Untersuchungen zum langfristigen Outcome polytraumatisierter Patienten zeigen bei nun deutlich höheren Überlebenschancen dauerhafte relevante Beeinträchtigungen der physischen und psychischen Gesundheit mit daraus resultierender Verringerung der Lebensqualität und infolgedessen hohen Kosten für das Gesundheitssystem (Simmel 2018).
Der Betrachtung liegt die ICF (Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit), das bio-psychosoziale Betrachtungsmodell der WHO, zugrunde. Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivitäten und Partizipation (Teilhabe) sowie Umweltfaktoren stehen in der Rehabilitation in direkter Wechselwirkung zueinander und bedingen einander im Positiven wie im Negativen.
Die Rehabilitation schwerverletzter Patienten unterscheidet sich daher folgerichtig auch von der Nach- und Weiterbehandlung nach elektiven konservativen und operativen Behandlungen in Orthopädie und Unfallchirurgie.
Patienten mit schwerem Schädel-Hirn-Trauma oder Querschnittsymptomatik werden in spezialisierten Zentren behandelt, die besondere Anforderungen erfüllen müssen. Ausgehend von einem Vorschlag durch den ehemaligen Verband Deutscher Rentenversicherungsträger ist seit 1995 ein neurologisch/neurochirurgisches Phasenmodell Kostenträger-übergreifend flächendeckend umgesetzt. Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) hat hierzu inhaltliche und strukturelle Empfehlungen vorgegeben. Schwerbrandverletzte werden in überregionalen Traumazentren mit einem entsprechenden Zentrum behandelt.
Die Polytraumaversorgung wird erst durch eine schnittstellenfreie Rehabilitation komplettiert. Das Rehapotenzial schwerverletzter Patienten wird aktuell in den meisten Fällen noch nicht vollständig ausgeschöpft. Auswertungen aus dem TraumaRegister DGU® ergeben, dass 2018 lediglich 15,4 % der Überlebenden nach Polytrauma in eine Reha-Klinik verlegt wurden. 63,1 % wurden in die häusliche Pflege entlassen. In Anlehnung an das neurologische Phasenmodell wurde 2017 ein Phasenmodell der Traumarehabilitation publiziert. Es läuft ebenfalls in sechs Phasen ab, die fließend ineinander übergehen. Bei definierten Ein- und Ausgangskriterien können einzelne Phasen auch übersprungen werden (Abb. 8.3).
8.4.1 Phasenmodell der Traumarehabilitation
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Phase A: Akutbehandlung
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Phase B: Frührehabilitation (während der Akutbehandlung)
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Phase C: Postakute Rehabilitation
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Phase D: Anschlussrehabilitation (z. B. Anschlussrehabilitation (AR), Anschlussheilbehandlung (AHB), Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehandlung (BGSW))
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Phase E: Weiterführende Rehabilitation (z. B. berufliche, psychologische oder Schmerzrehabilitation)
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Phase F: Nachsorge (bei bleibenden oder langfristigen Unfallfolgen)
Die Kriterien der Deutschen Rentenversicherung orientieren sich an einer ausreichenden Motivation und Belastbarkeit der Patienten. Die sogenannte „Rehabilitationsfähigkeit“ (siehe Abb. 8.4) ist allerdings auch mit Blick auf die ICF-Kriterien für schwerverletzte Patienten primär irrelevant und wird oftmals erst durch Behandlung in der Phase C hergestellt.
Die Akutbehandlung (Phase A) der Traumarehabilitation sowie die Frührehabilitation (Phase B) finden im Traumazentrum oder in spezialisierten Akutkliniken statt und beginnen im Bedarfsfall auf der Intensivstation des Akutkrankenhauses mit physikalisch-therapeutischen Maßnahmen.
Die postakute Rehabilitation (Phase C) ist gekennzeichnet durch einen großen Anteil pflegebedürftiger Patienten mit hohem Rehabilitationsbedarf, aber auch durch die medizinische Notwendigkeit einer interdisziplinären Behandlung, weiterführender Diagnostik (auch mittels Großgeräten) und der Möglichkeit, auch komplexe operative Revisionseingriffe durchzuführen.
Gerade in der postakuten Rehabilitation (Phase C) besteht noch ein relevantes „Rehaloch“: Die Phase-C-Rehabilitation ist lediglich im Bereich der gesetzlichen Unfallversicherung – ausschließlich in den BG-Kliniken – als „Komplexe Stationäre Rehabilitation (KSR)“ flächendeckend umgesetzt (Reimertz 2019).
So müssen nach wie vor junge Patienten mit Polytrauma außerhalb des Leistungsangebots der gesetzlichen Unfallversicherung nach der poststationären Phase B zunächst in eine für die Patienten völlig unzureichende Kurzzeitpflegeeinrichtung verlegt werden, da eine häusliche Pflege bzw. ambulante Rehabilitation noch nicht möglich ist.
Die Rehabilitation in der postakuten Phase C stellt an Überregionale Traumarehabilitationszentren (ÜTRZ) besondere Anforderungen, die bislang nur in den BG-Kliniken für Patienten aus dem SGB-VII-Bereich umgesetzt sind. Hierzu gehört neben einer (auch räumlich) engen Kooperation und Vernetzung mit den Traumazentren auch:
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Sicherstellung zügiger operativer Revisionsmöglichkeiten im Bedarfsfall
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Sicherstellung der postakuten Anschluss- und weiterführenden Traumarehabilitation sowie der langfristigen Nachsorge (inkl. Schmerzrehabilitation und neuro-/psychologischer Kompetenz)
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Vorhaltung hierfür notwendiger personeller, räumlicher sowie technisch-apparativer Ausstattung
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erforderliche fachliche Kompetenz im akuten und rehabilitativen Bereich mit Nachweis fachspezifischer Aus-, Fort- und Weiterbildungen
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ICF basierte multidisziplinäre Rehabilitationsplanung und -durchführung
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Teilnahme an klinischen Studien
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Teilnahme an externen und internen Qualitätssicherungsverfahren
Für Traumarehabilitationszentren der Phase C sollten daher zukünftig besondere Anforderungen definiert werden, da hohe Kompetenzen im akutmedizinischen als auch im rehabilitativen Bereich erforderlich sein müssen (Simmel et al. 2018). Eine monozentrische Auswertung aus 2018 zeigt eine Häufigkeit notwendiger operativer Revisionen in der Phase C von 51 % (Rindermann 2019).
Die Anschlussrehabilitation in der Phase D ist etabliert und entspricht den gegenwärtigen Rehabilitationsmaßnahmen: Anschlussrehabilitation (AR), Anschlussheilbehandlung (AHB), Berufsgenossenschaftliche Stationäre Weiterbehandlung (BGSW). Weiterführende, auch ambulante Rehabilitationsmaßnahmen können auch zur sozialen und beruflichen Wiedereingliederung erforderlich werden (Phase E).
Um ein erreichtes Ergebnis langfristig zu sichern, ist gerade bei Patienten mit bleibenden Unfallfolgen eine kontinuierliche Nachsorge zu gewährleisten. Dies betrifft z. B. Patienten nach Amputationen, bei andauerndem Pflege-, Therapie- oder Hilfsmittelbedarf, chronischen Schmerzen und psychotraumatologischen Langzeitfolgen (Phase F).
Ziel eines Phasenmodells Traumarehabilitation ist es, ein bestmögliches Ergebnis für eine möglichst schnelle und lange anhaltende soziale, familiäre und berufliche Wiedereingliederung Schwerverletzter zu erzielen. Um alle Rehabilitationspotenziale der Schwerverletzten zu heben, ist es notwendig, frühestmöglich multidisziplinäre und phasenübergreifende Rehabilitationsmaßnahmen einzuleiten sowie ineinander übergreifende und aufeinander abgestimmte Rehabilitationsphasen nahtlos umzusetzen. Dies ist sowohl in der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 (Artikel 26 Satz 1a) als auch im aktuellen Weißbuch Schwerverletztenversorgung (DGU 2019, S. 25–26) formuliert. Aktuell findet auch in der Öffentlichkeit eine Diskussion hierzu statt. In einem ganzseitigen Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 05.07.2020 mit dem Titel „Entlassen in den Stillstand – Unfallchirurgen schlagen Alarm“, mahnt der derzeitige Präsident der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU), Univ.-Prof. Dr. Michael Raschke, eine lückenlose Rehabilitation an.
Damit der richtige Patient zur richtigen Zeit auch in der richtigen Trauma-Reha-Klinik behandelt wird, sind definierte Prozesse und infrastrukturelle Voraussetzungen notwendig (Müller et al. 2018). Im neurologischen Phasenmodell erfolgt die Zuordnung der Patienten zu den einzelnen Reha-Phasen mittels des Pflegegrades (Barthel-Index). Dieser ist ubiquitär verfügbar und stellt auch grundsätzlich eine praktikable Zwischenlösung dar.
Der Pflegebedarf gibt allerdings nur einen Teilaspekt wieder; der tatsächliche Therapiebedarf der Patienten wird nur unzureichend abgebildet. Um den Reha-Bedarf schwerverletzter Patienten reproduzierbar und adäquat zu ermitteln, wäre die Einführung eines Trauma-Reha-Scores sinnvoll. Ein von der AG Traumarehabilitation der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Unfallchirurgie (DGOU) erarbeiteter Score findet sich derzeit in der klinischen Prüfung.
Die konsequente Umsetzung eines Phasenmodells Traumarehabilitation ließe sich mit einer Weiterentwicklung des aktuellen TraumaNetzwerks DGU® zu mehrstufigen zertifizierten Trauma-Reha-Netzwerken abbilden. In Analogie erscheint eine Kategorisierung der an der Traumaversorgung beteiligten Reha-Einrichtungen als lokale (LTRZ), regionale (RTRZ) und überregionale Traumarehabilitationszentren (ÜTRZ) als sinnvoll.
Für Rehabilitationseinrichtungen der Phasen D und E können bereits bestehende Strukturen übernommen werden.
Eine phasenübergreifende Behandlung für alle Patienten scheitert aktuell zumeist an den Sektorengrenzen und den derzeit definierten Voraussetzungen für eine Rehabilitation (Abb. 8.5).
Im ambulanten Sektor ist die Nachbetreuung polytraumatisierter Patienten häufig durch Schnittstellenprobleme geprägt. So fehlt bei komplexen Fraktur- und Verletzungsmustern, die sonst im ambulanten Bereich so nicht vorkommen, häufig schon rein strukturell die „intersektorale Brücke“ zum erstversorgenden Traumazentrum. Für Kliniken ohne zugelassene MVZ oder (Teil-)Ermächtigungen fehlt das Feedback zu Verläufen. Stringente, fallbezogene Qualitätskontrollen und ein durchgehendes Verlaufsmanagement werden so massiv erschwert. Die Heilmittel-Budgets der Vertragsärzte sind für diese Patientengruppe zudem häufig nicht ausreichend.
Auch hier spielt die Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung (DGUV) für ihre Versicherten wieder eine – vorbildliche – Sonderrolle. Die Schnittstellenproblematik ist durch das „Durchgangsarzt-System“ niedergelassener und stationärer Unfallärzte sowie die intersektoralen Aktionsmöglichkeiten der zugelassenen Kliniken grundsätzlich nicht existent. Die berufliche und soziale Wiedereingliederung und Teilhabe werden „mit allen geeigneten Mitteln“ unbudgetiert und mit einem konsequenten Fallmanagement der Unfallversicherungsträger angestrebt.