Zusammenfassung
Erstes Kapitel: Die Rechtsprechung der Unionsgerichte
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1.
Die Unionsgerichte kennen sowohl die Rechtsfigur der Heilung als auch die der Unbeachtlichkeit. Mindestvoraussetzung für die Heilbarkeit eines Beschlusses ist, dass dieser im Zeitpunkt der Heilungshandlung zwar rechtswidrig aber noch wirksam ist. Nichtige Beschlüsse sind damit von vornherein keiner Heilung zugänglich. Die Rechtsprechung definiert die Heilung als die nachträgliche Berichtigung von Verfahrens- oder Formfehlern. Dabei legen die Unionsgerichte dem Heilungsbegriff ein weites Verständnis zugrunde, das sowohl die Heilung nach Entscheidungserlass als auch eine bloße Nachholung unterlassener oder fehlerhaft vorgenommener Verfahrenshandlungen vor Entscheidungserlass umfasst. Aus der Definition geht hervor, dass der Anwendungsbereich der Heilung nur die Verletzung von Verfahrens- und Formfehlern umfasst. Materiell-rechtlicher Verstöße können nicht geheilt werden. Für eine erfolgreiche Heilung erfordern die Gerichte zudem – über die Nachholung der ursprünglich erforderlichen Verfahrenshandlung hinaus – die Herstellung des Zustands, in dem sich der Fehlerbetroffene befunden hätte, wenn der Fehler von Anfang an nicht begangen worden wäre.
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2.
In zeitlicher Hinsicht können bei der Frage der Heilung drei Verfahrensphasen unterschieden werden.
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a)
Die erste Phase ist der Zeitraum vor Abschluss des Verwaltungsverfahrens. Hier ist eine Heilung grundsätzlich möglich. Besondere praktische Relevanz erhält die Heilung, wenn ein zwingendes verwaltungsinternes Überprüfungsverfahren vor Klageerhebung sekundärrechtlich vorgesehen ist, das der Behörde Anlass zur Überprüfung ihres Handelns gibt.
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b)
Die zweite Phase bildet der Zeitraum nach Abschluss des Verwaltungsverfahrens aber vor Klageerhebung. Hier ist eine Heilung grundsätzlich ausgeschlossen. Der Rechtsprechung der Unionsgerichte lässt sich jedoch die Tendenz entnehmen, eine Ausnahme zu diesem Grundsatz für Begründungsmängel zuzulassen.
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c)
Den Beginn der dritten Phase markiert die Klageerhebung. Ab diesem Zeitpunkt ist eine Heilung grundsätzlich ausgeschlossen.
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aa)
In Abkehr von älterer Rechtsprechung verneinen die europäischen Gerichte heute grundsätzlich die Möglichkeit der Heilung von Anhörungs- und Akteneinsichtsmängeln im Laufe des gerichtlichen Verfahrens. Etwaige Ausnahmen in der Rechtsprechung beziehen sich auf bereichsspezifische Sonderfälle und sind nicht verallgemeinerungsfähig.
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bb)
In Bezug auf die Heilung von Begründungsmängeln bleibt es prinzipiell dabei, dass ein Begründungsmangel zur Rechtswidrigkeit und Aufhebung der angegriffenen Entscheidung führt. Jedoch haben die Gerichte in zahlreichen Fällen Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelassen. So ist die Heilung eines Begründungsmangels zunächst dann möglich, wenn der Gerichtshof über eine unbeschränkte Befugnis zur Ermessensnachprüfung verfügt (sog. compétence de pleine jurisdiction) und so im Prozess ergänztes Vorbringen direkt in seine Entscheidungsfindung einbeziehen kann. Ferner unterscheiden die europäischen Gerichte zwischen einer lediglich unzureichenden und einer gänzlich fehlenden Begründung: Eine Heilung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ist erlaubt, wenn die anfängliche Begründung lediglich unzureichend war. Ihre Grenzen findet die Möglichkeit der Heilung einer unzureichenden Begründung jedoch, wenn die im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ergänzten Gründe komplett neu sind bzw. den anfänglich genannten widersprechen. Die Möglichkeit, eine komplett fehlende Begründung im Laufe des gerichtlichen Verfahrens zu heilen, besteht grundsätzlich nicht. Die Unionsgerichte haben jedoch eine Vielzahl bereichsspezifischer Ausnahmen hierzu etabliert, die vor allem das Beamten- und Wettbewerbsrecht betreffen.
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aa)
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a)
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3.
Den Unionsgerichten sind auch unheilbare Verfahrensfehler bekannt. Hierzu gehören insbesondere Verletzungen institutioneller Beteiligungsrechte.
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4.
Findet eine Heilung eines Verfahrens- oder Formfehlers im Laufe des gerichtlichen Verfahrens ausnahmsweise statt, hat dies zur Folge, dass der Mangel nicht mehr die Aufhebung des Beschlusses im Wege der Nichtigkeitsklage nach sich zieht. Die Heilung entfaltet jedoch nur eine Wirkung ex nunc. Hat eine Klage nur deshalb keinen Erfolg, weil der Verfahrens- oder Formfehler, auf den sie sich stützte, im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens geheilt wurde, sind die Kosten des Verfahrens nicht dem unterliegenden Kläger, sondern der obsiegenden beklagten Institution aufzuerlegen.
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5.
Kann ein Verfahrens- oder Formfehler nicht geheilt werden, kann er immer noch unbeachtlich sein. Sofern eine „heilende“ Verfahrenshandlung ersichtlich ist, kommt der Heilung Vorrang vor der Unbeachtlichkeit zu.
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6.
Die Rechtsprechung unterscheidet vier Fallgruppen der Unbeachtlichkeit:
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a)
Zunächst lehnen die Unionsgerichte die Aufhebung eines Beschlusses im Wege der Nichtigkeitsklage wegen eines Formfehlers ab, wenn sich die Verwaltung in einer rechtlich gebundenen Entscheidungslage befand. Dem Kläger fehle es hier an einem berechtigten Interesse an der Aufhebung. Steht fest, dass es sich um eine gebundene Entscheidungslage handelt, sieht die Rechtsprechung aus prozessökonomischen Gründen gar von einer Prüfung des Mangels ab. Auf Verfahrensmängel haben die Unionsgerichte diese Rechtsprechung bislang nicht angewendet.
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b)
Ein Verfahrensfehler zieht dann nicht die Aufhebung einer Verwaltungsentscheidung im Wege der Nichtigkeitsklage nach sich, wenn er für das konkrete Ergebnis der angegriffenen Entscheidung nicht ursächlich war. Die Alternativlosigkeit der Entscheidung kann dabei sowohl auf tatsächlichen als auch auf rechtlichen Erwägungen beruhen. Zur Abwendung der Aufhebung bedarf es eines positiven Kausalitätsnachweises, dass die angefochtene Entscheidung ohne die Verletzung einen anderen Inhalt hätte haben können. Diese Fallgruppe findet auf Entscheidungen mit Ermessensspielraum keine Anwendung.
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c)
Ein Verfahrens- oder Formfehler führt ferner dann nicht zur Aufhebung der Entscheidung im Wege der Nichtigkeitsklage, wenn er keine nachteiligen Auswirkungen für den Fehlerbetroffenen und seine Verfahrensposition hatte. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Zweck der verletzten Vorschrift trotz ihrer Verletzung doch noch erreicht wurde.
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d)
Schließlich kann ein Verfahrens- oder Formfehler mangels Schwere unbeachtlich sein. Diese Fallgruppe ist jedoch nur sehr vereinzelt geblieben und die Gerichte haben es versäumt, allgemeingültige Kriterien zur Bemessung die Schwere der Verletzung herauszuarbeiten.
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a)
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7.
Folge der Unbeachtlichkeit ist, dass der Beschluss nicht im Wege der Nichtigkeitsklage wegen Verletzung wesentlicher Formvorschriften aufgehoben wird. Der Beschluss bleibt jedoch weiterhin rechtswidrig.
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Hering, L. (2019). Kapitel 8: Gesamtzusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse in Thesen. In: Fehlerfolgen im europäischen Eigenverwaltungsrecht. Beiträge zum ausländischen öffentlichen Recht und Völkerrecht, vol 286. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-59368-4_8
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