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Die „immer-so“-Rechtsprechung – Eine kritische Würdigung aus prozessrechtlicher Perspektive

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Festschrift für Franz-Josef Dahm
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Zusammenfassung

Die Körperverletzungsdoktrin der Rechtsprechung führte konsequent zu der Erkenntnis, dass ärztliche Interventionen grundsätzlich als rechtfertigungsbedürftige Übergriffe auf Körper und Gesundheit des Patienten anzusehen sein sollen. Zentrales Rechtfertigungsmoment ist somit die Einwilligung, welche auf Basis hinreichender Aufklärung über Risiken, Verlauf und Alternativen „im Großen und Ganzen“ dem Patienten zu verdeutlichen hat, worauf er sich einlässt. Ausgehend hiervon trat im praktischen Arzthaftungsrechtsstreit neben den Behandlungsfehlervorwurf die Aufklärungsrüge. Zu beobachten war der Umstand, dass der Vorwurf mangelhafter Aufklärung vielfach als juristische Waffe eingesetzt worden ist, um im Falle fehlender Nachweisbarkeit eines behaupteten ärztlichen Fehlverhaltens bei der Behandlung eine zweite, eigenständige Angriffslinie zu haben. Dies brachte der klagenden Patientenseite bald den Vorwurf eines missbräuchlichen Vorgehens ein, so dass nach einem Weg der Bekämpfung dieser Handhabe gesucht wurde. Die Rechtsprechung fand entsprechenden Widerstand in ihren Entscheidungen zum „Immer‐so“‐Beweis, welcher der Beweisnot des Arztes Abhilfe verschaffen sollte und dies in vielen Judikaten erreichen konnte. Diese in der Praxis weithin anerkannte Rechtsprechung muss jedoch zu zwei zentralen Fragen führen, die bislang kaum zufriedenstellend beantwortet werden konnten und von denen eine im Folgenden kritisch gewürdigt werden soll. So ist vom materiellen Schutzmoment her zu fragen, ob die ärztliche Beweisnot tatsächlich derart erheblich ist, wie dies behauptet wird, und ob es ärztlicherseits vielleicht zumutbar sein könnte, besagte Beweisnot durch gewisse präventive Maßnahmen zu begrenzen. Dieser Problemkomplex bedürfte vorab einer aktuellen empirischen Untersuchung, welche an dieser Stelle nicht geleistet werden kann, so dass von einer Erörterung abgesehen wird. Vom prozessualen Standpunkt aus hätte es seit Anbeginn der „Immer‐so“‐Rechtsprechung einer dogmatischen Einfassung bedurft, um sich vor dem Hintergrund von Rechtsklarheit und Rechtssicherheit der methodischen Frage zu stellen, welchem Regelwerk mit der Anerkennung dieses Instituts gefolgt wird. Die nachfolgenden Ausführungen sind darum bemüht, anhand einer kritischen Würdigung dazu anzuregen, die bislang anerkannte Rechtsprechung wenigstens zu relativieren und Anstrengungen im Hinblick auf ein prozessual stabiles Fundament zu unternehmen. Die bislang herrschende Ansicht zur ärztlichen Beweisnot und zur Nutzung derselben als prozessuale Angriffslinie seitens der Patienten wird für diese Betrachtung als zutreffend unterstellt.

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Notes

  1. 1.

    BGH, NJW 1980, 1333; 1981, 633; 1984, 1807; besonders deutlich auch in den Abwägungen zur Bindung des Betreuers an die Patientenverfügung, vgl. BGHZ 154, 205 = BGH NJW 2003, 1588.

  2. 2.

    Ausführlich Wagner, in: MüKo‐BGB, 6. Aufl. 2013, § 823, Rdnrn. 757 ff. m. w. N. A.A. mit eingehender Erörterung Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 111 ff., 118 ff., der sich letztlich für ein Haftungsmodell einer persönlichkeitsrechtsbasierten Systematik ausspricht.

  3. 3.

    Eine breite Übersicht zur ober‐ und höchstrichterlichen Rspr. findet sich bei Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl. 2013, Rdnrn. 366 ff.

  4. 4.

    Zu beweisrechtlichen Auswirkungen und Problemen Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 494 ff. Eine Darstellung mit der aktuellen Judikatur liefern Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 129 ff. m. w. N. S. a. Katzenmeier, in: D. Prütting, FAKomm‐MedR, 3. Aufl. 2014, § 286 ZPO, Rdnrn. 79 ff.

  5. 5.

    Ausführlich Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 356 ff. m. w. N.

  6. 6.

    So Steffen, in: Häring, Chirurgie und Recht, 1993, S. 35, 43; auf dieser Linie offenbar auch BGH, NJW 1978, 1681 f.; 1985, 1399.

  7. 7.

    Vgl. BGH, NJW 2015, 74; 2014, 1527 m. Anm. Katzenmeier, LMK 2014, 360330; BGH, NJW 2010, 2430; 1994, 3010; 1985, 1399; 1984, 1403; 1981, 2002; 1979, 1933; 1978, 1681; s. a. OLG Koblenz, MedR 2016, 342 m. Anm. Prütting, S. 342 f.

  8. 8.

    Vgl. hierzu die Analyse von Weyers, Gutachten 52. DJT, 1962, A 43; s. a. Seehafer, Der Arzthaftungsprozess in der Praxis, 1991, S. 62 ff.; Thumann, Reform der Arzthaftung, 2000, S. 203 f.; Jorzig, MDR 2001, 481, 483; Spickhoff, NJW 2001, 1757, 1762; weitere Nachweise bei Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 357 Fn. 248.

  9. 9.

    BGH, NJW 2014, 1527.

  10. 10.

    Vgl. Steffen/Pauge, Arzthaftungsrecht, 12. Aufl. 2013, Rdnr. 516; s. a. die Nachweise bei BGH, NJW 2014, 1527 f., Rdnr. 12.

  11. 11.

    BGH, NJW 2014, 1527 f., Rdnr. 13.

  12. 12.

    So in aller Deutlichkeit als Berücksichtigungsvorgabe für die tatrichterliche Würdigung BGH, NJW 1985, 1399.

  13. 13.

    BGH, NJW 1985, 1399.

  14. 14.

    Vgl. Anm. Prütting zu OLG Koblenz, MedR 2016, 342 f.

  15. 15.

    Vgl. Anm. Prütting zu OLG Koblenz, MedR 2016, 342 f.

  16. 16.

    BGH, NJW 2014, 1527, Rdnr. 15; 1985, 1399.

  17. 17.

    BGH, NJW 2014, 1527, Rdnrn. 12, 15 f.

  18. 18.

    Hierfür Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 111 ff., 118 ff.

  19. 19.

    Vgl. BGH, NJW 1963, 389 f.

  20. 20.

    Hierzu Prütting, medstra 2016, 78; ders., Rechtliche Aspekte der Tiefen Hirnstimulation, 2014, S. 199. A.A. Achterberg, in: Kaulbach (Hrsg.), FS Schelsky, 1978, S. 1 ff., 19.

  21. 21.

    Vgl. hierzu die in der Versicherungswirtschaft nachvollzogene Entwicklung des Finanzbedarfs zur Versicherung von Heilberufen, GDV Projektergebnisse, Versicherungswirtschaft Nr. 6/2010 und Nr. 13/2012.

  22. 22.

    Vgl. etwa BGH, MedR 2006, 424.

  23. 23.

    Vgl. Rauscher, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, Einleitung, Rdnrn. 8 ff.

  24. 24.

    Näher Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnrn. 108 ff., 137 ff. m. w. N.

  25. 25.

    Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnrn. 123 ff. m. w. N.

  26. 26.

    Vgl. BGHZ 151, 221, 225 = BGH, NJW 2002, 3029; BGHZ 154, 288, 292 = BGH, NJW 2003, 1943; 2003, 437; 2003, 3352. S. a. die amtl. Begr. des ZPO‐RG, BT‐Dr. 14/4722, S. 104.

  27. 27.

    Die verfassungsrechtliche Debatte kann an dieser Stelle nicht geführt werden. Es sei insofern verwiesen auf die Darstellung von Drechsler, ZJS 2015, 344 ff. m. w. N.

  28. 28.

    Ausführlich Wagner, in: MüKo‐BGB, 6. Aufl. 2013, § 823, Rdnrn. 4 ff.

  29. 29.

    Vgl. BGH, VersR 2005, 227 f.; 2012, 491, Rdnr. 10.

  30. 30.

    S. zum Hintergrund Laufs, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl. 2015, Kap. I, Rdnrn. 42 ff.

  31. 31.

    Vgl. BGH, VersR 2005, 227 f.; 2012, 491, Rdnr. 10.

  32. 32.

    Eine Übersicht bietet Katzenmeier, in: Laufs/Katzenmeier/Lipp, Arztrecht, 7. Aufl. 2015, Kap. V, Rdnrn. 14 ff.

  33. 33.

    Vgl. BVerfG, NJW 1979, 1925, 1931; amtl. Begr. zu § 630e BGB, BT‐Dr. 17/10488, S. 24.

  34. 34.

    Vgl. BGHZ 29, 176, 187 = BGH, NJW 1959, 814; BGHZ 90, 103, 111 = BGH, NJW 1984, 1397; 2015, 74, 77.

  35. 35.

    Vgl. BGH, NJW 1985, 1399; 1990, 1010.

  36. 36.

    Hierzu Seiler, in: MüKo‐BGB, 6. Aufl. 2012, § 683, Rdnrn. 4 ff. m. w. N.

  37. 37.

    So offenbar BGH, NJW 1985, 1399, wovon sich die späteren Judikate in keiner Form distanziert haben. Letztlich wird man auch BGH, NJW 2014, 1527 so verstehen müssen.

  38. 38.

    Zum dogmatischen Grundsatzstreit zwischen Parteivernehmung nach § 448 ZPO und der Möglichkeit der Parteianhörung nach § 141 ZPO monographisch Effer‐Uhe, Die Parteivernehmung, 2015.

  39. 39.

    Deutlich bei OLG Hamm, VersR 2011, 625 f.; OLG München, Urt. v. 18.12.2008 – 1 U 2213/08.

  40. 40.

    Vgl. BGH, NJW 2015, 74; 2014, 1527 m. Anm. Katzenmeier, LMK 2014, 360330; BGH, NJW 2010, 2430; 1994, 3010; 1985, 1399; 1984, 1403; 1981, 2002; 1979, 1933; 1978, 1681; s. a. OLG Koblenz, MedR 2016, S. 342 m. Anm. Prütting, S. 342 f.

  41. 41.

    Hier wird ein Beweismittel freilich nicht bei Seite geschafft, sondern die Situation fehlender Beweismittel vermeintlich „schamlos“ ausgenutzt.

  42. 42.

    BGH, NJW 1963, 389 f.

  43. 43.

    Eine Übersicht findet sich bei Martis/Winkhart, Arzthaftungsrecht, 4. Aufl. 2014, S. 510 ff.

  44. 44.

    So treffend Wagner, in: MüKo‐BGB, 6. Aufl. 2013, § 823, Rdnr. 759 m. w. N.

  45. 45.

    Vgl. Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnrn. 28 ff. m. w. N. Eine Diskussion um die verschiedenen Beweismaßtheorien kann an dieser Stelle nicht geleistet werden. Diesbezüglich wird auf die Darstellung bei Katzenmeier, Arzthaftung, 2002, S. 506 ff. verwiesen.

  46. 46.

    BGHZ 53, 245 = BGH, NJW 1970, 946.

  47. 47.

    BGHZ 4, 138 = BGH, NJW 1952, 382; BGHZ 11, 227 = BGH, NJW 1954, 718; VersR 1957, 336.

  48. 48.

    Hierzu Laumen, MDR 2015, 1 ff.

  49. 49.

    Vgl. Knerr, in: Geigel, Haftpflichtprozess, 27. Aufl. 2015, Kap. 37, Rdnrn. 37 f. m. w. N.

  50. 50.

    Hierzu Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnrn. 51 ff. m. w. N.

  51. 51.

    So BGH, NJW 2006, 300. Dementsprechend zeigt die Zurückhaltung in den Fällen beratungsadäquaten Verhaltens in die richtige Richtung, vgl. BGH, NJW 2008, 2647; 2009, 1591.

  52. 52.

    Zur Problematik Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnr. 79. S. a. BGH, VersR 1957, 800; 1959, 670 für die Fälle schuldhaften Verhaltens von Passanten beim Bahnübergang mit Warnzeichen, wobei hier der Rückschluss der Anwendbarkeit des Anscheinsbeweises keineswegs zwingend sein dürfte.

  53. 53.

    Vgl. BGH, NJW 2014, 1527.

  54. 54.

    Vgl. BGH, NJW 1993, 935, 938; näher Nack, MDR 1986, 366 ff.

  55. 55.

    Vgl. Prütting, in: MüKo‐ZPO, 4. Aufl. 2013, § 286, Rdnr. 47 m. w. N.

  56. 56.

    Für die h.M. BGH, MedR 2015, 594, 596; Weidenkaff, in: Palandt, BGB, 74. Aufl. 2015, § 630h, Rdnr. 6. A.A. Jaeger, in: D. Prütting, FAKomm‐MedR, 3. Aufl. 2014, § 630h BGB, Rdnrn. 33 ff., wohl jedoch zur Neuauflage geändert, vgl. Jaeger, in: D. Prütting, FAKomm‐MedR, 4. Aufl. 2016, § 630h BGB, Rdnrn. 37 ff.

  57. 57.

    Deutlich etwa OLG Hamburg BeckRS 2011, 17207.

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Prütting, J. (2017). Die „immer-so“-Rechtsprechung – Eine kritische Würdigung aus prozessrechtlicher Perspektive. In: Katzenmeier, C., Ratzel, R. (eds) Festschrift für Franz-Josef Dahm. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54115-9_23

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