Angesichts der breit und intensiv diskutierten Defizite der Notfallversorgung in Deutschland wird ein grundlegender Reformbedarf von allen Beteiligten anerkannt. Verschiedene Positionspapiere mit unterschiedlichen Herangehensweisen wurden vor diesem Hintergrund erarbeitet und im Krankenhaus-Report bereits dargelegt (Slowik et al. 2018). Die im Folgenden präsentierten Lösungsansätze basieren auf dem im Herbst 2017 erstmals vorgestellten und im Sommer 2018 veröffentlichten Konzept des Sachverständigenrates (SVR 2018).
Leitbild des Konzepts ist, dass den Patientinnen und Patienten zukünftig sektorenübergreifend koordinierte, klar abgestufte Versorgungspfade zur Verfügung stehen. Hilfesuchenden soll durch die Versorgung „aus einer Hand“ und die zentrale Beratung und Anleitung eine bedarfsgerechte und dabei effiziente Behandlung gewährleistet werden. Unter Rückgriff auf leitliniengestützte Notfallalgorithmen soll eine objektive Einschätzung der Dringlichkeit, die individuelle Auswahl des besten Versorgungspfades und eine (digitale) Begleitung des weiteren Behandlungsablaufs erfolgen.
Um dies zu erreichen, werden die ambulanten und stationären Strukturen enger verzahnt sowie Versorgungsangebote eingebunden. Der Rettungsdienst wird über die reine Transportleistung hinaus als präklinische Notfallmedizin in das Versorgungssystem integriert. Begleitet werden muss die Umstrukturierung der Notfallversorgung mit Aufklärungskampagnen und umfangreichen, adressatengerechten Patienteninformationen, damit Transparenz und Verständnis für die neuen Strukturen geschaffen werden. Voraussetzung für eine erfolgreiche Umsetzung der Reformpläne ist die Implementierung einer flächendeckenden digitalen Infrastruktur und eines reibungslosen Informationsaustauschs aller Beteiligten.
3.3 stellt das Konzept überblicksartig dar. Kernstück der neuen Notfallversorgung sind Integrierte Leitstellen (ILS) und Integrierte Notfallzentren (INZ). Die neuen Versorgungspfade basieren auf diesen beiden neuen Elementen und binden darauf aufbauend abgestufte Behandlungsmöglichkeiten ein.
3.3.1 Integrierte Leitstellen
Die Integrierten LeitstellenFootnote 7 übernehmen rund um die Uhr die initiale Koordination der Notfallversorgung. Sowohl Akut- als auch Notfälle werden in den Leitstellen mittels einer standardisierten Notrufabfrage und unter Nutzung digitaler Entscheidungsalgorithmen telefonisch ersteingeschätzt.
Idealerweise werden die Anrufe unter einer deutschlandweit einheitlichen Telefonnummer entgegengenommen, um den Patientinnen und Patienten die Entscheidung abzunehmen, welche die angemessene Versorgungsebene ist. In der Annahme, dass eine gewisse Vorfilterung sinnvoll sein könnte und eine umfangreiche Aufklärung zukünftig zu einer gezielten Nutzung der 112 oder der 116117 führt, erscheint jedoch auch die Beibehaltung beider Rufnummern zielführend. Wichtig ist, dass die Bearbeitung der Anrufe technisch und organisatorisch reibungslos integriert wird. Hierzu gehört neben dem digitalen Austausch von Patientendaten auch ein gemeinsamer Stand zu den verfügbaren Versorgungsstrukturen und deren Kapazitäten.
Darüber hinaus müssen unter beiden Rufnummern möglichst einheitliche Algorithmen und Standards eingesetzt werden. Eine zusätzliche Herausforderung ist, dass ein in den ILS eingesetztes Ersteinschätzungssystem zu den im INZ verwendeten Systemen kompatibel sein muss. Sowohl im Rettungsdienst als auch im ÄBD gibt es aktuell Bestrebungen, Systeme zur optimierten Patientensteuerung zu entwickeln (Lechleuthner et al. 2019; von Stillfried et al. 2019). Bei Vertretern der Notaufnahmen besteht eher die Tendenz, an etablierten Systemen wie dem Manchester Triage System festzuhalten (Kumle et al. 2019). Insgesamt zeigt sich dabei, dass die Vorstellungen zwischen der (prä-)klinischen Notfallmedizin und dem niedergelassenen Bereich stark divergieren (vgl. DGINA und DIVI 2019).
Keines der verfügbaren Systeme wird aktuell den Anforderungen der Patientensteuerung vollumfänglich gerecht (vgl. Möckel et al. 2019). So ist z. B. die Unsicherheit vor allem außerhalb der klar lebensbedrohlichen bzw. eindeutig nicht-dringlichen Fälle relativ groß (Hinson et al. 2019). Daher ist die zielgerichtete Weiterentwicklung und Evaluation der Systeme notwendig. Neuere, stärker IT-gestützte Ansätze könnten an dieser Stelle ansetzen und eine genauere Zuweisung ermöglichen. So konnten Algorithmen aus dem Bereich des maschinellen Lernens in verschiedenen (retrospektiven) Studien eine bessere Differenzierung der benötigten Versorgung (z. B. die anschließende Notwendigkeit intensivmedizinischer Behandlung) erreichen als ein klassisches Triagesystem wie der Emergency Severity Index. Die Systeme nutzen zur Klassifikation demographische Informationen, Leitsymptome (auch als Freitext), Vitalzeichen und Informationen aus der medizinischen Patientenakte (z. B. Levin et al. 2018; Raita et al. 2019). Auch ohne Informationen zur medizinischen Vorgeschichte, die zum Zeitpunkt der Ersteinschätzung ggf. nicht vorliegen, zeigten derartige Ansätze bessere Ergebnisse (Joseph et al. 2020). Sie sind daher vielversprechende Instrumente zur Unterstützung der Ersteinschätzung, müssen aber noch in praktischen Studien erprobt werden.
Welches System letztlich für den Einsatz geeignet ist, sollte auf Basis wissenschaftlicher Evaluierungen entschieden werden. Vorstellbar ist, dass unterschiedliche Ansätze mit klar definierten Schnittstellen in einem abgestuften System gemeinsam zur Anwendung kommen. So könnte ein möglichst einheitlich eingesetztes Ersteinschätzungssystem wie z. B. die inzwischen bundesweit von allen 116117-Leitstellen genutzte „Strukturierte medizinische Ersteinschätzung in Deutschland (SmED)“Footnote 8, ggf. mit Vor-Triage zur Feststellung der Dringlichkeit, genutzt und mit dem webbasierten „Interdisziplinären Versorgungsnachweis (IVENA eHealth)“Footnote 9, mit dem die Verfügbarkeit (stationärer und ambulanter) Kapazitäten in Kliniken bzw. Partnerpraxen in Echtzeit abgebildet wird, kombiniert werden.
Die eigentliche Filterung und Einschätzung der Anrufe sowie die sich anschließende Steuerung erfolgt durch erfahrene und speziell geschulte Rettungsdienstdisponenten. Um die bisher sehr heterogene Struktur der Leitstellen in Deutschland zu vereinheitlichen, sollte eine gezielte Personalentwicklung inkl. eines einheitlichen Berufsbildes vorangetrieben werden (vgl. Hackstein et al. 2015). Zusätzlich stehen in den ILS breit weitergebildete (Allgemein-)Ärzte mit Notfallerfahrung zur direkten telefonischen Abklärung komplexerer medizinischer Sachverhalte bereit.
Basierend auf der Ersteinschätzung der Fachkräfte in den ILS wird die jeweils individuell geeignete Versorgungsebene bzw. -struktur ausgewählt. Dies kann auch eine rein telefonische Beratung und Behandlung umfassen. Die wissenschaftliche Evidenz zur Auswirkung der telefonischen Ersteinschätzung und Beratung ist ambivalent (Boggan et al. 2020; van den Heede und van de Voorde 2016). Studien und Erfahrungen aus dem europäischen Ausland legen jedoch nahe, dass erfahrenes und geschultes (nicht zwingend ärztliches) Fachpersonal in vielen Fällen eine abschließende und sichere telefonische Versorgung sicherstellen kann (Boggan et al. 2020). Außerdem kann mit dem Ausbau der telefonischen Beratung Forderungen nach einem besseren Informationszugang Rechnung getragen werden (Köster-Steinebach 2019). Erfahrungen aus Pilotprojekten in Deutschland (z. B. „docdirekt“) und aus den ausgeweiteten Möglichkeiten zur telefonischen Behandlung während der Corona-Pandemie sollten in der Umsetzung berücksichtigt werden.
Im Regelfall wird die ILS eine weitere nicht-telefonische Behandlung veranlassen. Hierfür bedarf es eines breiten Spektrums an Optionen. Für gehfähige Patientinnen und Patienten mit akutem Abklärungsbedarf werden kurzfristige Termine in den INZ (siehe Abschn. 3.3.2) vergeben. Für wenig dringliche Akutfälle kann die ILS auf explizit ausgewiesene Partnerpraxen verweisen oder im Zusammenspiel mit den Terminservicestellen unmittelbar Termine bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten vergeben. Eine begleitende (monetäre) Anreizsetzung zur Flexibilisierung und ggf. Ausweitung der Sprechstundenzeiten in Haus- und Facharztpraxen würde die Terminvergabe erleichtern und darüber hinaus zur Entlastung der Notfallversorgung beitragen (Morley et al. 2018). Außerdem sollte die Disposition von Hausbesuchen innerhalb festgelegter Fristen möglich sein. Entscheidet die ILS, dass ein Krankentransport anstelle einer Rettungsfahrt ausreichend ist, muss die Entscheidung einer ärztlichen Verordnung gleichstehen.
In manchen Fällen steht weniger ein notfallmedizinischer als vielmehr ein pflegerischer Aspekt im Vordergrund. Für diesen Fall wird die ILS neu einzurichtende Notpflegeteams alarmieren können. Diese können etwa in Pflegeheimen, aber auch bei Hausbesuchen eingesetzt werden, um bei bestimmten Einsätzen den Rettungsdienst und den ÄBD zu entlasten und pflegerische Aufgaben (z. B. einen Blasenkatheterwechsel) gezielt zu übernehmen. Auch die palliative Betreuung durch spezialisierte Palliativ-Care-Teams wird über die ILS koordiniert. So können Patientinnen und Patienten im finalen Krankheitsstadium auf Wunsch in ihrem heimischen Umfeld verbleiben, anstatt ungewollt in ein Krankenhaus transportiert zu werden.
Ein Beispiel für diesen weitgehenden Aufgabenausbau der Leitstellen findet sich in Österreich. Dort wurde eine telefonbasierte Erstberatungseinrichtung durch diplomierte Gesundheits- und Krankenpflegekräfte in der Landesleitstelle der Feuerwehr und des Rettungsdienstes im Land Vorarlberg (ca. 400.000 Einwohner) angesiedelt. Ziel ist sowohl die Steuerung in geeignete VersorgungsstrukturenFootnote 10 als auch die direkte Beratung. Seit 2020 wird auch der ärztliche Bereitschaftsdienst durch die Leitstelle disponiert. Die Einbindung der verschiedenen Aufgaben erfolgt unter verschiedenen Rufnummern, die Bearbeitung geschieht jedoch in einer gemeinsamen Leitstelle. In der Gesundheitsberatung kann etwa einem Viertel der Anrufer rein telefonisch durch eine Beratung geholfen werden. Ansonsten werden unterschiedliche Dringlichkeitsstufen vom Notfall bis zur Routinebehandlung festgelegt oder konkrete nicht-ärztliche Versorgungspunkte benannt (Marxgut 2020).
Damit auch die ILS in Deutschland diese Aufgabenvielfalt erledigen können, sind gewisse Voraussetzungen zu schaffen. So ist ein flächendeckender Ausbau der digitalen Infrastruktur zwingend notwendig. Bisher verfügen die Leitstellen nicht durchgängig über aktuelle Informationen zu den Strukturen und Kapazitäten der Krankenhäuser bzw. Notaufnahmen. Um gezielt Versorgungspfade auszuwählen, müssen diese Informationen für alle an der Notfallversorgung Beteiligten erhoben werden und digital zugänglich sein. Auch eine einrichtungs- und sektorenübergreifende elektronische Patientenakte wäre für das Gelingen des Konzepts äußerst hilfreich, denn reibungslose Versorgung benötigt reibungslosen Informationsaustausch.
Mittelfristig ist außerdem eine stärkere horizontale Integration der Rettungsdienstbereiche und damit auch der Leitstellen anzustreben. Die bisherige oftmals kleinteilige Organisation bietet aus organisatorischer und ökonomischer Sicht Verbesserungsmöglichkeiten. Dabei geht es nicht darum, regionale Strukturen abzuschaffen und durch zentrale Lösungen zu ersetzen, sondern Organisationseinheiten so zu skalieren, dass die verfügbaren Ressourcen für eine bedarfsgerechte Versorgung optimal eingesetzt werden können.
Schließlich ist eine wissenschaftliche Evaluation der ILS, die das konkrete Nutzungsverhalten der Patientinnen und Patienten, die sich ergebenden Steuerungseffekte und nach Möglichkeit auch die gesundheitlichen Outcomes untersucht, dringend anzuraten.
3.3.2 Integrierte Notfallzentren
Ausgehend von den Integrierten Leitstellen sind die neu zu schaffenden Integrierten Notfallzentren (INZ) die zentralen Anlaufstellen für die Versorgung von Notfällen. Sie integrieren die ambulanten und stationären Behandlungskapazitäten und bieten eine interdisziplinäre und sektorenübergreifende Versorgung „aus einer Hand“. Dazu werden ärztliche Bereitschaftspraxen und Notaufnahmen funktionell in eine gemeinsame Organisationseinheit am Standort einer Klinik integriert und deren Verfügbarkeit rund um die Uhr gewährleistet. Die INZ binden so die häufig isoliert agierenden Portalpraxen in ein gemeinsames Behandlungskonzept mit den Notaufnahmen ein. Die örtliche Zusammenführung in Verbindung mit einer rein medizinisch bedingten Versorgungssteuerung erscheint insbesondere sinnvoll, da ein hohes Substitutionspotenzial zwischen Leistungen des ÄBD und der ambulanten Versorgung in Notaufnahmen besteht, das infolge der bisher fehlenden Steuerung auch praktisch genutzt wird (Krämer und Schreyögg 2019).
Um für alle Patientinnen und Patienten die Dringlichkeit sowie die geeignete Versorgungsstruktur zu bestimmen, ist der weiteren Versorgung eine zentrale Anlaufstelle („ein gemeinsamer Tresen“) vorgeschaltet. Dort werden alle gehfähigen sowie die vom Rettungsdienst nicht als kritisch eingeschätzten Patientinnen und Patienten (ggf. erneut) auf Basis eines gemeinsamen bzw. zu den ILS voll kompatiblem Systems ersteingeschätzt (siehe Abschn. 3.3.1). Ziel ist eine strukturierte und konsistente Entscheidung über das benötigte Versorgungssetting.
Abhängig von Dringlichkeit und Bedarf kann dies die direkte Weiterleitung zur zentralen Notaufnahme im INZ mit einer ggf. stationären Weiterbehandlung oder die ambulante Behandlung durch den vor Ort integrierten ÄBD sein. Wird im Verlauf der Behandlung ein von der Ersteinschätzung abweichender Behandlungsbedarf festgestellt, können die Versorgungspfade „auf kurzem Dienstweg“ innerhalb des INZ angepasst werden. Fehlt die medizinische Dringlichkeit, kann die Ersteinschätzung auch einen Verweis auf die Untersuchung und Behandlung bei niedergelassenen Ärztinnen und Ärzten zur Folge haben. Im Zusammenhang mit einer direkten Terminvergabe ist die Behandlungssicherheit dennoch gewährleistet. Diese Möglichkeit erscheint notwendig, damit das INZ ausschließlich der Notfallversorgung dient und nicht als attraktives Zentrum einer schnellen und gut ausgestatteten Regelversorgung unnötige Inanspruchnahme induziert (Cooper et al. 2019).
Die Ersteinschätzung sollte im Idealfall durch breit qualifizierte Fachärzte (für Allgemeinmedizin) vorgenommen werden. Es gibt Hinweise dafür, dass die Einschätzung durch erfahrene Ärzte Wartezeiten und Wiedervorstellungen, stationäre Aufnahmeraten sowie Sterberaten verringern kann (Abdulwahid et al. 2016; Benabbas et al. 2020; Morley et al. 2018). Da die Einschätzung von ärztlichem und nicht-ärztlichem medizinischen Personal meist jedoch gut übereinstimmt (Pishbin et al. 2019), kann alternativ auch speziell geschultes Pflegepersonal diese Aufgabe übernehmen, sofern bei Bedarf ärztliche Expertise unmittelbar verfügbar ist. Wichtig ist, dass die Einschätzung weisungsunabhängig, rein auf Basis medizinischer Kriterien erfolgt.
Die interdisziplinäre und -professionelle Behandlung in den INZ setzt voraus, dass ärztliches Personal unterschiedlicher Facharztrichtungen und eine adäquate Ausstattung mit Pflegepersonal, wie sie auch für Notaufnahmen gefordert wird, verfügbar ist (Behringer et al. 2019). Neben unfallchirurgischen und internistischen Ärztinnen und Ärzte sind breit qualifizierte Generalisten wie Fachärzte für Allgemeinmedizin – möglichst mit notfallmedizinischer Erfahrung – Basis der Personalausstattung. Eine solch breite Besetzung erlaubt es, unterschiedlichen patientenseitigen Anforderungen gerecht zu werden. Dringliche, aber ambulant behandelbare Patienten können mit geringem Diagnostikeinsatz versorgt werden, während die Behandlung komplexer und ggf. lebensbedrohlicher Fälle gewährleistet ist.
Die Rekrutierung von Personal, gerade in den Randzeiten, stellt viele Länder vor eine Herausforderung (Berchet und Nader 2016) und wird für die Schaffung dieser neuen Versorgungsstrukturen einen kritischen Erfolgsfaktor darstellen. Durch die Abschaffung von Doppelstrukturen und die Vermeidung nicht notwendiger organisatorischer Aufgaben kann jedoch bei ähnlichem Ressourceneinsatz eine höhere Qualität der Versorgung erzielt werden. Die hohe Attraktivität der neuen Arbeitsstrukturen kann ebenfalls zum Gelingen beitragen.
Analog zum Konzept in der stationären Notfallversorgung ist dazu eine gestufte Definition durch den G-BA mit personellen, infrastrukturellen und technischen Anforderungen zu beschließen. So können an einem Teil der INZ spezialisierte kinder- und jugendärztliche oder augenärztliche Behandlungskapazitäten vorgehalten werden und Zugriff auf einen psychiatrischen Kriseninterventionsdienst bestehen. Weitere Anforderungen sollten z. B. eine 24-stündige CT/MRT-Bereitschaft und Rückgriffmöglichkeiten auf spezialisierte Fachärzte der Kliniken (z. B. Radiologen oder Neurologen) umfassen. Höhere Stufen könnten die Verbindung mit im gleichen Haus bestehenden stationären Notfallkapazitäten, z. B. Chest Pain oder Stroke Units, voraussetzen. Zu den Anforderungen gehört auch, dass die stationäre Aufnahme von Patienten jederzeit sichergestellt ist; entweder durch eigene Bettenkapazitäten oder durch Kooperationsverträge mit anderen Krankenhäusern. Um unnötige stationäre Aufnahmen zu vermeiden und eine bestmögliche Abklärung im INZ zu erreichen, sind außerdem Kurzliegerstationen sinnvoll, in denen Patientinnen und Patienten ohne weitere Verlegung in die Klinik über Nacht überwacht werden können. So kann von der Basisnotfallversorgung bis hin zur Behandlung in spezialisierten Zentren mit besonderen Kapazitäten eine umfassende Versorgung auch in ländlichen Regionen gewährleistet werden.
Die Verantwortung für die INZ obliegt KV und Krankenhaus gemeinsam. Dabei sind verschiedene Ausgestaltungen mit unterschiedlicher Integrationstiefe – abhängig von den regionalen Strukturen – denkbar. Eine wünschenswerte Möglichkeit wäre die weitreichende organisatorische Integration, bei der die Leistungserbringung direkt durch das INZ mit eigenen Ressourcen und beim INZ angestellten Personal erfolgt. Ziel einer solchen Umsetzung ist, ein Vorbild für die sektorenübergreifende Versorgungssteuerung und Vergütung zu schaffen (siehe den Beitrag von Messerle und Schreyögg, Kap. 11 im gleichen Band). Denkbar sind jedoch auch Modelle mit geringerem Integrationsgrad. „Virtuelle INZ“ können die Leistungen des ÄBD und der zentralen Notaufnahme einkaufen und die benötigten Ressourcen vertraglich sicherstellen. Operationelles Kerngeschäft des INZ ist dann einzig der zentrale Tresen. Wesentliche Voraussetzung ist jedoch auch dann eine sektorenübergreifend einheitliche digitale Infrastruktur und der reibungslose Austausch digitaler Patientendaten. Nur unter dieser Bedingung kann die variable Inkorporation bereits bestehender Modelle und die Adaption an regionale Gegebenheiten flexibel gelingen.
Entsprechend dem Vorbildcharakter der neu strukturierten Notfallversorgung muss die bisher fragmentierte Planungszuständigkeit vereinheitlicht werden und die Kapazitäts- und Standortplanung sektorenübergreifend aus einer Hand erfolgen. Die Gesamtplanung wird auf Landesebene verortet, aber unter Beachtung zentraler Vorgaben und mit Blick auf überregionale Koordination und Kooperation.
Die eigentliche Auswahl der Standorte und Vorgabe der benötigten Kapazitäten sollten gesetzlich weiterentwickelte Landesgremien nach § 90a SGB V (mit entsprechender personeller Unterstützung) vornehmen. Die Länder würden die Rolle der Rechtsaufsicht wahrnehmen und im Falle der Nichteinigung Ersatzvornahmen beschließen können. Die Kriterien für die Standort- und Stufenwahl müssen auf den vom G-BA beschlossenen Anforderungen basieren und u. a. Fallzahl, Strukturqualität und räumliche Abdeckung berücksichtigen. Es ist davon auszugehen, dass sowohl bei Maximalversorgern als auch bei ländlichen Krankenhäusern mit Sicherstellungszuschlag aufgrund der besonderen Strukturqualität bzw. der besonderen regionalen Bedeutung ein INZ errichtet würde. Für die Auswahl der Standorte ist aber ein transparentes und nachvollziehbares Verfahren durch den G-BA festzulegen, das durch die regionale Selbstverwaltung auf den lokalen Kontext angewendet wird. Eine denkbare Lösung ist auch, anstelle einer konkreten Standortplanung Kriterien für eine Ausschreibung zu definieren.
Krankenhäuser, an denen die abschließende Planung kein INZ vorsieht, nehmen nicht weiter an der Notfallversorgung teil. Dies erscheint auch infolge der unter Qualitäts- und Effizienzgesichtspunkten gebotenen Konzentration der Versorgung notwendig. Das de facto bereits heute konzentrierte Versorgungsgeschehen (zwei Drittel der Krankenhäuser erbringen 95 % der stationären Notfallversorgung; G-BA 2018), die im internationalen Vergleich geringe durchschnittliche Auslastung der Notaufnahmen (von Stillfried et al. 2017) und die – rein rechnerisch – geringe Anzahl der zur Abdeckung des Versorgungsbedarfs benötigten Notfallzentren (Augurzky et al. 2019) sprechen für eine weitergehende Konzentration. Dies bedeutet im Gegenzug jedoch, dass den verantwortlichen Planungsgremien die Schließung von Notfallstandorten anvertraut werden muss. Da voraussichtlich vor allem Krankenhäuser in urbanen Verdichtungsräumen aus der Notfallversorgung ausscheiden würden, erscheint die Sorge vor fehlenden Kapazitäten, z. B. im Falle von Großschadensereignissen (vgl. Wurmb und Kowalzik 2019), unbegründet. Außerdem können ausscheidende Krankenhäuser durch Vereinbarungen, z. B. hinsichtlich der zielgerichteten Verlegung stationärer Patienten, in ein übergreifendes Versorgungsnetz eingebunden werden. Entsprechende Wettbewerbsauswirkungen müssen dabei evaluiert werden.
Insgesamt ist zu erwarten, dass die Versorgungslandschaft der Notaufnahmen mittelfristig in die Strukturen der INZ migriert. Die hohen Qualitätsanforderungen und die finanzielle Aufwertung der Notfallversorgung (siehe unten) werden sicherstellen, dass ein höheres Qualitätsniveau als in der heutigen Situation erreicht werden kann. Die knappen Ressourcen, insbesondere im Bereich des qualifizierten Personals, werden konzentriert für eine hochwertige Notfallversorgung herangezogen.
Die Vergütung der INZ folgt als sektorenübergreifende Finanzierung den neu geschaffenen integrierten Strukturen. Leitgedanke ist, Transparenz über die Vergütung der Notfallversorgung herzustellen und Vergütungsanreize für eine optimale Patientenversorgung zu setzen. Das INZ wird hierfür als eigenständige wirtschaftliche Einheit etabliert. Die Vergütung setzt sich aus einer pauschalen Grundfinanzierung der Vorhaltekosten und einer Vergütung pro Fall zusammen. Die Höhe der Grundpauschale orientiert sich an der Stufen-Einordnung des INZ. Wie für den stationären Bereich zunehmend gefordert (Milstein und Schreyögg 2020), wird über eine solide Grundfinanzierung die Entkoppelung der Sicherstellung von den Fallzahlen erreicht und Mengenanreize oder Querfinanzierungen werden verhindert. Hierzu ist durch den G-BA eine angemessene Vorhaltepauschale in Abhängigkeit von der Versorgungstufe und ggf. geografischer Faktoren zu bestimmen. Die fallweise Vergütung erfolgt unabhängig von der Behandlungskomplexität. Lediglich die Beobachtung über Nacht wird durch einen Zuschlag separat finanziert. Ansonsten erhält das INZ unabhängig vom letztendlichen Ort der Behandlung – Bereitschaftsdienst oder Notaufnahme – eine Fallpauschale zur Deckung der Grenzkosten. Auch die Fallpauschalen sind vom G-BA festzulegen und könnten an das regionale Preisniveau angepasst werden.
Die eigentliche Kalkulation der Vergütung wird eher DRG- als EBM-ähnlich sein und sollte gemeinsam durch InBA und InEK erfolgen. Die Vorhaltepauschale wird auf die Krankenkassen nach (ggf. demographisch gewichtetem) Versichertenanteil aufgeteilt, die Fallpauschale direkt vom INZ mit der betroffenen Krankenkasse abgerechnet. Diese extrabudgetäre Vergütung wird durch eine Bereinigung der morbiditätsbedingten Gesamtvergütung sowie die sich aus der Versorgungsverlagerung ergebende Senkung der Klinikbudgets (z. B. durch den Wegfall pseudostationärer Fälle/Stundenfälle) refinanziert. Die Kritik an der Schaffung eines sogenannten „dritten Sektors“ mit eigenen Abrechnungsregeln und Strukturen (Korzilius 2019) geht insofern ins Leere, als dass nach diesem Verständnis wohl schon deutlich über zehn Sektoren existieren (vgl. die Liste der Regelungskreise in Leber und Wasem 2016). Doch eine gesonderte Vergütungsregel für gemeinsame Strukturen begründet keinen neuen Versorgungssektor. Jeglicher Fortschritt für eine am Patientenbedarf ausgerichtete sektorenübergreifende Versorgung und Vergütung (siehe auch Kap. 11, 12 und 13 in diesem Band) könnte andernfalls mit der interessengeleiteten Befürchtung eines „dritten Sektors“ negiert werden.
3.3.3 Rettungsdienst
Der Rettungsdienst stellt die dritte Säule der Notfallversorgung dar, wird jedoch bisher in der Sozialgesetzgebung als reine Transportleistung betrachtet. Hier sollte der Entwicklung der präklinischen Notfallmedizin Rechnung getragen und der Rettungseinsatz selbst als medizinische Leistung definiert werden. Dadurch würde der Fehlanreiz beseitigt, der durch die Verknüpfung der Fahrtkosten mit weiteren Leistungen besteht. Dies kann die anderen Bereiche der Notfallversorgung entlasten.
Durch die vorgestellten Reformen wird sich das Behandlungsspektrum des Rettungsdienstes stark verändern. Die Aufwertung der Leitstellen und der Zugriff auf zusätzliche Versorgungspfade wie die Hausbesuche des ÄBD, aber auch die individuelle telefonische Beratung führen dazu, dass sich die Versorgung im Rettungsdienst stärker auf lebensbedrohliche Situationen konzentrieren wird. Dies könnte neben der Entlastung auch zu einer wieder steigenden Attraktivität des Berufsbildes beitragen.
Dem Rettungsdienst wird außerdem zukünftig eine größere steuernde Rolle in der Versorgung zukommen. Stellt er vor Ort fest, dass entgegen der initialen Einschätzung der ILS kein Bedarf für die Versorgung im INZ oder im Krankenhaus vorliegt, kann der Rettungsdienst andere ihm angemessen erscheinende Ressourcen nachfordern. Als Option sollten auch der Transport des Patienten zu geeigneten ambulanten Partnerpraxen, die freiwillig verfügbare Notfallslots an die (elektronischen) Ressourcennachweissysteme melden, oder die ambulante Versorgung vor Ort in Frage kommen.
In diesem Zusammenhang sollten auch die Kompetenzen der Notfallsanitäter definiert und harmonisiert werden, damit sich die Befugnisse nicht von Kreis zu Kreis zum Teil erheblich unterscheiden und diesem neuen Berufsbild eine klare Versorgungsrolle zugewiesen wird. Auch die telemedizinische Zusammenarbeit mit fachärztlichem Personal sollte deutlich ausgebaut werden. So ist es möglich, Tätigkeiten – wie etwa die Medikamentengabe – unter Supervision an die Notfallsanitäter am Einsatzort zu delegieren und rechtlich abzusichern. Teilnehmer an einem Telenotarztmodell in Aachen stellten u. a. eine leitlinienkonformere Versorgung und die Erhöhung der Diagnosesicherheit fest (Schneiders et al. 2012). Weitere Studien legen nahe, dass der Telenotarzt die notärztlichen Kapazitäten entlasten und insbesondere für den ländlichen Raum eine vielversprechende Ergänzung in der präklinischen Notfallversorgung darstellen könnte (Süss et al. 2020).
Kernkompetenz des Rettungsdienstes ist die effektive und zeitkritische Versorgung in lebensbedrohlichen Situationen sowie der anschließende zeitgerechte Transport in eine geeignete Zielklinik (Bernhard et al. 2017). Hier kann es durch eine Konzentration der Versorgung in manchen Fällen zu längeren Zeitintervallen bis zur klinischen Versorgung kommen. Es existiert jedoch gute Evidenz dafür, dass auch bei längeren Transportwegen die Versorgung in besonders geeigneten Kliniken vorzuziehen ist (Ibanez et al. 2018). Dies kann – neben der für bestimmte Behandlungen benötigten speziellen Infrastruktur – darauf zurückzuführen sein, dass höhere Fallzahlen und die damit einhergehende Erfahrung eine besonders schnelle und sichere Durchführung erlauben (Nimptsch und Mansky 2017). Dementsprechend sehen notfallmedizinische Leitlinien den Transport in ein geeignetes Krankenhaus, nicht in das örtlich nächste, vor (Fischer et al. 2016). Die Feststellung der geeigneten Versorgungsstrategie und die darauf basierende Auswahl der Zielklinik bedarf einer hohen notärztlichen Kompetenz (Bernhard et al. 2017). Auch vor diesem Hintergrund ist eine stärkere telemedizinische Zusammenarbeit zu begrüßen.
Die Auswahl geeigneter Versorgungstrukturen ist nur möglich, wenn Informationen zu den Versorgungsmöglichkeiten und -kapazitäten stets aktuell zur Verfügung stehen. Hier ist analog zu den ILS ein flächendeckender Ausbau der digitalen Infrastruktur, z. B. durch Systeme wie IVENA, zu fördern. In dieser müssen nicht nur die Daten zu verfügbaren Krankenhäusern, sondern auch zu anderen Leistungserbringern abgebildet sein. Andernfalls ist weder die Anfahrt von Partnerpraxen noch die Nachforderung von Behandlungsressourcen umsetzbar. Außerdem ist der digitale und standardisierte Austausch von Einsatz- und Patientendaten notwendig, um reibungslose Behandlungsübergänge zu gewährleisten. Die digitale Infrastruktur stellt also auch hier einen wichtigen Baustein der zukünftigen Notfallversorgung dar.
Schließlich sollte die Organisation und Finanzierung des Rettungsdienstes überarbeitet werden. Analog zur Krankenhausfinanzierung sind die Vorhaltekosten des Rettungsdienstes im Rahmen der Daseinsvorsorge des Staates aus Steuermitteln zu finanzieren. Nur die Betriebskosten sollten von den Krankenkassen vergütet werden. Um den schleichenden Rückzug der Länder aus der finanziellen Verantwortung – ähnlich der Situation in der Krankenhausfinanzierung – zu verhindern, ist eine Rahmenregelung zur Finanzierung auf Bundesebene vorzuschreiben. Einzelheiten der Finanzierung sollten jedoch auf Landesebene geregelt werden, um weiterhin die Vereinbarung von Gesamtleistungsbudgets wie z. B. in Baden-Württemberg zu ermöglichen, welche die Kosten der Notfallversorgung insgesamt reduzieren können.
3.3.4 Patientenpfade
Die folgenden Einschätzungen stellen eine subjektive Zusammenstellung auf Basis verschiedener Quellen und Annahmen dar und sind angesichts der Komplexität der Veränderungen nur als grobe Orientierungswerte zu verstehen. Basierend auf dem vorgestellten Konzept könnte sich der Prozess der Notfallversorgung nach Kontaktierung der ILS ungefähr wie in Abb. 3.4 darstellen.
Im Falle einer lebensbedrohlichen Situation rückt der (notarztbesetzte) Rettungsdienst aus. Trotz systematischer und strukturierter Ersteinschätzung wird ein kleiner Anteil der Patienten, voraussichtlich unter 10 %Footnote 11, keinen Transport durch den Rettungsdienst benötigen, sondern kann abschließend vor Ort versorgt werden. Transportierte Patienten werden aufgrund der hohen Dringlichkeit in der Regel direkt in die stationäre Versorgung überstellt. In bestimmten Fällen kann aber auch eine ambulante Behandlung bzw. zunächst eine erneute Einschätzung im INZ oder der Transport in eine Partnerpraxis ausreichend sein. Aktuell wird etwa ein Drittel der mit dem Rettungsdienst kommenden Patienten in Notaufnahmen ambulant behandelt (basierend auf Zahlen für München; Trentzsch et al. 2019). Durch eine verbesserte Ersteinschätzung und Steuerung sowie die Änderung finanzieller Anreize im Rettungsdienst sollte dieser Anteil aber sinken.
Bei den höchstens als dringlich eingeschätzten Fällen zeigen Erfahrungen (Marxgut 2020) und Studien (Boggan et al. 2020), dass ein Viertel bis ein Drittel der Patienten telefonisch abschließend versorgt werden können; Verweise auf andere Versorgungsebenen (z. B. Apotheker) und die Disposition spezieller Hilfsangebote (z. B. Notfallpflege) ergänzen dieses Angebot. Für etwa ein Fünftel kann ein (ggf. kurzfristig) vereinbarter Termin in einer Praxis ausreichend sein (ebenfalls Marxgut 2020). Dementsprechend benötigt voraussichtlich höchstens die Hälfte der Fälle einen Termin für die akute ärztliche Versorgung in einem INZ, wo sie eine Versorgung aus einer Hand erhalten – unabhängig davon, ob letztlich ambulant oder stationär behandelt wird.