Auch wenn viele Länder ähnliche Ziele hinsichtlich einer verbesserten Koordination und Kommunikation an den Schnittstellen zwischen den Sektoren und Versorgungsebenen verfolgen, sind die strukturellen Ausgangspositionen sehr verschieden. Jedes Land hat aufgrund der historischen Entstehung und kontextueller Faktoren eine andere Organisation der Zuständigkeiten und andere Strukturen und Funktionen der Leistungserbringung im Gesundheitssystem. Damit unterscheidet sich auch, wie sich Patientinnen und Patienten in dem jeweiligen Gesundheitssystem bewegen und mit Gesundheitsanbietern interagieren, d. h. wo und von wem sie welche Leistung erhalten. Anhand von Länderbeispielen aus den Niederlanden, Norwegen und Finnland soll in diesem Abschnitt aufgezeigt werden, wie Prozesse in den Bereichen der intersektoralen Organisation, Kommunikation und Arbeitsabläufe an den Schnittstellen zwischen ambulanten und stationären Leistungserbringern gestaltet sind. Mit Hilfe von detailliert dargestellten Patientenpfaden aus Finnland und den Niederlanden wird exemplarisch dargestellt, wie unterschiedlich Versorgungsketten in verschiedenen europäischen Ländern aufgebaut sind.
Niederlande
Die Primärversorgung in den Niederlanden umfasst eine Vielzahl von Leistungserbringern, darunter Hausärzte, Physiotherapeuten, Apotheker, Psychologen und Hebammen. Hausärzte spielen eine zentrale Rolle in der Primärversorgung und im Gesundheitssystem im Allgemeinen, da sie als „Gatekeeper“ fungieren. In Kasten 1 wird der Patientenpfad innerhalb der Primärversorgung exemplarisch für einen multimorbiden Patienten detailliert beschrieben. Alle Bürgerinnen und Bürger sind bei einem Hausarzt eingeschrieben, der in Wohnortnähe tätig ist. Eingeschriebene Patienten haben so die Möglichkeit, außerhalb der regulären Öffnungszeiten des Hausarztes das Notfallangebot in Anspruch zu nehmen. Fast alle Hausärzte (82 %) arbeiteten 2016 in kleinen Praxen von zwei bis sieben Ärzten; nur 18 % arbeiteten in Einzelpraxen (Wammes et al. 2020; Kroneman et al. 2016).
Die Sekundärversorgung umfasst jene Versorgungsformen, die nur auf Überweisung eines Primärversorgers zugänglich sind. Diese Formen der Versorgung werden hauptsächlich von Krankenhäusern und psychiatrischen Einrichtungen erbracht, denn Fachärzte sind zu einem Großteil in Krankenhäusern tätig. Krankenhäuser verfügen sowohl über stationäre und ambulante Abteilungen als auch über 24-Stunden-Notfallstationen. Ambulante Abteilungen werden auch für die Diagnose vor oder nach einem Krankenhausaufenthalt genutzt. Innerhalb der Krankenhäuser sind etwa 60 % der Fachärzte selbstständig. In einigen wenigen Krankenhäusern, insbesondere in Universitätskliniken, sind alle Fachärzte im Krankenhaus angestellt. Darüber hinaus sind alle Kinderärzte in Krankenhäusern im Angestelltenverhältnis tätig (Kroneman et al. 2016). Abb. 1.3 beinhaltet eine schematische Darstellung der ambulant-fachärztlichen Versorgung im Krankhaus in den Niederlanden.
Bei der Organisation der Notfallversorgung findet eine verstärkte Koordination zwischen ambulanter und stationärer Versorgung statt. Denn hier nehmen ambulant tätige Hausärzte die entscheidende Triage-Funktion in Krankenhäusern ein und steuern damit den Fluss der Patienten, die entweder stationär oder ambulant behandelt werden (Nagel et al. 2017; Kroneman et al. 2016; OECD/European Observatory on Health Systems and Policies 2019c).
Kasten 1 – Patientenpfad eines multimorbiden Patienten in den Niederlanden
Die Verantwortung für die Koordination der Versorgung eines multimorbiden Patienten liegt in den Niederlanden beim Hausarzt. Wenn jedoch der größte Teil der Behandlungen durch einen Facharzt erfolgt, wird die Koordination von diesem übernommen. Je nach Komplexität der Erkrankungen sind andere Leistungserbringer der Primär- und/oder Sekundärversorgung an der Versorgung beteiligt (z. B. Gemeindepflegekraft, Physiotherapeut, Ergotherapeut, Facharzt). In der Regel ist eine Krankenpflegekraft aus der Primärversorgung ebenfalls an der Versorgung beteiligt.
Der Hausarzt übernimmt regelmäßige Untersuchungen (Überprüfung der Medikation gemeinsam mit dem Apotheker) zur Überwachung des Gesundheitszustandes, zur Behandlung und zur gemeinsamen Vereinbarung individueller Behandlungspläne, die zunehmend Verwendung finden. Diese Behandlungspläne, die Prioritäten bei der Behandlung, Zielvorgaben und Selbstmanagementaktivitäten beinhalten, werden regelmäßig mit dem Patienten besprochen und aktualisiert. Damit werden sich die Behandlungs- und Versorgungsziele im Verlauf der Erkrankung und je nach Auftreten von Komplikationen, Prognose und Lebenserwartung immer wieder verändern.
Leidet der Patient unter einer der folgenden chronischen Erkrankungen, wird eine nationale Versorgungsleitlinie angewendet: Diabetes mellitus, COPD oder Herz-Kreislauf-Erkrankung. Ein Case Manager wird hinzugezogen, wenn die Koordination zu komplex wird, da beispielsweise zu viele Leistungserbringer beteiligt sind, Widersprüche in den Behandlungsplänen entstehen oder die Resilienz des Patienten nicht ausreichend ist. Der Case-Manager ist in der Regel eine Krankenpflegekraft der primären Gesundheitsversorgung, deren Aufgabe es primär ist, den Patienten sowie pflegende Angehörige beim Versorgungsmanagement zu unterstützen und anzuleiten. (Quelle: Kroneman et al. 2016)
Norwegen
In Norwegen sind die Kommunen für die Primärversorgung verantwortlich. Sie können frei entscheiden, wie die Versorgung organisiert werden soll; dazu gehört auch, ob sie Hausärzte als öffentliche Angestellte einstellen oder Verträge mit privaten Ärzten abschließen. Die meisten Hausärzte sind selbstständig, arbeiten in hausärztlichen Gemeinschaftspraxen und im Auftrag der Kommunen. Eine typische Praxis besteht normalerweise aus zwei bis sechs Ärzten und Hilfskräften. Jeder Norweger ist angehalten, sich fest bei einem Hausarzt einzuschreiben, der auch als „Gatekeeper“ fungiert. Sollte der Hausarzt im akuten Krankheitsfall keinen freien Termin haben oder außerhalb der Sprechzeiten nicht zugänglich sein, stehen in allen großen und mittelgroßen Städten und Orten rund um die Uhr Ambulanzzentren (sog. Legevakt) zur Verfügung.
Eine ambulante fachärztliche Versorgung wird normalerweise in ambulanten Krankenhausabteilungen angeboten, die als Polikliniken bezeichnet werden, sowie durch selbständige, privat praktizierende Fachärzte (z. B. Geburtshelfer, Fachärzte für Innere Medizin), die im Rahmen einer vertraglichen Vereinbarung mit den nationalen Gesundheitsbehörden meist in ihren eigenen Praxen arbeiten. Auf letztere entfallen etwa 25 % aller ambulanten Fachkonsultationen. In den ländlichen und entlegeneren Teilen des Landes erfolgt die Versorgung in kommunalen Krankenhäusern. Sie bieten Leistungen an, die nicht am Wohnort des Patienten in Anspruch genommen werden können, aber keine Krankenhauseinweisung sowie eine Nachsorge nach dem Krankenhausaufenthalt erfordern, und entscheiden, ob ein Krankenhausaufenthalt in einem Akutkrankenhaus erforderlich ist. Diese Einrichtungen sind häufig zusammen mit anderen kommunalen Gesundheitsdiensten untergebracht. Eine Reihe von Behandlungen werden in Norwegen heute nur noch vorwiegend in Form ambulanter Tagespflege angeboten, darunter somatische Behandlungen (z. B. Operationen), psychiatrische Betreuung (z. B. Behandlung von Essstörungen) und Behandlung von Drogen- und Alkoholabhängigkeit. Abb. 1.3 beinhaltet eine schematische Darstellung der ambulant-fachärztlichen Versorgung im Krankenhaus in Norwegen.
Sekundäre Rehabilitationsleistungen werden in Krankenhäusern, in speziellen Rehabilitationsabteilungen oder in anderen Einheiten wie Rheumatologie- oder Neurologieabteilungen erbracht (Sperre Saunes et al. 2020a).
Finnland
Patienten in Finnland, die keinen medizinischen Notfall darstellen, wenden sich in der Regel an die Gesundheitszentren ihrer Gemeinde, die die Grundversorgung der Bevölkerung mit präventiven und kurativen Leistungen und Vorsorgeleistungen sicherstellt. Gesundheitszentren bezeichnen vorwiegend Hausarztpraxen, in denen auch Internisten, Kinderärzte, Krankenschwestern und Krankenpflegespezialisten (sog. Public Health Nurses und zum Teil auf chronisch Kranke spezialisiertes Pflegepersonal) beschäftigt sind. Niedergelassene Ärzte in eigenen Praxen existieren in Finnland dagegen nicht. Die landesweit etwa 150 Gesundheitszentren sind entweder im Besitz einer oder mehrerer Gemeinden (Ministry of Social Affairs and Health 2020). Die Leistungserbringung von Gesundheitszentren kann an verschiedenen Orten stattfinden: entweder in Gesundheitszentren selbst, in einer Klinik oder zunehmend auch dezentral, also am Wohnort des Patienten. Die Leistungen eines Gesundheitszentrums erstrecken sich auf ambulante und stationäre Versorgung: (1) ambulante Versorgung sowohl für akut als auch chronisch Kranke; (2) Präventionsdienste einschließlich Schwangerschaftsvorsorge und Kinderkliniken; (3) häusliche Pflege für ältere Patienten oder für ausgewählte Gruppen chronisch Kranker; (4) zahnmedizinische Versorgung; (5) Rehabilitation in verschiedenen Formen; (6) psychiatrische Dienste und Drogenmissbrauchsdienste. Gesundheitszentren verfügen in der Regel über einen Bestand an Medikamenten für den Eigenbedarf. Je nach Gemeinde können in Gesundheitszentren andere Dienstleistungen wie Physiotherapie, Psychotherapie, Logo- und Sprachtherapie, Ergotherapie und medizinische Fachberatung angeboten werden. Größere Gesundheitszentren sind in der Regel gut mit Personal und medizinischer Technologie ausgestattet. Sie haben routinemäßigen Zugang zu anderen Fachärzten, zum Beispiel zur Interpretation radiologischer Untersuchungen. Ein Austausch erfolgt hier häufig über sog. Remote-Dienste, da die Digitalisierung in Finnland eine zentrale Rolle spielt. Zusätzlich verfügen sie über radiologische Einrichtungen, Laboratorien für Probenentnahmen, andere Diagnosegeräte (z. B. für die Durchführung von Elektrokardiogramm- und Ultraschalluntersuchungen) und Einrichtungen für kleinere chirurgische und endoskopische Untersuchungen (Keskimäki et al. 2019).
Stationäre Abteilungen in Gesundheitszentren sind ein besonderes Merkmal der finnischen Grundversorgung (s. Abb. 1.4). Im Jahr 2015 gab es 226 dieser stationären Krankenstationen, die mit Krankenschwestern besetzt waren und von einem Hausarzt, Beleghausarzt oder Facharzt für Geriatrie geleitet wurden. Auf diese Einheiten entfallen etwa 20–25 % aller akutstationären Aufnahmen. Eine typische stationäre Einrichtung eines Gesundheitszentrums verfügt über 30 bis 60 Betten. In größeren Städten wie Helsinki sind sie jedoch noch größer und schließen medizinische Fachkräfte in das feste Mitarbeiterteam ein. Diese Stationen werden seit langem zur Langzeitbehandlung älterer Patienten mit chronischen Krankheiten eingesetzt. Während des letzten Jahrzehnts haben diese von Hausärzten geführten Einrichtungen aufgrund der Zentralisierung der Facharztversorgung und der veränderten Betreuung älterer Patienten eine aktivere Rolle übernommen, z. B. im Bereich der Rehabilitation und in einigen Teilen der Facharztversorgung (z. B. Krebsbehandlung). Gegenwärtig werden diese Stationen häufig zu gleichen Teilen für die Akut- und die chronische Versorgung genutzt, wobei einige Betten für Patienten reserviert sind, die an Demenz leiden oder anderweitig zeitweise betreut werden müssen. Alle Gesundheitszentren verfügen ebenfalls über eine Notfallambulanz während der Öffnungszeiten, deren Besetzung durch Hausärzte oder Krankenschwestern sichergestellt wird. Seit 2013 wird die Notfallambulanz außerhalb der Sprechstunden durch Kliniken sichergestellt. Die spezialisierte ambulante Versorgung erfolgt hauptsächlich in ambulanten Abteilungen öffentlicher Krankenhäuser oder bei kleineren Behandlungen und – wenn das erforderliche Fachwissen verfügbar ist – in größeren Gesundheitszentren. Die stationäre Versorgung wird größtenteils von Krankenhausbezirken erbracht. Die Rehabilitation im Gesundheitswesen erfolgt je nach Pflegebedarf des Patienten in Krankenhäusern, Gesundheitszentren und Einrichtungen für betreutes Wohnen oder ambulant (Keskimäki et al. 2019; Preusker 2019). Durch die Primärversorgungszentren mit multiprofessioneller Ausrichtung und ihrem umfassenden Leistungsprofil (Gesundheitsförderung, Prävention, Diagnose, Therapie, soziale, rehabilitative, edukative Leistungen) wird eine integrierte Versorgung ermöglicht. Die Beschreibung des Patientenpfades einer Patientin mit elektiver Hüftprothese verdeutlicht ein Bespiel einer Versorgungskette in Finnland (Kasten 2).
Kasten 2 – Patientenpfad einer Patientin mit elektiver Hüftprothese in Finnland
1. Termin Gesundheitszentrum Besteht Bedarf zur Terminvereinbarung, ruft die Patientin direkt ihr zuständiges Team (bestehend aus Krankenschwester und Hausarzt) im Gesundheitszentrum ihrer Wohngemeinde an. Innerhalb von einigen Wochen erhält sie daraufhin einen Termin bei ihrem Hausarzt im Gesundheitszentrum (eine Online-Terminvergabe ist zunehmend möglich). Während des Termins beurteilt der Hausarzt den Gesundheitszustand der Patientin, ordnet ein Röntgenbild der Hüfte, Laboruntersuchungen und ggf. Medikamente und Physiotherapie an.
2. Termin Gesundheitszentrum Im Gesundheitszentrum wird eine mögliche Verschlechterung oder Verbesserung des Gesundheitszustandes geprüft und in einem gemeinsamen Entscheidungsfindungsprozess mit der Patientin ein möglicher operativer Eingriff besprochen. Daraufhin schreibt der Hausarzt eine Überweisung zum Orthopäden, über den einige Gesundheitszentren verfügen. Muss die Patientin ein öffentliches Krankenhaus mit orthopädischen Leistungen aufsuchen, das von dem Krankenhausbezirk betrieben wird, zu dem ihre Wohngemeinde gehört, ist es möglich, dass die Patientin drei Monate oder länger auf ihren Facharzttermin warten muss.
3. Termin beim Facharzt, Operation und Nachsorge Letztlich beurteilt der orthopädische Chirurg, ob eine Operation notwendig ist, nachdem nochmals überprüft wird, ob nicht-chirurgische Maßnahmen wie z. B. Gewichtsabnahme die Symptome nicht bereits gebessert haben. Nach erfolgter Operation und ersten Rehabilitationsmaßnahmen (Physiotherapie) im Krankenhaus wird die Patientin entlassen. Abhängig von den Zuständigkeiten innerhalb der Gemeinde der Patientin überprüft z. B. ein Physiotherapeut ihre Wohnung auf notwendige Anpassungen wie das Entfernen von Stolperfallen und den Einsatz von Hilfsmitteln. Dieser setzt die Therapie nach der Entlassung fort. Andere vom Krankenhaus verordnete ambulante Pflegeleistungen werden von der Gemeinde gegen eine geringe, einkommensabhängige Gebühr erbracht. Der Hausarzt erhält eine Entlassungszusammenfassung vom Krankenhaus und die Erstversorgungsschwester entfernt auf Anweisung des Chirurgen die Fäden und kontrolliert die Wunde. Wahrscheinlich wird ein anschließender Krankenhausbesuch stattfinden, um das Ergebnis des Verfahrens zu überprüfen. (Quelle: Keskimäki et al. 2019)