1 Kopf- und Gesichtsschmerzen

Mit dem Ziel, die Diagnose von Kopfschmerzen zu standardisieren, veröffentlichte die International Headache Society im Jahr 1988 eine revolutionäre neue Kopfschmerzklassifikation. Für 165 Kopfschmerzformen wurden jeweils operationalisierte Kriterien definiert, deren Erfüllen die Vergabe der betreffenden Diagnose ermöglicht. Während bei den sekundären Kopfschmerzformen die jeweilige Ätiologie im Vordergrund steht, erfolgt bei den primären Kopfschmerzerkrankungen eine eindeutige Charakterisierung anhand des klinischen Bildes. Im Jahr 2018 erfolgte die Veröffentlichung einer aktualisierten 3. Auflage (ICHD-3), die nun 276 Kopfschmerzdiagnosen umfasst und unter https://www.ichd-3.org/allgemein zugänglich ist.

1.1 Diagnostisches Vorgehen

1.1.1 Primäre Kopfschmerzerkrankungen

Die überwiegende Zahl der Patienten mit chronischen oder akut rezidivierenden Kopfschmerzen (>90 %) leidet unter einer der wenigen primären Kopfschmerzerkrankungen. Die routinemäßig zur Verfügung stehenden technischen Untersuchungsverfahren erbringen bei den primären Kopfschmerzerkrankungen definitionsgemäß keine die Beschwerden erklärenden pathologischen Befunde (höchstens von den Beschwerden unabhängige, aber zur Verwirrung beitragende Zufallsbefunde).

Im Zentrum der Kopfschmerzdiagnostik steht damit das ärztliche Gespräch.

In der Mehrzahl aller Fälle beruht die Diagnose von Kopfschmerzen allein auf den in diesem Gespräch gewonnenen Informationen zur Phänomenologie der Kopfschmerzen in Verbindung mit einem unauffälligen körperlichen und neurologischen Untersuchungsbefund.

Primäre Kopfschmerzerkrankungen (Nummer = ICHD-3-Hauptcode)

  1. 1.

    Migräne

  2. 2.

    Kopfschmerz vom Spannungstyp

  3. 3.

    Trigeminoautonome Kopfschmerzerkrankungen

    • Clusterkopfschmerz

    • Paroxysmale Hemikranie

    • SUNCT-Syndrom

    • Hemicrania continua

  4. 4.

    Andere primäre Kopfschmerzerkrankungen

    • Primärer Hustenkopfschmerz

    • Primärer Kopfschmerz bei körperlicher Anstrengung

    • Primärer Kopfschmerz bei sexueller Aktivität

    • Primärer Donnerschlagkopfschmerz

    • Kopfschmerz durch Kältestimuli

    • Kopfschmerz durch äußeren Druck

    • Primärer stechender Kopfschmerz

    • Münzkopfschmerz

    • Schlafgebundener Kopfschmerz

    • Neu aufgetretener täglicher Kopfschmerz

1.1.2 Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen

Sind die diagnostischen Kriterien der ICHD-3 für eine der primären Kopfschmerzerkrankungen nicht erfüllt oder handelt es sich um einen akut und neu aufgetretenen Kopfschmerz, ist von einem symptomatischen Kopfschmerz auszugehen und eine vertiefende Diagnostik erforderlich. In der Regel sind schon die Anamnese und/oder der körperliche Untersuchungsbefund wegweisend. Die Kopfschmerzen können eines von vielen Symptomen sein, nicht selten sind sie jedoch auch das diagnostisch wegweisende Leitsymptom.

Sekundäre Kopfschmerzerkrankungen, schmerzhafte kraniale Neuralgien und andere Gesichtsschmerzen (Nummer = ICHD-3-Hauptcode)

  1. 5.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf ein Trauma oder eine Verletzung von Kopf- und/oder HWS

  2. 6.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf eine kraniale oder zervikale Gefäßerkrankung

  3. 7.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf eine nichtvaskuläre intrakranielle Störung

  4. 8.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Substanz oder deren Entzug

  5. 9.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Infektion

  6. 10.

    Kopfschmerz zurückzuführen auf eine Störung der Homöostase

  7. 11.

    Kopf- oder Gesichtsschmerz zurückzuführen auf eine Erkrankung des Schädels sowie von Hals, Augen, Ohren, Nase, Nasennebenhöhlen, Zähnen, Mund oder anderen Gesichts- oder Schädelstrukturen

  8. 12.

    Kopfschmerzen zurückzuführen auf psychiatrische Störungen

  9. 13.

    Schmerzhafte kraniale Neuralgien und andere Gesichtsschmerzen

Immer wenn starke Kopfschmerzen erstmals oder im Zusammenhang mit Symptomen auftreten, die für primäre Kopfschmerzen nicht charakteristisch sind, ist vom Vorliegen eines symptomatischen Geschehens auszugehen.

Grundsätzliche Warnsymptome für das Vorliegen eines symptomatischen Kopfschmerzgeschehens sind:

  • erstmals akut aufgetretene heftige Kopfschmerzen,

  • Progredienz von Kopfschmerzen,

  • Zusätzliche fokal-neurologische Zeichen,

  • Hirndruckzeichen (zunächst morgendliche Kopfschmerzen mit Übelkeit und Nüchternerbrechen sowie Zunahme bei Husten, Niesen und Pressen; Singultus; weiter psychomotorische Verlangsamung und schließlich Bewusstseinsstörung; Stauungspapillen in der Untersuchung),

  • Meningismus,

  • Fieber,

  • Bewusstseinsstörungen,

  • zerebrale Krampfanfälle.

Die Abb. 1 zeigt einen diagnostischen Algorithmus, der anhand des zeitlichen Verlaufes der Kopfschmerzen und eventueller Begleitsymptome eine schnelle diagnostische Einordnung erlaubt. Dabei ist zu beachten, dass bei einem Patienten auch mehr als ein Kopfschmerz auftreten kann.

Abb. 1
figure 1

Diagnostischer Algorithmus bei Kopfschmerzen

1.2 Migräne

Die Migräne ist nicht die häufigste primäre Kopfschmerzerkrankung, aber kein Kopfschmerz führt mehr Patienten zum Arzt. Das für Betroffene wie Umgebung so schwer Verständliche an der Migräne ist der wiederkehrende Wechsel zwischen völligem Wohlbefinden und stärkstem Leiden, der weder durch die körperliche Untersuchung noch durch eine apparative Diagnostik zu erklären ist.

1.2.1 Diagnose

Zwei Hauptformen der Migräne werden unterschieden: die Migräne ohne Aura und die Migräne mit Aura (Tab. 1). Bei der Migräne mit Aura gehen die Aurasymptome den Kopfschmerzen meist voran. Die Auren können jedoch auch während oder nach den Kopfschmerzen auftreten. Bei der Migräneaura ohne Kopfschmerz fehlen Kopfschmerzen gänzlich. Seit 2003 wird erstmals auch eine chronische Migräne (Tab. 2) definiert, wobei die diagnostischen Kriterien in der ICHD-3 deutlich revidiert wurden. Die chronische Migräne gilt nun als eigenständige Unterform der Migräne und nicht mehr als Migränekomplikation.

Tab. 1 Diagnostische Kriterien der Migräne mit und ohne Aura (ICHD-3)
Tab. 2 Diagnostische Kriterien der chronischen Migräne (ICHD-3)

Unabhängig vom Auftreten einer Aura berichten Patienten häufig zusätzlich über eine Vorbotenphase , die bis zu zwei Tage vor den eigentlichen Kopfschmerzen beginnt. Sie ist gekennzeichnet durch Symptome wie Hyperaktivität, Heißhunger auf bestimmte Nahrungsmittel (z. B. Schokolade), euphorische Stimmung oder aber durch Hypoaktivität, wiederholtes Gähnen und eine depressive Stimmung.

1.2.2 Therapie

Die Migränetherapie setzt sich aus den Bausteinen der Prophylaxe und der Attackenbehandlung zusammen, wobei jeweils medikamentöse und nichtmedikamentöse Strategien zur Verfügung stehen. Je ausgeprägter die Migräne ist, umso wichtiger ist ein Zusammenspiel aller dieser Komponenten.

1.2.2.1 Nichtmedikamentöse Prophylaxe

Die nichtmedikamentöse Vorbeugung der Migräne stellt für alle Betroffenen die Basis der Behandlung dar. Die empfohlenen Verhaltensregeln spiegeln dabei die typischen Triggerfaktoren der Migräne wider. Insgesamt ist die Betonung der Regelmäßigkeit in diesen Empfehlungen unübersehbar:

  • Einhalten eines regelmäßigen Schlaf-Wach-Rhythmus, d. h. auch der Verzicht auf ein Ausschlafen am Wochenende,

  • regelmäßige Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme,

  • regelmäßiger moderater Ausdauersport,

  • regelmäßiges Durchführen eines Entspannungsverfahrens wie der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson, insbesondere in Stressphasen,

  • Meiden von individuellen Auslösefaktoren (z. B. Geschmacksverstärker, Alkohol, intensive akustische, optische oder olfaktorische Reize etc.),

1.2.2.2 Attackentherapie

Verhaltensregeln

Selbst wenn der Rückzug in eine ruhige und abgedunkelte Umgebung ebenso wie körperliche Ruhe eine Migräneattacke meist nicht abkürzt, sollte auf diese Allgemeinmaßnahmen nicht verzichtet werden. In der Regel ist die Wirkung einer zusätzlich eingenommenen Akutmedikation dann zuverlässiger und auch anhaltender.

Medikamentöse Attackenbehandlung

Grundsätzlich stehen zwei Strategien zur Verfügung: der Einsatz von Analgetika in Kombination mit einem Antiemetikum bei leichten und der Einsatz von spezifischen Migränetherapeutika bei starken Attacken.

Leichte Migräneattacke

Sowohl im klinischen Alltag als auch in kontrollierten Studien wirksam sind die Analgetika Paracetamol, Acetylsalicylsäure, Ibuprofen, Naproxen und Diclofenac. Für Phenazon und Metamizol ist die Studienlage weniger umfangreich, die Wirkung ist in der Praxis jedoch ebenfalls unstrittig. Die Effektivität von Analgetika kann durch Beachten folgender Regeln optimiert werden:

  • Einnahme einer ausreichenden Startdosis,

  • Einnahme möglichst früh in einer Migräneattacke,

  • Einnahme, wenn möglich, in resorptionsbeschleunigender Brauselösung, bei starker Übelkeit oder Erbrechen als Suppositorium,

  • Einnahme möglichst in Kombination mit einem Antiemetikum.

Als Antiemetika haben sich Metoclopramid und Domperidon wegen ihrer zusätzlichen prokinetischen Wirkung besonders bewährt. Als Ausweichpräparat gilt das Antihistaminikum Dimenhydrinat, dessen sedierender Zusatzeffekt im Einzelfall durchaus erwünscht sein kann. Metoclopramid und Dimenhydrinat stehen als Suppositorien zur Verfügung.

Schwere Migräneattacke

In Deutschland sind 7 verschiedene Triptane zugelassen, die die Ergotamine praktisch komplett vom Markt verdrängt haben (Tab. 3). Die einzelnen Substanzen unterscheiden sich hinsichtlich Effektivität, Verträglichkeit, Wirkgeschwindigkeit und Wirkdauer. Zudem sind sie in unterschiedlichen Darreichungsformen erhältlich. Insbesondere bei starker Übelkeit oder frühem Erbrechen sind dabei die Anwendungen als Nasenspray oder mittels s.c.-Autoinjektor sinnvoll, Suppositorien stehen seit 2016 bedauerlicherweise nicht mehr zur Verfügung.

Tab. 3 Übersicht über verfügbare Triptane inklusive Darreichungsformen

Auch wenn in umfangreichen Studien viele Anstrengungen unternommen wurden, Vor- und Nachteile der einzelnen Substanzen herauszuarbeiten, ist es für die Praxis ausreichend, die Triptane in 3 Gruppen einzuteilen:

Gruppe 1

Sehr schnelle und sehr starke Wirkung, aber kurze Wirkdauer und höheres Nebenwirkungspotenzial:

  • Sumatriptan 6 mg s.c.

Gruppe 2

Ausgeglichenes Wirkprofil zwischen Wirkung und Verträglichkeit sowie Wirkgeschwindigkeit und Wirkdauer:

  • Almotriptan 12,5-mg-Tbl.,

  • Eletriptan 40-mg-Tbl.,

  • Rizatriptan 10-mg-Tbl. oder Schmelztablette,

  • Sumatriptan 100-mg-Tbl., 20 mg nasal,

  • Zolmitriptan 5-mg-Tbl. oder Schmelztablette, 5 mg Nasenspray.

Die nicht aufgeführten Darreichungsformen der Substanzen mit niedrigerer Dosis sind jeweils tendenziell schwächer wirksam bei weniger Nebenwirkungen als die höhere Dosis.

Gruppe 3

Anhaltende Wirkung und sehr gute Verträglichkeit, aber eher langsamerer Wirkeintritt und geringere Wirksamkeit:

  • Frovatriptan 2,5-mg-Tbl.,

  • Naratriptan 2,5-mg-Tbl.

Der Behandlungserfolg bei Einsatz von Triptanen kann optimiert werden, wenn folgende Punkte beachtet werden:

  • Je früher in der Migräneattacke eingenommen, umso vollständiger und umso anhaltender ist der Behandlungserfolg auch bei Triptanen. Die Einnahme sollte jedoch erst nach Abklingen einer eventuellen Aura mit Beginn der Kopfschmerzphase erfolgen.

  • Wirkt ein Triptan bei ausreichender Dosierung in einer Migräneattacke nicht, ist die Wiederholung der Einnahme des Triptans in der gleichen Attacke in der Regel auch nicht wirksam.

  • Erst wenn auch ein wiederholter Therapieversuch mit Sumatriptan s.c. erfolglos ist, kann bei einem Patienten von einer Unwirksamkeit von Triptanen ausgegangen werden.

  • Bei Auftreten von Wiederkehrkopfschmerzen ist eine nächste Dosis eines Triptans in der Regel wieder genauso effektiv wie die vorherige. Die Einnahme sollte aber nicht häufiger als 2-mal in 24 h, an maximal 3 konsekutiven Tagen und an maximal 10 Tagen im Monat erfolgen (cave: sonst droht ein Kopfschmerz bei Substanzübergebrauch).

  • Bei Patienten mit regelmäßigen Wiederkehrkopfschmerzen empfehlen sich lang wirksame Triptane wie z. B. Naratriptan oder Frovatriptan, ggf. auch in Kombination mit einem langwirksamen nichtsteroidalen Antiphlogistikum wie Naproxen.

  • Bei den Schmelztabletten von Rizatriptan und Zolmitriptan wird im Vergleich zu den herkömmlichen Tabletten der maximale Plasmaspiegel (Tmax) deutlich später erreicht. Anscheinend erfolgt keine bukkale Resorption. Die Wirkung kann durch gleichzeitige Flüssigkeitszufuhr verbessert werden.

Migräneattacke im ärztlichen Notdienst

In Studien belegt ist die gute Wirksamkeit von Lysinacetylsalicylat i.v.; im Alltag bewährt ist die Kombination mit Metoclopramid oder Dimenhydrinat i.v. Im Status migraenosus ist die Gabe eines Corticosteroids (z. B. Prednisolon 100 mg i.v.) und ggf. auch eines Sedativums vorzuziehen.

1.2.2.3 Medikamentöse Prophylaxe

Einer medikamentösen Prophylaxe (Tab. 4) bedarf nicht zuletzt dank der Verbesserungen der Akuttherapie heute nur noch eine Minderheit der Migränepatienten. Für diese Gruppe mit einem starkem Leidensdruck und einer ausgeprägten migränebedingten Behinderung aber ist sie essenziell. Indikationen sind eine häufige Migräne (durchschnittlich mindestens 6 behandlungsbedürftige Migränetage im Monat), das regelmäßige Auftreten eines Status migraenosus oder ausgeprägter Migräneauren, ein Zustand nach migränösem Hirninfarkt oder eine unzureichende Attackentherapie.

Tab. 4 Medikamentöse Prophylaxe der Migräne

Allgemeine Regeln

Damit eine medikamentöse Prophylaxe wirksam sein kann, sind einige Bedingungen zu beachten. Typische Nebenwirkungen, über die der Patient bereits im Vorfeld informiert wurde, werden erfahrungsgemäß eher toleriert. Die erforderlichen Dosierungen liegen häufig relativ hoch. In den meisten Fällen ist die Verträglichkeit bei ausreichend langsamer Aufdosierung jedoch gut. Unrealistische Erwartungen der Patienten nach Attackenfreiheit sollten bereits vor Beginn der Behandlung korrigiert werden. Wichtig ist die Information, dass mit einem Wirkeintritt erst nach einer mehrwöchigen Einnahme zu rechnen ist. Die Beurteilung der Wirksamkeit einer Prophylaxe sollte frühestens 2 Monate nach Erreichen der Zieldosis erfolgen. Eine Migräneprophylaxe kann nur wirksam sein, wenn auch eine Migräne vorliegt. Insbesondere kann ein Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch nur durch eine konsequente Medikamentenpause, nicht jedoch durch prophylaktische Maßnahmen durchbrochen werden.

Frühestens nach einem Zeitraum von 9–12 Monaten könnte bei einer erfolgreichen Prophylaxe ein Auslassversuch erfolgen. Kommt es zu einem erneuten Anstieg der Migränehäufigkeit, kann evtl. eine niedrigere Erhaltungsdosis der gleichen Substanz versucht werden.

Bei der Auswahl der Migräneprophylaktika spielen nicht nur die Häufigkeit der Migräneattacken, sondern insbesondere auch Grunderkrankungen, Erwartungen und Wünsche der Patienten eine Rolle. So kann eine sedierende Nebenwirkung einer Substanz bei Vorliegen von Schlafstörungen bei dem einen Patienten erwünscht sein, bei einem anderen ist sie intolerabel. Gleiches gilt für appetitsteigernde oder -senkende Substanzen.

Chronische Migräne

Kleinere Studien legen eine prophylaktische Wirksamkeit von Topiramat auch bei einer chronischen Migräne nahe, eine explizite Zulassung für diese Indikation besitzt jedoch ausschließlich Onabotulinumtoxin (Botox). Voraussetzung für den Einsatz von Onabotulinumtoxin ist laut Fachinformation das Vorliegen einer chronischen Migräne bei Erwachsenen, die auf eine prophylaktische Migränemedikation nur unzureichend angesprochen oder diese nicht vertragen haben.

Die Anwendung sollte ausschließlich durch bzw. unter der Aufsicht von Neurologen erfolgen, die sich auf die Behandlung von chronischer Migräne spezialisiert haben.

Es wird darauf hingewiesen, dass die Unbedenklichkeit und Wirksamkeit von Onabotulinumtoxin bei Patienten mit medikamenteninduzierten Kopfschmerzen (sekundären Kopfschmerzen) nicht untersucht wurden.

Neuromodulation

In mehreren Studien konnte bei Patienten mit einer bislang therapieresistenten chronischen Migräne durch eine subkutane Dauerstimulation des N. occipitalis major eine Abnahme der Migränehäufigkeit und -intensität erreicht werden (ONS). Aufgrund hoher Komplikationsraten mit der Notwendigkeit von Re-Operationen wurde jedoch inzwischen dem einzigen Hersteller mit einer vorübergehenden Zulassung für die Indikation chronische Migräne die CE-Kennzeichnung vom TÜV entzogen.

Parallel erfolgten Versuche, eine noninvasive transkutane Neurostimulation in der Migränebehandlung zu etablieren. Verschiedene Hersteller bemühten sich erfreulicherweise um einen Wirknachweis in kontrollierten Studien, scheiterten jedoch am fehlenden Nachweis einer Überlegenheit gegenüber der jeweils gewählten Kontrolle (Stimulation des N. supraorbitalis bzw. des zervikalen oder aurikulären N. vagus). Keines der Verfahren wurde daher in den Leistungskatalog der GKV aufgenommen.

1.3 Kopfschmerzen vom Spannungstyp

Der individuelle Leidensdruck der Betroffenen variiert beim Kopfschmerz vom Spannungstyp wie bei kaum einem anderen Kopfschmerz. Während die meisten Patienten ihre sporadischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp entweder gar nicht oder höchstens im Nebensatz als „normale“ Kopfschmerzen erwähnen und keinerlei Therapie benötigen, beherrschen bei Patienten mit der chronischen Verlaufsform die pausenlosen Kopfschmerzen vom Spannungstyp nicht selten das ganze Leben.

1.3.1 Diagnose

Beim Kopfschmerz vom Spannungstyp werden anhand der Auftretenshäufigkeit in der ICHD-3 zwei Hauptformen unterschieden: eine episodische (< 15 Tage/Monat) und eine chronische (≥ 15 Tage/Monat) (Tab. 5).

Tab. 5 Diagnostische Kriterien des Kopfschmerzes vom Spannungstyp (ICHD-3)

Neben dem zeitlichen Verlauf erlaubt die IHS-Klassifikation zusätzlich eine Differenzierung der oben genannten Hauptformen des Kopfschmerzes vom Spannungstyp in

  • eine Form assoziiert mit perikranialer Schmerzempfindlichkeit (nachgewiesen durch manuelle Palpation) und

  • eine Form nicht assoziiert mit perikranialer Schmerzempfindlichkeit.

1.3.2 Epidemiologie

Der Kopfschmerz vom Spannungstyp ist der häufigste primäre Kopfschmerz überhaupt. Die Geschlechterverteilung ist ausgeglichen. Die Lebenszeitprävalenz der chronischen Form des Kopfschmerzes vom Spannungstyp liegt in Europa bei ca. 3 %, die der episodischen Form bei 38–77 %.

1.3.3 Therapie

Die Therapie des Kopfschmerzes vom Spannungstyp ist entscheidend abhängig von der zeitlichen Verlaufsform. Während bei der episodischen Form meist die Akutbehandlung im Vordergrund steht, ist es bei der chronischen Form die nichtmedikamentöse und medikamentöse Prophylaxe.

1.3.3.1 Akuttherapie des Kopfschmerzes vom Spannungstyp

Die wenigen vorhandenen kontrollierten Studien belegen die empirische Wirksamkeit von Acetylsalicylsäure, Paracetamol, nichtsteroidalen Antiphlogistika und Flupirtin. In jedem Fall ist die maximale Einnahmefrequenz dieser Analgetika jedoch auf 15 Tage/Monat (ein Non-Opioid-Monoanalgetikum) bzw. 10 Tage/Monat (Opioid, Mischanalgetika oder mehrere Monoanalgetika) begrenzt, da wie bei der Migräne ansonsten die Entstehung von Kopfschmerzen bei Substanzübergebrauch droht.

Umso wichtiger sind Behandlungsalternativen zu den Analgetika. Hier hat sich der Einsatz von kutan im Bereich der schmerzhaften Kopfregionen aufgetragenem Pfefferminzöl (1 %ige ethanolische Lösung von Oleum menthae piperitae) in kontrollierten Studien als hocheffektiv erwiesen.

1.3.3.2 Medikamentöse Prophylaxe des Kopfschmerzes vom Spannungstyp

Die Möglichkeiten der medikamentösen Prophylaxe sind eingeschränkt und beruhen praktisch ausschließlich auf dem Einsatz von Antidepressiva. In erster Linie werden Trizyklika eingesetzt, wobei selbst innerhalb dieser Gruppe lediglich für das Amitriptylin ein überzeugender Wirknachweis in kontrollierten Studien vorliegt (Tab. 6).

Tab. 6 Medikamentöse Prophylaxe des chronischen Kopfschmerzes vom Spannungstyp

Andere Antidepressiva, insbesondere die selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmer, zeigten sich im direkten Studienvergleich dem Amitriptylin unterlegen. Versuche mit Muskelrelaxanzien wie Baclofen und Dantrolen waren unbefriedigend, sowohl aufgrund einer schlechten Wirksamkeit als auch wegen einer schlechten Verträglichkeit (zentrale Nebenwirkungen). Lediglich für das Tizanidin finden sich – wenn auch ältere – positive Studien. In der Praxis wird das Tizanidin dabei meist mit einem trizyklischen Antidepressivum kombiniert.

1.3.3.3 Nichtmedikamentöse Prophylaxe

Der nichtmedikamentösen Prophylaxe kommt beim Kopfschmerz vom Spannungstyp ein besonderer Stellenwert zu.

  • Das Erlernen und die regelmäßige Durchführung der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson soll nicht nur eine allgemeine Entspannung erreichen, wie sie insbesondere bei Patienten mit anhaltendem muskulärem oder psychosozialem Stress angestrebt wird, sie soll auch die Möglichkeit einer konditionierten Entspannung unmittelbar in der Stresssituation ermöglichen.

  • Das EMG-Biofeedback dient der Sichtbarmachung von Anspannungs- und Entspannungszuständen bei Patienten, die Schwierigkeiten haben, allein mit der progressiven Muskelrelaxation nach Jacobson ihren Muskeltonus zu kontrollieren.

  • Ein Stressbewältigungstraining zielt darauf ab, Coping-Strategien zur Bewältigung von typischen Belastungssituationen im Alltag zu vermitteln.

  • Gerade Patienten mit chronischen Kopfschmerzen vom Spannungstyp erleben ihr Leben häufig als eine ständige Überforderungssituation. Entwickelt sich auf diesem Boden eine depressive Störung, kann eine medikamentöse und/oder psychotherapeutische Behandlung erforderlich werden.

  • Physikalische Maßnahmen wie lokale Wärmeanwendungen und Massagen sind meist nur kurzfristig wirksam, können aber bei geplagten Patienten eine wichtige vorübergehende Entlastung erbringen und haben dann durchaus ihren Stellenwert. Als im Einzelfall hilfreich hat sich auch die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) erwiesen.

1.4 Clusterkopfschmerz und andere trigeminoautonome Kopfschmerzerkrankungen

Das Leitcharakteristikum der trigeminoautonomen Kopfschmerzerkrankungen sind einseitige und im Gegensatz zur Migräne fast ausschließlich seitenkonstante Schmerzattacken im Versorgungsgebiet des N. ophthalmicus, die mit einer unverwechselbaren gleichseitigen autonomen Begleitsymptomatik einhergehen. Am häufigsten findet sich eine konjunktivale Injektion, Lakrimation, nasale Kongestion und/oder Rhinorrhö. Klinisch werden hauptsächlich anhand der Attackendauer und -häufigkeit der Clusterkopfschmerz, die paroxysmale Hemikranie und das SUNCT-Syndrom unterschieden. Im Gegenzug dazu steht bei der Hemicrania continua ein einseitiger Dauerkopfschmerz im Vordergrund, der sich attackenförmig verstärken kann und dann wieder die typischen autonomen Begleitsymptome aufweist.

1.4.1 Clusterkopfschmerz

1.4.1.1 Diagnose

Bei der mit 80–85 % häufigsten Verlaufsform, dem episodischen Clusterkopfschmerz (Tab. 7), treten die Attacken periodisch gehäuft auf („cluster“: engl. für „Haufen“). Auf aktive Clusterperioden mit einer durchschnittlichen Dauer von 2 Wochen bis 3 Monaten mit meist täglichen Attacken folgen beschwerdefreie Remissionsphasen, die Monate oder Jahre anhalten können. Beim chronischen Clusterkopfschmerz treten Clusterattacken ohne längere Remissionsphasen auf.

Tab. 7 Diagnostische Kriterien des Clusterkopfschmerzes (ICHD-3)

Bei vielen Patienten folgt das Auftreten der Clusterattacken bestimmten Rhythmen. Dies betrifft sowohl Clusterperioden, die häufig regelmäßig immer wieder zu bestimmten Jahreszeiten (Frühjahr/Herbst) auftreten, als auch die einzelnen Attacken. Am häufigsten sind nächtliche Attacken aus dem Schlaf heraus, entweder kurz nach dem Einschlafen oder in den frühen Morgenstunden.

Während aktiver Clusterperioden können Attacken bei vielen Patienten reproduzierbar innerhalb von wenigen Minuten durch den Genuss kleiner Mengen Alkohol oder durch Nitroglyzerin getriggert werden. Dagegen hat ein regelmäßiger, höherer Alkoholkonsum einen prophylaktischen Effekt.

Wenn auch durch Nikotinkonsum einzelne Clusterattacken nicht provoziert werden können, so ist doch auffällig, dass Nichtraucher, die unter einem Clusterkopfschmerz leiden, bei der episodischen Verlaufsform selten und bei der chronischen eine Rarität sind.

1.4.1.2 Epidemiologie

Clusterkopfschmerzen treten erstmals meist zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr auf, im Kindesalter findet man sie nur in Ausnahmefällen. Das männliche Geschlecht ist ca. 4-mal häufiger betroffen.

1.4.1.3 Therapie

Nichtmedikamentöse Prophylaxe und Verhaltensregeln

Die nichtmedikamentösen Behandlungsansätze beschränken sich bei Ineffektivität von Entspannungs- bzw. Stressbewältigungsverfahren, physiotherapeutischen oder physikalischen Maßnahmen auf das Meiden von Triggerfaktoren. Im Vordergrund steht dabei der Verzicht auf jeglichen Alkoholkonsum während aktiver Clusterperioden bei Patienten, da hierdurch Attacken ausgelöst werden können. Das Gleiche gilt für die Einnahme von Nitropräparaten. Nikotinkonsum gilt als der einzige Faktor, den ein Betroffener selbst beeinflussen kann, um das Risiko des Überganges eines episodischen Clusterkopfschmerzes in die chronische Verlaufsform zu verringern.

Attackentherapie

Bei der überwiegenden Zahl der Patienten sind Opioid- und Nichtopioidanalgetika in der Attackenbehandlung des Clusterkopfschmerzes ineffektiv. Als zuverlässig wirksam innerhalb von 15 min haben sich lediglich die Inhalation von 100 % Sauerstoff (Fluss ≥ 12 l/min) unter Anwendung einer Gesichtsmaske mit Reservoirbeutel (Erfolgsrate ca. 65 %) und die subkutane Injektion von Sumatriptan 6 mg (Erfolgsrate über 95 %) erwiesen (Tab. 8). Der Wirkeintritt des Zolmitriptan- Nasensprays, ebenfalls für die Indikation Clusterkopfschmerz zugelassen, ist im Vergleich bereits etwas verzögert. Orale Triptane sind für die sowieso relativ kurzen Clusterkopfschmerzattacken meist zu langsam (und zu schwach) wirksam. Lidocain (4 %ig) intranasal weist nur in Einzelfällen eine Wirkung auf.

Tab. 8 Attackentherapie des Clusterkopfschmerzes

Medikamentöse Prophylaxe

Ziel der medikamentösen Prophylaxe ist die komplette Attackenfreiheit in möglichst kurzer Zeit. Klinisch wirksame Prophylaktika können in zwei Gruppen aufgeteilt werden. Zur einen Gruppe zählen Substanzen mit einem raschen und zuverlässigen Wirkeintritt, die sich jedoch nicht oder nur begrenzt für eine längerfristige Therapie eignen (Tab. 9). Hierzu zählen Corticosteroide, Ergotamintartrat und orale Triptane. Bestehen jedoch ein chronischer Clusterkopfschmerz oder Clusterperioden von meist mehr als 4 Wochen Dauer, sollten Substanzen eingesetzt werden, die für eine Dauertherapie geeignet sind. Zu dieser Gruppe zählen Verapamil, Lithium und Topiramat. In der Praxis wird man meist jeweils eine Substanz aus der 1. mit einer aus der 2. Gruppe kombinieren. Die befristete Gabe einer Substanz aus der 1. Gruppe dient dann dazu, die Zeit bis zum Wirkeintritt der langsam aufzudosierenden Substanz der 2. Gruppe zu überbrücken.

Tab. 9 Medikamentöse Prophylaxe des Clusterkopfschmerzes

Neuromodulierende Verfahren bei therapierefraktärem chronischem Clusterkopfschmerz

In den letzten Jahren wurden verschiedene neuromodulierende Verfahren zur Behandlung bislang therapierefraktärer chronischer Clusterkopfschmerzen eingesetzt. Dabei konnten in Einzelfällen insbesondere mit der tiefen (hypothalamischen) Hirnstimulation zunächst sehr gute Behandlungsergebnisse erreicht werden. Aufgrund potenziell schwerwiegender Komplikationen auch mit Todesfolge wurden dann bevorzugt weniger invasive Verfahren untersucht. Dabei hat die subkutane Dauerstimulation des N. occipitalis major (ONS) aufgrund der gleichen Komplikationsanfälligkeit wie bei der chronischen Migräne an Stellenwert verloren. Im Mittelpunkt des Interesses steht aktuell die Stimulation des Ganglion sphenopalatinum. Eigentlich als Verfahren zur Attackenbehandlung vermarktet (und mit einem CE-Label versehen), stellt sich immer mehr heraus, dass Patienten bei regelmäßiger Anwendung einen prophylaktischen Effekt erhoffen können. Noch sind jedoch die Fallzahlen gerade in den Langzeitstudien niedrig.

1.4.2 Paroxysmale Hemikranie

1.4.2.1 Diagnose

Die paroxysmale Hemikranie ist durch Attacken mit weitgehend den gleichen Schmerzcharakteristika und Begleitsymptomen wie beim Clusterkopfschmerz gekennzeichnet. Die Attacken halten jedoch kürzer an, treten wesentlich häufiger auf, betreffen ganz überwiegend Frauen und sprechen absolut zuverlässig auf Indometacin an. Die Erkrankung ist im Vergleich zum Clusterkopfschmerz wesentlich seltener. Wie beim Clusterkopfschmerz auch werden eine (seltenere) episodische und eine (häufigere) chronische Verlaufsform unterschieden (Tab. 10).

Tab. 10 Diagnostische Kriterien der Paroxysmalen Hemikranie (ICHD-3)

Die Patientinnen beschreiben meist Attacken, die unabhängig von der Tageszeit auftreten. Die durchschnittliche Attackenhäufigkeit liegt bei 10–20 pro Tag, die typische Attackendauer bei unter 20 min.

1.4.2.2 Therapie

Das diagnostische Kriterium „absolut zuverlässige Wirksamkeit von Indometacin“ beschreibt gleichzeitig die Therapie der Wahl. Durch Einnahme von Indometacin in therapeutischen Tagesdosen (ab 150 mg) kann innerhalb weniger Stunden Attackenfreiheit erreicht werden. Selten werden höhere Dosierungen erforderlich. Andere nichtsteroidale Antiphlogistika sind hingegen nur in Einzelfällen wirksam.

Die Behandlung mit Indometacin ist gezwungenermaßen eine Dauerbehandlung. Auch wenn in vielen Fällen im Verlauf eine niedrigere Erhaltungsdosis von Indometacin erforderlich ist, sollte immer eine suffiziente Ulkusprophylaxe betrieben werden.

1.4.3 SUNCT

1.4.3.1 Diagnose

Mit der englischen Bezeichnung „short-lasting unilateral neuralgiform headache attacks with conjunctival injection and tearing“ – kurz SUNCT– wird eine trigeminoautonome Kopfschmerzerkrankung beschrieben, die im Vergleich zur paroxysmalen Hemikranie durch nochmals kürzere und höherfrequente Attacken gekennzeichnet ist (Tab. 11). Männer sind bei dieser ebenfalls seltenen Erkrankung häufiger als Frauen betroffen. Fehlen ipsilaterale konjunktivale Injektion und Lakrimation oder tritt nur eines auf, spricht man von SUNA („Short-lasting unilateral neuralgiform headache attacks with cranial autonomic symptoms“.

Tab. 11 Diagnostische Kriterien des SUNCT-Syndroms (ICHD-3)
1.4.3.2 Therapie

Eine zuverlässige Therapie des SUNCT-Syndroms ist nicht bekannt. Weder die Therapiestrategien des Clusterkopfschmerzes noch die der paroxysmalen Hemikranie oder der Trigeminusneuralgie sind regelmäßig effektiv. In Einzelfällen wurde über erfolgreiche Behandlungen vor allem mit Lamotrigin, seltener auch mit Prednisolon, Azathioprin oder Topiramat berichtet, sodass diese Substanzen zumindest versuchsweise zum Einsatz kommen sollten.

1.4.4 Hemicrania continua

1.4.4.1 Diagnose

Anders als bei den übrigen trigeminoautonomen Kopfschmerzerkrankungen stehen bei der Hemicrania continua nicht Kopfschmerzattacken, sondern ein pausenlos auftretender Halbseitenkopfschmerz variabler Intensität im Vordergrund. Meist in Phasen der Schmerzverstärkung kommt es zu den typischen autonomen Begleitsymptomen. Wie bei der paroxysmalen Hemikranie führen therapeutische Dosen von Indometacin zur schnellen Schmerzfreiheit (Tab. 12)

Tab. 12 Diagnostische Kriterien der Hemicrania continua (ICHD-3)
1.4.4.2 Therapie

Zunächst wird durch Gabe von Indometacin in „therapeutischen Tagesdosen“ von 2×75 mg retard die Diagnose bestätigt. Selten werden höhere Dosen bis 225 mg zum Erreichen von Schmerzfreiheit erforderlich. Anschließend versucht man, durch schrittweise Dosisreduktion die niedrigste erforderliche Erhaltungsdosis zu ermitteln. Unter Indometacin ist eine Ulkusprophylaxe unabdingbar.

1.5 Kopfschmerz bei Medikamentenübergebrauch

Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch sind eine spezifische paradoxe Komplikation des Kopfschmerzpatienten – und hier in erster Linie von Patienten, die unter Migräne oder Kopfschmerzen vom Spannungstyp leiden.

1.5.1 Diagnose

In der 1. Auflage der Kopfschmerzklassifikation der IHS ging man noch davon aus, dass nur eine tägliche Einnahme von bestimmten Mindestdosen einer Substanz zur Kopfschmerzakutbehandlung selbst wieder Kopfschmerzen hervorrufen könne. Heute wissen wir, dass diese Komplikation der Kopfschmerzbehandlung schon viel eher droht (Tab. 13). Entscheidend ist weniger die Dosis als die Häufigkeit der Einnahme.

Tab. 13 Diagnostische Kriterien des Kopfschmerzes bei Medikamentenübergebrauch (ICHD-3)

Als regelmäßiger Übergebrauch werden von der ICHD-3 dabei folgende Einnahmeschwellen definiert:

  • Einnahme von Ergotaminen, Triptanen, Opioiden, Schmerzmittelmischpräparaten oder Kombinationen von Kopfschmerzakutmedikation an ≥ 10 Tagen im Monat über > 3 Monate.

  • Einnahme von Monoanalgetika an ≥ 15 Tagen im Monat über > 3 Monate.

Das klinische Bild von Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch variiert in Abhängigkeit von den fehlgebrauchten Substanzen und der zugrunde liegenden Kopfschmerzerkrankung. Entweder kommt es quantitativ zur Zunahme des primären Kopfschmerzes oder qualitativ zur Entstehung eines neuen Kopfschmerztyps.

In beiden Fällen aber gilt, dass spätestens 2 Monate nach Beendigung des Medikamentenübergebrauchs eine Besserung der Kopfschmerzsymptomatik eingetreten sein sollte, um die Diagnose zu bestätigen. Meist kommt es jedoch bereits früher zur Besserung.

1.5.2 Epidemiologie

Das wahre Ausmaß der Verbreitung von Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch in der Bevölkerung ist aufgrund einer vermuteten hohen Dunkelziffer unbekannt. Epidemiologische Untersuchungen gehen von 1,5 bis zu 2 % der Bevölkerung aus. Die Altersgruppe der 40- bis 60-Jährigen ist überrepräsentiert, ebenso Bezieher eines niedrigen Einkommens.

1.5.2.1 Zugrundeliegende Schmerzerkrankungen

Bei der dem Medikamentenübergebrauch zugrunde liegenden primären Schmerzerkrankung handelt es sich fast ausschließlich um eine Migräne, einen Kopfschmerz vom Spannungstyp oder eine Kombination von beidem!

1.5.2.2 Übergebrauchte Substanzen

Grundsätzlich kann jedoch jedes Schmerz- oder Migränemittel, das erfolgreich zur Akutbehandlung von Kopfschmerzen eingesetzt wird, bei zu häufigem Gebrauch selbst Kopfschmerzen verursachen.

Zahlenmäßig an erster Stelle stehen dabei heute koffeinhaltige Schmerzmittelmischpräparate und Triptane, während Ergotamine praktisch keine Bedeutung mehr haben.

1.5.3 Therapie

Die Behandlung von Kopfschmerzen bei Medikamentenübergebrauch setzt sich aus 3 Maßnahmen zusammen:

  • Aufklärung des Patienten über die paradoxe Situation, dass Kopfschmerzmittel Kopfschmerzen verursachen können. Allein dieser Schritt ist häufig schon ausreichend, eine anhaltende Besserung zu erreichen.

  • Durchführung der Medikamentenpause.

  • Behandlung der überdauernden primären Kopfschmerzerkrankungen.

1.5.3.1 Medikamentenpause

Dem Begriff „Medikamentenpause“ sollte vor der herkömmlichen Bezeichnung „Medikamentenentzug“ allein schon daher der Vorzug gegeben werden, weil bei vielen Patienten im Anschluss die gleichen Substanzen zur Attackenbehandlung wieder empfohlen werden (wenn auch unter Berücksichtigung von Einnahmegrenzen).

Die Medikamentenpause kann unter ambulanten oder stationären Bedingungen erfolgen.

Ein motivierter Patient, dessen Umfeld es erlaubt, kann eine Medikamentenpause bei reinem Übergebrauch von Triptanen und/oder Monoanalgetika bei entsprechender Anleitung im häuslichen Umfeld erfolgreich durchführen. Die erforderliche Dauer liegt hier meist bei ca. 14 Tagen nach abruptem Absetzen der Substanzen. Wenn jedoch Ergotamine, Opioide, Benzodiazepine oder auch größere Mengen von Kombinationsanalgetika übergebraucht wurden, ist ein Absetzen unter stationären Bedingungen erfolgversprechender.

Der feste Einsatz von trizyklischen Antidepressiva mit ihrer sedierenden Komponente während der Medikamentenpause und auf Dauer dann zur Kopfschmerzprophylaxe hat sich empirisch bewährt. Antiemetika und schmerzdistanzierende niedrig potente Neuroleptika wie Melperon können zusätzlich bedarfsweise bei Übelkeit und Schmerzspitzen zum Einsatz kommen – keinesfalls andere Schmerzmittel. Bei primär bestehender Migräne hat sich zudem die feste Gabe von Prednisolon in einem absteigenden Dosierungsschema z. B. beginnend mit 100 mg über 5–6 Tage bewährt.

1.6 Trigeminusneuralgie und andere kraniale Neuralgien

Die mit Abstand häufigste kraniale Neuralgie ist die Trigeminusneuralgie. Deutlich seltener sind Neuralgien im Versorgungsbereich des N. glossopharyngeus, des N. intermedius, des N. laryngeus superior und des N. occipitalis major. Gemeinsame Charakteristika sind der stereotype, blitzartig einschießende Charakter, die strenge Begrenzung auf das Versorgungsgebiet des jeweils betroffenen Nervs und die mechanische Provozierbarkeit der Attacken.

1.6.1 Diagnose

Bei der Trigeminusneuralgie unterscheidet die ICHD-3 die klassische Trigeminusneuralgie von der schmerzhaften symptomatischen Trigeminusneuropathie. Der Begriff „klassisch“ (Tab. 14) ersetzt die frühere Bezeichnung „idiopathische“ Trigeminusneuralgie.

Tab. 14 Diagnostische Kriterien der klassischen Trigeminusneuralgie (ICHD-3)

Üblicherweise beginnt eine klassische Trigeminusneuralgie zuerst im Versorgungsbereich des 2. und/oder 3. Astes. In weniger als 5 % der Fälle ist zunächst der 1. Ast betroffen. Selten kann die Trigeminusneuralgie bilateral auftreten. Eine Schmerzattacke wird gewöhnlich durch harmlose Reize wie Berührung beim Waschen und Rasieren, Sprechen und Zähneputzen (Triggerfaktoren) ausgelöst, kann aber auch spontan auftreten. In der Regel besteht zwischen den Paroxysmen Beschwerdefreiheit. Zugrunde liegt häufig ein Gefäß-Nerven-Kontakt in der Nähe des Austritts der Trigeminuswurzel aus dem Hirnstamm. Ein Dauerschmerz zwischen den Attacken ist wie ein sensibles Defizit Hinweis auf ein symptomatisches Geschehen.

Ursachen einer sekundären Trigeminusneuralgie

  • Demyelinisierungen bei einer multiplen Sklerose

  • Raumforderungen im Bereich der hinteren Schädelgrube oder des Hirnstamms (Tumor, vaskuläre Malformation, Aneurysma)

  • Entzündungen (Herpes zoster)

Die Glossopharyngeusneuralgie ist durch einen starken, kurzzeitigen stechenden Schmerz im Bereich des Ohres, des Zungengrundes, der Tonsillennischen oder unterhalb der Kieferwinkels gekennzeichnet. Der Schmerz wird nicht nur im Versorgungsbereich des N. glossopharyngeus wahrgenommen, sondern auch im Versorgungsbereich der aurikulären und pharyngealen Äste des N. vagus. Der Schmerz wird üblicherweise durch Schlucken, Sprechen und Husten ausgelöst.

1.6.2 Epidemiologie

Zwar können auch Patienten bereits im 5. Lebensjahrzehnt von einer klassischen Trigeminusneuralgie betroffen sein, die Inzidenz steigt jedoch deutlich mit zunehmendem Alter. Der Altersgipfel liegt im 7. und 8. Lebensjahrzehnt.

1.6.3 Therapie

Grundsätzlich stehen Substanzen zur medikamentösen Prophylaxe und invasive Therapieverfahren zur Behandlung der Trigeminusneuralgie zur Verfügung.

Aufgrund der Kürze der Attacken ist hingegen eine Attackentherapie nicht möglich, und Verfahren der nichtmedikamentösen Prophylaxe (physikalisch, verhaltensmedizinisch) sind durchweg unwirksam.

1.6.3.1 Medikamentöse Therapie

Die klassische Trigeminusneuralgie (und Glossopharyngeusneuralgie) spricht üblicherweise initial gut auf eine Pharmakotherapie mit Antikonvulsiva an. Mit zunehmender Krankheitsdauer lässt dieser gute Behandlungseffekt jedoch nach. Höhere Dosierungen werden erforderlich, es treten mehr Nebenwirkungen auf, und schließlich können die Attacken nicht mehr komplett unterdrückt werden. Führt ein Substanzwechsel oder eine Medikamentenkombination nicht mehr zu einem ausreichenden Therapieerfolg, ist spätestens der Zeitpunkt für invasive Verfahren gekommen.

Die Auswahl der medikamentösen Prophylaktika erfolgt letztlich eher auf Basis empirischer Erfahrungen als aufgrund kontrollierter Studien. Als Mittel der Wahl gelten Carbamazepin und Oxcarbazepin, wobei letzteres ein günstigeres Nebenwirkungsprofil aufweist (Tab. 15). Bei Verträglichkeitsproblemen sind dann Gabapentin und Pregabalin Mittel der 2. Wahl. Eine initiale schnelle Aufdosierung kann durch Carbamazepin als Suspension, aber auch durch Phenytoin i.v. erfolgen.

Tab. 15 Medikamentöse Prophylaxe der Trigeminus - und Glossopharyngeusneuralgie
1.6.3.2 Invasive Therapie

Ist der Behandlungserfolg mit Medikamenten aufgrund fehlender Wirksamkeit oder schlechter Verträglichkeit nicht befriedigend, sind invasive Therapieverfahren indiziert. Bei der mikrovaskulären Dekompression nach Gardner und Jannetta handelt es sich um eine kausale, nichtdestruktive Therapie, bei der über eine subokzipitale Trepanation die Trigeminuswurzel durch ein Interponat vom komprimierenden Gefäß getrennt wird. Sie ist ausschließlich bei der klassischen Trigeminusneuralgie indiziert. Einer anhaltenden Schmerzfreiheit von über 70 % steht bei diesem Verfahren eine Operationsletalität von unter 1 % gegenüber.

Alternativ stehen mit der perkutanen Thermokoagulation des Ganglion Gasseri nach Sweet, der perkutanen Mikrokompression des Ganglion Gasseri mit Hilfe eines Ballonkatheters und der perkutanen retroganglionären Glyzerininstillation nach Hakanson symptomatische, selektiv-destruktive Therapieverfahren zur Verfügung. Sie können sowohl bei der klassischen als auch bei der symptomatischen Trigeminusneuralgie angewandt werden. Ziel ist in jedem der Verfahren, entweder thermisch, mechanisch oder chemisch die empfindlicheren – weil nicht oder nur dünn myelinisierten – schmerzleitenden A-δ- und C-Fasern auszuschalten und im Idealfall die stärker myelinisierten Fasern für epikritische Sensibilität und Motorik intakt zu lassen. Gerade bei der perkutanen Thermokoagulation des Ganglion Gasseri sind die Erfolgsraten mit 70–80 % anhaltender Schmerzfreiheit im ersten Jahr vergleichbar mit der mikrovaskulären Dekompression, jedoch treten Dysästhesien bei bis zu 6 % und eine Anaesthesia dolorosa bei bis zu 1 % der Patienten auf. Bei den anderen beiden Verfahren sind diese Nebenwirkungen noch häufiger.

2 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz und Mundbrennen (Burning-Mouth-Syndrom)

2.1 Anhaltender idiopathischer Gesichtsschmerz (AIGS)

Von der International Headache Society (IHS) wird der AIGS (Persistent idiopathic facial pain) in der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Beta Version 2013) als „persistierender fazialer und/oder oraler Schmerz mit variierender Symptomatik, jedoch täglich für mehr als zwei Stunden rekurrierend und über mehr als 3 Monate andauernd, bei Fehlen eines klinisch-neurologischen Defizits“ beschrieben.

2.1.1 Spezielle Pathophysiologie

Der Schmerz kann spontan auftreten, aber auch durch ein Trauma des Gesichtes, der Strukturen der Mundhöhle, Kieferknochen und des NNH-Systems ausgelöst werden (Baad-Hansen et al. 2008). Er persistiert trotz abgeschlossener Wundheilung.

Die Ätiologie des AIGS ist nicht geklärt. Es wird ein Kontinuum heterogener neuropathischer Entitäten bis hin zur schmerzhaften posttraumatischen Trigeminusneuropathie vermutet (Forssell et al. 2007). Häufig finden sich komorbide Schmerzstörungen wie die kraniomandibuläre Dysfunktion, Spannungskopfschmerz, Migräne, chronische Rückenschmerzen und andere funktionelle Schmerzsyndrome.

2.1.2 Klinische Symptome

Charakteristisch ist ein quälender, bohrender, brennender, tief sitzender, schlecht lokalisierbarer Gesichtsschmerz, der nicht an anatomische Grenzen gebunden ist und sich über die Ursprungsregion in weitere Gesichtsareale auch über die Mittellinie und in den Gegenkiefer ausbreiten kann.

Diagnostische Kriterien (IHS 2013)

  1. A.

    Gesichts- und/oder oraler Schmerz, der die Kriterien B und C erfüllt

  2. B.

    Täglich wiederkehrender Schmerz für > 2 Stunden und > 3 Monate anhaltend

  3. C.

    Der Schmerz weist beide der folgenden Charakteristika auf:

    1. 1.

      schlecht lokalisiert, nicht der anatomischen Distribution eines peripheren Nerven entsprechend,

    2. 2.

      dumpfe, bohrende, brennende Qualität

  4. D.

    Die klinisch-neurologische Befunderhebung ist normal

  5. E.

    Eine dentale Ursache ist durch adäquate Untersuchung ausgeschlossen

  6. F.

    Es existiert keine bessere Erklärung, die eine Zuordnung zu einer anderen ICHD-3-Diagnose erlauben würde

In einer RCT-Studie (46 Teilnehmer) wiesen Patienten mit AIGS im Vergleich zur Kontrollgruppe höhere Messwerte für Somatisierung und Depression auf (List et al. 2007). Überwiegend sind Frauen im Alter zwischen 30 und 60 Jahren betroffen.

Eine Sonderform des AIGS stellt die atypische Odontalgie dar, die als persistierender Zahnschmerz ohne krankhaften klinischen oder röntgenologischen Befund definiert wird (Türp 2000). Sie unterscheidet sich in ihrer Symptomatik nicht vom AIGS, fokussiert jedoch die Aufmerksamkeit von Patient und Behandler auf einen Zahn oder eine Zahngruppe. Der Schmerz tritt nach zahnärztlich-endodontischen Behandlungen mit Exstirpation des Pulpagewebes oder nach einer Zahnextraktion auf und ist auf eine Deafferenzierung zurückzuführen (Melis et al. 2003; Okeson 2014). Hat sich die Schmerzprojektion auf ein größeres Areal ausgebreitet, dann ist die atypische Odontalgie nicht mehr vom „klassischen“ AIGS zu unterscheiden. Die Angaben zur Prävalenz der atypischen Odontalgie nach endodontischen Behandlungen schwanken zwischen 3 und 12 % (Melis et al. 2003; Polycarpou et al. 2005; Nixdorf et al. 2010,).

2.1.3 Diagnose und Differenzialdiagnose

Der AIGS ist per definitionem als Ausschlussdiagnose zu verstehen.

Differenzialdiagnostisch sind in erster Linie Erkrankungen im Bereich der ZMK-, HNO-, Augenheilkunde, Neurologie und Psychiatrie auszuschließen (Tab. 16).

Tab. 16 Die häufigsten Differenzialdiagnosen des anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes

Zwangsläufig können sich Überschneidungen zur traumatisch bedingten Trigeminusneuropathie, zur anhaltenden somatoformen Schmerzstörung und zu den Zönästhesien ergeben. Die traumatische Trigeminusneuropathie wird nach unfall- oder operationsbedingten Verletzungen der Trigeminusäste beobachtet und ist in der Regel mit neurologischen Defiziten verbunden (Thieme 2016). Bei der anhaltenden somatoformen Schmerzstörung, die dem AIGS sehr ähneln kann, ist ein anamnestischer Zusammenhang zu einer psychosozialen Belastungssituation oder inneren Konfliktsituation von wesentlicher diagnostischer Bedeutung (Peschen-Rosin 2002).

Zönästhesien werden den schizophrenen Erkrankungen zugerechnet.

2.2 Mundbrennen – Burning-Mouth-Syndrom (BMS)

Die IHS charakterisiert das Syndrom des brennenden Mundes (BMS) in der 3. Auflage der Internationalen Kopfschmerzklassifikation (Beta Version, 2013) als „ein intraorales, brennendes oder dysästhetisches Empfinden, das täglich für mehr als zwei Stunden rekurriert und über mehr als drei Monate besteht, ohne eine klinisch nachweisbare ursächliche Läsion“.

Der Terminus BMS oder Stomatodynie bezieht sich auf die gesamte Mundhöhle. Beschränken sich die Beschwerden auf die Zunge, so sind regelrechte Zungenschmerzen – Glossodynie, Glossalgie – vom eigentlichen Zungenbrennen – Glossopyrosis, „hot tongue“ – zu unterscheiden.

2.2.1 Spezielle Pathophysiologie

Ätiopathogenetisch ist eine idiopathische Form von einer symptomatischen, multifaktoriell bedingten Variante, „burning mouth-like symptoms“ , streng zu trennen. Ursächlich werden neuropathische Mechanismen der Schmerzentstehung diskutiert. So konnten Jääskeläinen (2004) durch PET-Untersuchungen eine verminderte antinozizeptive dopaminerge Hemmung und Dysfunktion des nigrostriatalen Systems nachweisen. Lauria et al. (2005) wiesen eine verminderte Dichte epithelialer, dünner Nervenfasern mit morphologischen Zeichen einer diffusen Axondegeneration in Biopsaten der vorderen zwei Drittel der Zunge nach. Diese „small-fiber neuropathy“ ist durch einen erhöhten Anteil von Fasern mit positivem Nachweis des Hitze- und Capsaicin-Rezeptors TRPV1 und des Nervenwachstumsfaktors (NGF) gekennzeichnet. Khan et al. (2014) fanden eine veränderte Struktur und Funktion im Hippacampus und präfrontalen Cortex bei 9 Patientinnen mit BMS.

Inzidenz und Prävalenz des Krankheitsbildes sind nicht gesichert, da idiopathische und symptomatische Formen zumeist nicht differenziert werden. Kohorst et al. (2015) fanden in einer populationsbasierten Studie in Minesota eine Prävalenz von 0,11 % bzw.105,6 Fällen pro 100.000 Personen. Die altersadjustierte Häufigkeit unter Frauen war mit 168,6 pro 100.000 Personen (0,17 %) deutlich höher als bei Männern mit 35,9 pro 100.000 Personen (0,04 %). Die höchste Prävalenz ergab sich bei Frauen im Alter von 70 bis 79 Jahren mit 527,9 pro 100.000 Personen (0,53 %). Das mittlere Alter betrug 59,4 Jahre (Altersbereich von 25 bis 90 Jahre). Bergdahl et al. geben 0,7 bis 15 % für die schwedische Bevölkerung an (1999).

Gängige deskriptive Nomenklatur

  1. 1.

    Mundschleimhautbrennen

    • Idiopathisches Mundbrennen – „true BMS“, Stomatodynie

    • Symptomatisches Mundbrennen – „BMS-like conditions“

  2. 2.

    Zungenschmerz

    • Glossodynie

    • Glossalgie

  3. 3.

    Zungenbrennen

    • Glossopyrosis

    • „hot tongue“

2.2.2 Symptomatik

Charakteristisch ist ein quälendes Brennen, Prickeln, Jucken und Stechen an unterschiedlichen Stellen der Mundhöhle. Die Zungenspitze ist am häufigsten betroffen.

Diagnostische Kriterien (IHS 2013)

  1. A.

    Oraler Schmerz, der die Kriterien B und C erfüllt

  2. B.

    Täglich wiederkehrender Schmerz für > 2 Stunden und > 3 Monate anhaltend

  3. C.

    Der Schmerz weist beide der folgenden Charakteristika auf:

    1. 1.

      brennende Qualität

    2. 2.

      oberflächliches, in der Mundschleimhaut lokalisiertes Schmerzempfinden

  4. D.

    Die Mundschleimhaut weist ein normales Erscheinungsbild auf und die klinische Untersuchung, einschließlich der Quantitativen Sensorischen Testung (QST), ist normal

  5. E.

    Es existiert keine bessere Erklärung, die eine Zuordnung zu einer anderen ICHD-3–Diagnose erlauben würde

Die Symptome treten bilateral auf und können im Tagesverlauf schwanken. Ein einseitiges Vorkommen sollte Anlass zum Ausschluss lokaler Reizfaktoren, tumorbedingter oder neurologischer Veränderungen geben. Der Nachtschlaf wird in der Regel nicht gestört. Das häufig synchrone Vorkommen von Mundbrennen, Geschmacksstörungen (11 %) und Mundtrockenheit (66 %) veranlasste Nagler und Hershkovich (2004), das klinische Bild unter dem Begriff „Oral Sensorial Complaint“ zusammenzufassen.

Bei 41 bis 71 % werden Depression und Angststörungen beobachtet (Bogetto et al. 1998; Witt und Palla 2002). Häufig besteht eine Kanzerophobie.

2.2.3 Diagnose und Differenzialdiagnose

Analog zum AIGS ist das idiopathische Mundschleimhautbrennen als Ausschlussdiagnose zu betrachten. So müssen alle symptomatischen Formen wie lokale pathologische Prozesse, systemische Erkrankungen, aber auch Nebenwirkungen zahlreicher Medikamente berücksichtigt werden (Tab. 17).

Tab. 17 Die häufigsten Differenzialdiagnosen des symptomatischen Mundbrennens
2.2.3.1 Symptomatisches Mundbrennen – lokale Faktoren

Erkrankungen der Mundschleimhaut, Anomalien der Zunge, mechanische, chemische und infektiöse Irritationen, funktionelle Störungen des Kauapparates, Kontaktallergien und galvanische Reize durch unterschiedliche zahnärztliche Metalle sind abzuklären. Prothesenträger klagen zuweilen über Brennen und Jucken der Gaumenschleimhaut ohne erkennbare Schleimhautveränderungen. Diese Symptomatik („denture sore mouth“, DSM) sollte von einer allergischen Kontaktstomatitis unterschieden werden. Letztere ist an einer charakteristischen, scharf abgegrenzten Rötung der Gaumenschleimhaut im Bereich des Prothesenkontaktes zu erkennen. Die DSM-Symptomatik ist demgegenüber als Variante der idiopathischen Form des Mundbrennens anzusehen (van der Waal und Schulten 2000).

2.2.3.2 Symptomatisches Mundbrennen – systemische Faktoren

Als systemische Ursachen des Mundbrennens kommen zahlreiche Medikamente in Frage, die als Nebenwirkung mit Mundtrockenheit assoziiert sind, so u. a. Antihypertonika wie ACE-Hemmer, Neuroleptika, Antidepressiva, Benzodiazepine, Antiparkinsonika, Antihistaminika, L-Thyroxin und Zytostatika.

Durch paraklinische Untersuchungen sollten Anämien, Diabetes mellitus, Vitamin-B12- und Folsäuremangelzustände sowie Erkrankungen des Gastrointestinaltraktes ausgeschlossen werden. Mundbrennen kann als Rarität auch durch ein Akustikusneurinom hervorgerufen werden (Ferguson und Burton 1990).

Darüber hinaus ist eine mögliche psychische Komorbidität, Depression und Angststörung abzuklären.

2.3 Spezielle Therapie des AIGS und des idiopathischen Mundbrennens

Eine optimale Therapie des anhaltenden idiopathischen Gesichtsschmerzes und des idiopathischen Mundbrennens gibt es nicht.

Behandlungsziel ist die Schmerzlinderung und bessere Bewältigung der Schmerzsymptomatik (Coping). Eine vollständige Schmerzbeseitigung ist nicht erreichbar und sollte nicht versprochen werden. Zahnärztlich-chirurgische Interventionen sind kontraindiziert, da sie zur Chronifizierung und Schmerzverstärkung beitragen (Sommer et al. 2012).

Die pharmakologische Therapie des AIGS stützt sich auf die Empfehlungen und Leitlinien zur Behandlung neuropathischer Schmerzen, obwohl bisher kein evidenzbasierter Nachweis der Wirksamkeit auf den AIGS bekannt ist (Baron et al. 2010; Zakrzewska 2010; Sommer et al. 2012; Finnerup et al. 2015). Nach einer Metaanalyse von 229 RCT-Studien gelten als starke Empfehlungen für die pharmakologische Therapie des neuropathischen Schmerzes die α-2-δ- Calciumkanalblocker Gabapentin und Pregabalin, die Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin und Duloxetin sowie niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva wie Amitriptylin (Finnerup et al. 2015; Kap. 22, „Neuropathischer Schmerz“). Die Effektivität von Antikonvulsiva mit Wirkung auf spannungsabhängige Natriumkanäle wie Carbamazepin und Oxcarbazepin wurde nur als „inconclusive“ bewertet. Schwache Empfehlungen bestehen für die topische Anwendung von Lidocainpflastern, Tramadol und starken Opioiden. In einer Metaanalyse von 12 RCT-Studien zur Opioid-Anwendung bei neuropathischen Schmerzen (Kurzzeitstudien von 4–12 Wochen) ergab sich lediglich eine eingeschränkte Bewertung (Sommer et al. 2015). Dies kommt auch in der klinischen Leitlinie zur Langzeitanwendung von Opioden bei nichttumorbedingten Schmerzen (LONTS, Häuser et al. 2014/2015) zum Ausdruck.

Neben der medikamentösen Therapie kommt verhaltenstherapeutischen Strategien und Entspannungstechniken, Biofeedback, Bewegungstherapie, physio- und ergotherapeutischen Maßnahmen bei allen Formen des AIGS eine wichtige Rolle zu (Paulus et al. 2002).

Die transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) kann hilfreich sein. Sie ermöglicht dem Patienten außerdem eine aktive Mitarbeit an der Therapie. Lediglich Placebocharakter besitzen Maßnahmen wie Akupunktur, Neuraltherapie, analytische psychotherapeutische Verfahren oder neurolytische Nervenblockaden.

In einem systematischen Cochrane Review zur medikamentösen Therapie des BMS wurden 23 RCT-Studien (1121 Teilnehmer, 83 % Frauen) für den Zeitraum zwischen 1995 und 2015 ausgewertet (McMillan et al. 2016). Die Autoren fanden lediglich eine schwache Evidenz in Bezug auf die therapeutische Effektivität von Antidepressiva, Cholinergika, systhemischen Benzodiazepinen, Nahrungsergänzungsmitteln oder topischen Anwendungen.

Eine Kurzzeitwirkung ergab sich bei Mundspülungen mit Clonazepam (zwei Studien, 111 Teilnehmer) und der systemischen Anwendung von Gabapentin (eine Studie, 100 Teilnehmer). Ein Langzeit-Benefit (3 bis 6 Monate) wurde für Psychotherapie (eine Studie, 30 Teilnehmer), Capsaicin-Mundspülungen (eine Studie, 18 Teilnehmer) und die topische Anwendung von Clonazepam (eine Studie, 66 Teilnehmer) nachgewiesen. Studien mit Antikonvulsiva oder Antidepressiva zeigten keinen Langzeiterfolg.

Eine Hormonsubstitution zur Therapie des idiopathischen Mundbrennens ist nutzlos.

3 Kraniomandibuläre Dysfunktion (CMD)

Das Krankheitsbild der kraniomandibulären Dysfunktion (Myoarthropathie des Kausystems, Temporomandibular Disorder, TMD) umfasst eine Gruppe heterogener Störungen der Kaumuskulatur und Kiefergelenke mit den Leitsymptomen „Schmerzen in der Kaumuskulatur und/oder den Kiefergelenken“ und/oder „Störungen der Unterkieferbeweglichkeit“ und/oder „Kiefergelenkgeräusche“ wie Knacken und Krepitation. Die Beschwerden können mit schmerzbezogenen Einschränkungen der Lebensqualität, somatoformen Störungen, Angst und Depression verbunden sein. Die Prävalenz der schmerzhaften CMD in der deutschen Bevölkerung in den Altersgruppen der 35- bis 45-Jährigen wird mit 5 % angegeben. Frauen überwiegen gegenüber Männern im Verhältnis bis 9 : 1 (Türp und Schindler 2004).

3.1 Spezielle Pathophysiologie

Die CMD stellt keine nosologische Einheit dar. Die Ätiopathogenese ist nicht hinreichend geklärt. Als Risikofaktoren gelten Traumen, Parafunktionen, Okklusionsstörungen (Zahn- und Kieferfehlstellungen), insuffiziente Stressverarbeitungskompetenz, rheumatische Erkrankungen, genetische und hormonelle Faktoren.

Der Stellenwert der Okklusionsstörungen wird kontrovers diskutiert. Ältere gnathologische Hypothesen gelten als überwunden. In einer Metaanalyse populationsbasierter Studien zur Rolle variabler Okklusionsfaktoren und unterschiedlicher Typen von Malokklusion wurde nur eine schwache Evidenz für den Zusammenhang von Okklusion und schmerzhafter Dysfunktion gefunden (Gesch et al. 2004).

Das bio-psycho-soziale Krankheitsverständnis stützt sich auf eine mehrdimensionale Befunderhebung, die sowohl eine somatische (Achse-I) als auch eine psychosoziale (Achse-II) Dimension umfasst. Sie wurde 1992 von der Arbeitsgruppe Dworkin und LeResche unter dem Begriff der Research Diagnostic Criteria for Temporomandibular Disorders (RDC/TMD) erarbeitet. In der Folge wurde dieses diagnostische System durch das International RDC/TMD Consortium Network and Orofacial Pain Special Interest Group validiert und erweitert (Schiffman et al. 2010; Anderson et al. 2010; Peck et al. 2014).

Myofasziale Schmerzen überwiegen im klinischen Bild (Daubländer 2003). Sie sind auf Tonussteigerungen einzelner Kaumuskelgruppen, Koordinationsstörungen (z. B. Kokontraktionen antagonistischer Muskelgruppen) und Parafunktionen zurückzuführen (Schindler und Türp 2002). Letztere gelten als erlernte Form der Stressbewältigung (Schirmer und Kluge 2001). Typische Ausdrucksformen dieser „Habits“ sind Zähneknirschen (Bruxismus), Zähnepressen, Zungenpressen, Saug- und Beißphänomene sowie unphysiologische Unterkieferzwangshaltungen (z. B. unbewusster Vorschub).

Eine enge funktionelle Verbindung besteht zwischen der Muskulatur der Kiefergelenke und der Halswirbelsäule (Seedorf et al. 1999; Hülse et al. 2005). Patienten mit einer CMD weisen statistisch signifikant häufiger eine asymptomatische zervikale Dysfunktion der Wirbelbogengelenke auf (Fink et al. 2003).

Störungen der Kiefergelenkmechanik (internal derangement) z. B. durch Verlagerungen des Discus articularis, Diskusperforationen, intraartikuläre Adhäsionen, traumatische, entzündliche und degenerative Veränderungen stellen eine weitere kausalgenetische Gruppe der CMD dar.

Psychosoziale (Achse-II) Störungen sind häufig bei chronischen Verlaufsformen nachweisbar.

Unter 1149 Patienten mit CMD fanden Manfredini et al. (2010) bei 16,9 % schwere schmerzbezogene Beeinträchtigungen (graduierter chronischer Schmerzstatus [GCPS] Grad III und IV), bei 21,4 % schwere Depressionen (Symptoms Checklist-90, Scale for Depression) und bei 28,5 % Zeichen für Somatisierung (Symptoms Checklist-90, Scale for Non-specific Physical Symptoms).

Erweiterte diagnostische Achse-I-Kriterien der kraniomandibulären Dysfunktion (adaptiert nach Anderson et al. 2010)

Gruppe I: Muskuläre Funktionsstörungen

  1. I.a.

    Myofaszialer Schmerz

  2. I.b.

    Myofaszialer Schmerz mit eingeschränkter Mundöffnung

  3. I.c.

    Tendinitis temporalis

Gruppe II: Verlagerungen des Discus articularis

  1. II.a.

    Diskusverlagerung mit Reposition

  2. II.b.

    Diskusverlagerung ohne Reposition ohne eingeschränkte Mundöffnung

  3. II.c.

    Interne Funktionsstörung mit Diskusreposition mit temporär eingeschränkter Mundöffnung

  4. II.d.

    Interne Funktionsstörung ohne Reposition mit eingeschränkter Mundöffnung

Gruppe III: Arthralgie/Arthritis/Arthrosis

  1. III.a.

    Arthralgie/Arthritis

  2. III.b.

    Osteoarthritis

  3. III.c.

    Osteoarthrosis

Gruppe IV: Hypermobilität

  1. IV.a.

    Subluxation/Luxation

Gruppe V: Kopfschmerz vom Spannungstyp mit Schmerzen des M. temporalis (IHS 2013)

3.2 Klinische Symptome

Die Symptomatik erstreckt sich von einer fast schmerzlosen Beeinträchtigung der Unterkieferbeweglichkeit und/oder störendem Kiefergelenkknacken bis hin zu neuralgiformen Schmerzattacken.

Typisch sind einseitige oder beidseitige, zum Ober- und Unterkiefer, zum Ohr (Otalgie), in die Zähne, die Zunge, die Orbita, die Schläfen- und Stirnregion ausstrahlende Schmerzen mittlerer und starker Intensität, die wechselnd dumpf, stechend oder einschießend geschildert werden. Bei der Mundöffnung können S-förmige Seitabweichungen des Unterkiefers oder wechselnd ausgeprägte Öffnungsblockaden auftreten. Eine evidenzbasierte, prospektive 5-Jahres-Studie an 165 Probanden ergab, dass die Muskelschmerzen bei 31 % durchgehend persistierten, bei 33 % verloren sich die Beschwerden definitiv (Ausheilung) und bei 36 % ergaben sich wechselhafte Verläufe mit zeitweisen Remissionen und Rezidiven (Rammelsberg et al. 2003). Die CMD wird aufgrund der Vielgestaltigkeit ihrer Symptome auch als Chamäleon des Gesichtsschmerzes bezeichnet. Zu somatisch gut nachweisbaren Befunden (klinische und instrumentelle Diagnostik, bildgebende Befunde) gesellen sich unspezifische Symptome wie Mundbrennen, Hypo- oder Hypersialie, Dysgeusie, Schwankschwindel, Tinnitus, unspezifische otologische Symptome (Gefühl des „belegten Ohres“) in wechselnder Häufigkeit. Patienten mit CMD leiden in hohem Maße auch an Nacken- und Rückenschmerzen (Kohlmann 2002). Die CMD kann mit Fibromyalgie (chronic widespread pain) und anderen funktionellen somatischen Schmerzsyndromen assoziiert sein (Häuser et al. 2004).

Die IHS führt unter 11.7 die Kriterien des auf eine CMD zurückzuführenden Kopfschmerzes auf (IHS 2013).

Diagnostische Kriterien des auf eine CMD zurückzuführenden Kopfschmerzes (IHS 2013)

  1. A.

    Jeder Kopfschmerz, der das Kriterium C erfüllt

  2. B.

    Klinische und/oder bildgebende Evidenz eines pathologischen Prozesses, der das Kiefergelenk, die Kaumuskulatur und/oder assoziierte Gewebe betrifft

  3. C.

    Ursächliche Evidenz durch zumindest zwei der folgenden Faktoren:

    1. 1.

      Der Kopfschmerz entwickelte sich in zeitlicher Beziehung zum Beginn der kraniomandibulären Dysfunktion

    2. 2.

      Nachweis eines oder beider folgender Zusammenhänge:

      1. a.

        der Kopfschmerz verstärkte sich parallel zum Fortschreiten der CMD signifikant

      2. b.

        der Kopfschmerz verringerte sich parallel zur Besserung oder Beseitigung der CMD signifikant

    3. 3.

      Der Kopfschmerz wird durch aktive oder passive Kieferbewegungen, durch den Bewegungsumfang und/oder Provokationstests wie Druck auf die Kiefergelenkstrukturen und umgebenden Kaumuskeln ausgelöst oder verstärkt

    4. 4.

      Einseitiger Kopfschmerz tritt ipsilateral zur Seite der CMD auf

  4. D.

    Es existiert keine bessere Erklärung, die eine Zuordnung zu einer anderen ICHD-3–Diagnose erlauben würde

3.3 Diagnose und Differenzialdiagnose

Die Diagnose basiert auf der RDC/TMD-Klassifikation der unterschiedlichen klinischen Erscheinungsformen der CMD (Empfehlung der IHS 2013).

Die Vielgestaltigkeit der Beschwerdebilder erfordert den differenzialdiagnostischen Ausschluss zahlreicher Gesichtsschmerzsyndrome in Analogie zum AIGS (Tab. 16).

3.4 Spezielle Therapie

Grundsätzlich sind nichtinvasive Therapiemaßnahmen zu bevorzugen.

Irreversible Veränderungen der Okklusion wie Einschleifen des Gebisses sind kontraindiziert (Koh und Robinson 2003).

Die Therapie der nichtchronischen Formen stützt sich auf Patientenaufklärung, physikalische Therapie und Krankengymnastik, Myotonolytika und nichtsteroidale antiphlogistische Analgetika, dentale Schienentherapie und Entspannungstechniken (Palla 2002; Medlicott und Harris 2006). Abnehmbare dentale Schienen dienen der okklusalen Adjustierung, Myorelaxation und Kiefergelenkentlastung. Sie sind bei nächtlichem Bruxismus, schmerzhaften Diskopathien und Arthrosen sowie zum Ausgleich von Malokklusionen indiziert.

Zwei Metaanalysen von 10 RCT-Studien zur Anwendung dentaler Stabilisierungsschienen bei insgesamt 601 Patienten ergaben eine moderate Effizienz fester Stabilisierungsschienen zur Schmerzreduktion (Fricton et al. 2010). Transkutane elektrische Nervenstimulation (TENS) und Akupunktur können versucht werden. Eine kleine RCT-Studie zur Anwendung von Botulinumtoxin Typ A bei chronifizierter CMD ergab keinen Vorteil gegenüber isotoner Kochsalzlösung (Ernberg et al. 2011).

Die Therapie der chronifizierten Form der CMD verlangt über das genannte Vorgehen hinaus ein multimodales, interdisziplinäres Prozedere unter Einbeziehung schmerzpsychotherapeutischer Verfahren. Als günstig erweisen sich verhaltenstherapeutische Strategien, Entspannungstechniken, Biofeedback, kombinierte physio- und ergotherapeutische Maßnahmen. Niedrig dosierte trizyklische Antidepressiva können unterstützend eingesetzt werden.

Chirurgische Verfahren wie Arthrozentese, Arthroskopie, Diskusplastiken, Diskusexzision, Kondylotomie oder Gelenkendoprothetik kommen nur nach Ausschöpfung der relevanten konservativen Therapiemaßnahmen in sehr seltenen Fällen in Frage.