9.3.1 Aufteilung in drei Subsysteme und viele einzelne Institutionen
Von der obigen Darstellung und der Abb. 9.1 weichen die derzeitigen Strukturen des psychiatrischen Versorgungssystems in mehrfacher Hinsicht erheblich ab.
Leistungen, von denen psychisch erkrankte Menschen profitieren, finden sich verstreut in diversen Bänden des Sozialgesetzbuchs:
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Behandlung bzw. Therapie, häusliche Akutpflege und Prävention regelt das SGB V,
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Unterstützungsleistungen (Assistenz, Eingliederungshilfe) wurden mit dem Bundesteilhabegesetz vom SGB XII in das neu gefasste SGB IX übernommen,
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Hilfen zur Teilhabe am Arbeitsleben regeln die Bände II und III des SGB,
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Langzeitpflege zu Lasten der Pflegeversicherung sind im SGB XI kodifiziert und
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Vorschriften zu Leistungen der Rehabilitation sind je nach Kostenträger über mehrere SGB-Bände aufgeteilt.
Hinzu kommen in vielen Fällen Leistungen der Jugendhilfe (Unterstützung von psychisch kranken Eltern), diverse Beratungsstellen und – nicht zuletzt – die Sozialpsychiatrischen Dienste, die in den meisten Bundesländern als Teil der öffentlichen Gesundheitsfürsorge verfasst sind.
Den getrennten Rechtsvorschriften entsprechen getrennte Leistungsträger und als Folge dessen auch getrennte Leistungserbringer, unterschiedliche Konzeptionen, getrennte Planung und Ausführung der Hilfen. Eine fallbezogene Koordination oder gar eine verbundförmige Gesamtsteuerung aller Hilfen wird dadurch stark erschwert.
Hinzu kommt in mehreren Sozialgesetzbüchern eine Trennung zwischen stationären und ambulanten „Sektoren“: Krankenhausbereich versus KV-Bereich im SGB V, „Besondere Wohnformen“ (früher Wohnheime) versus ambulante Assistenz („Betreutes Wohnen“) im SGB IX, stationäre versus ambulante medizinische und berufliche Rehabilitation, stationäre versus ambulante Pflege. Nicht in allen Fällen gibt es bruchlose Übergänge zwischen stationären und ambulanten Versorgungsformen, häufig sind solche Übergänge mit einem Wechseln des Wohn- oder Aufenthaltsortes sowie der professionellen Bezugspersonen verbunden.
9.2 zeigt schematisch die Aufteilung des psychiatrischen Hilfesystems in drei weitgehend voneinander getrennte Subsysteme.
Neben den Trägern von Fachkrankenhäusern oder von Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern sowie dem Bereich der niedergelassenen Ärzte, Psychotherapeuten und weiteren Einzelpraxen ist in den letzten Jahrzehnten der gemeindepsychiatrische Bereich entstanden. Bei diesen früher so genannten „komplementären“ Leistungserbringern handelt es sich in der Regel um kleine bis mittelgroße gemeinnützige Vereine, aber auch um Untergliederungen größerer Wohlfahrtsunternehmen, seltener um gewerbliche Anbieter. Sie bieten ihre Leistungen meist gezielt für eine Versorgungsregion an, also eine kommunale Gebietskörperschaft oder einen Großstadtbezirk.
Das MMT, das gemäß den Empfehlungen der S3-Leitlinie (s. o. Abschn. 9.2.1) und dem Funktionalen Basismodell von Steinhart und Wienberg (Abschn. 9.2.6) den Kern der gesamten Versorgung ausmachen sollte, fehlt bisher in allen Sozialgesetzbüchern – es ist mit seinen Leistungen der Beratung, Erschließung von Hilfen und aufsuchender akuter Hilfe nirgends kodifiziert. Allenfalls Teilaspekte, wie etwa die Soziotherapie (§ 37a SGB V), die aufsuchende Akutbehandlung durch stationsäquivalente Behandlung (§ 117d SGB V) oder die trägerübergreifende Gesamtplanung im Bereich der Rehabilitations- und Unterstützungsleistungen (§ 117 SGB IX), haben mittlerweile Eingang in Gesetze gefunden, sind aber noch nicht flächendeckend umgesetzt.
9.3.2 Krankenhausversorgung
In der Verfasstheit des bundesrepublikanischen Sozialstaates werden psychiatrische Krankenhäuser als Fachkrankenhäuser geführt (zur Geschichte der psychiatrischen Krankenhausversorgung siehe auch Wigand und Becker 2017a,b), sie existieren als spezialisierte Krankenhäuser neben den somatischen Krankenhäusern der Grund-, Regel- und Maximalversorgung. Die Struktur der Trägerschaft entspricht der Struktur der somatischen Krankenhausträger. Seit der Psychiatrie-Enquête (Deutscher Bundestag 1975) sind daneben an somatischen Krankenhäusern selbstständige, gebietsärztlich geleitete Abteilungen für die Fachgebiete Psychiatrie und Psychotherapie sowie Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie entstanden (Abteilungspsychiatrien, vgl. Abb. 9.3). Weiterhin gibt es Kliniken für Psychiatrie und Psychotherapie an den Universitätskliniken, die für Krankenversorgung, Forschung und Lehre zuständig sind, von denen einige aber auch die Aufgaben der Pflichtversorgung wahrnehmen.
Im Mittelpunkt steht die Sicherstellung der vor- und nachstationären, der teilstationären und der stationären Behandlung und der multiprofessionellen ambulanten Behandlung in Form von psychiatrischen Institutsambulanzen nach § 118 SGB V. Mit der Einführung des § 115d SGB V zur stationsäquivalenten Behandlung im Jahre 2018 wurde erstmals die Möglichkeit geschaffen, stationäre Behandlung durch Behandlung im häuslichen Umfeld der Patientinnen und Patienten zu ersetzen. Dadurch kommt sozusagen die Institution „Krankenhaus“ zum Patienten und nicht umgekehrt (Längle et al. 2018). Der überwiegende Teil der psychiatrischen Fachkrankenhäuser und Fachabteilungen unterliegt einer regionalen Versorgungsverpflichtung für Menschen mit psychischen Erkrankungen, die gegen ihren Willen auf Basis von öffentlich-rechtlicher Unterbringung behandelt werden (siehe auch DGPPN 2020).
Wie in der somatischen Krankenhausversorgung sind psychiatrische Fachkrankenhäuser und Abteilungspsychiatrien (und einige Psychiatrische Universitätskliniken) mit ihren (teil)stationären Angeboten in die Aufgaben der regionalen Pflichtversorgung eingebunden.
Die notwendige Nähe zum Versorgungsraum und zu den zivilgesellschaftlichen Netzwerken mit und um die Fachkrankenhäuser und Abteilungspsychiatrien ermöglicht strukturell, sich auf eine eigene Aufgabe und Rolle in gemeindepsychiatrischen Verbünden einzulassen. Insbesondere die tagesklinischen Angebote und die Institutsambulanzen – sofern sie eine aufsuchende Struktur entwickelt haben, stellen eine wichtige Brückenfunktion zwischen Gemeinde und stationärer Behandlung dar (Bomke et al. 2013). Weitere wichtige Bindeglieder können auch die psychiatrische häusliche Krankenpflege nach § 37 SGB V und die Soziotherapie nach§ 37a sein (siehe auch Abschn. 9.3.4).
Kritisch bleibt anzumerken, dass die Konzentration auf die (teil)stationäre Versorgung den gesundheitspolitischen Blick limitiert. Vor diesem Hintergrund hat im Jahre 2019 am Robert Koch-Institut (RKI) ein Internationaler Workshop zur Entwicklung eines Mental-Health-Surveillance-Systems in Deutschland begonnen und wird seine Arbeit fortsetzen (RKI 2019).
9.3.3 KV-Bereich
In der Logik der strikten Trennung stationärer und ambulanter Behandlungsleistungen im SGB V obliegt die Organisation der ambulanten ärztlichen und psychotherapeutischen Behandlung den Kassenärztlichen Vereinigungen („Sicherstellungsauftrag“, §§ 72 ff SGB V).
Sowohl die Fachärzte einschlägiger Richtungen (Psychiatrie und Psychotherapie, Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Neurologie, Psychosomatik usw.) als auch Psychotherapeuten betreiben in aller Regel eigene Praxen und arbeiten im Sprechstundenbetrieb. Hausbesuche sind seltene Ausnahmen. Das gilt im Wesentlichen auch für Zusammenschlüsse in Medizinischen Versorgungszentren.
Die Zahl niedergelassener Fachärzte der oben genannten Facharztgruppen wird allgemein als unzureichend beschrieben, Wartezeiten auf Termine von mehreren Monaten sind die Regel. Dieser Trend wird dadurch verstärkt, dass viele Fachärzte den Wechsel von der psychiatrischen zur psychotherapeutischen Versorgung wählen, sodass die Zahl der tatsächlich psychiatrisch behandelnden Fachärzte in vielen Regionen Deutschlands weit hinter den Erfordernissen zurückbleibt, in ländlichen Regionen teilweise sogar völlig fehlt (SVR 2018, Zi. 1240, 1262).
Eine weitere Erschwernis für gute psychiatrische Behandlung bildet das Vergütungssystem des KV-Bereichs, das hohe quartalsbezogene Fallzahlen belohnt und ausführliche Beratungsgespräche unwirtschaftlich macht.
In der Folge dieser strukturellen Unzulänglichkeiten geht die fachärztliche Behandlung schwerer psychischer Erkrankungen mehr und mehr in die Hände der Kliniken mit ihren Institutsambulanzen über.
Die Schnittstellen zwischen ambulanter und stationärer Versorgung werden weitgehend vom Krankenhausbereich gestaltet (siehe oben Abschn. 9.3.2). Für Patienten niedergelassener Ärzte und Psychotherapeuten bedeutet eine interkurrierende Krankenhausbehandlung ansonsten einen Wechsel des Arztes und/oder des Psychotherapeuten sowohl bei Aufnahme als auch bei Entlassung, mit allen damit verbundenen Nachteilen (Verlust von Vertrauensbeziehungen, Brüche in der begonnen therapeutischen Arbeit, Transferprobleme bei Rückkehr in die private Umgebung usw., vgl. Abschn. 9.2.2).
Nichtsdestotrotz bleibt festzuhalten, dass die niedergelassenen Ärzte – zum erheblichen Teil auch Hausärzte – das Rückgrat der medizinischen Versorgung psychischer Erkrankungen bilden, sie behandeln den weitaus größten Teil von Patienten mit psychiatrischen Diagnosen.
Während die Zahl der niedergelassenen Psychotherapeuten seit dem Inkrafttreten des Psychotherapeutengesetzes stark gestiegen ist, stagniert die psychotherapeutische Versorgung schwerer psychischer Erkrankungen auf einem unbefriedigenden Niveau. Das ist umso bedauerlicher, als alle zugelassenen Psychotherapierichtungen über gute Konzepte für die Arbeit mit schweren psychischen Störungen verfügen. Allerdings behindern auch hier die Organisationsform der niedergelassenen Praxis mit regelmäßigen Terminen und 50-Minuten-Sitzungszeit sowie die dazugehörige, schematische Vergütungsstruktur die erforderliche Flexibilität der Zeitplanung und des Behandlungsortes. Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen werden infolgedessen vielfach nicht erreicht – für sie können der fremde Ort (Komm-Struktur) und die fremde Person, der Standard der 50-Minuten-Sitzung, das oftmals stark schwankende psychische Befinden schwer überwindbare Hürden darstellen.
9.3.4 Sonstige ambulante Leistungserbringer im SGB V
Neben ärztlicher und psychotherapeutischer Behandlung sieht das SGB V noch weitere Therapien vor, die bei psychischen Erkrankungen indiziert sein können:
Soziotherapie soll Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen dabei unterstützen, die für sie indizierten Behandlungsangebote zu erhalten und sie zuverlässig wahrzunehmen. Sie würde somit die Funktionen der Erschließung passgenauer Hilfen und der ggf. langzeitigen Begleitung im Sinne des funktionalen Basismodells (s. o. Abschn. 9.2.5) erfüllen, ergänzt um motivationsfördernde Einzel- und Gruppenangebote. Idealerweise könnte und sollte sie als eine von mehreren Leistungen in das gemeindepsychiatrische mobile multiprofessionelle Team integriert sein.
Allerdings steht Soziotherapie bisher bei weitem nicht flächendeckend zur Verfügung, insbesondere wegen unzureichender Vergütungen (vgl. Hemkendreis 2017). Erst neuerdings scheint sich die Situation allmählich zu bessern – in mehreren Bundesländern wurden und werden Landesrahmenverträge verhandelt, die eine bessere Abdeckung mit Soziotherapie erwarten lassen.
Auch die psychiatrische häusliche Krankenpflege (pHKP, früher APP = ambulante psychiatrische Pflege) steht in Deutschland in vielen Regionen nicht zur Verfügung (Hemkendreis 2017), obwohl die HKP-Richtlinie des G-BA ebenso wie die Soziotherapie-Richtlinie mehrfach nachgebessert wurde und der Begriff der Pflegebedürftigkeit mit den Pflegestärkungsgesetzen um psychische Defizite erweitert wurde. Als ein Instrument der hochfrequenten aufsuchenden Hilfe eignet sich die pHKP sehr gut ebenso zur akuten Krisenintervention wie zur längerfristigen alltagsorientierten Sicherung der körperlichen, seelischen und sozialen Funktionen. Durch eine bedarfsgerechte individuelle Kombination mit Soziotherapie und Ergotherapie könnte die ambulante Versorgung schwerer psychischer Erkrankungen im kassenfinanzierten Gesundheitssystem erheblich gestärkt werden.
Ein eklatanter Mangel besteht besonders bei der medizinischen Rehabilitation schwerer psychischer Erkrankungen (Weig 2008; DGPPN 2018, Abschn. 16.1). Während eine medizinische Rehabilitation, etwa eine Anschlussheilbehandlung nach Krankenhausentlassung, bei vielen Indikationen im somatischen Bereich routinemäßig stattfinden kann, ist medizinische Rehabilitation im psychiatrischen Versorgungssystem die strikte Ausnahme (in der Psychosomatik ist die Versorgung besser). Beispielsweise verzeichnete die Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation im Jahr 2016 in Deutschland lediglich 60 Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPK) mit 1.544 Plätzen (BAR 2020). In weiten Teilen Deutschlands existieren keine oder nur vereinzelte RPK-Einrichtungen, beispielsweise nur je eine in den Bundesländern Brandenburg, Rheinland-Pfalz, Saarland und Thüringen und nur je zwei in Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein oder im Rheinland (der südlichen Hälfte von NRW).
Die auf einer medizinischen ggf. aufbauende berufliche Rehabilitation kommt infolgedessen in vielen Fällen ebenfalls nicht zustande. Dieser Missstand trägt nicht unerheblich zu der hohen Zahl von vorzeitigen Berentungen aufgrund psychiatrischer Diagnosen bei.
Ambulante Ergotherapie spielt eine wichtige Rolle zur Sicherung einer sinnvollen Tagesstruktur, mehr noch zur Schaffung und Begleitung von Schritten zur Teilhabe am Arbeitsleben. Sie ergänzt hier die Angebote der medizinischen und beruflichen Rehabilitation, der Integrationsfachdienste und Integrationsbetriebe und ermöglicht vielen Patienten einen Eintritt oder eine Rückkehr in den allgemeinen Arbeitsmarkt.
9.3.5 Leistungserbringer der übrigen SGB-Bereiche
Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen haben meist einen Hilfebedarf, der über die Angebote des SGB V hinausreicht. Sie benötigen teils kompensatorische, teils gezielt fördernde Unterstützung, um mit wesentlichen Bereichen ihres Lebens erfolgreich zurechtzukommen: Bewältigung des unmittelbaren Alltags sowie Teilhabe am Arbeitsleben, am Leben in der Gemeinschaft und an Angeboten der Aus-, Fort- und Weiterbildung.
Im Sprachgebrauch des Bundesteilhabegesetzes (BTHG), der Eingang in das neu gefasste SGB IX gefunden hat, handelt es sich bei diesen Hilfen um „Assistenz“, bezogen auf einen oder mehrere der genannten Bereiche. Es kann sich um Leistungen mit kürzerer oder längerer Befristung handeln, vielfach besteht ein Hilfebedarf aber auch über Jahre bis hin zu dauerhafter Unterstützung.
Assistenzleistungen haben hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und ihrer konkreten Tätigkeiten Überschneidungen zu Leistungen der Pflege (gemäß SGB V und SGB XI) und der Soziotherapie; die Abgrenzung kann im Einzelfall schwierig sein und zum Gegenstand von Konflikten zwischen den beteiligten Kostenträgern werden. Die beiden Systeme sind in Deutschland vollständig getrennt voneinander kodifiziert, finanziert und auf Kostenträger- sowie Anbieterseite organisiert, sodass an den Schnittstellen zwischen ihnen erhebliche Schwierigkeiten auf dem Weg zu eng vernetzter Kooperation zu überwinden sind.
Zwischen den einzelnen Leistungen der Teilhabeförderung sind dagegen durch das BTHG mit der Teilhabe- und Gesamtplanung (§§ 19 und 117 ff SGB IX) Instrumente der engen Zusammenarbeit der Leistungsträger geschaffen worden. Das in der Praxis bisher häufig zu beobachtende „Hängen“ zwischen den einzelnen Kostenträgern soll nunmehr – zumindest bezüglich des Spektrums rehabilitativer Leistungen – der Vergangenheit angehören.
Neben den Erbringern von Assistenzleistungen sind insbesondere die Sozialpsychiatrischen Dienste (SpDi) zu nennen, wahrscheinlich die einzige Institution, die tatsächlich in jeder kommunalen Gebietskörperschaft zur Verfügung steht. Rechtsgrundlage sind die länderspezifischen Gesetze über Hilfen und Schutzmaßnahmen für psychisch Kranke (PsychKG oder PsychKHG, im Saarland Unterbringungsgesetz – UBG). In der Regel sind sie Teil des öffentlichen Gesundheitsdienstes, in Bayern und Baden-Württemberg ist die Trägerschaft gemeinnützigen Vereinen übertragen worden. Zu ihren Aufgaben gehören Vor- und Nachsorge (nach Krankenhausaufenthalten), Beratung von Betroffenen und Angehörigen sowie gutachterliche Stellungnahmen in Unterbringungsverfahren. Sie sind multiprofessionell besetzt mit Sozialarbeitern, Ärzten, Pflegekräften und ggf. weiteren Berufsgruppen, verfügen aber in der Regel nicht über Zulassungen zur Behandlung, Pflege oder weiteren Leistungen.
Leider sind die SpDi im Verhältnis zu den ihnen zugewiesenen Aufgaben in den meisten Regionen personell unterbesetzt, worauf ihre bundesweite Arbeitsgemeinschaft wiederholt hingewiesen hat (Elgeti 2019). Die genannten Kernaufgaben können sie deswegen nur teilweise wahrnehmen. Das gilt besonders für die Krisenintervention (s. u.)
Die Teilhabe am Arbeitsleben ist ein essentieller Teil der Versorgungsaufgaben für psychisch kranke Menschen. International ist in den letzten 15 Jahren das Modell des sog. Supported Employment oder „Unterstützter Beschäftigung“ viel diskutiert worden. Dieses Modell spricht den psychisch erkrankten Menschen mit der „Place-and-Train“-Philosophie direkt mit dem Angebot der gemeinsamen Suche nach einem Arbeitsplatz an, in der Regel am allgemeinen Arbeitsmarkt. In Deutschland überwiegen im differenzierten beruflichen Rehabilitationssystem allerdings Angebote des sog. „Train-and-Place“-Modells. Unter dem letzteren, schrittweise vorgehenden Angebot finden sich die Rehabilitationseinrichtungen für psychisch Kranke (RPK, insgesamt 45 Einrichtungen; BAR 2011) und die Beruflichen Trainingszentren (BTZ, insgesamt ca. 23 Einrichtungen) (DGPPN 2018, S. 157–193; siehe auch Stengler et al. 2015; Jäckel et al. 2020).
9.3.6 Gemeindepsychiatrische Verbundversorgung
Wie lässt sich angesichts der Vielfalt der Konzepte und Institutionen eine verbundförmige, allseits abgestimmte Versorgung „wie aus einer Hand“ darstellen, wie sie insbesondere Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen angeboten werden sollte? Auf diese Frage sind in Deutschland bisher keine umfassenden Antworten im Sinne der regionalen Verbund-Holding nach den Vorstellungen der Expertenkommission (1988) (s. o. Abschn. 9.2.4) gefunden worden, wohl aber Annäherungen. Zum einen sind hier Regionen zu nennen, in denen der Träger der Versorgungskrankenhäuser gleichzeitig einen großen Teil der übrigen Angebote vorhält (siehe auch Abschn. 9.2.4). Solche Bündelungen der Aufgaben unter dem Dach eines Krankenhausträgers finden sich vor allem im Westen und Südwesten Deutschlands.
Beispielhaft sei hier die Entwicklung des Pfalzklinikums in Rheinland-Pfalz zu einem psychosozialen Komplexanbieter genannt (siehe auch Beyer 2009). Treiber dieser Entwicklungen war insbesondere die sogenannte Gemeindepsychiatrie des Klinikums. Anders als in anderen Regionen (siehe hierzu Thornicroft und Szmukler 2001; Kilian 2009) blieb bei der Reform der Bereich der Eingliederungshilfe unter dem Dach des Trägers und wurde nicht ausgegliedert. Durch die Entwicklung eigener Führungs- und Managementstrukturen war es möglich, den typischen Heimcharakter der Angebote durch ein auf die Bewohnerinnen und Bewohner fokussiertes Angebot weiterzuentwickeln (Bomke et al. 2013). Für die Entwicklung eines versorgungspolitischen Auftrags ist es wichtig, dass die Struktur der Trägerschaft zum sozialräumlichen Auftrag passt und dass die Frage von „Empowerment“ der Betroffenen und die Frage der Emanzipation der Nutzer sich im Wertekanon des Trägers widerspiegeln. Grundlage für das Gelingen eines solchen Transformationsprozesses ist z. B. eine kommunalpolitische Verankerung des Trägers, sei es durch einen klaren landesrechtlichen Auftrag, wie etwa in Baden-Württemberg, oder durch die Delegation der Aufgaben an kommunale obere Zweckverbände bzw. Wohlfahrtsverbände, wie man sie in Bayern, in Nordrhein-Westfalen oder Hessen, aber eben auch in der Pfalz findet (siehe auch Fliedner 2017). Dieser Übertragung geht eine wichtige Entscheidung voraus. Psychiatrische und psychosoziale Versorgung ist Teil der Daseinsvorsorge und kann nicht gänzlich den marktwirtschaftlichen Prinzipien der Steuerung von Angebot und Nachfrage überlassen werden. Und ein zweites Prinzip ist für den beschriebenen Transformationsprozess entscheidend: Die Weiterentwicklung psychosozialer Versorgung kann nur mit öffentlicher Kontrolle, mit Transparenz und Nutzerbeteiligung und in demokratischen Meinungsbildungsprozessen gelingen (Bomke 2008).
In vielen anderen Regionen gingen Initiativen zum Zusammenschluss von Anbietern des SGB IX aus, meist rund um „Hilfeplankonferenzen“ nach altem Recht der Eingliederungshilfe. Solche Zusammenschlüsse nennen sich meist Sozial- oder Gemeindepsychiatrische Verbünde (GPV). Die einzelnen Anbieter bleiben rechtlich selbständig, vereinbaren aber im Sinne einer Selbstverpflichtung eine enge, soweit möglich verbindliche Kooperation sowohl im Einzelfall als auch in der Steuerung der regionalen Versorgung (Rosemann und Aktion Psychisch Kranke 2017).
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Gemeindepsychiatrischer Verbünde (BAG GPV) wurde 2006 gegründet mit dem Ziel, das GPV-Konzept in seinen Mitgliedsverbünden gemeinsam umzusetzen und es auf der nationalen Ebene fachlich und politisch zu vertreten. Die „Qualitätsstandards“ der BAG GPV beschreiben die Konzeption und dienen als Richtschnur der Verbundentwicklung in den 25 Mitgliedsregionen (BAG GPV Qualitätsstandards 2012).
Beide Annäherungen an das Verbundideal, die südwestdeutschen Konzerne und die Verbünde der BAG GPV, sind quantitativ wie qualitativ unvollständig:
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Es gelingt ihnen nicht, alle wesentlichen Akteure und alle Leistungsarten einzubeziehen; insbesondere niedergelassene Ärzte und Psychotherapeuten werden selten erreicht;
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Und ihre Vernetzung hat nicht einen solchen Verbindlichkeitsgrad, dass tatsächlich alle Maßnahmen über alle Sektoren und Sozialgesetzbücher hinweg gemeinsam geplant und vernetzt umgesetzt werden.
Das Land Baden-Württemberg hat als erstes Bundesland den Aufbau gemeindepsychiatrischer Verbünde in allen kommunalen Gebietskörperschaften in sein novelliertes PsychKHG aufgenommen (Lucha 2019). Ob diese Gebilde – mit der rechtlichen Norm im Rücken – einen höheren und vollständigeren Vernetzungsgrad erreichen können, bleibt allerdings noch abzuwarten.
9.3.7 Krisenversorgung
Während für Krankenhauseinrichtungen die jederzeitige Erreichbarkeit eine Selbstverständlichkeit darstellt, sind die meisten ambulant-psychiatrischen Dienste und Einrichtungen lediglich tagsüber an Werktagen erreichbar („nine to five“). Akute Krisen, die sich außerhalb dieser Zeiten zuspitzen, können vom ambulanten Versorgungssystem darum nicht adäquat aufgefangen werden.
Der kassenärztliche Notdienst vermag diese Lücke nicht zu schließen; er führt in psychosozialen Krisensituationen nur selten Hausbesuche durch und verfügt nicht durchgängig über fachpsychiatrische Kompetenz. Ebenso wenig ist dies den Sozialpsychiatrischen Diensten flächendeckend möglich; zu den begrenzten Zeiten der Erreichbarkeit kommt hier erschwerend die meist unzureichende personelle Ausstattung hinzu.
Ansonsten stehen für Krisen außerhalb der üblichen Öffnungszeiten in den meisten Regionen Deutschlands nur nicht-psychiatrische Dienste zur Verfügung, insbesondere Ordnungsbehörden und Polizei. In akuten psychischen Krisensituationen steht ihnen der ambulante fachpsychiatrische Bereich nicht zur Verfügung.
Im Zusammenwirken mit den rund um die Uhr für Notfälle offenen Krankenhäusern führt dies zu der häufig inadäquaten Entscheidungsalternative zwischen Einweisung und Untätigkeit. Es kommt zu Krankenhausaufnahmen, für die aus medizinischer Sicht keine zwingende Indikation besteht. Beispielsweise schätzten in einer Umfrage des Sachverständigenrats Klinik- und niedergelassene Ärzte, dass etwa 20 bis 30 % der Krankenhausaufnahmen durch Ertüchtigung der ambulanten Versorgung vermieden werden könnten (SVR 2018, Zi. 1248, 1254).
Wegen fehlender Rechtsgrundlage blieb es bisher lokalen Pilotprojekten vorbehalten, Wege zum Aufbau von Krisendiensten zu bahnen. Beispiele sind der gemeindepsychiatrische Krisendienst in Solingen als ältester existierender Krisendienst rund um die Uhr (Psychosozialer Trägerverein Solingen e. V., https://www.ptv-solingen.de/krisendienst), der Berliner Krisendienst als Kooperationsprojekt vieler Leistungsanbieter (www.berliner-krisendienst.de) oder das Atriumhaus München, das vom zuständigen Versorgungskrankenhaus als Dependance bereits 1994 aufgebaut wurde (www.atriumhaus-muenchen.de).
Solche Krisendienste verfügen typischerweise über eine telefonische Hotline sowie – mit regionalen Unterschieden – über die Möglichkeit aufsuchender Krisenintervention und über Alternativen zur vollstationären Krankenhausaufnahme („Krisenwohnung“, „Krisenpension“, „Rückzugsräume“ u. ä.). Sie sind entweder rund um die Uhr oder außerhalb der Bürozeiten besetzt.
Das novellierte bayerische Psychisch-Kranken-Hilfe-Gesetz (BayPsychKHG) schreibt erstmals den Aufbau von Krisendiensten in allen Regionen vor. Der erste Krisendienst gemäß dieser Vorschrift wurde unlängst im Bezirk Oberbayern implementiert (https://www.krisendienst-psychiatrie.de/). Die zentrale Leitstelle liegt in der Verantwortung des kbo-Isar-Amper-Klinikums, das seine Vorerfahrungen mit dem Atriumhaus eingebracht hat. Die Sozialpsychiatrischen Dienste der oberbayerischen Regionen sind als Partner einbezogen und leisten insbesondere die mobilen Kriseneinsätze. Die Dienste sind rund um die Uhr (24/7) erreichbar. Soweit telefonische Beratung und aufsuchender Einsatz nicht ausreichen, werden weiterführende Hilfen vermittelt. Die Umsetzung in den übrigen bayerischen Bezirken läuft.
Da alle in diesem Abschnitt besprochenen Krisendienste von regionalen, gut vernetzten Akteuren betrieben werden, ist eine Weitervermittlung an andere Hilfen in der Regel leicht möglich. Soweit diese von denselben Institutionen betrieben werden (wie etwa in Solingen und teilweise in Oberbayern), lässt sich ein Wechsel der Bezugsperson des Öfteren vermeiden.
Damit Krisendienste das angestrebte Ziel erreichen können, ambulante Maßnahmen zu mobilisieren und Krankenhausaufnahmen auf das tatsächlich notwendige Maß zu beschränken, müsste allerdings ihre Einbeziehung in Unterbringungsverfahren gemäß PsychKG/PsychKHG und gemäß Betreuungsrecht zwingend vorgeschrieben werden (Greve 2016); dies ist bisher nirgends der Fall.
9.3.8 Zusammenfassung
Der in diesem Kapitel beschriebene Ist-Zustand des psychiatrischen Versorgungssystems lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:
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Ambulante Angebote stehen bislang in der Regelversorgung nur zu den büroüblichen Öffnungszeiten zur Verfügung. Nur in wenigen Regionen gibt es Anlaufstellen (Krisendienste) außerhalb dieser Zeiten, die – abgesehen von den im Aufbau begriffenen Krisendiensten in Bayern – auf Sondervereinbarungen oder Selektivverträgen beruhen. Inwieweit die zu erwartende Richtlinie des G-BA zu einer erweiterten Versorgung für Versicherte mit schweren psychischen Erkrankungen gemäß § 92 Abs. 6b SGB V auch eine zeitlich umfassende Erreichbarkeit und Krisenversorgung vorsehen wird, war zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels noch nicht klar.
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Infolgedessen werden stationäre Behandlungen in Fachkrankenhäusern und Fachabteilungen an Allgemein-Krankenhäusern über das eigentlich indizierte Maß hinaus in einer geschätzten Größenordnung von 20 bis zu 30 % der Aufnahmen in Anspruch genommen, einschließlich vermeidbarer Zwangseinweisungen.
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Niedergelassene Fach- und Hausärzte bilden weiterhin das quantitative Rückgrat der ärztlichen Behandlung psychischer Erkrankungen. Fachkrankenhäuser und -abteilungen übernehmen allerdings einen wachsenden Anteil ambulanter Behandlungen vor allem schwerer psychischer Erkrankungen bereits seit langem über ihre Institutsambulanzen und neuerdings durch die stationsäquivalente Behandlung.
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Ambulante Psychotherapie erreicht nur einen Teil der Personen, für die sie indiziert wäre, insbesondere unzureichend die Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen.
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Weitere ambulante Leistungen (Sozio- und Ergotherapie, psychiatrische Krankenpflege, medizinische Rehabilitation) stehen bei weitem nicht flächendeckend zur Verfügung.
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Die Vielfalt der Angebote ist aufgeteilt in diverse Bände des Sozialgesetzbuchs und innerhalb jedes SGB-Bandes zusätzlich in ambulante und stationäre „Sektoren“. Die einzelnen Angebote und ihre Finanzierung sind voneinander getrennt organisiert.
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Insbesondere die Verknüpfung der Bereiche „Behandlung“ (SGB V) und „Unterstützung“ (SGB IX u. a.) ist nur in wenigen Regionen mit Verbundstrukturen ausreichend eng, in der Regel arbeiten sie in getrennten Institutionen.
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Eine Erstberatung bei ungeklärtem Hilfebedarf, die alle potenziellen Hilfen einbezieht, fehlt fast überall. Das gilt umso mehr für die verbindliche Steuerung sowohl des regionalen Versorgungssystems als auch aller beteiligten Hilfen im Einzelfall. Auch hier beziehen sich Versuche einer Zusammenführung stets getrennt entweder auf das SGB V oder auf das SGB IX (Pflegestützpunkte gemäß § 92c SGB XI spielen praktisch keine Rolle).
Wegen dieser Rahmenbedingungen ist die Behandlung und Unterstützung von Menschen mit (schweren) psychischen Erkrankungen in sehr vielen Fällen nicht regelmäßig leitliniengerecht: Es herrscht ein Nebeneinander von Über-, Unter- und Fehlversorgung, für viele Betroffene ist ein nennenswerter Teil notwendiger Hilfen nicht verfügbar (z. B. medizinische Rehabilitation, Zugänge zum allgemeinen Arbeitsmarkt) oder schwer erreichbar (Wartezeiten bei ambulanter Psychotherapie, Facharztmangel in ländlichen Regionen). Komplexe Hilfen sind unzureichend miteinander verzahnt und aufeinander abgestimmt.
Vermeidbare Chronifizierung mit hohen volkswirtschaftlichen Kosten durch teure Krankenhausbehandlungen und unnötig häufige Erwerbsminderungsberentungen kann die Folge sein (vgl. z. B. Konnopka et al. 2009). Dies gilt, obwohl die Verfügbarkeit psychiatrisch-psychotherapeutischer und psychosozialer Hilfen in Deutschland sehr umfassend gegeben und der Zugang zu den meisten Hilfsangeboten eher niederschwellig ist.