1 Einleitung

Ein Schlitzohr mit Flugangst

Zur Saison 2006 wechselte der peruanische Stürmer Paolo Guerrero Gonzales vom FC Bayern München zum Hamburger SV. Für die Hamburger erzielte er in den folgenden 6 Spielzeiten viele wichtige Tore in der Fußball-Bundesliga und im Europapokal. Nach einem erfolgreichen Europa-League Spiel in Portugal trat Guerrero am 20.09.2009 zusammen mit seinem Team per Flugzeug die Heimreise nach Hamburg an. Unterwegs bemerkte der Pilot, dass die Maschine Hydraulikflüssigkeit verlor, und entschied sich zur Notlandung in Paris. Einige der Mitreisenden, darunter Guerrero, reagierten geschockt auf den plötzlichen Sturzflug. Guerrero hatte bereits 1987 einen Onkel bei einem Flugzeugabsturz verloren. Auf den Flug angesprochen, zitierte das »Hamburger Abendblatt« ihn mit den Worten: »Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.« Während der Zwischenfall bei seinen Teamkollegen keine bleibenden Eindrücke hinterließ, wurde für Guerrero fortan jede Flugreise zu einem schieren Höllenritt und hinderte ihn an seiner Berufsausübung. Beispielsweise verpasste er im Januar 2010 den Trainingsauftakt seines Vereins, da er in Lima trotz Begleitung durch extra zur Unterstützung mitreisende Familienmitglieder 5-mal vergebens versucht hatte, ein Flugzeug zu besteigen, das ihn nach Hamburg zurück bringen sollte. Kurzzeitig dachte man sogar, ihn per Schiff zurückholen zu müssen. Auf einem anderen Flug erlebte Guerrero solch einen heftigen Panikanfall, dass der Pilot sich gezwungen sah umzukehren und eine wichtige medizinische Behandlung seines lädierten Knies nicht durchgeführt werden konnte. Ein anderes Mal verkrampfte er sich auf einem Flug so heftig, dass eine längst verheilte Oberschenkelverletzung wieder aufbrach. Aufgrund dieser Probleme drohten Vertragsverlängerungen Guerreros beim HSV mehrfach zu scheitern, und der ohnehin als Schlitzohr bekannte Stürmer hatte, trotz oft guter Leistungen, einen schweren Stand bei den Fans. Seit seinem Wechsel nach Brasilien 2012 muss der Südamerikaner nun weniger fliegen.

Auch wenn die Vermutung nahe liegt, dass Guerrero und der folgende Prominente nicht allzu viel gemeinsam haben, teilt sich der Fußballer seine schweren situativen Furchtsymptome mit Johann Wolfgang von Goethe. Wie bereits in Bd. II/1 erwähnt, litt die Ikone deutscher Dichtkunst ebenfalls unter einer Vielzahl situativer Ängste: Panikattacken in großen Höhen, starke Furcht in der Dunkelheit und die Angst, sich an stark verschmutzten Orten aufzuhalten, sind davon nur die bekanntesten. Auch in diesem Aspekt seiner Zeit weit voraus, unterzog sich Goethe aber einigen erfolgreichen Selbstbehandlungsversuchen. So ist z. B. bekannt, dass er in seiner Straßburger Zeit den mit 142 m damals höchsten Turm der Welt des Straßburger Münsters Schritt für Schritt bestieg und jedes Mal so lange abwartete, bis seine Furcht nachließ. In seiner Autobiographie Aus meinem Leben gibt er Auskunft über die subjektive Wirksamkeit seiner Expositionstherapie:

»Dergleichen Angst und Qual wiederholte ich so oft, bis der Eindruck mir ganz gleichgültig ward. […] Ich habe es auch wirklich darin soweit gebracht, daß nichts dergleichen mich jemals wieder aus der Fassung setzen konnte« (Goethe 1812, S. 337).

2 Darstellung der Störung

Sicherlich werden in diesem Band Störungen beschrieben, deren Symptome das Leben der Betroffenen nachhaltiger und überdauernder beeinträchtigen als spezifische Phobien. Phobische Störungen werden hinsichtlich ihres Krankheitswertes, der Einschränkungen für die Betroffenen und des resultierenden Leidensdrucks trotzdem häufig extrem unterschätzt. Das hat vor allem zwei Gründe: Einer davon ist, dass ihr prominentestes Symptom, die phobische Furchtreaktion, durch eine bestimmte Situation oder ein Objekt bzw. den Gedanken daran ausgelöst wird. Bei den meisten Angst- und anderen psychischen Störungen hingegen erleben die Betroffenen zumeist spürbare Symptome deutlich zeitstabiler und intersituativ, obwohl deren Ursprung, Anzahl und Intensität ebenfalls durch situative Faktoren beeinflusst werden können. Für Phobiker erscheint es aber vergleichsweise einfacher, den Kontakt mit dem furchtauslösenden Reiz zu vermeiden und so den Störungssymptomen zu entfliehen. Tatsächlich sind auch einige Phobiker selbst der Ansicht, dass es ihnen ja gut gehe, solange sie es nur irgendwie hinbekämen, ihre gefürchtete Situation erfolgreich zu vermeiden. Je nach Art der furchtauslösenden Situation oder des gefürchteten Objekts ist das aber unterschiedlich schwierig, und der dafür zu betreibende Aufwand kann sehr hoch sein. Löst z. B. der Anblick einer Schlange eine extrem heftige Reaktion aus, entsteht für den Betroffenen aus diesem Problem wahrscheinlich nie eine massive Belastung, wenigstens solange er diesbezüglich das Glück hat, in einer mitteleuropäischen Großstadt zu leben. Die zufällige Begegnung mit einer Schlange ist dort nahezu ausgeschlossen und die Vermeidung kostet keine Mühe. Zwar ist es ein Ärgernis, wenn die Urlaubsreise nach Südostasien aus Angst vor den Kriechtieren entfallen muss, aber in Spanien gibt es ja auch schöne Strände. Was aber, wenn z. B. der Gang zur Zahnbehandlung regelmäßig so eine starke Furcht auslöst, dass selbst bei stärksten Schmerzen keine Behandlung mehr durchgeführt werden kann oder die 10 km lange Fahrt zum Arbeitsplatz irgendwann 2 h dauert, weil z. B. alle Brücken weiträumig umfahren werden müssen? In beiden Fällen sind die Einschränkungen für die Betroffenen enorm, und die Vermeidung ist extrem anstrengend oder verursacht sogar große Folgeprobleme. Während z. B. bei Menschen ohne Zahnbehandlungsangst durchschnittlich 1–2 dringend behandlungsbedürftige Zähne im Mund schlummern (Institut der deutschen Zahnärzte 2006), sind dies bei Menschen mit einer Zahnbehandlungsphobie 8–9 (Wannemüller et al. 2011).

Die Konfrontation mit dem phobischen Reiz oder der Situation zu vermeiden, ist für Betroffene spezifischer Phobien unterschiedlich schwierig. Aus den Konsequenzen des Vermeidungsverhaltens können aber schwere Einschränkungen und Leiden für die Betroffenen resultieren.

Der zweite Grund dafür, weshalb phobische Furchtreaktionen von vielen unterschätzt werden, geht darauf zurück, dass den meisten Menschen subklinische, leichte Furchtreaktionen gut bekannt sind. Wer empfindet z. B. nicht manchmal ein mulmiges Gefühl während eines schweren Gewitters oder eine leichte körperliche Verkrampfung wenn er sich an eine hohe Klippe annähert oder von ihr herunter blickt? Dagegen ist z. B. emotionales Numbing bei posttraumatischer Belastungsstörung oder desorganisiertes Denken im Zuge einer Erkrankung aus dem schizophrenieformen Spektrum den meisten Menschen vollkommen unbekannt. Wir neigen dazu, Fremdes tendenziell als bedrohlich wahrzunehmen und Bekanntes als gefahrloser. Folglich wird der aus weniger bekannten Störungen resultierende Leidensdruck automatisch höher eingeschätzt. Menschen mit Phobien hingegen werden oft eher belächelt oder sogar als »Weicheier« und »Angsthasen« diskreditiert. Wer aber einmal Gelegenheit hatte, die Heftigkeit einer phobischen Furchtreaktion mitzuerleben, die sogar mit echter Todesangst einhergehen kann, weiß spätestens dann, wie qualvoll diese Erfahrung ist und dass solche Anschuldigungen ungerechtfertigt sind. Leider führt das Image der spezifischen Phobie nach wie vor dazu, dass Betroffene oft selbst nicht richtig einschätzen können, inwieweit die Schwere ihrer Symptome tatsächlich eine professionelle Behandlung rechtfertigt oder vielleicht doch eher das Produkt eigener Übertreibung oder Aggravation darstellt, wofür man sich eigentlich sogar schämen müsse. Aus diesem Grund zögern sie oft jahrelang, eine Behandlung zu beginnen, und die Störung besteht meist Jahrzehnte lang.

Die Phänomenologie spezifischer Phobien unterscheidet sich deutlich von nur leichten, subklinischen Furchtreaktionen. Wie bereits aus der Übersetzung des griechischen Wortes »φόβος«, phobos = Furcht ersichtlich wird, besteht das Kernmerkmal spezifischer Phobien in massivem Furchterleben, ausgelöst durch die tatsächliche oder antizipierte Exposition mit dem phobischen Stimulus. Ein zweites Merkmal ist das Angsterleben, das sich z. B. durch katastrophisierende Erwartungen und Fehlannahmen in Bezug auf zukünftige Begegnungen mit dem gefürchteten Stimulus ausdrückt. Das Auftreten von Angst ist folglich weniger von der körperlichen oder antizipierten Nähe zur Bedrohungsquelle abhängig.

Furcht und Angst sind nicht dasselbe. Unter Furcht ist die biologisch prädisponierte Reaktion auf eine reale oder wahrgenommene unmittelbare Bedrohung zu verstehen. Angst bildet die Stärke der Disposition ab, zukünftige Ereignisse als bedrohlich zu antizipieren. Bei Phobikern bestehen starke Furcht-, aber auch Angstsymptome in Bezug auf den phobischen Reiz.

Bislang ist noch nicht eindeutig geklärt, ob prinzipiell jedes Objekt oder jede Situation zu einem phobieauslösenden Stimulus werden kann. Bekannt ist aber, dass Menschen und Tiere gleichermaßen dazu neigen, auf bestimmte Reize eher furchtsam zu reagieren als auf andere, und dass einige Reize, z. B. nährstoffreiche Nahrung, schlechter oder sogar überhaupt nicht mit Furcht assoziiert werden können (s. Bd. II/2.4). Trotzdem gibt es sehr viele Objekte, Tiere und Situationen, die zum Gegenstand phobischer Furcht werden können, weshalb man die Stimuli aktuell auf der Basis ihrer Ähnlichkeit sowie aufgrund der durch sie evozierten Reaktionsmuster insgesamt 5 Klassen zuordnet: den Tierphobien, den situativen Phobien (z. B. Guerreros Flugphobie), den Phobien vom Umwelt-Typus (z. B. Höhen oder Gewitter), den Blut-Spritzen-Verletzungsphobien (z. B. invasive ärztliche Eingriffe, Spritzengaben) und einer Kategorie für alle anderen, den sog. anderen Phobien (z. B. Furcht vor dem Erbrechen, sich zu verschlucken und zu ersticken usw.).

2.1 Die phobische Furchtreaktion

Die phobische Furchtreaktion wird zuverlässig durch eine geringe Distanz zum phobischen Stimulus ausgelöst. Die mit ihr einhergehenden körperlichen, gedanklichen und Verhaltensmerkmale sind nicht an sich pathologisch, sondern können in Phasen tatsächlicher Bedrohung und Lebensgefahr sogar eine funktionale Reaktion auf einen Ausnahmezustand sein. Die hochintensive Furchtreaktion versetzt den Organismus nämlich in die Lage, schnell fliehen oder sich gegen einen Angriff verteidigen zu können (sog. »flight or fight reaction«). Die objektive Bedrohungslage rechtfertigt im Falle der Phobie jedoch keinesfalls die Intensität der Reaktion. Somit ist sie dysfunktional, da sie einerseits situationsunangemessen stark ist und andererseits nicht mehr adaptiv moduliert werden kann.

2.1.1 Körperliche Merkmale

Die körperlichen Merkmale dieser Reaktion zeichnen sich insbesondere durch Prozesse aus, die über eine Erregung des sympathischen Nervensystems und der damit einhergehenden Ausschüttung von Stresshormonen wie Adrenalin und Noradrenalin vermittelt werden. In einigen Studien (z. B. Alpers et al. 2003) konnten auch erhöhte Glucokortikoid-Konzentrationen (Cortisol) während der Exposition mit dem phobischen Stimulus in Blut und Speichel festgestellt werden, in anderen wurde dies jedoch nicht nachgewiesen (z. B. van Duinen et al. 2010).

Die sympathikotone Erregung zeigt sich häufig in einem Puls- und Atemfrequenzanstieg sowie einem Blutdruckanstieg. Betroffene berichten dies häufig als aufsteigendes Hitzegefühl, Herzklopfen oder -rasen und Kurzatmigkeit. Die muskuläre Aktivität sowie die Erregbarkeit ekkriner Schweißdrüsen steigen an, was sich in einem Gefühl extremer körperlicher Anspannung oder Zittern sowie vermehrtem Schwitzen äußert. Das Hochstresserleben kann in Phasen der akuten Konfrontation mit dem phobierelevanten Stimulus sogar zu Derealisations- und Depersonalisationsphänomenen führen. In diesem Zusammenhang äußern Betroffene häufig, alles »wie durch Watte« oder Geräusche »von ganz weit weg« sowie Distanzen verzerrt wahrzunehmen. Sie fühlen sich »fremd in der eigenen Haut« oder haben den Eindruck, neben sich zu stehen. Die Auslösbarkeit und Intensität von Defensivreflexen, z. B. des Schreckreflexes, sind massiv gesteigert. Das Ausmaß der Symptome kann die Intensität einer situationsgebundenen Panikattacke erreichen, z. B. dann, wenn die veränderte Atmung zu Erstickungsgefühlen führt und sich die Symptome durch die empfundene Todesangst weiter aufschaukeln.

Die große Ausnahme…

Hinsichtlich der körperlichen Symptome einer phobischen Furchtreaktion bildet der Typ der Blut-Spritzen-Verletzungsphobien (BSV) eine Ausnahme, da bei ca. 75 % aller Betroffenen auf die anfängliche Aktivierungsreaktion eine vasovagale (Gegen-)Reaktion erfolgt. Im Rahmen dieser biphasischen Reaktion kommt es nach der anfänglichen sympathikotonen Aktivierung zu einer plötzlichen Pulsfrequenzabnahme und einem Blutdruckabfall, hervorgerufen durch die gefäßerweiternde (vasodilatorische) und kardioinhibierende Wirkung einer Übererregung des Nervus vagus. Ein anhaltender Vagotonus kann zu einem vorübergehenden Ohnmachtsanfall (vasovagale Synkope) führen. Aus evolutionsbiologischer Perspektive kann die Ohnmachtsreaktion sogar adaptiv sein, denn sie führt im Falle von Verletzungen zu einem verminderten Blutverlust. Außerdem verlieren Angreifer häufiger und schneller das Interesse an einem leblos wirkenden Körper als an herumzappelnden Opfern (s. Schienle und Leutgeb 2012). Die Zahnbehandlungsphobie wird zwar nach wie vor den Blut-Spritzen-Verletzungsphobien zugeordnet, Betroffene zeigen aber eher klassische, sympathikoton gesteuerte körperliche Symptome. Das spricht gegen die Zugehörigkeit der Zahnbehandlungsphobie zu diesem Phobietypus (s. Sartory und Wannemüller 2011).

Während der Konfrontation mit phobierelevanten Reizen ist die Aktivität bestimmter Hirnareale erhöht. Dabei handelt es sich weitgehend um dieselben Areale, denen eine zentrale Bedeutung bei der Initialisierung und Steuerung physiologischer und motorischer Komponenten nicht-klinischer Furchtreaktionen zugeschrieben wird. Die Areale, die in Phasen der unmittelbaren Konfrontation mit einem phobierelevanten Stimulus den stärksten Aktivitätszuwachs erfahren, sind die linkshemisphärische Amygdala und die linkshemisphärische Insula (vgl. Ipser et al. 2013). Die Amygdala wird traditionell als das wichtigste Zentrum für die Detektion der Salienz aversiv-bedrohlicher Stimuli angesehen. Sie erhält sensorische Informationen aus dem Kortex und, sehr wichtig wenn es um schnelle Reizverarbeitungsprozesse geht (vertiefend s. LeDoux 2003), direkt aus dem Thalamus. Somit können durch aus der Amygdala absteigende Fasern defensive Reaktionen vorbereitet und aktiviert werden, ohne dass zuvor bereits eine elaborierte Reizverarbeitung stattgefunden hat. Die Bedeutung der Insula im Kontext der Furchtreaktion scheint darin zu bestehen, sensorische Information bzgl. ihres emotionalen Gehalts zu diskriminieren. Außerdem ist sie an der Regulation der Ekelempfindlichkeit (»disgust sensitivity«) beteiligt.

Bei phobischen Furchtzuständen und adaptiven Furchtreaktionen erfahren weitgehend die gleichen subkortikalen Hirnareale einen Aktivierungszuwachs! Phobiker zeigen aber auf phobierelevante Reize eine stärkere Aktivierung als auf andere aversive Reize, sodass deren subkortikales Furchtsystem für diese Reize besonders sensitiviert zu sein scheint.

2.1.2 Gedankliche Merkmale

Auf den Moment der Exposition mit der gefürchteten Situation oder dem Objekt angesprochen, berichten Menschen mit spezifischen Phobien manchmal, sich an keine bewussten Gedanken zu erinnern. Eine typische Äußerung ist z. B.: »Ich war so aufgeregt, dass ich gar nichts mehr denken konnte und einfach nur weg wollte.« Genauer betrachtet, handelt es sich bei der Aussage allerdings um die Verbalisation eines Fluchtgedankens. Folglich denken Menschen im Moment der Begegnung mit dem gefürchteten Reiz also doch an etwas. Der obigen Definition von Furcht und Angst folgend, ist der Gedanke an Flucht, resultierend aus der Konfrontation mit dem phobischen Reiz, ein klassischer Furchtgedanke. Weitere häufig geäußerte gedankliche Reaktionen bei der Konfrontation mit dem phobischen Reiz und den körperlichen Furchtsymptomen sind z. B., die Kontrolle über sich und seinen Körper zu verlieren, bewusstlos oder »verrückt« zu werden. Nicht selten wird sogar die Überzeugung geäußert, sterben zu müssen.

Die im Exkurs erwähnten Annahmen haben zur Folge, dass Betroffene die Begegnung mit dem gefürchteten Stimulus auch zukünftig als sehr bedrohlich einschätzen und vermeiden werden. Ihnen liegen aber einige bedeutsame Fehlannahmen über die Furchtreaktion, eigene Copingmöglichkeiten im Umgang damit sowie den gefürchteten Stimulus an sich zugrunde. Letztere sind sehr von der spezifischen Situation bzw. dem Objekt abhängig, daher können hier nur einige recht typische Fehlannahmen aufgezählt werden.

Typische Fehlannahmen

… in Bezug auf die Furchtreaktion

  • Furcht kann den Körper schädigen. Viele Menschen mit spezifischen Phobien gehen davon aus, dass die Konfrontation mit dem phobischen Stimulus zu solch einer heftigen Furchtreaktion führen könnte, dass dies den Körper schädigt. Beispielsweise wird häufig ein Herzinfarkt, Ersticken oder eine plötzliche Ohnmacht befürchtet.

  • Furcht kann sich endlos weiter steigern oder bleibt über lange Zeit auf Maximalniveau. Insbesondere zu Beginn der Konfrontation mit dem phobischen Stimulus erleben die meisten Menschen zumeist einen schnellen Furchtanstieg. Der ersehnte Rückgang der Furcht wird meist erst im Zuge der Vermeidungsreaktion erlebt. Dadurch fehlt vielen jegliche Erfahrung mit dem Verlauf der Furchtreaktion, und sie nehmen z. B. an, dass sie über die Zeit immer heftiger werde oder so lange auf dem Maximalniveau bestehe, wie die Exposition mit dem phobischen Objekt andauert.

  • Furcht führt zu Kontrollverlust bzw. unkontrollierten Reaktionen. Manchmal nehmen Phobiker auch an, ihre Furcht führe zu unkontrollierten Reaktionen. Insbesondere wird befürchtet, dass Furcht genau die unkontrollierte Reaktion auslösen könnte, die im jeweiligen Kontext am meisten gefürchtet wird (z. B. plötzlich von einem Vorsprung in die Tiefe zu springen; so steif vor Angst sein, dass man sich dem »Angriff« des Tieres nicht mehr erwehren könne; so aufgeregt sein, dass man nicht still halten könne und deshalb der Zahnarzt in die Wange bohre oder der Arzt mit der Spritze abrutsche).

  • Die Furchtreaktion ist nicht kontrollier- oder bewältigbar. Die Fehlannahmen bezüglich der Furchtreaktion begünstigen die bei vielen Betroffenen vorhandene Annahme, dass ihnen keinerlei Mittel zur Verfügung stünden, die Furcht in der spezifischen Situation kontrollieren oder irgendwie bewältigen zu können.

… in Bezug auf eigene Bewältigungsmöglichkeiten und den phobischen Stimulus

  • Hilflosigkeit und Ausgeliefertsein. Viele Phobiker gehen davon aus, dass sie dem phobischen Stimulus gegenüber vollkommen hilflos ausgeliefert sind und über keinerlei Kompetenzen verfügen mit ihm umzugehen. Diese Annahmen sind häufig bei Tier-, Umwelt- sowie Blut-Spritzen-Verletzungsphobikern.

  • Katastrophisierungen und Überschätzung von Wahrscheinlichkeiten. Aufgrund der Negativerfahrungen in der phobierelevanten Situation oder mit dem phobischen Stimulus wird manchmal sowohl die Bedrohlichkeit des phobischen Stimulus als auch die Wahrscheinlichkeit eines negativen Ausgangs der Konfrontation damit dramatisch überschätzt (z. B. »Der Hund bzw. die Spinne wird mich auf jeden Fall beißen«; »Ich werde beim Zahnarzt bzw. der Spritzengabe bestialische Schmerzen haben«, usw.).

Bei der Behandlung spezifischer Phobien (s. Bd. II/2.5) wird häufig auf eine explizite Bearbeitung dysfunktionaler Kognitionen und Annahmen im Zusammenhang mit dem phobischen Reiz verzichtet. Die hohe Wirksamkeit expositionsbasierter Verfahren spricht demnach dafür, dass es im Zuge der Exposition, z. B. durch die Verletzung von negativen Erwartungen, implizit auch zu einer Korrektur furchtfördernder Annahmen kommt.

2.1.2.1 Exkurs
2.1.2.1.1 Todesangst

Todesangst im Moment der Konfrontation mit dem phobischen Reiz kann durch Annahmen über die körperlichen Reaktionen, die Unkontrollierbarkeit eigener Reaktionen oder die Bedrohlichkeit des phobischen Stimulus entstehen.

Konsequenzen der körperlichen Symptome

Es besteht z. B. häufig die Annahme, dass die körperliche Furchtreaktion so heftig ausfallen könne, dass der Organismus nicht imstande sei, diese auszuhalten (»Mein Herz hat wie verrückt geschlagen. Ich stand ganz kurz vor einem Herzinfarkt«).

Unkontrollierbarkeit eigener Reaktionen

Manchmal ist aber auch die erwartete Unkontrollierbarkeit körperlicher Reaktionen ursächlich für Todesangst (»Jedes Mal, wenn ich mich auf einen Abgrund oder eine große Höhe zubewege, denke ich, dass ich plötzlich herunterspringe, ohne es zu wollen«).

Attribute des phobischen Stimulus

Es kann auch vorkommen, dass der furchterregende Reiz als so gefährlich eingeschätzt wird, dass er subjektiv eine Bedrohung für Leib und Leben darstellt (»Ich dachte, die Schlange wird mich sofort angreifen, beißen und ihr Gift wird bei mir zu einem Herzstillstand führen«).

2.1.3 Verhaltensmerkmale

Wie bereits erwähnt, besteht die Funktion der körperlichen Veränderungen im Rahmen der phobischen Reaktion in der Vorbereitung von Flucht und Kampf. Tatsächlich sind Flucht und Verteidigung lebensrettende Verhaltensweisen in Bedrohungslagen. Wie oben geschildert, beurteilen Phobiker die relevante Situation i.d.R. als hoch-, manchmal sogar als lebensbedrohlich. Folglich müssten sie also bei jeder Exposition mit dem phobischen Reiz sofort Reißaus nehmen oder defensiv-aggressiv reagieren. Manchmal kommt dies tatsächlich auch vor: So berichten z. B. Zahnärzte in Praxen, die auf Angstpatienten spezialisiert sind, manchmal von einem wundersamen Verschwinden ihrer Patienten aus dem Wartebereich, und einige wurden auch schon zu Opfern von im Behandlungsstuhl wild um sich schlagenden Patienten, die das Einführen des Bohrers in die Mundhöhle abwehren wollten. Zuweilen zeigt sich jedoch eine bemerkenswerte Diskordanz zwischen der subjektiven Furcht und der körperlichen Erregung auf der einen und dem Verhalten auf der anderen Seite (s. Rachman und Hodgson 1974). Viele Betroffene quälen sich trotz starker Furcht immer wieder in die phobische Situation und unterdrücken den Impuls, sich gewaltsam aus der Situation zu befreien. Wahrscheinlich modulieren soziale, situative und Persönlichkeitsfaktoren das Zusammenspiel der Ebenen, auf denen phobische Furchtsymptome bestehen.

Wie bei vielen Angststörungen ist Vermeidung auch im Zusammenhang mit spezifischen Phobien ein wesentliches Verhaltensmerkmal und spielt eine wichtige Rolle bei der Aufrechterhaltung der Störung (s. Bd. II/2.4). Denn einerseits wirkt Vermeidung furchtlindernd, andererseits hindert sie die Betroffenen daran, neue, ihre Befürchtungen korrigierende Erfahrungen im phobischen Kontext zu sammeln. Vermeidung kann sehr facettenreich sein und bedeutet oft mehr, als dem einen gefürchteten Stimulus aus dem Weg zu gehen. Bei stark ausgeprägten Phobien neigen Betroffene z. B. dazu, alle irgendwie phobierelevanten Reize zu vermeiden.

Wie eine Phobie entstehen kann…

Herr S. hat panische Angst vor Spritzen, Blut und ärztlichen Behandlungen. Das Problem begann bei einer stationären Behandlung vor 8 Jahren, als eine Kanüle aus der Ader seines Armes riss, Blut herausspritzte und ihm übel und schwarz vor Augen wurde. Unmittelbar nach seiner Krankenhausentlassung dachte er zunächst, mit dem Schrecken davongekommen zu sein. Allerdings bemerkte er, dass ihm fortan bei Fernsehberichten über Operationen oder ärztliche Behandlungen schlecht wurde und er weiche Knie bekam. Überrascht, solche Sendungen so schwer aushalten zu können, begann er, das Fernsehprogramm umzuschalten, sobald dieses Thema zur Sprache kam. Schnell kam ihm die Idee, vorzubeugen und die Auswahl seines Programms sorgfältig nach den Gesichtspunkten »kein Blut, keine Spritzen« zu treffen. So konnte er nicht mehr unangenehm überrascht werden. Außerdem zögerte er, einen längst fälligen Termin bei seinem Hausarzt zu vereinbaren, in der festen Annahme, von diesem bei nächster Gelegenheit auf die Aktualisierung seines Impfstatus angesprochen zu werden. Wie sollte er bloß erklären, dass er unmöglich eine Spritze bekommen könne? Zum Zahnarzt ging Herr S. auch nicht mehr, denn dort schätzte er die Wahrscheinlichkeit einer Spritzengabe oder der Konfrontation mit Blut besonders hoch ein. In der Folgezeit stieg sein schlechtes Gewissen stetig an, denn er war mittlerweile der Hausarztvisite schon 3 Jahre fern geblieben. Eine wichtige Vorsorgeuntersuchung stand auch schon lange aus. Mittlerweile empfand er auch die stetigen Nachfragen und Aufforderungen seiner Frau, endlich zum Arzt zu gehen, als zunehmend unangenehm und belastend. Ihr gegenüber bestand er aber darauf, dass es sich schließlich um seine eigene Gesundheit handele und er frei in seiner Entscheidung sei, wann und ob er zum Arzt gehe.

Je mehr Probleme Herr S. mit dem Arztbesuch verband, umso rigoroser achtete er darauf, sich mit dem Thema nicht auseinandersetzen zu müssen. Auch an sich »ungefährliche« Arztbesuche, bei denen keine Spritze oder blutige Behandlung zu erwarten waren, z. B. die Hautkrebsvorsorgeuntersuchung, wurden zu einem immer größeren Problem, denn sie lösten bei Herrn S. sofort das schlechte Gewissen, Gedanken an fällige Behandlungen, damit verbundene Spritzen, Blut und sogar die Übelkeit und weiche Knie aus. In diesem Punkt sehr konsequent, begann Herr S. folglich auch diese zu vermeiden. Sein letzter Arztbesuch liegt mittlerweile 4 Jahre zurück, Herr S. hat seit 3 Jahren gar nicht mehr über sein Problem gesprochen. Seine Frau fühlt sich zurückgewiesen und bemerkt, dass er neuerdings beginne, sich auch von Bekannten und Freunden sich zurückzuziehen. Ob dies mit dem »Arztproblem« in Zusammenhang stehe, wisse sie nicht.

Das Beispiel zeigt, wie sich Vermeidungsverhalten entwickelt und in der Folge weiter generalisieren kann. Nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus wurde Herr S. davon überrascht, dass der Anblick von Blut oder Spritzen im Fernsehen die im Krankenhaus zwischen diesen Reizen und der Reaktion (Übelkeit, schwarz vor Augen) entstandene Verbindung plötzlich erneut aktivierte und Anteile der vasovagalen Reaktion hervorrief. Die Vermeidung wirkte einerseits negativ verstärkend weil entlastend, anderseits aktualisierte sie auch das Problem, denn wenn er schon die Berichte nicht ertragen konnte, welche Reaktion wäre dann erst beim Hausarzt zu erwarten?

Wie sich die Störung und das Vermeidungsverhalten weiter entwickeln, hängt an diesem Punkt maßgeblich davon ab, inwieweit aus der initialen Vermeidung weitere Folgeprobleme resultieren, auf welche dann erneut vermeidend reagiert werden »muss«. Es gilt: Je größer die resultierende Belastung, desto mehr Grund besteht, diese durch Vermeidung zu reduzieren.

Bei Herrn S. war dies eindeutig der Fall, denn sein Vermeidungsverhalten generalisierte auf hausärztliche Visiten, woraus ein schlechtes Gewissen und größerer Leidensdruck erwuchs. Immer mehr situative Konstellationen wurden, vermittelt über das wachsende schlechte Gewissen, phobierelevant, und vermeidendes Verhalten wurde durch immer mehr Situationen aktiviert. Der Druck, die gefürchteten Konsequenzen zu vermeiden, wuchs folglich weiter, und der Aufschaukelungsprozess, bestehend aus Vermeidung, kurzfristiger Entlastung, weiteren Folgeproblemen und vermeidenden Reaktionen kam in Gang (Abb. 2.1).

Abb. 2.1
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Häufige Entwicklung der Probleme und des Vermeidungsverhaltens bei einer spezifischen Phobie

Vermeidung muss aber nicht auf die Verhaltensebene beschränkt bleiben, sondern kann sich auch gedanklich zeigen. Ein Beispiel dafür ist die Zahnbehandlungsphobie: Zahnbehandlungsphobiker vermeiden Zahnarztbesuche durchschnittlich fast 10 Jahre lang, bevor sie um psychotherapeutische Hilfe ersuchen. Im Therapiegespräch gewähren einige dann Einblick darin, wie sehr sie im Laufe dieser Zeit immer wieder versucht haben, ihre Vermeidung zu überwinden und einen Behandlungstermin zu vereinbaren. Manche konnten sogar wirklich zum Telefonhörer greifen und zwecks Terminvereinbarung in einer Praxis anrufen. Dies habe dann aber unweigerlich zu einer verstärkten gedanklichen Auseinandersetzung mit der anstehenden Behandlung geführt. Ein Beispiel: »Ich habe mir immer wieder vorgestellt, wie ich die Praxis betrete, ins Wartezimmer gehe und aufgerufen werde. Aber spätestens in dem Augenblick, als ich mir ausgemalt habe, wie der Bohrer an meinem Zahn vibriert und wie groß dabei die Schmerzen sind, konnte ich nicht mehr. Das war der Moment, in dem ich mich sofort gezwungen habe, an etwas anderes zu denken und sicher war, dass ich das einfach nicht schaffen würde…«

2.2 Epidemiologische Daten

Im Jahr 2011 waren Angststörungen mit einer 12-Monats-Prävalenzrate von etwa 14 % die häufigste Gruppe psychischer Störungen bei EU-Bürgern. Die spezifische Phobie stellte davon mit 6,4 % den Löwenanteil und ist, hinter der majoren Depression, die zweithäufigste psychische Störung überhaupt! Umgerechnet litten im genannten Jahr etwa 22,7 Millionen (!) Menschen im Alter zwischen 14 und 65 Jahren innerhalb der EU unter einer spezifischen Phobie. Für das Jahr 2005 war exakt die gleiche 12-Monats-Prävalenz ermittelt worden, so dass von einer in diesem Zeitraum stabilen Neuerkrankungsrate (Inzidenz) ausgegangen werden muss (s. Wittchen et al. 2011). Die Lebenszeitprävalenz für spezifische Phobien variiert je nach Studie zwischen 9,4 % (Stinson et al. 2007) und 12,5 % (Kessler et al. 2005). Diese Werte beziehen sich aber auf westliche Industriestaaten! Für Korea wurde mit 3,8 % eine wesentlich niedrigere Lebenszeitprävalenz ermittelt (Cho et al. 2010). Bei keiner anderen Angststörung ist das Geschlechterverhältnis so unausgeglichen wie bei phobischen Erkrankungen. Frauen erkranken, je nach Phobietyp, im Verhältnis 7:3 (z. B. bei Spinnenphobie) oder 6:4 (z. B. bei Zahnbehandlungsphobie) häufiger als Männer, im Durchschnitt liegt das Verhältnis etwa bei 2:1. Spezifische Phobien entwickeln sich häufig bereits im Jugendalter und persistieren meist über Jahrzehnte.

Abb. 2.2
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Unterschied zwischen den Punkt-Prävalenzangaben von 11 häufigen Furchtgegenständen (subjektive Furcht) und spezifischer Phobie (nach DSM-IV) in den Niederlanden (Daten: Oosterink et al. 2009)

Spezifische Phobien bestehen häufiger gemeinsam mit anderen Störungen als singulär. Die häufigsten Komorbiditäten von spezifischen Phobien sind weitere phobische Störungen (z. B. die soziale Phobie oder die Agoraphobie). Die majore Depression und spezifische Phobien treten ebenfalls gehäuft gemeinsam auf. Das ist wenig verwunderlich, bedenkt man, dass beide sehr häufige Störungen sind. Die Kausalitäten und Zusammenhangsgefüge zwischen Depression und Phobie sind noch nicht eindeutig geklärt, in vielen Fällen scheint die spezifische Phobie der affektiven Störung jedoch vorauszugehen. Die meisten Menschen, die an einer spezifischen Phobie leiden, ersuchen nicht aufgrund dieser, sondern aufgrund einer komorbiden Angst- oder affektiven Störung um psychotherapeutische Behandlung (vertiefend s. Mackenzie et al. 2012).

3 Diagnostik

Bei der letzten Editierung des Diagnostisch Statistischen Manuals (DSM, APA 2015) wurden die Diagnosekriterien der spezifischen Phobien überarbeitet. Die wichtigste Neuerung des DSM-5 ist die Einführung eines Zeitkriteriums, welches zuvor nur für die Phobiediagnose bei Kindern galt. In Kriterium E wird fortan gefordert, dass Furcht, Angst oder Vermeidung persistierend sind und typischerweise für eine Zeitdauer von mindestens 6 Monaten anhalten. Außerdem fehlt in den neuen Diagnosekriterien sowohl die explizite Forderung nach subjektiver Einsicht des Betroffenen in die Irrationalität seiner Furchtreaktion sowie die Forderung, dass diese übertrieben oder unbegründet sein muss. Stattdessen wird die Unverhältnismäßigkeit der Reaktion bzw. der Erwartungsangst in Relation zur tatsächlichen Bedrohungslage vor dem Hintergrund des soziokulturellen Kontextes betont.

Der Verzicht auf die Formulierung eines Einsichtskriteriums ist sicherlich sinnvoll, denn einige Betroffene halten die Entstehung schwerer Furchtsymptome in Anbetracht ihrer Erfahrungen im Kontext der phobischen Situation oder des phobischen Objekts keineswegs für unangemessen oder irrational. Sie sind vielmehr der Ansicht, dass ihre Reaktion insbesondere in der Erwerbssituation der Phobie angemessen war und der Bedrohungslage durchaus entsprach. Im Rahmen eines Therapiegesprächs können daraus langwierige Diskussionen entstehen: »Ich habe Ihnen ja gerade erzählt, was ich erlebt habe. Wenn Sie dieser riesige Hund umgeworfen und gebissen hätte, würden Sie heute bestimmt genauso viel Angst vor den Biestern haben wie ich!« Bislang lag nun der Ball auf der Seite des Diagnostikers, mit dem Patienten mühevoll die Einsicht in die irrationalen Aspekte seiner Furcht zu erarbeiten und zu diskutieren, inwieweit diese vor dem Hintergrund der tatsächlichen, aktuell bestehenden Bedrohungslage übertrieben ist. Durch die Formulierung im DSM-5 hingegen wird das diagnostische Urteil konsequent dem Kliniker überlassen. Er beurteilt die Angemessenheit der Furchtreaktion – zum einen in Relation zur tatsächlichen Bedrohung, zum anderen in Relation zu anderen Personen, die in einem vergleichbaren soziokulturellen Kontext leben – und ist nicht auf die Einsicht des Patienten angewiesen.

Der Nutzen eines Zeitkriteriums hinsichtlich der Reliabilität der Diagnosestellung muss im Falle der spezifischen Phobie kritisch gesehen werden, da viele Phobiker die Konfrontation mit ihrem phobischen Stimulus oft »erfolgreich« vermeiden und sich dadurch über längere Zeiträume keine direkten Furchtsymptome zeigen. Zwar wird gefordert, dass die Vermeidung aktiv sein muss, aber es ist durchaus möglich, dass für einen Zeitraum von 6 Monaten gar kein Grund zur aktiven Vermeidung besteht, weil sich schlicht kein Kontakt mit dem phobischen Stimulus ergibt, was z. B. bei Flugangst häufig der Fall ist. Adverbien wie »typischerweise« sollten generell keinen Einzug in zeitbezogene Diagnosekriterien finden, da die Unschärfe der Formulierung diesbezüglich zu viele Entscheidungsspielräume eröffnet und so die Gefahr besteht, die Interrater-Reliabilität dadurch unnötig herabzusetzen.

Diagnostische Kriterien

Kriterien für spezifische Phobien nach DSM-5 (APA 2015 )

  1. A.

    Ausgeprägte Furcht oder Angst vor einem spezifischen Objekt oder einer spezifischen Situation (z. B. Fliegen, Höhen, Tiere, eine Spritze bekommen, Blut sehen). Beachte: Bei Kindern kann sich die Furcht oder Angst durch Weinen, Wutanfälle, Erstarren oder Anklammern ausdrücken.

  2. B.

    Das phobische Objekt oder die phobische Situation ruft fast immer eine unmittelbare Furcht oder Angstreaktion hervor.

  3. C.

    Das phobische Objekt oder die phobische Situation wird aktiv vermieden bzw. nur unter starker Furcht oder Angst ertragen.

  4. D.

    Die Furcht oder Angst geht über das Ausmaß der tatsächlichen Gefahr durch das spezifische Objekt oder die spezifische Situation hinaus und ist im soziokulturellen Kontext unverhältnismäßig.

  5. E.

    Die Furcht, Angst oder Vermeidung ist anhaltend, typischerweise über 6 Monate oder länger.

  6. F.

    Die Furcht, Angst oder Vermeidung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder anderen wichtigen Funktionsbereichen.

  7. G.

    Das Störungsbild kann nicht besser durch die Symptome einer anderen psychischen Störung erklärt werden. Dies umfasst Furcht, Angst und Vermeidung von Situationen, die mit panikartigen Symptomen oder anderen bedrohlich erscheinenden beeinträchtigenden Symptomen assoziiert sind (wie bei Agoraphobie); Objekten oder Situationen, die mit Zwangsinhalten verbunden sind (wie bei Zwangsstörung); Erinnerungen an traumatische Ereignisse (wie bei Posttraumatischer Belastungsstörung); Trennungen von Zuhause oder Bezugspersonen (wie bei Störung mit Trennungsangst); oder sozialen Situationen (wie bei sozialer Angststörung).

Bestimme, ob: (Codierung entsprechend dem phobischen Stimulus)

  • Tier-Typ (z. B. Spinnen, Insekten, Hunde)

  • Umwelt-Typ (z. B. Höhen, Stürme, Wasser)

  • Blut-Spritzen-Verletzungstyp (z. B. Injektionsnadeln, invasive medizinische Verfahren)

  • Situativer Typ (z. B. Flugzeuge, Fahrstühle, enge, geschlossene Räume)

  • Anderer Typ (z. B. Situationen, die zu Ersticken oder Erbrechen führen könnten; bei Kindern z. B. laute Geräusche oder kostümierte Figuren)

Im Rahmen der Diagnostik müssen die Komorbiditäten unbedingt erfasst und gegebenenfalls mitbehandelt werden. Aufgrund der aus mehreren Gründen wünschenswerten Kürze der Phobiebehandlung (s. Bd. II/2.5) kann sie zumeist aber gut in eine i.d.R. aus 25 Sitzungen bestehende Kurzzeittherapie integriert werden. Neben einer allgemeinen strukturierten Diagnostik z. B. mittels des Diagnostischen Interviews für Psychische Störungen (Schneider und Margraf 2011) sollte, der Erscheinung der spezifischen Phobie angemessen, anschließend eine für die jeweilige Phobie spezifische Diagnostik erfolgen, die Symptome auf allen beteiligten Ebenen erfasst. Für die Erfassung der subjektiven Furchthöhe und der dysfunktionalen Kognitionen bezüglich des jeweiligen phobischen Stimulus stehen für häufige phobische Störungen diverse Fragebogeninstrumente zur Verfügung. Der Therapieerfolg bezüglich des Vermeidungsverhaltens lässt sich am besten über Annäherungstests (Behavioral Approach Tests, BATs) erfassen, bei denen standardisiert die Distanz zum phobieauslösenden Reiz erfasst wird. Die Mehr-Ebenen-Diagnostik ist einerseits wichtig für die Therapieplanung, andererseits für die Erfolgskontrolle, denn so kann auch die häufig berichtete Ebenendesynchronie (vertiefend s. Rachman und Hodgson 1974), also der ungleichmäßige Symptomrückgang von z. B. kognitiven und Vermeidungssymptomen im Therapieverlauf, erfasst und diesem gegebenenfalls Rechnung getragen werden.

Phobiediagnostik am Beispiel der Spinnenphobie

1. Diagnosesicherung, Differentialdiagnostik und Bestimmung von Komorbiditäten

  • Instrument: Diagnostisches Interview Psychischer Störungen (Schneider und Margraf 2011)

  • Phobietypische Reaktionen (massive Furcht- und Angstsymptome bzgl. Spinnen)

  • Vermeidung und Leiden (gartennahe Räume des Hauses und der Keller können nicht mehr aufgesucht werden)

  • Spezifische Phobie (Tiertypus)

  • Komorbide Störung, soziale Phobie

2. Subjektive Furchthöhe und dysfunktionale, spinnenbezogene Kognitionen

  • Instrument(e): Spider Phobia Beliefs Questionnaire (SBQ, dtsch. Version Pössel und Hautzinger 2003) Fragebogen zur Angst vor Spinnen (FAS; dt. Version nach Rinck et al. 2002)

3. Verhaltenssymptome

  • Instrument: Behavioral Approach Test (z. B. Öst et al. 1991)

4 Ätiologische Modelle

4.1 Erwerbsmechanismen

Spezifische Phobien gelten als Musterstörungen der Konditionierungsforschung, denn zweifelsohne sind assoziative Lernprozesse häufig an Erwerb und Aufrechterhaltung phobischer Furcht beteiligt.

Konditionierung

In der Zwei-Faktoren-Theorie, ursprünglich formuliert von Mowrer (1939), wird die Phobieentstehung durch Prozesse der klassischen Konditionierung erklärt. Die operante Konditionierung hingegen stellt den Hauptfaktor zur Aufrechterhaltung der Phobie dar. Demnach wird zunächst die starke Furchtreaktion auf einen Bedrohungsaspekt der Situation oder des Objekts mit der jeweiligen Reizkonstellation verknüpft, in der die Reaktion ursprünglich auftrat. So wird die Furchtreaktion zu einer konditionierten Reaktion, und die Stimuluskonstellation wird zu einem konditionierten Stimulus, der zukünftig, wie im Beispiel in Bd. II/2.2.2 geschildert, die Reaktion wieder auslöst. Der Betroffene beginnt, Begegnungen mit dem Reiz zu vermeiden. Durch den negativen Verstärkungseffekt wird die Vermeidung fortan häufiger gezeigt. Das aktualisiert das Problem und erhält die Störung aufrecht, denn es können keine neuen, korrigierenden Erfahrungen mehr mit dem gefürchteten Reiz gemacht werden.

Probleme von Konditionierungstheorien

Befunde, die durch Konditionierungstheorien schlecht erklärt werden können (s. Sartory 2009):

  • Mangelnde Äquipotenzialität: Einige Objekte oder Tiere (z. B. Spinnen, Schlangen) werden viel schneller und häufiger zu phobischen Reizen als andere (z. B. Pistolen, Autos), obwohl von diesen aktuell eine kleinere reale Bedrohung ausgeht als von anderen.

  • Belongingness: Bestimmte Reaktionen (z. B. Übelkeit) werden leichter bzw. ausschließlich mit bestimmten Reizen (z. B. Geschmack) verbunden.

  • Diskordanz und Desynchronie: Es gibt schwere Furchtreaktionen ohne Vermeidung (Diskordanz). Nach therapeutischen Interventionen geht manchmal zunächst die Vermeidung und später erst die Furcht zurück (Desynchronie).

  • Frühe Immunisierung: Erfahrungen und Kontakt mit Objekten und Situationen (z. B. mit Hunden) können in kritischen Situationen (z. B. bei Konfrontation mit aggressivem Hund) vor dem Erwerb einer Phobie schützen.

Modelllernen

Lernprozesse können aber auch anders als durch eine direkte Reiz-Reaktions-Verknüpfung einen Beitrag zur Phobieentstehung leisten, z. B. in Form des Lernens durch Modelle.

Ängstliche Modelle

Björn ist 12 Jahre alt. Nächste Woche steht für ihn eine kieferorthopädische Behandlung an. Seit 3 Tagen kann er nicht mehr schlafen, und hat große Angst vor dem Termin, obwohl seine Eltern ihm erklärt haben, dass es sich nur um eine Abdrucknahme handele, damit anschließend eine feste Zahnspange angefertigt werden könne. Björn war bislang nur 2-mal als kleines Kind zu Kontrolluntersuchungen beim Zahnarzt gewesen, und jedes Mal hatte kein Behandlungsbedarf bestanden. Keine Schmerzen, kein Bohren, nichts, was aus Sicht seiner Eltern die aktuelle Angst irgendwie erklären könnte. Außerdem hatte Björns Vater immer peinlichst darauf geachtet, dass sein Sohn nichts von seiner eigenen, extremen Angst vor Zahnarztterminen mitbekommt, die aus einer verkorksten Behandlung aus seiner eigenen Jugend resultierte. Wenn Björn ihn z. B. darauf ansprach, weshalb er kaum noch etwas essen konnte und so unruhig wirkte, wiegelte sein Vater immer ab oder gab andere Gründe zur Erklärung seines Zustandes vor als die Zahnbehandlung. Da Björns Vater in letzter Zeit aufgrund seines schlechten Zahnzustands häufig zur Behandlung musste, gingen ihm jüngst jedoch die Alternativerklärungen aus, und Björn hatte mehrfach den Verdacht geäußert, dass der Zustand seines Vaters bestimmt etwas mit dem Gang zum Zahnarzt zu tun hätte…

Wie im Beispiel geschildert, müssen Menschen nicht immer ein Modell direkt im Furchtkontext erleben, um von ihm zu lernen. Modelllernen kann auch indirekter stattfinden, z. B. durch die Beobachtung von Symptomen von Erwartungsangst bei einer engen Bezugsperson.

Beim Modelllernen sind keine persönlichen Negativerfahrungen nötig, um eine phobische Reaktion auf einen Reiz zu zeigen.

Semantisches Lernen

Ein Teil der Phobien, z. B. die Flugphobie, entwickelt sich jedoch oft weder durch eigene, konkrete Erfahrungen noch durch furchtsame Modelle. Vielmehr sind dafür semantisch enkodierte Informationen, Berichte oder Mythen verantwortlich wie z. B. Fernsehberichte von Flugzeugabstürzen. Auch Tierphobien scheinen zu einem relativ hohen Prozentsatz durch semantische Lernprozesse vermittelt zu werden. So geben z. B. in einer Untersuchung von Öst und Hugdahl (1981) 15 % aller diagnostizierten Tierphobiker an, niemals eigene schlechte Erfahrungen mit dem gefürchteten Tier gemacht zu haben, sondern die Furcht aufgrund der Kenntnis bestimmter »gefährlicher« Eigenschaften des Tieres erworben zu haben.

Preparedness und nicht-assoziatives Lernen

Ein vierter, ebenfalls auf Lernprozessen beruhender Erwerbsmechanismus, der bei der Ätiologie spezifischer Phobien eine wichtige Rolle spielt, ist nicht-assoziatives Lernen. Dabei steht nicht das Neulernen von Reiz-Reaktions-Verbindungen im Vordergrund, sondern genau das Gegenteil davon. Es steht nämlich fest, dass in uns einige Furchtdispositionen von Geburt an angelegt (»prepared«) sind. Das trifft insbesondere auf natürliche Umweltreize zu, mit denen der Mensch im Laufe der Phylogenese genügend Zeit und Gelegenheit hatte, negative Erfahrungen zu machen (z. B. Dunkelheit, Höhen, Spinnen, Schlangen). Die Furchtreaktion auf solche Reize stellte einen Überlebensvorteil dar und wurde häufiger an die nächste Generation weitergegeben. Lernprozesse können aber dabei helfen, diese angeborenen Dispositionen zu überwinden. So scheinen z. B. häufige Erfahrungen mit Höhen im Kindesalter, sogar zuweilen unangenehme wie Stürze aus dem Apfelbaum, vor der Entwicklung einer Phobie zu schützen bzw. zu immunisieren. Auch die Furcht vor Wasser scheint durch wenig Kontakt mit dem nassen Element eher anzusteigen (vertiefend s. Öhman und Mineka 2001).

4.2 Risikofaktoren

Bislang konnten einige Risikofaktoren identifiziert werden, die für die Entwicklung oder Aufrechterhaltung einer spezifischen Phobie förderlich sind. Die Aufzählung macht deutlich, wie multifaktoriell die Genese von spezifischen Phobien ist und dass daran biologische, psychologische, soziale, Umwelt- und Kontextfaktoren beteiligt sind (Abb. 2.3).

Abb. 2.3
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Bedeutende Faktoren und Prozesse bei der Phobieentstehung

Genetische Faktoren

Die genetische Vulnerabilität für die Phobieentwicklung scheint sich zwischen einzelnen Phobietypen zu unterscheiden, denn deren Erblichkeit ist unterschiedlich hoch. In einer zusammenfassenden Betrachtung aller bis dahin vorhandenen Daten aus Zwillingsstudien bezüglich der Heredität spezifischer Phobien ergab sich eine Schätzung von 33 % für die Blut-Spritzen-Verletzungsphobie und 32 % für den Tiertypus. Der situative Typus hingegen scheint mit einer Heredität von 25 % etwas weniger von Erbfaktoren abhängig zu sein (van Houtem et al. 2013). Wahrscheinlich sind die genetischen Einflüsse auf die Störungsentwicklung aber im Verlauf der Entwicklung eher dynamisch. Darauf deuten die Ergebnisse einer großen prospektiven Zwillingsstudie (Kendler et al. 2008) hin, an der alle Zwillingspaare und deren Eltern teilnahmen, die zwischen Mai 1985 und Dezember 1986 in Schweden geboren wurden und fortlaufend während der folgenden 20 Jahre Auskünfte über die Ausprägung spezifischer Ängste (situativer Typus, Tiertypus, Blut-Spritzen-Verletzungstypus) gaben. Es zeigte sich bei allen Phobietypen ein sehr dynamischer, über die Zeit variierender Einfluss genetischer Faktoren. Außerdem wurde nachweislich im Alter von z. B. 19 Jahren die Störungsentwicklung durch andere genetische Risikofaktoren befördert als im Alter von 9 Jahren.

Der Einfluss genetischer und umweltbezogener Risikofaktoren für die Entwicklung spezifischer Phobien scheint im Lebensverlauf unterschiedlich zu sein. Vermutlich gibt es daher für die Entwicklung einzelner Phobietypen besonders »kritische« Phasen. Hierzu steckt die Forschung aber noch in den Kinderschuhen.

Umweltfaktoren

Prospektive Zwillingsuntersuchungen können nicht nur Aufschluss über genetische, sondern auch über Umwelteinflüsse geben, die für die Phobieentwicklung wichtig sind. Der Einfluss geteilter Umwelteinflüsse (z. B. Modelle in der Familie, gemeinsame Sozialisation) erwies sich z. B. bei Phobien vom BSV- und situativen Typus als nicht sehr zeitstabil. Bei Tierphobien hingegen bestanden substanzielle und zeitstabile Einflüsse geteilter Umweltfaktoren. Die Bedeutung gemeinsamer Sozialisationseinflüsse ließ generell mit zunehmendem Lebensalter nach, während der Einfluss ungeteilter Umweltfaktoren (z. B. kritische Erlebnisse) an der Störungsentwicklung zunahm.

Reaktionsdispositionen

Es wird vermutet, dass genetische Risikofaktoren auch über bestimmte Reaktionsdispositionen vermittelt werden. So scheinen Menschen mit Blut-Spritzen-Verletzungsphobien verstärkt zu vasovagalen Reaktionen bzw. Ohnmacht zu neigen, evtl. infolge einer angeborenen Dysfunktion ihrer autonomen Kreislaufkontrolle (vertiefend s. Schienle und Leutgeb 2012). Für andere Phobien konnte z. B. eine große autonome Labilität als eine die Phobieentwicklung fördernde Besonderheit in der Erregbarkeit des autonomen Nervensystems identifiziert werden. Auch eine erhöhte Ekelsensitivität wird als phobiefördernder Faktor diskutiert.

Persönlichkeits- und Temperamentsfaktoren

Einige Persönlichkeits- und Temperamentsfaktoren scheinen ebenfalls die Störungsentwicklung zu begünstigen, evtl. indem sie den Einfluss von Lernerfahrungen modulieren oder sogar selbst genetische Vulnerabilitätsfaktoren darstellen. So entwickeln z. B. Menschen mit hohen Ausprägungen von Neurotizismus oder Introversion häufiger Phobien. Beide Dimensionen sind positiv mit der Höhe des tonischen, körperlichen Erregungsniveaus verbunden. Es wird angenommen, dass dadurch die Intensität und Schnelligkeit des aversiven Konditionierens und Furchtlernens beeinflusst wird. Eine hohe Verhaltensgehemmtheit im Kindesalter zeigt sich z. B. durch vermehrte Furchtexpression und aktiveres Schutzsucheverhalten bei den Eltern. Es erhöht das Risiko, in Adoleszenz oder Erwachsenenalter an einer spezifischen Phobie zu erkranken, um bis zu 32 % (vertiefend s. Hamm et al. 2006).

Kognitive Faktoren

Bestimmte kognitive Stile wie z. B. der Locus of Control (LoC, Rotter 1966) sind immer wieder als Risikofaktoren für Angststörungen diskutiert worden. So konnte z. B. ein externaler LoC bei von Emetophobie Betroffenen nachgewiesen werden. Manche Interpretations- und Aufmerksamkeitsbiases (z. B. eine gesteigerte Bedrohungsinterpretation) entwickeln sich auch erst infolge der Erfahrungen mit Bedrohungsreizen (vgl. Ouimet et al. 2009). Sie stellen ebenfalls Risiko-, aber auch Aufrechterhaltungsfaktoren in der Störungsentwicklung dar.

Kontextfaktoren

Die Forschung zum Kontext, in dem Furchtlernen stattfindet, erlebt in den letzten Jahren einen Boom, denn Kontextfaktoren haben einen maßgeblichen Anteil daran, wie heftig eine situative Furchtreaktion ausfällt. Ein Beispiel: Sitzt im Rahmen einer Expositionsübung eine Spinne auf einer hellerleuchteten Tischplatte im Therapeutenzimmer, also in einer für Spinnen sehr untypischen Umgebung, berichten Spinnenängstliche zumeist deutliches Unbehagen, aber kontrollierbare Furcht. Vollkommen anders gebärdet sich ihre Reaktion, wenn sie der gleichen Spinne in einer dunklen Kellerecke begegnen, also dort, wo Hauswinkelspinnen typischerweise anzutreffen sind. Starkes Erschrecken und panikartige Flucht wären hier eher wahrscheinlich (vertiefend s. Mystkowski et al. 2007). Die generelle Bedrohlichkeit und Bekanntheit des Kontextes, in dem die Begegnung mit der Spinne stattfindet, hat folglich ebenfalls einen Einfluss auf die Art und Intensität der Furchtreaktion.

5 Therapie spezifischer Phobien

Expositionsbasierte Verfahren gehören zu den wirksamsten Behandlungsansätzen in der Psychotherapie und sind eine große Erfolgsgeschichte dieser Disziplin. Bei der Therapie spezifischer Phobien sind sie die wirksamsten Behandlungsverfahren, die es gibt, und: Sie müssen nicht lang sein, um zu wirken! Im Gegenteil, oft ist eine erfolgreiche Behandlung in nur einer Sitzung möglich! (vgl. Öst 1989). Kurze Behandlungsverfahren bis zu einer Gesamtdauer von 5 Sitzungen sind genauso wirksam wie längere. Ihr Vorteil liegt in ihrer höheren Effizienz (s. Bd. II/2.6). Vor dem Hintergrund der hohen Prävalenz Spezifischer Phobien, ihrer sehr guten Behandelbarkeit und dem begrenzten Angebot an Therapieplätzen erscheint die Entwicklung effizienter, expositionsbasierter Therapieformen bei dieser Störung besonders sinnvoll. Neben der Therapiedauer kann eine Effizienzsteigerung auch dadurch erfolgen, das Therapeuten-Patienten Verhältnis zu reduzieren, z. B. durch Gruppenbehandlungen oder internetbasierte Behandlungsansätze. Dass spezifische Phobien erfolgreich in kleinen Gruppen (i.d.R. bis zu 10 Teilnehmern) zu behandeln sind, ist gut belegt. Mittlerweile existieren auch erste Versuche, die Vorteile von Ein-Sitzungsbehandlungen und Gruppenbehandlungen miteinander zu verbinden. Beispielsweise konnte gezeigt werden, dass durch ein in einer Großgruppe mit 78 Teilnehmern durchgeführtes Ein-Sitzungs-Training die Spinnenangst der Teilnehmer substantiell reduziert konnte und der Behandlungseffekt auch zeitstabil war. Dieser Befund konnte bislang in Großgruppenbehandlungen von Zahnbehandlungsangst und Blut-Spritzen-Verletzungsangst repliziert werden. Immer noch werden die meisten Phobiebehandlungen aber in einem individuellen Setting durchgeführt, d. h., ein Therapeut arbeitet in der Regel mit nur einem Patienten.

Kurze expositionsbasierte Behandlungen sind effektiv, ressourcensparend und werden seltener abgebrochen. Daher gilt für die Phobiebehandlung: Je kürzer, desto besser!

Anders als bei anderen Angststörungen gibt es bei spezifischen Phobien nicht das eine »Vorgehen der Wahl«, denn es können ganz unterschiedliche expositionsbasierte Vorgehensweisen erfolgreich sein. Wie sich die Expositionsübungen dabei »gewanden«, d. h., ob sie z. B. in sensu oder in vivo, graduiert oder massiert, eher modern in der virtuellen Realität oder klassisch als systematische Desensibilisierung (die Entspannung bringt dabei keinen zusätzlichen Vorteil!) angewendet werden, scheint nicht per se einen Rückschluss auf die zu erwartende Wirksamkeit zuzulassen. Das heißt aber nicht, dass jede Form der Exposition schon irgendwie funktionieren wird, denn die Indikationsentscheidung hängt von Art und Inhalt der Phobie, Expositionsziel und Bedürfnissen bzw. Zustimmung des jeweiligen Patienten ab.

Ganz entscheidend für den Therapieerfolg ist auch die Qualität der Expositionsbehandlung an sich. Zwar ist eine unprofessionell durchgeführte Expositionsbehandlung wohl immer noch besser als keine Expositionsbehandlung, aber je nachdem, welches primäre Ziel verfolgt und vorher mit dem Patienten vereinbart wird, können und sollten Expositionsübungen unterschiedlich gestaltet und im Rahmen der Psychoedukation unterschiedlich vorbereitet werden.

Indikation für eine Expositionsbehandlung

Wovon die Indikationsentscheidung bzgl. der Exposition bei spezifischer Phobie abhängen sollte:

  • von der Art der Phobie

  • vom Expositionsziel (beeinflusst, ob z. B. eher konfrontativ, copingorientiert oder mittels teilnehmenden Modelllernens vorgegangen werden sollte)

  • von den Bedürfnissen und dem Commitment des Patienten ( beeinflusst, ob z. B. eher graduiert oder massiert vorgegangen werden sollte)

  • von wissenschaftlicher Evidenz

Wovon die Indikationsentscheidung bzgl. der Exposition bei spezifischer Phobie NICHT abhängen sollte:

  • von der Haltung des Therapeuten zu expositionsbasierten Verfahren

  • vom Willen zur Durchführung von expositionsbasierten Verfahren

  • von Ängsten in Hinblick auf evtl. negative Folgen einer Expositionsbehandlung

Traurige Tatsache ist, dass Expositionsbehandlungen nach wie vor viel zu selten durchgeführt werden. Die Gründe dafür sind vielfältig: Beispielsweise existiert eine Vielzahl unbegründeter Bedenken in Bezug auf eine Expositionsbehandlung, und das in vielen Aspekten vorbildliche kassenärztliche Abrechnungssystem in Deutschland ist für die Durchführung kurzer, intensiver Expositionstherapien nicht sonderlich motivierend. Die Folge ist, dass zu oft langwierige, wenig effektive Behandlungen durchgeführt werden, die nicht expositionsbasiert sind und sowohl für den Patienten als auch für den Therapeuten unbefriedigend enden.

Auch wenn die Therapieplanung natürlich vom jeweiligen Fall und dem individuellen Bedingungsgefüge abhängt, sprechen die hohe Wirksamkeit auch von kurzen expositionsbasierten Phobiebehandlungen dafür, sie der Behandlung komorbider Störungen vorzuschalten, um einen ersten Therapieerfolg zu erzielen und das Committment der Patienten für die Weiterbehandlung zu stärken.

5.1 Wahl des expositionsbasierten Verfahrens

Für Konfrontationsbehandlungen als Teilmenge expositionsbasierter Verfahren wird oft das Ziel formuliert, dass die Patienten in der phobischen Situation irgendwann einen Rückgang ihrer Furcht erleben. Diese »within-session habituation« ist aber keine notwendige Bedingung für den langfristigen Erfolg einer Expositionsbehandlung und kann, abhängig vom jeweiligen Phobietyp, schwierig zu realisieren sein.

Im Falle einer Höhenphobie könnte eine geplante Übung z. B. darin bestehen, gemeinsam einen Fernsehturm aufzusuchen und so lange auf der oberen Aussichtsplattform zu bleiben, bis es zu einem spürbaren Rückgang der Furcht kommt. Die Realisation dieser Übung stellt hier kein großes Problem dar, denn es kann leicht gewährleistet werden, dass die Konfrontation mit dem furchtauslösenden Reiz zeitstabil möglich ist und sich die Reizkonstellation nicht plötzlich ändert, solange der Patient nicht aus der Situation flüchtet. Stellen aber z. B. Zahnbehandlungen oder konkret der Moment, in dem der Bohrer invasiv im Zahn arbeitet, den zentralen Angstinhalt dar, ist eine zeitstabile Exposition mit dem phobischen Reiz kaum umsetzbar. Man bräuchte einen Zahnarzt, um überhaupt die Grundvoraussetzung einer Behandlung zu realisieren. Das Bohren im Zahn könnte, wenn überhaupt, im Rahmen der Übung nur sehr kurz stattfinden, und niemand könnte garantierten, dass die Länge der Exposition ausreichte, damit der Patient überhaupt einen Furchtrückgang erlebt. Für die Behandlung der Zahnbehandlungsphobie könnte sich daher z. B. ein In-sensu-Vorgehen anbieten (Vorteil: Man braucht keinen Zahnarzt), bei dem der Fokus eher auf der Kontrolle der Furchtreaktion liegt. Dadurch ändern sich jedoch auch Ziel und Inhalte der Expositionsübung, denn sie muss nun nicht mehr unbedingt eine konstante Konfrontation mit dem phobischen Stimulus ermöglichen. Stattdessen sollte sie vielmehr kurz und wiederholt die Furchtreaktion auslösen, damit der Patient diese dann mittels neu-erlernter Copingstrategien erfolgreich bewältigen kann. So kann er die für ihn neue Erfahrung machen, dass er seiner Furchtreaktion nicht mehr hilflos gegenübersteht, sondern aktiv etwas dagegen unternehmen kann.

Im Falle einer Spinnenphobiebehandlung ist oft die Wiedererlangung von Kontrollerleben über die Bewegungen der Spinne, also den furchtauslösenden Reiz, das zentrale Ziel der Exposition. Bei den Expositionsübungen, z. B. im Rahmen des partizipierenden Modelllernens (Bandura et al. 1969), sollte daher insbesondere darauf geachtet werden, dass das Verhalten der Spinne für den Patienten vorhersagbarer wird. Er sollte seine Fehlannahmen bzgl. des Verhaltens der Spinne überprüfen können und spüren, wie er selbst das Verhalten der Spinne steuern und sich vor gefürchteten Konsequenzen (z. B. schnellen Bewegungen der Spinne) schützen kann. Dies erfordert diverse Interaktionsübungen mit der Spinne. Ein reines zeitlich überdauerndes Konfrontieren mit der Spinne und Abwarten bis zur einsetzenden Habituation ist in diesen Fall ein deutlich weniger erfolgversprechendes Vorgehen.

Mögliche primäre Expositionsziele und anwendbare Methoden

  • Erwartungsverletzung hinsichtlich der Furchtreaktion(»Ich dachte nicht, dass ich die Angst auch beim Bohren des Zahnarztes noch aushalten konnte, ohne einen Herzinfarkt zu bekommen.«)

    • Erfordert Neulernen, z. B. durch graduierte oder massierte Exposition mit dem phobischen Reiz und Aufmerksamkeitslenkung auf die Furchtentwicklung

  • Erwartungsverletzung hinsichtlich der gefürchteten Situation oder des Objekts(»Ich dachte immer, der Hund wird mich beißen, wenn er auf mich zuläuft. Stattdessen wollte er nur spielen.«)

    • Erfordert Neulernen, z. B. durch Erfahrungen in der Interaktion mit dem phobieauslösenden Objekt und durch Sammlung neuer Informationen

    • Angewendet z. B. als active-imaginal exposure bei Hundephobie (Rentz et al. 2003).

  • Habituation der Furchtreaktion(»Obwohl ich immer noch aus dem Panoramafenster in die Tiefe blickte, bemerkte ich, dass ich keine Angst mehr hatte.«)

    • Erfordert konstant hohes Furchtniveau und das Erleben körperlicher Furchtsymptome

    • Angewendet z. B. bei der Behandlung von Flugphobie

  • Kontrollerleben über die Furchtreaktion (»Als ich die Spritze bekam, spannte ich meine Gesäßmuskulatur und die Oberschenkel massiv an. Damit konnte ich verhindern, dass mir schwindelig wurde.«)

    • Erfordert häufige und oft intensitätsgestufte Auslösung der Furchtreaktion, damit der Patient wiederholt trainieren kann, diese mittels Copingstrategien aktiv zu bewältigen.

    • Angewendet z. B. als Kurz-Stressimpfungstraining bei Zahnbehandlungsangst (s. Sartory und Wannemüller 2010)

  • Kontrollerleben über die gefürchtete Situation oder das gefürchtete Objekt (»Ich habe gemerkt, dass die Spinne niemals so schnell laufen konnte, dass ich ihr nicht mit meiner Hand jederzeit hätte den Weg abschneiden können.«)

    • Erfordert kleine Übungsschritte, ein hohes Maß an Interaktion mit dem phobischen Reiz und sollte vor dem aktiven Ausprobieren dem Patienten auch die Möglichkeit zur Beobachtung eines Modells bieten

    • Angewendet z. B. als teilnehmendes Modelllernen bei Spinnenphobie

5.2 Die psychoedukative Vorbereitung

Gerade bei so belastenden Behandlungen wie Expositionsübungen sollten die Patienten vor deren Umsetzung unbedingt verstehen, was das Ziel der jeweiligen Übung ist und weshalb der jeweilige Weg zur Zielerreichung gewählt wird. Nur so ist außerdem die Voraussetzung für »informed consent« gewährleistet, die dem Patienten eine Zustimmung nach transparenter Aufklärung garantiert. Der Inhalt der Psychoedukationsphase richtet sich dabei nach dem Ziel der Exposition. Unabhängig davon sollten die Patienten aber in jedem Fall über die evolutionäre Bedeutung der Furchtreaktion und deren Funktion aufgeklärt werden, um die Symptome zu normalisieren.

5.2.1 Exposition mit Konfrontationsfokus

Eine Expositionsübung kann gut mittels tatsächlicher und erwarteter Angstverlaufskurven vorbereitet werden. Einerseits sind diese Kurven hilfreich, um die furchtreduzierende Wirkung des Vermeidungsverhaltens zu illustrieren, andererseits kann dadurch die Diskrepanz zwischen dem tatsächlichen und erwarteten Furchtverlauf gezeigt werden: Zunächst wird dazu mit dem Patienten schrittweise aufgezeichnet, wie sich seine Furcht in Abhängigkeit von der Nähe zum furchtauslösenden Ereignis erfahrungsgemäß entwickelt (Abb. 2.4). Die Furcht steigt in der Regel stetig an, bis sie bei unmittelbarer Konfrontation einen Höhepunkt (100 % maximale Furcht) erreicht. Dieses Furchtniveau empfinden die meisten Betroffenen i.d.R. nach kurzer Zeit als unerträglich. In diesem Moment kommt es zumeist zu folgenden Verläufen: Entweder die Betroffenen flüchten aus der Situation oder die Situation verändert sich von allein (z. B. ist die kariöse Stelle am Zahn nach kurzer Zeit vollständig aufgebohrt oder das gefürchtete Tier entfernt sich wieder). Beides führt zu einem langsamen, aber stetigen Furchtrückgang. Der große Nachteil ist aber, dass die Leute dadurch niemals erfahren, was passiert wäre, wenn sie nicht geflüchtet wären bzw. die Situation nicht von allein vorübergegangen wäre. Bei dieser Art der Exposition findet keine Erwartungsverletzung statt! So wird auch verständlich, warum es nicht zu einem spürbaren Furchtrückgang kommt, obwohl Menschen sich immer wieder in die Furchtsituation begeben. Mit der Frage »Was wäre, wenn..?« kann im Rahmen der Psychoedukation dann der erwartete Angstverlauf – entweder ein endloser Furchtanstieg bis zum körperlichen Versagen oder kontinuierliche Maximalangst – eingezeichnet und dem tatsächlich zu erwartende Furchtverlauf, z. B. durch Habituation, gegenübergestellt werden. Dem Patienten kann erklärt werden, dass schon aufgrund starker Erschöpfung infolge der starken Furchtreaktion (Habituation), aber auch aufgrund neuer Informationen über Furcht und Situation mit einem zügigen Furchtrückgang zu rechnen ist. Das Ziel der Übung besteht folglich in der überdauernden Provokation von Furchtsymptomen, was durch Furchtverlaufskurven nachvollziehbar illustriert werden kann.

Abb. 2.4
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Psychoedukative Vorbereitung einer Konfrontationsbehandlung am Beispiel eines Patienten mit Höhenphobie

5.2.2 Exposition mit Copingfokus

Bei einigen Phobien, z. B. der Spritzenphobie (Öst et al. 1991), der Zahnbehandlungsphobie (Wannemüller et al. 2011) und auch der Flugphobie (Mühlberger und Herrmann 2011) hat sich bewährt, körperliche oder gedankliche Copingstrategien gegen die Furchtsymptome einzusetzen und in verschiedenen Expositionsübungen zu trainieren, mittels dieser Techniken Kontrolle über aufkommende körperliche und gedankliche Furchtsymptome auszuüben. Bei Phobien vom BSV-Typus wird auf der körperlichen Ebene aufgrund der besonderen Symptome die angewandte Anspannung eingesetzt (Abb. 2.5), bei den anderen genannten hilft angewandte Entspannung. Dem Patienten soll im Rahmen der Psychoedukation nun vermittelt werden, gegen aufkommende Furcht neu-erlernte Copingstrategien einzusetzen. Psychoedukativ kann daher eine Erklärung auf der Basis des Drei-Ebenen-Modells (Lang 1993) sinnvoll sein. Nachdem der Patient über die Funktion von Furcht und ihre 3 Erscheinungsebenen informiert wurde, bekommt er anschließend die Möglichkeit, seine Symptome den unterschiedlichen Erlebensebenen zuzuordnen. Anschließend kann dann besprochen werden, dass Effekte der angewandten Ent- oder, wie im Beispiel, Anspannung den körperlichen Symptomen entgegenwirken und z. B. bewältigungsorientierte Gedanken gegen kognitive Furchtkomponenten helfen.

Abb. 2.5
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Psychoedukative Vorbereitung der angewandten Anspannung

6 Fallbeispiel: Spinnenphobie

6.1 Erstgespräch und Diagnostik (1. und 2. Sitzung)

Frau W. ist 42 Jahre alt und verheiratet. Die selbstständige Floristin betreibt ein Blumengeschäft. Im Erstgespräch berichtet sie, dass ihr Problem vor etwa 7 Monaten seinen Anfang nahm, als sie nach Ladenschluss noch ein Gebinde fertig machen wollte. Als sie zu den aus Afrika importierten Rosen griff, bemerkte sie plötzlich eine große schwarze Spinne auf ihrer Hand. »So ein Riesending habe ich noch nie gesehen.« Sie erschrak fürchterlich und schüttelte sofort die Spinne ab, wodurch diese zurück in den Blumenkübel geschleudert wurde. Frau W. flüchtete sich in den Vorraum ihres Ladens. Dort spürte sie Herzrasen und bekam kaum Luft. Ihr schoss der Gedanke durch den Kopf, dass es sich vielleicht sogar um eine Giftspinne gehandelt habe, denn sie hatte schon gehört, dass diese manchmal als »blinde Passagiere« in Bananenkisten nach Deutschland reisten. Daraufhin habe sie das Gefühl gehabt, dass die Hand, über welche die Spinne gekrabbelt war, anfing anzuschwellen. »Bestimmt habe ich mir das mit der Hand nur eingebildet, aber es war alles so schrecklich! Mir konnte ja keiner helfen. Ich war total alleine. Hätte ich sie nicht im letzten Moment gesehen, wäre sie mir in den Ärmel gekrabbelt und hätte zugebissen. Ausgerechnet eine Spinne! Die fand ich schon immer schrecklich. Zuhause muss die immer mein Mann wegmachen. In den Laden konnte ich jedenfalls nicht zurück, denn ich wusste ja nicht, wo die Spinne jetzt war. Ich hatte viel zu große Angst, dort plötzlich wieder auf sie zu stoßen.« Sie entschloss sich, das Geschäft zuzusperren und am nächsten Tag gemeinsam mit ihrer Mitarbeiterin nach der Spinne zu suchen. Frau W. berichtet, nach einer schlaflosen Nacht und am ganzen Körper zitternd am nächsten Morgen mit ihrer Mitarbeiterin das Blumengeschäft betreten und dort den ganzen Vormittag nach der Spinne gesucht zu haben. Irgendwann entdeckte die Mitarbeiterin eine große schwarze Spinne in einer Zimmerecke und saugte sie mit einem Staubsauger weg. »Einen Moment war ich erleichtert, aber seitdem denke ich immer, dass sich eine Spinne vielleicht irgendwo zwischen den Blumen versteckt hat und mich jederzeit anspringen könnte.«

Die Therapieeinrichtung sucht Frau W. auf, weil sie aufgrund ihrer permanenten Furcht kaum noch arbeiten und nicht mehr ruhig schlafen könne. Ihre Furcht vor Spinnen sei extrem geworden, und sie würde in jeder Pflanze bzw. jedem schlecht einsehbaren Winkel, praktisch überall, eine Spinne vermuten. Sie fühle sich sehr unglücklich deswegen und habe zuletzt teilweise das Geschäft sogar an Tagen, an denen sie alleine im Laden gewesen wäre, aus Angst geschlossen gehalten. Darüber sei sie zunehmend verzweifelt.

Die strukturierte Diagnostik mittels DIPS sichert die Diagnose einer spezifischen Phobie vom Tiertypus (Arachnophobie). Frau W. wies außerdem einige depressive Symptome auf, deren Anzahl aber die Diagnosevergabe (noch) nicht rechtfertigte. Zur Erfassung der subjektiven Furchthöhe bearbeitete Frau W. den Fragebogen zur Angst vor Spinnen (FAS). Dysfunktionale spinnenbezogene Kognitionen wurden mit dem SBQ erfasst. Mit Punktwerten von 81 (FAS) und 72 (SBQ) wies Frau W. in beiden Instrumenten phobietypische Werte auf.

Einen Annäherungstest mit der in der Praxiseinrichtung zu Expositionszwecken gehaltenen südamerikanischen Vogelspinne brach Frau W. unmittelbar nach Betreten des Zimmers ab.

6.2 Psychoedukation (3. Sitzung)

Im Zuge der Therapievorbereitung wird die Furchtreaktion von Frau W. zunächst normalisiert und mit der Vermittlung psychoedukativer Informationen verbunden: »Es macht absolut Sinn, sich vor Tieren wie Spinnen und Schlangen zu fürchten und sich diesen Tieren nicht einfach so anzunähern, denn zu anderen Zeiten und an anderen Orten konnten solche potenziell giftigen Tiere Menschen ja tatsächlich einmal gefährlich werden. Somit kommt der Furcht eine wichtige Funktion zu, denn sie führt dazu, dass wir uns in der Regel von dem furchtauslösenden Reiz entfernen oder extrem alarmiert sind, um auf eine eventuelle Gefahr sofort zu reagieren […] Bei Spinnen besteht außerdem noch eine zusätzliche Besonderheit, denn sie laufen auf acht Beinen. Für uns sieht das meist wie ein großes Wirrwarr an Beinen aus, und wir können nur schlecht vorhersagen, in welche Richtung die Spinne laufen wird. Diese vermeintliche Unkontrollierbarkeit steigert die Furcht zusätzlich.« Anschließend wurden mit Frau W. auf der Basis der von ihr berichteten Situation im Blumengeschäft Angstverlaufskurven (s. Bd. II/2.5.2) erarbeitet. Zusätzlich wurde sie eingeladen zu prognostizieren, wie sich wohl die Spinne verhalten hätte, wäre es Frau W. nicht gelungen, sie von der Hand zu schütteln. Für Frau W. gab es diesbezüglich nur zwei Möglichkeiten: Entweder sie wäre im Ärmel ihrer Bluse verschwunden und hätte ihr in den Arm gebissen, oder sie wäre über ihren Ärmel hoch bis in die langen Haare gelaufen und hätte sich dort verheddert.

Frau W. wirkt durch die Informationen und Normalisierung ihrer Furchtreaktion bereits etwas entlastet. Auf der Basis der Angstverlaufskurven und ihrer Prognose bezüglich des Verhaltens der Spinne stimmt Frau W. zu, dass eine erfolgreiche Therapie beinhalten müsse, das Verhalten von Spinnen besser zu verstehen, Kontrollstrategien über das Verhalten von Spinnen zu lernen und in der Folge einen Furchtrückgang zu erleben. Sie kann nachvollziehen, dass dazu wahrscheinlich auch ein Kontakt mit Spinnen erforderlich sein würde, kann sich aber in keiner Weise vorstellen, wie das vonstattengehen könne: »Nicht, dass Sie glauben, sie brächten mich dazu, eine Spinne anzufassen. Keine Chance! Dann renn ich raus und bin weg!« Der Therapeut entgegnet darauf, dass er ihre aktuelle Furcht gut nachvollziehen könne und es ohnehin nicht darum gehe, ein von ihm gestecktes Ziel unbedingt zu erreichen, sondern er nur Vorschläge mache und Frau W. prüfen könne, ob diese sinnvoll seien. Außerdem sagt er zu, jede mögliche Übung zunächst selbst zu demonstrieren, und versichert, dass nichts geschehe, was Frau W. nicht zuvor genau erklärt wurde, und sie selbst vor jedem Schritt zustimmen müsse. Ohne Zustimmung keine Aktion! Darauf kann Frau W. sich einlassen, bleibt aber zunächst bei ihrer grundsätzlichen Weigerung, physischen Kontakt zur Spinne aufzunehmen. Es wird verabredet, Frau W. in der nächsten Sitzung zunächst über die natürliche Funktion und das Verhalten von Spinnen zu informieren.

6.3 Informationsvermittlung (4. Sitzung)

Zur Informationsvermittlung wird Frau W. ein Videofilm präsentiert. Darin erklärt ein anerkannter Spinnenexperte die Funktion von Spinnen im Ökosystem, deren natürliche Furcht vor größeren Lebewesen und deren auf Insekten spezialisiertes Wahrnehmungssystem. Außerdem widerlegt er einige gängige Mythen, wie z. B. die Annahme, dass Spinnen nachts zufällig eingeatmet und verschluckt würden (für Spinnen fühlt sich unser Ausatemstrom wohl so ähnlich an wie für uns ein Orkan. Sie mögen das überhaupt nicht!), oder die Fehlannahmen in Bezug auf deren Giftigkeit. Tatsächlich sind von 35.000 bekannten Spinnenarten nur zwei Dutzend so giftig, dass sie dem Menschen potenziell gefährlich werden können, und von diesen ist keine in Deutschland heimisch. Frau W. äußert im Anschluss, überrascht zu sein, wie wenig sie über die Tiere wusste, und willigt ein, dass in der nächsten Sitzung eine sicher in einer Transportbox verstaute Spinne ins Therapiezimmer mitgenommen werden dürfe. Man einigt sich darauf, die Länge der nächsten Sitzung nicht nach der üblichen Zeitdauer auszurichten, sondern danach, wie viel man schaffe und wie weit Frau W. gehen wolle.

6.4 Teilnehmendes Modelllernen (5. Sitzung)

Als der Therapeut zu Beginn der Sitzung mit Erlaubnis von Frau W. eine Box mit einer Zitterspinne auf den Tisch stellt, beginnt sie zu weinen und äußert, nicht zu wissen, wie lange sie den Anblick noch aushalte. Erst als der Therapeut sie auffordert, sich zunächst auf die Unterschiede zwischen der Zitterspinne und der Spinne im Blumengeschäft zu konzentrieren, beruhigt sie sich etwas und beginnt, die Spinne aus sicherer Distanz verbal zu beschreiben. Sie bemerkt, dass der Spinnenkörper verschiedenfarbig gemustert ist und dass die Beine der Spinne sehr fein gegliedert sind. Auch die Spinnenaugen und die Cheliceren (Beißwerkzeuge der Spinne) erkennt und beschreibt sie deutlich.

Nach einiger Zeit bietet der Therapeut an, nun gemeinsam mit Frau W. testen zu wollen, ob eine Spinne tatsächlich jede sich bietende Gelegenheit ergreife, auf eine Hand zu krabbeln und im Ärmel zu verschwinden. Vorsichtig legt er einen Finger in die am weitesten von der Spinne entfernten Ecke der Box. Die am Boden der Box sitzende Spinne reagiert überhaupt nicht, was Frau W. sehr verwundert. Dann nimmt der Therapeut einen Bleistift zur Hand und berührt die Spinne damit leicht am Hinterleib. Die Spinne flüchtet sofort in eine Ecke der Box. »Sehen Sie? Statt den Bleistift hochzulaufen, läuft die Spinne weg. Sie scheint sich zu fürchten und hat keinerlei Interesse an einer Konfrontation mit Ihnen.« Jetzt bekommt Frau W. die Möglichkeit, den Stift zu nehmen und die Prozedur zu wiederholen. Nach einigem Zögern schafft sie es, die Spinne vorsichtig mit dem Stift zu berühren, und kann sich wiederholt davon überzeugen, dass die Spinne jedes Mal mit Flucht reagiert. »Das haben Sie super gemacht!« Frau W. lächelt. Bei jedem erneuten Versuch wird sie nun darum gebeten, den Stift etwas weiter unten zu fassen und so die Distanz zwischen Hand und Spinne zu verkürzen. 2 cm oberhalb der Spinne ist Frau W. nicht mehr bereit, den Stift noch tiefer zu fassen.

Nun übernimmt der Therapeut. Vorsichtig berührt er die Spinne mit seinem Finger am Hinterleib. Die Spinne flüchtet. »Meine Haut am Finger ist so dick, dass ich die Berührung der zarten Spinne kaum spüren kann.« Anschließend berührt er die Spinne vorsichtig von vorn. Die Spinne dreht sich weg und flüchtet erneut. Immer wieder ermutigt er Frau W. dazu, selbst die Erfahrung zu machen, dass man diese zarte Spinne praktisch gar nicht fühlen könne. Irgendwann fasst sie sich ein Herz und nähert sich zögerlich mit dem Finger der Spinne an. Ihre Hand zittert. Bei der ersten zarten Berührung bewegt sich die Spinne und Frau W. zuckt erschrocken zurück. »Wow! Sie haben es wirklich schon geschafft, eine Spinne zu berühren! Vor einer Stunde hätten Sie das wahrscheinlich nicht für möglich gehalten. Versuchen Sie es ruhig nochmal. Vielleicht erschrecken Sie schon weniger, wenn Sie es erneut schaffen.« Frau W., sichtlich stolz, wiederholt die Übung mehrfach und traut sich sogar, die Spinne vorne zu berühren, obwohl sie nach wie vor die Angst äußert, dass sie plötzlich ihren Finger herauflaufen könne.

Nun äußert der Therapeut, dass er mit Frau W. die bisherigen Übungen gern mit einer Kellerspinne wiederholen möchte, die größer und dunkler sei als die Zitterspinne und wahrscheinlich der Spinne aus Frau W.s Blumengeschäft deutlich ähnlicher sehe. Frau W. reagiert zunächst geschockt auf die Kellerspinne. Sie zittert und weint anfangs, fühlt sich aber durch ihre Erfahrungen mit der Zitterspinne so ermutigt, dass sie erneut schafft, sich der Spinne nicht nur anzunähern, sondern sie ebenfalls nach einiger Zeit mit dem Stift und sogar mit dem Finger zu berühren, obwohl sie äußert, den Kontakt mit dieser Spinne viel deutlicher zu spüren.

Der Therapeut fährt mit der Bitte fort, Frau W. noch demonstrieren zu dürfen, wie man die Bewegungen der Spinne kontrollieren könne, und er dazu die Spinne nun gern aus der Box holen und sich auf die Hand setzen wolle. Frau W. rückt zunächst weg vom Tisch und geht auf Distanz zum Geschehen. Auf der Hand des Therapeuten steuert er den Lauf der Spinne, indem er jeweils seine freie Hand vor die Spinne legt und sich so die Spinne immer wieder über beide Hände laufen lässt, ohne dass diese die Chance hat, seinen Arm heraufzulaufen. Frau W. verweigert sich, das Gesehene zu wiederholen. »Das ist zu viel. Das schaffe ich nicht.« Der Therapeut lobt sie erneut für den bewiesenen Mut und äußert, dass sie kurz davor stehe, ihre Angst vor Spinnen vollständig zu überwinden. Dazu sei es aber sehr wichtig, wie besprochen, Kontrolle über die Spinne zu erleben. Er bietet an, dass sie als Zwischenschritt zunächst einen Finger in seine Hand legen und so spüren könne, wie die Spinne über ihre Hand laufe. Nach einigen weiteren Diskussionen traut sich Frau W., die Spinne kurz über ihren Finger laufen zu lassen. Diese Erfahrung macht sie wieder mutiger, und sie erlaubt dem Therapeuten, sich die Spinne auf die Hand setzen zu lassen, wenn dieser verspreche, auf jeden Fall zu verhindern, dass sie ihren Arm hochlaufen könne. Frau W. ist sehr angespannt und äußert, am ganzen Körper zu zittern. Sie lässt sich die Spinne auf die Hand setzen und schafft schon nach kurzer Zeit durch geschickte Bewegungen ihrer Hand, den Lauf der Spinne zu kontrollieren und sie sich jederzeit vom Körper fernzuhalten. »Wahnsinn! Wenn mir heute Morgen jemand gesagt hätte, dass ich hier heute Abend mit einer großen Spinne auf der Hand sitzen würde, hätte ich ihn für komplett verrückt erklärt.« Die Übung wird erst beendet, als Frau W. äußert, überhaupt keine Angst oder Aufregung mehr zu spüren, während ihr dabei weiterhin die Spinne über die Hand läuft.

6.5 Aufrechterhaltung und Rückfallprophylaxe (6. Sitzung)

Frau W. kommt sehr stolz zur nächsten Sitzung. Sie bekommt dort zunächst noch einmal die Gelegenheit, sich die Kellerspinne über ihre Hände laufen zu lassen. Danach wird mit ihr besprochen, dass sie auch zukünftig weiter den Kontakt mit Spinnen trainieren müsse, damit sich ihre Erfahrungen verfestigen könnten, und dies auch in unterschiedlichen Kontexten, insbesondere in ihrem Blumengeschäft. Frau W. entwickelt daraufhin die Idee, in ihrem Keller auf die Suche nach Spinnen zu gehen, dort eine einzufangen und sie in ihr Geschäft mitzubringen. Dort wolle sie dann die Übungen wiederholen, die Spinne in ihren Blumen aussetzen und immer wieder aufnehmen, um sie über ihre Hände laufen zu lassen. Der Therapeut verstärkt die Ideen der Patientin, weist aber auch darauf hin, dass es in anderen Kontexten durchaus häufig einmal zu einer Rückkehr der Furcht kommen könne und Frau W. dies nicht als Rückfall begreifen solle. Es wird vereinbart, dass Frau W. jederzeit einen weiteren Termin vereinbaren kann, sollte sie den Eindruck gewinnen, mit ihren Übungen nicht zurecht zu kommen. Sie nimmt das Angebot dankend an, äußert aber, dass sie nun erst einmal allein den Umgang mit Spinnen weiter trainieren wolle.

Frau W. verlässt die Therapieeinrichtung mit Werten von 7 im SBQ und 8 im FAS. Die Durchführung eines Verhaltenstests ist obsolet geworden, denn Frau W. hat bereits im Rahmen der Exposition überdauernd eine Spinne über ihre Hand laufen lassen.

7 Empirische Belege

7.1 Wirksamkeit der kognitiven Verhaltenstherapie

Expositionsbasierte Verfahren bei spezifischen Phobien erwiesen sich als hoch wirksam. Sie führten zu einem deutlichen Symptomrückgang auf allen Erlebensebenen und erwiesen sich gegenüber anderen psychologischen Behandlungsverfahren ohne Expositionsanteile und reinen Placebobehandlungen, bestehend z. B. aus Zuwendung oder Informationsvermittlung (vgl. Hunsley et al. 2014) substanziell überlegen, obwohl sich jegliche Form der Behandlung wirksamer erwies als keine Behandlung (Wartelistenkontrollbedingung). Auch reine Copingverfahren oder kognitive Therapien ohne Expositionsanteile erwiesen sich den Placebobehandlungen und Wartelistenkontrollbedingungen überlegen. Interessant ist, dass es im Falle der spezifischen Phobiebehandlung messbare Placeboeffekte von Psychotherapie gibt, denn auch Gespräche ohne direkten Behandlungsbezug zeitigten gegenüber der Kontrollbedingung Effekte (Tab. 2.1). Die durchschnittliche Länge der in der Tabelle gezeigten Studien betrug 3,04 (!) Sitzungen, 46 % der Studien waren sogar One-Session-Treatments.

Tab. 2.1 Wirksamkeit expositionsbasierter, copingbasierter und rein stützender Behandlungsverfahren bei spezifischen Phobien. (Mod. nach Wolitzky-Taylor et al. 2008)

7.2 Wirksamkeit anderer Therapieformen

7.2.1 Medikamentöse Behandlung

Die meisten Patienten sprechen sehr gut auf kognitiv-verhaltenstherapeutische Therapiemethoden an, aber wie bei allen Behandlungsformen gibt es auch sog. Non-Responder. Inwieweit diese evtl. von pharmakologischen Behandlungen profitieren können, ist unklar. In zwei kleineren Untersuchungen (Alamy et al. 2008; Benjamin et al. 2000) erwies sich eine 12- bzw. 4-wöchige Behandlung mit den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern Escitalopram und Paroxetin gegenüber einem Placebopräparat als überlegen und führte zu einem Rückgang subjektiver Furchtsymptome. Manchmal kann die Einnahme von Benzodiazepinen wie Midazolam oder Lorazepam für Menschen mit Phobien ebenfalls hilfreich sein, denn die Intensität der phobischen Furchtreaktion wird dadurch abgeschwächt oder sogar vollständig ausgeschaltet, so dass z. B. eine Flugreise oder ein wichtiger Arztbesuch möglich werden. Ihr Einsatz ist aber nicht nur aufgrund ihres hohen körperlichen Suchtpotenzials kritisch zu betrachten! Auf die langfristige Furchtentwicklung scheinen sie keinerlei positiven Einfluss zu nehmen (s. Baldwin et al. 2014).

Im Gegensatz zur Verwendung als Therapeutikum scheint der Einsatz bestimmter Substanzen als Verstärker von Expositionstherapien vielversprechender zu sein. Einige scheinen nämlich das Lernen der Verbindung von (ehemals) phobischem Reiz und (neugelernter) nicht-furchtsamer Reaktion zu verfestigen. Beispielsweise konnte durch die Manipulation der N-Methyl-D-Aspartat (NMDA)-Rezeptorfunktion durch D-Cycloserin (z. B. Smits et al. 2013) oder Cortisol (de Quervain und Margraf 2008) bei Höhenphobikern das Outcome von Expositionstherapien gesteigert werden. Die Befunde sind aber nicht eindeutig. Bei der Behandlung von Spinnenängstlichen konnte dieser Effekt nicht gefunden werden.

Die medikamentöse Therapie ist nicht die Methode der Wahl bei spezifischen Phobien. Werden bestimmte Substanzen vor einer Expositionsübung verabreicht, könnte dadurch aber die Wirkung der Expositionstherapie gesteigert werden.

7.2.2 Hypnose

Die Studienlage zur Wirksamkeit von hypnotherapeutischen Strategien, die zumeist auf einer Verschiebung des Aufmerksamkeitsfokus beruhen, ist, was die Reduktion phobischer Symptome betrifft, noch lückenhaft. Die Effekte müssen daher als unsicher eingeschätzt werden. Im Bereich der Zahnbehandlungsphobie scheint sie tatsächlich subjektive Furchtsymptome reduzieren zu können, ist jedoch auch dort der KVT unterlegen (Wannemüller et al. 2011). Da im Rahmen der Hypnose jedoch keine Bewältigungsstrategien vermittelt werden und der Patient aufgrund seiner abgelenkten Aufmerksamkeit keine Möglichkeit hat, neue Erfahrungen in der Furchtsituation zu sammeln, ist ihr Nutzen insbesondere bezüglich zu erwartender Langzeiteffekte aber eher kritisch zu sehen.

8 Ausblick

Sowohl hinsichtlich der Phänomenologie spezifischer Phobien als auch was ihre Behandlung betrifft, gibt es noch einige offene Fragen. Zwar wirken expositionsbasierte Verfahren in vielen Fällen gut, aber in Bezug auf Langzeiteffekte über 1 Jahr nach Therapieabschluss hinaus ist nur sehr wenig bekannt. Rückfälle, also wiederauflebende Furchtreaktionen auch nach langen Zeiträumen, scheinen bei dieser Störung recht häufig vorzukommen. Bislang fehlen uns klare Antworten darauf, welche Faktoren in der Person oder der Umwelt dazu führen und wie Therapieverfahren folglich strukturiert sein sollten, um Rückfälle möglichst unwahrscheinlich zu machen. Interessant wird auch sein, welche Ergebnisse die Forschung hinsichtlich der angesprochenen pharmakologischen Boostereffeke zutage fördert. Bislang lässt sich noch nicht abschließend beurteilen, ob durch ihren Einsatz die Effekte einer Expositionstherapie zuverlässig gesteigert werden können bzw. wie ihr Einsatz zu erfolgen hat, um gewünschte Effekte möglichst zu maximieren. Ebenfalls spannend ist die Frage, wie spezifisch spezifische Phobien eigentlich sind. Lassen sich z. B. zukünftig auf der Basis unterschiedlicher neuronaler Aktivierungsmuster verschiedene Anforderungsprofile für Therapieinterventionen bei unterschiedlichen Phobien entwickeln? Bislang verfügen wir bezüglich dieses Aspektes nur über rudimentäre Erkenntnisse. Wir wissen, dass sich BSV-Phobien hinsichtlich ihrer körperlichen Begleitreaktionen von anderen Phobien unterscheiden. Die anderen Phobien ordnen wir aber überwiegend auf der Basis von Eigenschaften des gefürchteten Reizes gemeinsamen Gruppen zu. Macht das auch in der Zukunft noch Sinn, oder sollte eine Einteilung nicht viel mehr auf der Basis gemeinsamer Reaktionsmuster erfolgen? Wir dürfen gespannt sein.