Der Titel „Großingenieur“ ist dabei nicht nur ein Ausdruck der neuen Machtposition, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch an den Begriff „Großinquisitor“ angelehnt, was die Rolle des Ingenieurs, der in mehrfacher Hinsicht über Leben und Tod entscheidet, verdeutlichen soll. Die in die Bühnenanweisung eingebrachte Beschreibung des Großingenieurs als „Petrefakt fanatischer Werkenergie“ (GK2 S. 63) kann als weiterer Hinweis auf den direkten Einfluss gelesen werden, den die Verhaltens- und Denkweise auf die physische Ausprägung hat.

  96. 96.

    Die Aussagen des Großingenieurs lassen erkennen, dass sich die massive Wandlung des Sprachstils nicht nur auf die Blaufiguren beschränkt, sondern sich auf alle Figuren des Dramas auswirkt. Durch den verkürzten Satzbau klingt die Sprache vor allem härter, kälter und mechanischer.

  97. 97.

    „Das eintrainierte Verhalten, nur Funktion zu sein, nur ein Rädchen in einem riesigen Getriebe zu sein, hat die Frage wozu Funktion, in welchem Ganzen Rädchen zu sein, aus ihrem Bewusstsein [dem Bewusstsein der Arbeiter] verdrängt“. Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 79.

  98. 98.

    Also des Milliardärsohns und seiner Tochter aus Gas I.

  99. 99.

    Ein zentrales Zitat aus diesem Kapitel („O, meine Brüder, zerbrecht, zerbrecht mir die alten Tafeln!“) hatte Kaiser seinem ebenfalls 1920 veröffentlichten Drama Die jüdische Witwe als Motto vorangestellt. Siehe hierzu auch: Lämmert, Eberhard: Der ‚neue Mensch‘ als Leiche im Licht. Georg Kaisers dramatische Planspiele. In: Ders. und Giorgio Cusatelli (Hrsg.): Avantgarde, Modernität, Katastrophe. S. 211–213.

  100. 100.

    Es wäre zu überlegen, ob das Kuppeldach selbst als Symbol für die bestehenden Normen der Gesellschaft zu verstehen ist, welche durch die bewusste Entscheidung der Arbeiter aufgebrochen werden. Die von Bussmann vorgenommene Analyse der Lichtsemantik in dieser Szene ließe sich sehr gut mit dieser These einer bewussten Aufhebung der gedanklichen Grenzen verbinden. Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 116–117.

  101. 101.

    Vermutlich ist zusätzlich ein religiöser Subkontext intendiert, in welchem der Aufruf der Fabrikarbeiter als ein Hilferuf an Gott zu verstehen ist, welcher aber entweder aus Gleichgültigkeit nicht antwortet oder völlig absent ist.

  102. 102.

    Spätestens an dieser Stelle lässt sich das von Kaiser imaginierte „Gas“ mit den im Verlauf des Ersten Weltkriegs erstmalig eingesetzten chemischer Kampfstoffen (u. a. Chlorgas und Senfgas) in Verbindung bringen. Es sei aber nochmal daran erinnert, dass diese konkrete Kritik an dem Einsatz chemischer Waffen nur einen Teilaspekt der komplexen Symbolik des „Gas“ darstellt.

  103. 103.

    Auch hier ist der religiöse bzw. biblische Subkontext deutlich: die rote Kugel steht für die Frucht vom Baum der Erkenntnis, welche zur Vertreibung des Menschen aus dem Paradies führt. Hierauf weist auch das eindeutige Verlangen hin, mit dem die jungen Fabrikarbeiter nach der Kugel greifen, sowie die darauffolgende Reaktion des Milliardärarbeiters, der die Anwesenden auffordert, „die Verführung“ zu verwerfen (Vgl. GK2 S. 84).

  104. 104.

    Also Vorstellungen, die in der Rhetorik des Zarathustra als substanzlose „Hinterwelten“ verurteilt werden (vgl. ZA S. 35–38).

  105. 105.

    „Anstatt die Herrschaft über Werk und Welt gilt es, die inneren Werte zu realisieren; dem weltlich-äußerlichen ist das innere, wahre Reich entgegenzusetzen“. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 112.

  106. 106.

    Wobei natürlich die komplette Verkehrung der Rollen ins Auge fällt: hatte der Milliardärsohn in Gas I versucht, die Arbeiter von einer Wiederaufnahme der Gasproduktion abzuhalten, so fordert der Milliardärarbeiter sie nun zur Weiterarbeit auf. Diese vollständige Umkehrung lässt noch einmal erkennen, dass es in der von Kaiser dargestellten modernen Lebenswelt keine überzeitlichen Werte oder Überzeugungen mehr geben kann, sondern dass jede Handlung immer wieder auf ihren spezifischen Wert überprüft werden muss.

  107. 107.

    Auch Bussmann hebt den Zusammenhang zwischen dem technologischen Fortschritt und einem zunehmend fehlgeleiteten Machtstreben hervor: „Im Mass wie sich das Machtstreben auf die ganze Menschheit ausweitet, wird die technologische Vervollkommnung in seinen Dienst gestellt. Der Wirkungsbereich der hochtechnisierten Waffen und die wachsende Verantwortungslosigkeit der Menschen ergänzen sich schliesslich zur akuten Bedrohung der Menschheit“. Ebd. S. 118.

  108. 108.

    Ob Kaiser mit den „gebrochenen Betontafeln“ auf den Vorgang des „Zerbrechens der alten Tafeln“ hinweist oder ob es ihm primär um den Effekt der aufgebrochenen Gräber und damit um eine weitere Unterstützung der apokalyptischen Szenerie geht, ist nicht ganz eindeutig.

  109. 109.

    Bei den letzten Worten des Dramas handelt es sich um den Anfang eines mittelalterlichen Hymnus über das Jüngste Gericht. Bemerkenswerterweise lässt Kaiser allerdings ein entscheidendes Wort aus. So heißt es im Original: „Dies irae, dies illa! / Solvet saeclum in favillâ [Der Tag des Zorns ist da! Dieses Zeitalter wird zu Asche]“. Während der ursprüngliche Vers also lediglich vom Untergang des bestehenden Zeitalters spricht und damit die Möglichkeit eines folgenden Zeitalters offenlässt, markiert das Zitat bei Kaiser einen endgültigen Schlusspunkt der Geschichte. Vgl. Rädle, Fidel: Dies irae. In: Hansjakob Becker und Bernhard Einig (Hrsg.): Im Angesicht des Todes. Ein interdisziplinäres Kompendium. Sankt Ottilien: Eos Verlag 1987. S. 331–340.

  110. 110.

    Apokalyptische Szenarien wie diese sind laut Thomas Anz in den verschiedensten Expressionistischen Werken zu finden: „Für den Expressionismus ist überhaupt die Vorstellung typisch, daß etwas Altes zugrunde gehen muß, damit etwas Neues entstehen kann. Der Weg in eine bessere Zukunft führt durch individuelle oder kollektive Katastrophen“. Vgl. Anz, Thomas: Der Sturm ist da. Die Modernität des literarischen Expressionismus. In: Rolf, Grimminger (Hrsg.): Literarische Moderne. Europäische Literatur im 19. und 20. Jahrhundert. Hamburg: Rowohlt 1995. S. 263.

    Der Steigerungsgrad dieser Katastrophen, von der individuellen über die kollektive bis hin zur apokalyptischen Katastrophe, bildet sich in Kaisers Gas-Trilogie ab.

  111. 111.

    Das machen auch in der Folge produzierte Dramen wie beispielsweise Hölle Weg Erde deutlich, in denen Kaiser dieses Konzept in ähnlicher Form wieder aufgreift. Die Feststellung Hartmut Heinzes, dass es sich bei den „Märtyrergestalten“ in Kaisers Dramen durchweg um „Versager“ handelt, „die trotz menschenbeglückender Propagandaparolen zu einer Neugestaltung der Welt nicht fähig sind“, ist vor diesem Hintergrund kritisch zu sehen. Vgl. Heinze, Hartmut: Das deutsche Märtyrerdrama der Moderne. Eine gattungsgeschichtliche Grundlegung. Frankfurt am Main und Bern: Peter Lang Verlag 1985 (Europäische Hochschulschriften Band 838). S. 50.

  112. 112.

    „Wir dürfen nicht glauben, daß das Kaisers persönliche Überzeugung gewesen wäre. Er hat nur einen Gedanken zu Ende gedacht; seine Absicht war, zu warnen. Was Dürrematt über die Wirkung vom Besuch der alten Dame sagt, gilt hier für Kaiser: das Publikum sehe zu, daß es sich nicht auch so verhalte wie die Schauspieler auf der Bühne.“ Arnold, Armin: Georg Kaiser. In: Wolfgang Rothe (Hrsg.): Expressionismus als Literatur. Gesammelte Studien. Berlin und München: Francke Verlag 1969. S. 458.

  113. 113.

    Vgl. Bussmann, Rudolf: Einzelner und Masse. S. 169.

    Zu einem ähnlichen Schluss kommt auch Carl Steiner. Vgl. Steiner, Carl: Georg Kaiser. Ein moderner ‚Mythenmacher‘. In: Holger A. Pausch und Ernest Reinhold (Hrsg.): Georg Kaiser. Eine Aufsatzsammlung nach einem Symposium in Edmonton/Kanada. Berlin: Agora Verlag 1980. S. 50.

Author information

Authors and Affiliations

Authors

Corresponding author

Correspondence to Tobias Thanisch .

Rights and permissions

Reprints and permissions

Copyright information

© 2021 Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert durch Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature

About this chapter

Check for updates. Verify currency and authenticity via CrossMark

Cite this chapter

Thanisch, T. (2021). Georg Kaiser: Die Rückkehr zum Menschen. In: Literatur als Arbeit am Menschen. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-63000-6_5

Download citation

  • DOI: https://doi.org/10.1007/978-3-662-63000-6_5

  • Published:

  • Publisher Name: J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg

  • Print ISBN: 978-3-662-62999-4

  • Online ISBN: 978-3-662-63000-6

  • eBook Packages: J.B. Metzler Humanities (German Language)

Publish with us

Policies and ethics