Zusammenfassung
In den letzten Jahren werden in der westlichen Universitätslandschaft und nun auch in Deutschland zunehmend beunruhigte Stimmen laut, welche die Wissenschaftsfreiheit und eine offene Streitkultur bedroht sehen. Dabei steht neben anderen Bedrohungen zunehmend ein Wertkonflikt im Mittelpunkt, in dem Anliegen emanzipativer und partizipativer Gerechtigkeit sowie des Schutzes vulnerabler Gruppen als Anlass für Einschränkungen der freien Rede und der freien wissenschaftlichen Forschung genommen werden. Der Beitrag führt diesen Wertkonflikt einerseits auf die Akademisierung der Emanzipationsbewegungen, andererseits auf eine Wissenschaftskritik, die Wissenschaft als Machtausübung deutet, sowie die schleichende Ausdehnung von Begrifflichkeiten zurück, die Gewalt, Verletzlichkeiten und unzulässige Formen der Machtausübung bezeichnen. Es wird argumentiert, dass das Anliegen eines Schutzes vulnerabler Gruppen zwar legitim ist, das paternalistische Formen der Wissenschaft als Wiedergutmachung jedoch dem Anliegen einer partizipativen Meinungsfreiheit weniger förderlich sind als eine klassische wissenschaftliche Streitkultur.
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Notes
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So vertraten 74 % der Befragten in einer Umfrage die Auffassung, wenn man einen Rechtspopulisten zu einer Podiumsdiskussion einlüde, würde man auf Widerstand stoßen, während nur 18 % der Meinung sind, das sollte auch gar nicht erlaubt sein (Petersen 2020, 197).
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Dies zeigen sozialpsychologische Untersuchungen für verschiedene Persönlichkeitstypen einschließlich derer, die sich nicht für konformistisch halten (Haidt 2012, 90).
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ARD-Kontraste-Sendung vom 14. November 2019. Dort werden drei Professoren in einer Art Freakshow vorgeführt, die teilweise Ansichten vertreten, die im gegenwärtigen Meinungsspektrum als bizarr und politisch inkorrekt gelten können. Ein Jurist bestätigt, dass auch so schrullige Annahmen, wie dass sich auf Handys stachelige Wesen herumtreiben, die man beeinflussen müsse, damit sie rund werden, politisch durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt und diese weite Auslegung von Wissenschaftsfreiheit auch vom Gesetzgeber erwünscht sei. Es wird also „argumentiert“, an Wissenschaftsfreiheit könne es gar nicht mangeln, weil man auch heute noch Professoren findet, die derart seltsame Dinge sagen.
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Lotter, MS. (2021). Wissenschaft als imaginäres Wiedergutmachungsprojekt. In: Özmen, E. (eds) Wissenschaftsfreiheit im Konflikt. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-62892-8_5
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