Zusammenfassung
Ausgehend von einer Analyse der Ursachen und Folgen sowie der Umgangsweisen mit Zeit- und Leistungsdruck fragt der Beitrag nach Bausteinen einer gesundheitsförderlichen Unternehmenskultur. Zeit- und Leistungsdruck ist, so die empirischen Befunde, die subjektive Wahrnehmung eines objektiven Leistungsproblems: Im Zusammenspiel steigender Anforderungen einerseits und einer kostenorientierten Personalpolitik andererseits entsteht – systematisch – eine Situation, in der die vollumfängliche Erfüllung hoher und widersprüchlicher Leistungserwartungen erschwert oder gar unmöglich ist. Angesichts einer solchen »systematischen Überlastung« muss eine gesundheitsförderliche Unternehmenskultur Bewertungs- und Handlungsorientierungen zum Umgang mit unerfüllbaren Leistungserwartungen bereitstellen. Vorgeschlagen werden in diesem Zusammenhang insbesondere zwei Bausteine: Zum einen eine Kultur des »gesunden Scheiterns« (wenn Scheitern möglich oder sogar unausweichlich ist, dann muss Scheitern auch erlaubt sein). Zum anderen die Klärung erwarteter Umgangsweisen: »Perfektionismus« muss möglich, »Pragmatismus« legitim sein.
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Notes
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Die empirischen Befunde zu den beiden Widerspruchskonstellationen sind an das von Moldaschl vorgelegte Konzept der »Widersprüchlichen Arbeitsanforderungen« anschlussfähig: Moldaschl konzipiert widersprüchliche Arbeitsanforderungen als Diskrepanzen zwischen Zielen, Regeln und Ressourcen (vgl. dazu etwa Moldaschl 2012).
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In eine ähnliche Richtung geht die These der »permanenten Bewährung« (vgl. dazu etwa Kämpf 2015).
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Zu einer vergleichbaren Einschätzung kommen auch Streicher u. Frey, die sie allerdings eher als Forderung formulieren: »Die Mitarbeiter müssen bereit sein, freiwillig Leistungen im Sinne des Unternehmens zu erbringen, die über ihre arbeitsrechtlichen Verpflichtungen hinausgehen« (Streicher u. Frey 2009, S. 129).
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Viele Beschäftigte plagt, so etwa empirische Untersuchungen bei Kundenberatern in den Finanzdienstleistungen, ein Gefühl des »permanenten Ungenügens« (vgl. dazu Dunkel et al. 2010).
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Theoretisch grundlegend ist hier das Konzept einer »subjektivierten« Leistungspolitik (etwa Kratzer u. Nies 2009; Matuschek 2010), in dem die Vorstellung zentral ist, dass Beschäftigte in zunehmendem Maße nicht nur für die Selbststeuerung ihrer Leistungsverausgabung, sondern auch für die Bewältigung unternehmerischer Widersprüche (eben etwa Qualität vs. Kosten) zuständig sind. Empirisch haben wir dazu die Antworten der Befragten zum Umgang mit objektiven Leistungsproblemen ausgewertet. Dabei zeigten sich auf der Subjektebene typische Kombinationen von Begriffen und Aussagen, die offensichtlich zwei diametral unterschiedliche Umgangsweisen anzeigen, die sich, dann wieder mit Bezug auf das theoretische Grundkonzept, als »Perfektionismus« und »Pragmatismus« bezeichnen lassen. Auch wenn angesichts der kleinen Fallzahlen quantitative Aussagen zur Stärke der beiden Gruppen wenig Sinn machen: Einiges deutet darauf hin, dass im IT-Service häufiger »Pragmatismus«, im Fall Entwicklung häufiger »Perfektionismus« anzutreffen ist.
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Weil sich der betriebliche Gesundheitsschutz eben auch negativ auf die Kokurrenzfähigkeit des Unternehmens auswirken könnte, kommt ja der überbetrieblichen Regulierung auch eine so große Rolle für die gesundheitsförderliche Arbeitsgestaltung zu – und dem Druck von Betriebsräten und Beschäftigten: Ohne gesetzliche Grundlage wäre etwa die Verbreitung von Gefährdungsbeurteilungen noch dürftiger als sie ohnehin ist. In einer europaweiten Befragung geben 85 Prozent der befragten Betriebe an, dass das Erfüllen von gesetzlichen Vorschriften der Hauptgrund für die Befassung mit Fragen von Sicherheit und Gesundheitsschutz sei. Als zweithäufigstes Motiv (79 Prozent) wird das Erfüllen von Erwartungen seitens der Beschäftigten oder ihrer Vertreter genannt (ESENER 2015, S. 12). In einer ESENER-Befragung von Führungskräften geben für Deutschland 53 Prozent die Erfüllung gesetzlicher Vorschriften und 42 Prozent die Erwartungen von Beschäftigten oder Betriebsräten als wichtige Gründe für die Durchführung von Maßnahmen zum Umgang mit psychosozialen Risiken an (Beck et al. 2012, S. 118).
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Eine offene Frage ist dabei, welche Gestaltungsspielräume es für eine »balanceorientierte Leistungspolitik« gibt. Dabei geht es zunächst um die Unausweichlichkeit eines Konflikts zwischen steigenden Marktanforderungen und einer aus Kostengründen notwendigen »restriktiven Personalpolitik« (vgl. dazu auch Dunkel u. Kratzer 2016) – und damit um die betriebswirtschaftlichen Kalkulationsgrundlagen, aber natürlich auch um die Legitimität der jeweiligen Ertragserwartungen von Unternehmen. Dass es aber überhaupt Spielräume gibt, zeigt nicht zuletzt die Praxis: In den von uns untersuchten Unternehmen zeigt sich, dass Führungskräfte und Beschäftigte nahezu täglich Lösungen für das Problem unerreichbarer Ziele finden müssen – und auch finden. Häufig kommt es dabei zu Lösungen, die darin bestehen, dass explizit oder implizit die Anforderungen gesenkt werden.
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Wir haben dieses Phänomen an anderer Stelle als »systematische Überlastung« bezeichnet (vgl. dazu etwa Kratzer et al. 2011). Die These der systematischen Überlastung behauptet, dass es im Rahmen (kapital)marktorientierter Steuerungsstrategien von Unternehmen zu einer wachsenden Diskrepanz (und Widersprüchlichkeit) zwischen Anforderungen und Ressourcen kommt und dass diese Diskrepanz eben »systematisch« erzeugt wird, also nicht Ergebnis einer Fehlsteuerung ist. Wir gehen im Gegenteil davon aus, dass die Überlastung selbst zu einem wesentlichen Element der Leistungssteuerung wird. Die empirischen Befunde, die diese These stützen, reichen von quantitativen Ergebnissen zur Verbreitung von Zeit- und Leistungsdruck (etwa Lohmann-Haislah 2012) über Befragungsergebnisse zur Erreichbarkeit von Zielvorgaben (etwa Pangert et al. 2011) und zum Verhältnis von Anforderungen und Ressourcen (Pangert et al. 2015) bis hin zu qualitativen Betriebsfallstudien (vgl. dazu die Dunkel u. Kratzer 2016; Kratzer et al. 2015; Kratzer et al. 2011).
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Ein Beispiel für einen kreativen Umgang mit (überfordernden) Anforderungen: So können etwa Servicemitarbeiter mehr Fälle bearbeiten, wenn sie gar nicht erst versuchen, schwierigere Fälle selber zu lösen, sondern gleich an andere Stellen (etwa Second Service) weiterleiten – auch wenn das andere Serviceeinheiten überlastet und dem Kunden nicht weiterhilft.
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Perfektionismus und Pragmatismus sind beides notwendige Umgangsweisen: Ohne Pragmatimus führen die Widersprüche steigender Anforderungen und begrenzter Ressourcen nahezu automatisch zur Überlastung von Mensch und Organisation, aber ohne Perfektionismus bleibt – wiederum angesichts dieser Widersprüche – die Arbeits- und Ergebnisqualität auf der Strecke. Da Pragmatismus notwendig ist, aber eben auch Perfektionismus möglich sein muss, bedarf es der gezielten Gestaltung des Verhältnisses beider Umgangsweisen – und das Ziel dieser Gestaltung kann man dann »Balance« nennen: Anstehende Aufgaben müssten dann eben nicht nur priorisiert werden, sondern es müsste auch deren Realisierbarkeit eingeschätzt und dann – vorab (und nicht erst im Eskalationsfall) – entschieden werden, ob diese Aufgabe mit möglichst geringem Ressourcenverbrauch zu bearbeiten ist oder ein möglichst gutes Ergebnis erzielt werden soll.
Literatur
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Kratzer, N. (2016). Unternehmenskulturelle Aspekte des Umgangs mit Zeit- und Leistungsdruck. In: Badura, B., Ducki, A., Schröder, H., Klose, J., Meyer, M. (eds) Fehlzeiten-Report 2016. Fehlzeiten-Report, vol 2016. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-49413-4_3
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