FormalPara Lernziele
  • Unterstützt die Neurowissenschaft den Systemansatz?

  • Auf welchen Hirnstrukturen beruht das episodische Gedächtnis?

  • Unterstützt die Neurowissenschaft die Unterscheidung zwischen vertrautheitsbasiertem und retrievalbasiertem Wiedererkennen?

  • Unterstützt die Neurowissenschaft die Unterscheidung zwischen einem semantischen und einem episodischen Gedächtnis?

  • Welche Rolle spielt der Neokortex beim episodischen Erinnern?

FormalPara Beispiel

Dass unser Gedächtnis hirnphysiologisch kein einheitliches System bildet, ist in den 1960er-Jahren eindrücklich durch den Patienten HM deutlich geworden. Bei ihm wurden, um ihn von seinen epileptischen Anfällen zu befreien, Teile des Temporallappens operativ entfernt. Das Ergebnis waren zwar weniger epileptische Anfälle, aber zu dem Preis massivster Gedächtnisstörungen. Sein Gedächtnis war schwer beeinträchtigt. HM konnte nicht mehr erinnern, was er sah und erlebte. Er wusste nicht mehr, ob er seine Kleider schon in die Wäsche gegeben hatte, am Morgen geduscht hatte oder den Betreuer gerade noch gesehen hatte usw. Das heißt, sein episodisches Gedächtnis war massiv gestört. Andere Funktionen seines Gedächtnisses waren dagegen noch funktionsfähig, z. B. sein prozedurales Gedächtnis (Milner 1966). Der Fall HM zeigt, dass unser Gedächtnis kein einheitliches System bildet.

1 Zum Aufbau des Gehirns

Alle Leistungen des gesunden Gehirns und ihre Störungen beim verletzten Gehirn, wie komplex sie auch sein mögen, beruhen letztlich auf den grundlegenden strukturellen Komponenten des Gehirns und ihren Funktionen (Bloom und Lazerson 1988, S. 5). Die Kenntnis dieser Komponenten und ihrer Funktionen liefert eine wichtige Erklärung für diese Leistungen. Die Tatsache, dass wir heute mehr über das Gehirn und seine Funktionen wissen, beruht wesentlich auf der Entwicklung der bildgebenden Verfahren. Bildgebende Verfahren machen die Hirntätigkeit unter dem Einfluss bestimmter Aufgaben sichtbar und helfen, besser zu verstehen, welche Funktionen bestimmte Teile des Gehirns haben. Statt von Teilen des Gehirns spricht man von Kortizes. Zum Beispiel versteht man jetzt besser,

  • dass die sensorischen Kortizes unsere Sinneseinrücke aufnehmen und an die sensorischen Assoziationskortizes weiterleiten,

  • dass der präfrontale Assoziationskortex die Verbindung zu den motorischen Kortizes herstellt, die schließlich unsere motorischen Handlungen steuern,

  • dass der limbische Assoziationskortex mit der Hippocampusformation beim episodischen Erinnern eine zentrale Rolle spielt.

1.1 Bildgebung und ereigniskorrelierte Potenziale als Verfahren zur Untersuchung der Hirntätigkeit

Die Entwicklung der funktionalen Neurowissenschaften beruht auf der Entwicklung folgender beiderTechniken: der Technik der Positronenemissionstomografie (PET) und der funktionalen Magnetresonanztomografie (fMRI). Diese Techniken erlauben es, zusammen mit der Messung von ereigniskorrelierten Potenzialen (EKP), die Aktivität des Gehirns bei verschiedenen kognitiven Aufgaben zu messen und bildlich darzustellen. Man spricht in diesem Zusammenhang allgemein von bildgebenden Verfahren .

1.1.1 Positronenemissionstomografie (PET)

Die Positronenemissionstomografie (PET) ist ein Verfahren, mit dem lokale Veränderungen der Gehirndurchblutung und des Gehirnstoffwechsels bei kognitiven Aufgaben wie dem Wahrnehmen, Erkennen, Lesen usw. sichtbar gemacht werden können. Das Ausmaß der Durchblutungsänderungen wird farblich in Schnittbildern des Gehirns dargestellt. Die Bilder entstehen durch die Emission von Strahlung (Positronen) aufgrund einer Injektion von Radioisotopen, die vom Gehirn wie köpereigene Substanzen verarbeitet werden. Diese Strahlung kann mithilfe ringförmig um den Kopf angebrachter Detektoren sichtbar gemacht werden. Die Idee ist, dass aktivere Gehirnregionen mehr Radioisotope verstoffwechseln als weniger aktive Regionen (Kandel et al. 1996, Kap. 5).

1.1.2 Funktionelle Magnetresonanztomografie (fMRI)

Die Magnetresonanztomografie (MRI für „magnetic resonance imaging“) oder Kernspintomografie basiert auf der Kenntnis, dass sich Wasserstoffatome (Protonen) in einem Magnetfeld wie rotierende Stabmagnete verhalten. Treffen nun Hochfrequenzradioimpulse auf die Protonen, werden diese aus ihrer vertikalen Richtung im Magnetfeld in eine horizontal ausgelenkte Kreiselbewegung gebracht. Beim Abschalten des Radioimpulses kehren die Protonen in ihre Ausgangslage zurück und geben dabei schwache radioaktive Wellen ab. Die zeitlichen Charakteristika dieser Radiowellen (Relaxationszeiten) lassen sich mit entsprechenden Empfängern registrieren. Lokale Sauerstoffanreicherungen im Blut führen zu veränderten Relaxationszeiten. Das bedeutet, mit der MRI-Technik lassen sich die Veränderungen der Sauerstoffsättigung des Blutes in Abhängigkeit von kognitiven Aufgaben messen. Man spricht von funktioneller MRI (fMRI), wenn die Veränderungen als Funktion von bestimmten Aufgaben untersucht werden. Eine Einschränkung der fMRI-Methode ist ihre relativ schwache zeitliche Auflösung, da Blutflussänderungen aus metabolischen Gründen nicht schneller als ein bis drei Sekunden nach der neuronalen Aktivierungserhöhung erfolgen können.

1.1.3 Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP)

Ereigniskorrelierte Potenziale (EKP) sind kleine systematische Spannungsschwankungen im Elektroenzephalogramm (EEG), die einem diskreten Ereignis, z. B. einer visuellen Reizdarbietung oder einem kurzen Geräusch, vorhergehen oder nachfolgen. Diese Spannungsschwankungen können mit einer hohen zeitlichen Auflösung verfolgt werden. Allerdings ist ihre räumliche Auflösung, d. h. ihre Zuordnung zu bestimmten Gehirnregionen, gröber als bei den Methoden PET und fMRI. Deshalb ergänzen sich die beiden Verfahrenstypen.

Die EKP sind im Einzelsignal klein und kaum von der Hintergrundaktivität zu unterscheiden. Deshalb wiederholt man die Reizung mehrfach und mittelt anschließend die gemessene Hirnaktivität. Die Spannungsschwankungen im ereigniskorrelierten Potenzial werden als Komponenten bezeichnet. Sie weisen eine positive oder negative Polarität auf und werden über die Zeit dargestellt. So ist die P300 eine positive Welle, die nicht vor 300 ms nach der Reizung auftritt (Kolb und Wishaw 1996, Kap. 4).

Bei der intrakranialen EKP-Messung werden dem Patienten Tiefenelektroden in die Hippocampusformation und die Amygdala implantiert. Mit diesen Elektroden können EKP dieser Strukturen direkt aufgezeichnet werden.

Die PET-Technik wurde schon bald durch die fMRI ersetzt, da diese keine Injektion radioaktiver Substanzen erfordert und es erlaubt, die Aktivationsherde räumlich genauer zu bestimmen. Neben diesen beiden Techniken wurde auch die Messung der EKP so weiterentwickelt, dass sie es erlaubt, kleine Spannungsschwankungen aufgabenabhängig an bestimmten Stellen des Gehirns zu messen. Der Vorzug der EKP-Messung liegt in einer hohen zeitlichen Auflösung. Diese Techniken haben in den vergangenen ca. 20 Jahren dazu geführt, dass wir viel darüber gelernt haben, welche Teile des Gehirns zu welchen kognitiven Leistungen einen besonderen Beitrag leisten. Dabei hat sich gezeigt, dass das Gehirn außerordentlich arbeitsteilig funktioniert.

1.2 Welche Funktionen haben verschiedene Hirnteile?

Ehe wir an einigen Gedächtnisleistungen im Detail verdeutlichen, zu welchen Erkenntnissen die neurowissenschaftlichen Entwicklungen geführt haben, soll ein kurzer Überblick über die funktionelle Anatomie des Gehirns gegeben werden, d. h dazu, welche Funktion bestimmte Teile des Gehirns haben.

Betrachtet man das Gehirn von oben, so erkennt man, dass das Endhirn von vorne nach hinten in zwei vergleichbare Teile, in zwei Hemisphären, gegliedert ist. Grob gesagt existiert unser Endhirn in zwei gleichen Ausgaben, so als wollte die Natur uns durch eine Verdopplung des Gehirns gegen Verletzungen und Schäden absichern. Trotz grundsätzlicher Vergleichbarkeit sind die Hemisphären aber auch verschieden. Sie sind z. T. funktional spezialisiert. So ist die linke Hälfte bei Rechtshändern auf die Sprachverarbeitung und die rechte auf nichtsprachliche Prozesse wie die räumliche Informationsverarbeitung und das Gesichtserkennen spezialisiert (Kolb und Wishaw 1996, S. 171). Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass die Spezialisierung relativ ist, da die beiden Hemisphären über ein dickes Faserbündel, das Corpus callosum, miteinander verbunden sind und miteinander kommunizieren.

Abb. 10.1 gibt einen Überblick über die Gliederung der Hirnrinde anhand einer Hemisphäre. Abb. 10.1a zeigt die Hirnrinde von der Seite (links ist die Stirn und rechts das Hinterhaupt), Abb. 10.1b zeigt das Bild, das man erhält, wenn man einen Schnitt durch die Mitte des Kopfes von vorne nach hinten macht.

Abb. 10.1
figure 1

Funktionelle Gliederung der Hirnrinde: a Lateralansicht, b Medialansicht. (Adaptiert nach Tillmann 2009; mit freundl. Genehmigung von Prof. Dr. med. K., Zilles, C. und O. Vogt-Instituts für Hirnforschung, Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf)

Betrachtet man die Oberfläche jeder einzelnen Hemisphäre, dann findet man drei primäre sensorische Kortizes. Am Hinterkopf befindet sich der Okzipitallappen mit dem primären visuellen Kortex. In ihm beginnt die Verarbeitung visuell wahrgenommener Reize im Endhirn. Im Schläfenbereich befindet sich der Temporallappen mit dem primären auditorischen Kortex. In seiner Nähe sind auch die Sprachzentren. In ihm beginnt die Verarbeitung akustischer Reize. Im Scheitelbereich des Kopfes liegt der Parietallappen mit dem primären somatosensorischen Kortex, der uns Informationen über unseren Körper vermittelt. Er informiert uns über Berührungs- und Druckreize und über Bewegungen unseres Körpers sowie über Schmerz und Temperatur. In den primären sensorischen Kortizes beginnt die sinnesspezifische Verarbeitung von Informationen. Die Informationen werden von hier in die Assoziationskortizes weitergeleitet. Direkt vor dem somatosensorischen Kortex liegt der primäre motorische und prämotorische Kortex. Er steuert unsere Körperbewegungen.

Zwischen und um die primären sensorischen und motorischen Kortizes befinden sich die Assoziationskortizes . In ihnen werden Informationen unterschiedlicher Modalitäten verknüpft. Diese Verknüpfungen beruhen auf Lernprozessen. In diesen Feldern werden Informationen integriert, die aus den primären sensorischen Feldern einlaufen. Der für die Motorik zuständige Assoziationskortex heißt präfrontaler Assoziationskortex. Er umfasst die vordere Hälfte des Endhirns. Aus dem präfrontalen Assoziationskortex werden Informationen an den primären motorischen und prämotorischen Kortex gesendet, die für motorische Handlungen benötigt werden. Der sensorische Assoziationskortex besteht aus dem sekundären visuellen, dem sekundären auditorischen und dem sekundären somatosensorischen Kortex. Er erstreckt sich über den Parietal-, Temporal- und Okzipitallappen und bedeckt den größten Teil der hinteren Hälfte der Kopfoberfläche. Der sensorische Assoziationskortex hat zahlreiche Verbindungen zum präfrontalen Assoziationskortex und gewährleistet, dass die motorischen Bewegungen an die durch die Sinne registrierte Umwelt angepasst werden. In Abb. 10.1a sind zusätzlich das Broca-(B-) und das Wernicke-(W-)Areal eingetragen. Das Broca-Areal bildet das motorische und das Wernicke-Areal das sensorische Sprachzentrum. Neben diesen beiden Assoziationsfeldern gibt es noch den limbischen Assoziationskortex, der sich in Teilen der Parietal-, Frontal- und Temporallappen befindet (Abb. 10.1b). In Abb. 10.1b sind ferner das supplementär motorische Areal (SMA), das der Bewegungsplanung dient, und das Riechhirn (O) dargestellt. Der limbische Assoziationskortex ist hauptsächlich für Motivation, Emotion und Gedächtnis zuständig.

Zu dem limbischen Assoziationskortex gehören auch zwei in der Abbildung nicht dargestellte, tiefer liegende Strukturen des Endhirns. Sie liegen medial, d. h. zur Körpermitte orientiert. Das sind die Hippocampusformation und die Amygdala. Für diese beiden Strukturen interessieren wir uns besonders, weil sie von großer Bedeutung für das Gedächtnis sind. In der Amygdala werden emotionale Informationen verarbeitet. Die Hippocampusformation (Abb. 10.2) besteht aus dem Hippocampus proper – wir sprechen kurz von „Hippocampus“ – und dem Übergangskortex im mediobasalen Temporallappen (MTL) , dem entorhinalen Kortex. Der Hippocampus erhält seinen Input aus dem entorhinalen Kortex im mediobasalen Temporallappen. Der MTL erhält Informationen aus den unimodalen und den multimodalen neokortikalen Assoziationsfeldern, u. a. aus dem inferioren temporalen Kortex, der für die visuelle Objekterkennung zuständig ist.

Abb. 10.2
figure 2

Struktur der Hippocampusformation und ihrer Verbindungen mit dem Neokortex

Zur Erinnerung: Wenn wir vom „Hippocampus“ sprechen ist der Hippocampus proper gemeint. Er ist direkt für das episodische Erinnern zuständig, die Amygdala ist es indirekt über die Emotionen.

Da die Gehirnstrukturen im medialen Temporallappen klein und dicht gepackt sind und zudem bei Bildgebungsverfahren sehr artefaktanfällig sind, sind die Erkenntnisse zur Gedächtnisrelevanz von Hippocampus und Amygdala auf weitere neurowissenschaftliche Methoden angewiesen. Hierzu gehören direkte chirurgische Eingriffe in diese Strukturen, aber auch die intrakraniale Registrierung von EKPs. Diese Methode wird an Epilepsie-Patienten im Rahmen der prächirurgischen Diagnostik eingesetzt, um zu klären, welche Folgen sich aus bestimmten epilepsiechirurgischen Eingriffen ergeben können.

2 Systeme als funktional differenzierte Hirnstrukturen

In der Neuroanatomie finden funktionale Aspekte der Sprach- und Gedächtnisprozesse zunehmend Beachtung. Dabei zeigt sich, dass unser Gehirn funktional differenziert arbeitet. Besondere Aufmerksamkeit haben im Kontext des episodischen Gedächtnisses dabei der Hippocampus und der mediobasale Temporallappen (MTL) gefunden. Aber auch die spezifischen Funktionen der sensorischen und motorischen Areale im Neokortex wurden in den letzten Jahren im Zusammenhang mit episodischen Gedächtnisleistungen untersucht.

2.1 Zwei zentrale funktionale Aspekte: Sprache und Gedächtnis

Die neurowissenschaftliche Forschung der letzten 20 Jahre hat dazu geführt, dass die Neuroanatomie stärker unter funktionalen Aspekten betrachtet wird. So wird darauf hingewiesen, dass die zwei Hemisphären des Gehirns funktional spezialisiert sind. Visuell-räumliche Informationen werden tendenziell eher in der rechten, sprachliche Informationen bei Rechtshändern eher in der linken Hemisphäre verarbeitet.

Eine andere generelle Erkenntnis ist die, dass die Informationsverarbeitung im Neokortex hierarchisch organisiert ist und von den primären sensorischen Kortizes zu den Assoziationskortizes verläuft. Nahe an den Sinnesorganen werden einzelne Reizaspekte analysiert und repräsentiert. In den Assoziationskortizes werden verschiedene Aspekte zu immer spezifischeren Repräsentationen integriert. Dadurch wird u. a. gewährleistet, dass die Körperbewegungen an die spezifischen Bedingungen der aktuellen Umwelt angepasst werden.

Dass eine solche funktionale Betrachtung der Neuroanatomie mit den in Kap. 9 entwickelten Systemgedanken direkt korrespondiert, sei am Beispiel des Nachsprechens von gehörten Wörtern und des lauten Lesens von geschriebenen Wörtern illustriert (Abschn. 7.3.6).

Wir haben in der Einführung zum Aufbau des Gehirns gesehen, dass neuroanatomisch das Broca-Areal als motorisches Sprachzentrum und das Wernicke-Areal als sensorisches Sprachzentrum unterschieden werden. Das bedeutet: Jedes Wort, das gesprochen wird, aktiviert im Broca-Zentrum ein motorisches Programm, das die motorische Realisation im primären motorischen Kortex steuert. Beim Hören kommt der Reiz über das Ohr zuerst in das primäre Hörzentrum und von hier in das sensorische Sprachzentrum, das Wernicke-Areal, wo das entsprechende Wort aktiviert wird, und erst von dort in das motorische Sprachzentrum, das Broca-Areal. Insgesamt sind vier Systeme beteiligt:

  • das primäre Hörzentrum,

  • das sensorische Sprachzentrum (Wernicke-Areal),

  • das motorische Sprachzentrum (Broca-Areal) und

  • der primäre motorische Kortex.

Liest man ein Wort, so ist nur der erste Teil des Weges durch die Systeme anders als beim Hören. Das Wort kommt hier zuerst in den primären visuellen Kortex und von dort ins Wernicke-Areal. Die weitere Verarbeitung entspricht der beim Hören von Wörtern (Geschwind 1986).

Im Kontext der episodischen Gedächtnisforschung hat die Hippocampusformation besondere Aufmerksamkeit erfahren. Sie besteht aus dem mediobasalen Temporallappen (MTL) und dem Hippocampus. Beide nehmen im Hinblick auf Gedächtnisleistungen unterschiedliche Funktionen wahr. Diesen beiden Strukturen gilt unser besonderes Interesse, da sie grundlegende Funktionen beim Erwerb von neuen Gedächtnisinhalten haben. Neben den beiden Strukturen spielt noch die Amygdala für das episodische Erinnern eine Rolle. Sie verarbeitet den emotionalen Aspekt von Reizereignissen. Wir werden zuerst auf die generelle Bedeutung des Hippocampus für das episodische Erinnern eingehen, danach auf funktionale Unterschiede von MTL, Hippocampus und Amygdala und schließlich beziehen wir sensorische und motorische neokortikale Strukturen und ihre Rolle beim episodischen Gedächtnis in die Betrachtung ein.

Die neurochirurgische Forschung hat deutlich gemacht, dass unser Gedächtnis keine einheitliche Struktur ist. Zumindest das deklarative und das prozedurale Gedächtnis beruhen auf verschiedenen Hirnstrukturen. Dem episodischen Erinnern liegt offensichtlich die Aktivität im Hippocampus und in der Amygdala zugrunde. Erinnern beruht demnach auf dem komplexen Zusammenspiel verschiedener Hirnstrukturen, wobei der Hippocampus und die Amygdala eine Schlüsselrolle einnehmen. Das prozedurale Gedächtnis ist dagegen von diesen Strukturen weitgehend unabhängig.

2.2 Der Hippocampus als Grundlage des episodischen Erinnerns

Die Tatsache, dass die operative Entfernung des mediobasalen Temporallappens und insbesondere des Hippocampus bei epileptischen Patienten in den 1960er-Jahren schwerste Beeinträchtigungen des episodischen Erinnerns zur Folge hatte, hat auf die zentrale Bedeutung dieser Strukturen für das episodische Gedächtnis aufmerksam gemacht. Zusammen mit der Feststellung, dass nach einer solchen Operation die Leistungen des prozeduralen Gedächtnisses weitgehend intakt blieben, wurde deutlich, dass wir nicht über ein einheitliches Gedächtnis verfügen, sondern dass unser Gedächtnis aus einem System von verschiedenen Gedächtnissen besteht.

Wir werden die Funktion verschiedener Hirnstrukturen für das episodische Erinnern vorwiegend am Beispiel visuell wahrgenommener Objekte erläutern. Das visuelle Erkennen von Objekten ist hirnanatomisch und hirnphysiologisch ein komplexer Vorgang. Man kann grob sagen, dass die auf das Auge treffende Information über viele Schritte entlang der Sehbahn bis in den primären visuellen Kortex geleitet wird und von dort in den sensorischen Assoziationskortex. Dort wird sie zu einem Wahrnehmungserlebnis zusammengefügt (s. Engelkamp und Zimmer 2006, Kap. 2). Was für die visuelle Wahrnehmung gilt, gilt analog für die anderen Sinnesmodalitäten.

Was muss geschehen, dass ein Wahrnehmungserlebnis als episodischer Gedächtnisinhalt gespeichert und behalten wird? Bis in die 1970er-Jahre hat man lediglich zwischen einem Kurzzeit- und einem Langzeitgedächtnis unterschieden (Kap. 7). Letzteres wurde als ein einheitliches Gedächtnissystem angesehen. Das änderte sich erst, als man begann, Patienten mit schweren epileptischen Anfällen Teile des Temporallappens zu entfernen, um sie von ihren Anfällen zu befreien (Milner 1966; Abschn. 7.3.1, s. auch das Beispiel zur Einleitung in dieses Kapitel). Betroffene Patienten hatten nach Entfernung der Temporallappen zwar weniger epileptische Anfälle, dafür wiesen sie aber massive Gedächtnisstörungen auf. Das episodische Erinnern war schwer beeinträchtigt. Sie konnten sich nicht länger an das erinnern, was sie sahen und erlebten. Sie konnten neue wahrgenommene Ereignisse nicht mehr speichern und behalten. Ein solcher episodischer Gedächtnisverlust trat immer dann auf, wenn der Hippocampus als Teil des Temporallappens beschädigt war. Bei näherer Betrachtung zeigte sich aber auch, dass nicht das ganze Gedächtnis zerstört war. Das heißt, das Gedächtnis ist kein einheitlicher Speicher, in dem alle Arten von Inhalten gespeichert und aus dem sie wieder abgerufen werden können, sondern es ist ein System von verschiedenen Gedächtnissen. Geht man von der Unterscheidung zwischen einem deklarativen und einem prozeduralen Gedächtnis aus (Squire 1987), dann zeigt sich, dass insbesondere das prozedurale Gedächtnis auch nach einer Temporallappenentfernung weitgehend intakt bleibt. Das gilt für den Erwerb motorischer Fertigkeiten ebenso wie für das implizite Behalten (Abschn. 9.6). Gestört ist dagegen das deklarative Gedächtnis. Dabei ist die Situation im Hinblick auf das semantische Gedächtnis weniger klar als hinsichtlich des episodischen Gedächtnisses. Letzteres ist eindeutig beeinträchtigt. Ein intakter Hippocampus ist eine wesentliche Voraussetzung für episodische Gedächtnisleistungen.

2.3 Differenzielle Gedächtnisfunktionen von MTL, Hippocampus und Amygdala

Neben der Rolle des Hippocampus ist auch die Rolle der Amygdala für das episodische Gedächtnis wichtig. Zerstörungen beider Hirnstrukturen haben gravierendere Folgen für das episodische Gedächtnis als die bloße Zerstörung des Hippocampus. Es zeigte sich, dass der Hippocampus besonders den räumlichen Ort von Reizen und die Amygdala die emotionale Färbung von Reizen speichert und der mediobasale Temporallappen (MTL) primär für das Behalten der Objektinformation zuständig ist. Der Hippocampus situiert Objekte raum-zeitlich, die der mediobasale Temporallappen ohne Kontextinformation speichert.

Mishkin (z. B. Mishkin und Appenzeller 1990) hat die Ausfälle bei Schädigungen des mediobasalen Temporallappens (MTL), des Hippocampus und der Amygdala an Menschen und Affen untersucht. Er ist zu dem Schluss gekommen, dass der Hippocampus und die Amygdala für den Gedächtnisverlust verantwortlich sind. Dass neben dem Hippocampus auch die Amygdala kritisch ist, folgerte er daraus, dass bei Affen die Entfernung des Hippocampus bei Weitem nicht so schwere Gedächtnisstörungen hervorrief wie die gemeinsame Entfernung von Hippocampus und Amygdala. Die Affen mussten in Untersuchungen lernen, einen von zwei Gegenständen auszuwählen, um eine Belohnung zu finden. Diese war bei dem Gegenstand zu finden, den sie vorher nicht gesehen hatten. Die Affen mussten also den vorher gesehenen Gegenstand erinnern, um die Aufgabe lösen zu können. Der Behaltenstest wurde verzögert dargeboten. Diese Aufgabe konnten Affen nach Zerstörung des Hippocampus und der Amygdala nicht mehr lösen.

Post-mortem-Untersuchungen der Gehirne von Amnestikern zeigten, dass auch beim Menschen die Schwere der Gedächtnisstörung vom Ausmaß der gemeinsamen Schädigung von Hippocampus und Amygdala abhängt. Heute weiß man, dass die Amygdala vor allem das Erinnern emotional gefärbter, insbesondere emotional negativer Ereignisse beeinflusst (Dolan 2002; Le Doux 1999).

Schon Mishkin und Appenzeller (1990) nahmen aufgrund tierexperimenteller Studien an, dass der Hippocampus darauf spezialisiert ist, insbesondere räumliche Informationen zu verarbeiten und zu speichern, während der mediobasale Temporallappen für die Verarbeitung von Objektinformation und deren Speicherung zuständig ist. Meunier et al. (1993) ließen Affen mit verschiedenen Temporallappenschädigungen Aufgaben zum visuellen Erkennen durchführen. Tiere mit MTL-Schädigungen waren am stärksten beeinträchtigt. Diese Befunde lassen vermuten, dass die Mängel beim Wiedererkennen visueller Objekte auf Schädigungen im MTL und nicht auf Hippocampusschädigungen beruhen (Kolb und Wishaw 1996, Kap. 16).

Petri und Mishkin (1994) unterscheiden zwischen den Funktionen der Amygdala (für die Verarbeitung emotionaler Information zuständig), des Hippocampus (für die Verarbeitung räumlicher Informationen zuständig) und des mediobasalen Schläfenlappens (MTL; für das Erkennen von Objekten zuständig). Offensichtlich können Hippocampus und Amygdala einander ersetzen, wenn Gegenstände wiederzuerkennen sind, aber nicht, wenn räumliche Beziehungen behalten werden müssen. Der Hippocampus scheint auf die Verarbeitung räumlicher Informationen spezialisiert zu sein. Das konnte an Tier und Mensch gezeigt werden. Nur das Ausmaß der Hippocampusschädigung korreliert mit dem Gedächtnis für den Ort von Objekten. Darüber hinaus fand man, dass für die raum-zeitliche Situierung von Objektreizen besonders der rechtsseitige Hippocampus zuständig ist, während der linksseitige mehr für sprachliche Reize und deren situative Neuheit zuständig ist.

Weitere Einsichten zur Rolle der medialen Temporallappenstrukturen bei episodischen Gedächtnisleistungen stammen von Untersuchungen mit intrakranialen Elektroden – das sind Elektroden, die man in das Gehirn einführt, statt sie an der Kopfoberfläche anzubringen (Abschn. 10.1). Grunwald und Beck (2003) untersuchten das Behalten von Wörtern an Patienten mit unilateralen Temporallappenepilepsien mit intrakranialen Elektroden. Sie gingen von der Überlegung aus, dass wir ein Wort, das wir sehen, als „bemerkenswert“ wahrnehmen müssen, um uns daran zu erinnern. Es muss uns gewissermaßen auffallen, um bewusst enkodiert zu werden. Ein Wort, das unsere Aufmerksamkeit auf sich zieht, wird besser erinnert. Wenn wir eine Liste von Wörtern sehen, erinnern wir nicht die Wörter an sich. Sie sind uns bereits vorher bekannt. Was wir erinnern, ist, dass sie in der Lernliste aufgetreten sind, d. h. ihre situative Neuheit. Grunwald und Beck nehmen an, dass besonders der linke Hippocampus zu der Entdeckung von dieser Neuheit und damit zum episodischen Erinnern von Sprachreizen beiträgt (s. auch Ranganath und Rainer 2003). Der rechte Hippocampus wäre dann eher für das episodische Erinnern nichtsprachlicher Reize und der linke für das Erinnern sprachlicher Reize zuständig.

2.4 Die Rolle des MTL beim vertrautheitsbasierten Wiedererkennen

Dass der MTL und der Hippocampus beim Erinnern verschiedene Funktionen haben, zeigt sich u. a. beim Wiedererkennen . Der MTL ist beim vertrautheitsbasierten Wiedererkennen beteiligt. Dies kommt in frontalen Alt-Neu-Effekten im EKP zum Ausdruck. Aktivationen des Hippocampus bilden dagegen die Grundlage für retrievalbasiertes Wiedererkennen und lassen sich mittels parietalen Alt-Neu-Effekten abbilden (► Exkurs). Der MTL ist zudem auch für den Erwerb von semantischem Wissen zuständig.

Auch in einem anderen Kontext wird gefordert, dass der Hippocampus und die angrenzenden mediobasalen Temporallappenstrukturen im Bezug auf das Gedächtnis verschiedene Funktionen haben, nämlich bei der Untersuchung von vertrautheitsbasierten und retrievalbasierten, d. h. kontextbasierten Wiedererkennensleistungen in EKP-Studien (Mecklinger 2000; ► Exkurs).

Alt-Neu-Effekt im EKP

Der Alt-Neu-Effekt im EKP zeigt, dass alte Wörter einen positiveren Potenzialverlauf zeigen als neue Wörter. Dieser ist allerdings davon abhängig, in welchem Zeitfenster nach der Reizdarbietung gemessen wird. Es zeigt sich, dass Manipulationen der Vertrautheit in Wiedererkennensurteilen mit dem frühen frontalen Alt-Neu-Effekt und Manipulationen des retrievalbasierten Wiedererkennens mit dem späten parietalen Alt-Neu-Effekt einhergehen. Die Vertrautheit im Wiedererkennenstest misst man dabei z. B. mittels Know-Antworten, bei denen die Versuchspersonen sich auf ihren Vertrautheitseindruck verlassen sollen. Das retrievalbasierte Wiedererkennen misst man u. a. über Remember-Antworten, die definitionsgemäß auf kontextbasiertem Erinnern beruhen (z. B. Smith 1993; Abschn. 8.9.1).

Ein anderer methodischer Zugang setzt direkt am Enkodieren der Reize an. Wenn ein Wort erinnert werden soll, muss es auch bewusst enkodiert werden. Eine solche bewusste Enkodierung, bei der die Versuchspersonen instruiert werden, sich das Wort zu merken, kontrastiert man mit einer Instruktion, bei der die Versuchspersonen aufgefordert werden, bestimmte Wörter aktiv zu vergessen, d. h. nicht zu behalten (Abschn. 8.7.3). Zu behaltende Reize sollten bewusst enkodiert und erinnert werden, deshalb sollten sich parietale Alt-Neu-Effekte zeigen. Zu vergessende Reize sollten weniger bewusst enkodiert werden. Sie sollten im Test nur vertraut wirken. Deshalb sollten sich hierbei keine parietalen Alt-Neu-Effekte zeigen. Beide Annahmen treffen zu (Ullsperger et al. 2000).

Über diese Zusammenhänge hinaus gibt es Evidenzen dafür, dass der Hippocampus für ein bewusstes Erinnern und Wiedererkennen bedeutsam ist, und der mediobasale Temporallappen dem vertrautheitsbasierten Wiedererkennen zugrunde liegt (z. B. Gunwald und Beck 2003; Mayes et al. 2004; Mecklinger 2000).

Mayes et al. (2004) berichten über eine Patientin, die unter einer selektiven bilateralen Hippocampusläsion ohne erkennbare andere Schädigungen litt. Diese Patientin zeigte einen stark beeinträchtigten Free Recall bei einem relativ normalen Wiedererkennen für Reize, solange dieses sich nicht auf neue Assoziationen zwischen unrelatierten Reizaspekten bezog, die keine semantische Basis hatten. Das heißt, das Wiedererkennen von solchen neuen Verbindungen, z. B. zwischen Objekten und ihren zufälligen Orten oder zwischen Wörtern und ihren zufälligen Listenpositionen, war ebenfalls stark beeinträchtigt. Dieses Befundmuster wird damit erklärt, dass bei der Patientin das nichtbeeinträchtigte Wiedererkennen von Reizen auf Vorgängen im MTL beruht, während der Recall und das Wiedererkennen neuer, nicht semantisch gestützter Verbindungen einen intakten Hippocampus erfordert, über den die Patientin nicht verfügte.

Mayes et al. (2004) formulieren damit eine Bedingung, unter der nur retrievalbasiertes Wiedererkennen erfolgreich ist. Nur der Hippocampus ist in der Lage, neue, semantisch nicht verbundene Reize bereits nach einmaliger Darbietung zu verknüpfen (s. hierzu auch Norman und O’Reilly 2003).

2.4 Exkurs

2.4 Alt-Neu-Effekt im EKP

Beim Alt-Neu-Effekt wird untersucht, was mit „alten“, zuvor gelernten im Vergleich zu neuen Wörtern beim Wiedererkennen im EKP geschieht. Alte Wörter zeigen über ein größeres Zeitfenster, d. h. über mehrere 100 Millisekunden (ms), einen positiveren Potenzialverlauf als neue Wörter. Dieser Verlaufsunterschied variiert auf der Zeitachse und in Abhängigkeit davon, an welcher Kopfelektrode er gemessen wird. Zwischen 300 und 500 ms nach Reizdarbietung zeigt sich der Alt-Neu-Effekt am ausgeprägtesten über mittleren frontalen Gehirnarealen, zwischen 400 und 700 ms ist er über parietalen Regionen am stärksten ausgeprägt.

2.5 Die Rolle des MTL bei semantischen und episodischen Gedächtnisleistungen

Der mediobasale Temporallappen bildet auch die Grundlage für den Erwerb semantischen, d. h. dekontextualisierten Wissens. Patienten mit Hippocampusschädigungen sind zwar nicht mehr zu episodischen Erinnerungen fähig, können aber noch semantisches Wissen erwerben. Der MTL erlaubt offensichtlich den Erwerb semantischen Wissens auch dann, wenn der Hippocampus beschädigt ist. Das episodische und semantische Gedächtnis sind offenbar voneinander unabhängiger als man lange geglaubt hat. Zur Erklärung wird vorgeschlagen, dass wir über zwei komplementäre Gedächtnissysteme verfügen: über ein schnell lernendes (Hippocampus) und über ein langsam lernendes (MTL). Beide Systeme sind zwar von einander unabhängig, aber sie interagieren auch.

Die mediobasale Temporallappenstruktur (MTL) bildet offensichtlich nicht nur die Grundlage für vertrautheitsbasiertes Wiedererkennen, sondern auch für den Erwerb semantischen Wissens.

Baddeley et al. (2001) berichten z. B. über einen Patienten, dessen Hippocampus um 50 % reduziert war. Der mediale Schläfenlappen außerhalb des Hippocampus war jedoch nicht beschädigt. Dieser Patient zeigte beim freien Reproduzieren in verbalen und visuellen Gedächtnisaufgaben sehr schlechte Leistungen, wogegen sein unmittelbares Wiedererkennen normal war und ebenso seine Leistungen in semantischen Gedächtnistests. Der Patient konnte nicht nur semantisches Wissen abrufen, er konnte auch neues semantisches Wissen erwerben. Dies zeigte sich in Aufgaben, in denen durch wiederholte Darbietung des Lernmaterials eine Dekontextualisierung der Lernerfahrung stattfand.

Ähnlich berichten Tulving (2002) und Hayman et al. (1993) über einen Patienten, der nach Entfernung seines Hippocampus unfähig war, irgendwelche Episoden zu erinnern, aber dennoch in der Lage war, neue semantische Informationen in wiederholten Lerndurchgängen zu erwerben, z. B. konnte er Assoziationen zwischen Wörtern über mehrere Durchgänge lernen, obwohl er sich nicht erinnern konnte, wo er diese erlernt hatte.

Vargha-Khadem et al. (1997) untersuchten neben dem oben bereits erwähnten Patienten von Baddeley et al. (2001) noch zwei andere Patienten, die in jungen Jahren (der eine bei Geburt und der andere mit vier Jahren) einen bilateralen Hippocampusschaden erlitten hatten, also zu einem Zeitpunkt, als sie noch wenig semantisches Wissen erworben hatten. Beide waren weitgehend unfähig, episodische Ereignisse zu erinnern, z. B. was sie im Fernsehen gesehen oder am Telefon gehört hatten. Trotzdem besuchten beide normale Schulen, und ihre Sprachentwicklung, ihre Wortkenntnis sowie ihre Fähigkeit zu lesen und zu schreiben waren altersgemäß.

Es scheint so zu sein, dass der mediobasale Temporallappen (MTL) den Erwerb semantischen Wissens ermöglicht, auch wenn der Hippocampus verletzt ist. Der MTL genügt, um semantisches Wissen zu erwerben und vertrautheitsbasierte Wiedererkennensurteile zu fällen, er reicht aber nicht, um episodisches, kontextbezogenes Erinnern zu ermöglichen. Die Befunde sprechen damit für eine gewisse Unabhängigkeit des semantischen und episodischen Gedächtnisses und gegen die lange Zeit in der Gedächtnisforschung vertretene Auffassung, das episodische Gedächtnis bilde das „Eingangstor“ zum semantischen Gedächtnis. Die Befunde sprechen also gegen die Vorstellung, dass am Anfang das episodische Erinnern stehen muss und dass das semantische Wissen dadurch entsteht, dass der Lernkontext vergessen wird, während das Wissen über die Reizbedeutung bleibt.

Eine Ausformulierung der Idee, dass Gedächtnisleistungen auf zwei verschiedenen Gedächtnissystemen beruhen können, findet sich bei McClelland et al. (1995) sowie O’Reilly und Norman (2002). Sie postulieren zwei komplementäre Gedächtnissysteme, ein langsam und ein schnell lernendes System. Das langsam lernende basiert auf synaptischen Veränderungen im Neokortex durch wiederholte Lernerfahrungen. Es bildet dekontextualisierte semantische Gedächtnisrepräsentationen direkt im Neokortex. Das schnelle Gedächtnissystem beruht auf dem Hippocampus und bildet bereits nach einmaliger Reizerfahrung komprimierte Gedächtnisrepräsentationen aus. Diese komprimierten Repräsentationen sind mit neokortikalen Repräsentationen verknüpft und ermöglichen deren Reaktivierung. Sie funktionieren wie Hinweise auf neokortikale Repräsentationen. Wenn die komprimierten Repräsentationen verloren gehen, können die neokortikalen dennoch bestehen bleiben. Danach kann semantisches Wissen ohne und mit Hippocampusbeteiligung erworben werden. Das schnelle System funktioniert unabhängig von dem langsamen. Man darf davon ausgehen, dass der MTL am langsamen Lernen beteiligt ist und eine wichtige Rolle dabei spielt. Nach Norman und O’Reilly (2003) ist der MTL auch für das vertrautheitsbasierte Wiedererkennen verantwortlich. Damit konnte gezeigt werden, wie man sich den Erwerb semantischen Wissens und vertrautheitsbasiertes Wiedererkennen auch ohne episodisches Gedächtnis vorstellen kann.

2.6 Die Rolle des Neokortex für episodisches Erinnern

Das Behalten sensorischer und motorischer Information geht mit der Aktivation in spezifischen neokortikalen Arealen einher. Das Behalten von Orts- und Objektinformation involviert nicht nur den Hippocampus bzw. den MTL, sondern führt auch zur Aktivation in unterschiedlichen neokortikalen Arealen. Andere Untersuchungen zeigen, dass perzeptuelle und konzeptuelle Primingeffekte auf verschiedenen neokortikalen Hirnstrukturen beruhen. Experimente zum Behalten einfacher Handlungen zeigen, dass das motorische Enkodieren mit einer erhöhten Aktivität in den motorischen Hirnarealen einhergeht. Die Aktivation motorischer Areale im Neokortex zeigt sich sowohl beim Enkodieren als auch beim Abrufen. Sensorische und motorische neokortikale Strukturen bilden einen Teil unserer episodischen Gedächtnisspuren (Nilsson et al. 2000; Nyberg et al. 2003).

Im Folgenden soll über Befunde berichtet werden, die zeigen, dass neokortikale Strukturen Teile der Gedächtnisrepräsentationen bilden, die beim Enkodieren und Abrufen von Reizen aktiv beteiligt sind.

2.6.1 Die Rolle der sensorischen Kortizes

Smith und Jonides (1997) haben die Frage, ob Objekt- und Ortsinformation in verschiedenen Hirnarealen gespeichert werden, untersucht. Ihre Personen sahen zwei Objekte, denen ein Hinweisreiz folgte. Die Versuchspersonen mussten nach dem Hinweisreiz angeben, ob dieser dieselbe Position oder dieselbe Form hatte wie eines der beiden zuvor gezeigten Objekte. Obwohl die Reize beim Lernen identisch waren, zeigten PET-Messungen Unterschiede. Bei räumlichen Aufgaben waren Teile der rechten Hemisphäre aktiv, bei der visuellen Aufgabe Teile der linken Hemisphäre. Mecklinger und Pfeifer (1996) konnten im gleichen Paradigma mit EKP-Messungen zeigen, dass die Aufgabenstellung – „Behalte, wo die Objekte sind“ versus „Behalte die Objekte“ – bereits während des Behaltensintervalls topografisch verschiedene Hirnareale aktivierten. Bei der Ortsaufgabe waren parietale und bei der Objektaufgabe frontale Bereiche aktiv (Cabeza und Nyberg 2000; Mecklinger 1999).

Persson und Nyberg (2000) berichten von erhöhter Hirnaktivität in beiden parietalen Kortizes, wenn Versuchspersonen instruiert wurden, die Position zu lernender Wörter zu behalten, sowohl während der Lern- als auch während der Testphase (Köhler et al. 1998; Moscovitch et al. 1995).

Der Erwerb von Orts- und Objektinformation unterscheidet sich nicht nur dadurch, dass erstere den Hippocampus involviert und für letztere der MTL genügt, das Behalten von Ortsinformation geht auch mit topografisch anderen neokortikalen Aktivationsprozessen einher als das Behalten von Objektinformation.

Eine Beteiligung sensorischer Prozesse am verbalen Erinnern wurde von Nyberg et al. (2003) gezeigt. Sie präsentierten in der Lernphase Paare aus Wörtern und akustischen Reizen (z. B. dem Klingen einer Glocke). In einem Wiedererkennenstest mit visuell gebotenen Wörtern zeigte sich eine erhöhte Hirnaktivität in den auditiven Bereichen des Temporallappens auch dann, wenn die Versuchspersonen nicht aufgefordert waren, den akustischen Reiz zu erinnern und dieser explizit als irrelevant für den Behaltenstest erklärt wurde. Weitere Evidenz dafür, dass auditive Information auf der Basis visueller Bezeichnungen zu Aktivationen im auditorischen sensorischen Kortex führt, geben Wheeler et al. (2000). Nyberg et al. (2003) betrachten den Befund als eine starke Evidenz dafür, dass sensorische Informationen einen Teil der Gedächtnisspur bilden (für einen Überblick s. Nyberg 2006).

2.6.2 Die Rolle des motorischen Kortex

Dass visuelle Prozesse an Enkodier- und Abrufprozessen im Gedächtnis beteiligt sind, wird seit einiger Zeit gesehen. Dass motorische Prozesse die Gedächtnisleistung unterstützen, wird dagegen erst in jüngster Zeit wahrgenommen. Nilsson et al. (2000) haben in einer PET-Studie gezeigt, dass sich eine erhöhte Aktivität in den motorischen Hirnarealen beim Abruf nach Tun im Vergleich zum Abruf nach Hören von Handlungsphrasen beobachten ließ. Dieser Befund stützt die Annahme, dass motorische Prozesse am Handlungsausführungseffekt (Tu-Effekt) beteiligt sind. Nyberg et al. (2001) führten diese Untersuchungen weiter. Da Nilsson et al. (2000) die Hirnaktivität beim Enkodieren nicht gemessen haben, lässt sich nicht sagen, ob die gleichen motorischen Areale, die beim Enkodieren aktiv sind, beim Abrufen reaktiviert werden. Nyberg et al. (2001) maßen deshalb die Hirnaktivität beim Enkodieren und Abrufen. Der Wiedererkennenstest war bei ihnen nach Hören und Tun verbal. Sie konnten zeigen, dass Handlungen, die beim Enkodieren ausgeführt wurden, sowohl beim Enkodieren als auch beim verbalen Abrufen von motorischen Hirnaktivitäten begleitet waren.

Mecklinger et al. (2004) zeigten in einer fMRI-Studie, dass bereits die Intention, wahrgenommene reale Objekte zu behalten, die man mit den Händen manipulieren konnte, Regionen im ventro-lateralen prämotorischen Kortex aktivierten, während dies bei Objekten, die man nicht mit den Händen manipulieren konnte, nicht der Fall war. In diesem Fall war der linke inferiore frontale Gyrus aktiviert. Auch für motorische Informationen gilt aufgrund der genannten Befunde, dass diese einen Teil der Gedächtnisspur bilden.

Zusammengenommen zeigen die Befunde, dass der sensorische wie der motorische Neokortex am Enkodieren und am Abrufen von Informationen auch in episodischen Tests beteiligt ist und deren Erinnern in spezifischer Weise beeinflusst.

3 Fazit

Die Betrachtung der neurowissenschaftlichen Grundlagen des episodischen Gedächtnisses zeigt, dass die Hirnforschung die psychologischen Systemmodelle des episodischen Gedächtnisses unterstützt. Unser Gedächtnis ist kein einheitliches System, sondern eher ein Systemverbund. Gedächtnisleistungen entstehen durch das Zusammenspiel einer Vielzahl von Gehirnstrukturen.

Eine erste funktionale Differenzierung verschiedener Hirnstrukturen läuft entlang der Dimension sprachlich-nicht sprachlich. Nach Kandel et al. (1996) ist die linke Hirnhälfte bei Rechtshändern eher auf sprachliche Reizverarbeitung spezialisiert, die rechte eher auf nichtsprachliche Reize. Ferner zeigt sich, dass Aktivität im linken, aber nicht im rechten Hippocampus verbales Erinnern vorhersagt und dass rechtsseitige Temporallappenepilepsien mit Störungen visuell-räumlicher Erinnerungsleistungen einhergehen (z. B. Grunwald und Beck 2003). Die Unterscheidung zwischen sprachlichen und nichtsprachlichen Informationen ist auch eine klare Trennlinie im multimodalen Gedächtnismodell. Diese Trennung wird z. B. dadurch motiviert, dass Wortreize die kategoriale Zuordnung festlegen, Bilder jedoch nicht, oder dadurch, dass implizite Wiederholungseffekte eingangssystemspezifisch sind, d. h. auf verbale bzw. bildliche Reize beschränkt bleiben (Abschn. 9.6.1), oder dadurch, dass der sensorische Reichtum bildlicher Reize das Erinnern unterstützt (Abschn. 9.4.2). Es überrascht, dass in vielen, insbesondere formalen Gedächtnismodellen diesem Aspekt keine Beachtung geschenkt wird (z. B. Buchner und Brandt 2002).

Auch die Annahme des multimodalen Modells, dass die selektive Zuwendung und bewusste Verarbeitung von Reizen die zentrale Grundlage für episodisches Erinnern bildet, wird durch die neurowissenschaftliche Forschung gestützt. Sie lokalisiert diese Zuwendung in der Hippocampusformation. Ihre bilaterale Zerstörung macht Menschen unfähig, Episoden zu erinnern (z. B. Grunwald und Beck 2003; Kolb und Wishaw 1996, Kap. 17). Die Gehirnforschung zeigt darüber hinaus, dass der MTL und der Hippocampus gemeinsam zu dieser Leistung beitragen. Der MTL leistet primär die Enkodierung der dekontextualisierten Gedächtniseinheiten, d. h. ihre Verfügbarkeit unabhängig vom situativen Kontext, wie sie z. B. beim perzeptuellen Wiederholungspriming getestet wird. Die Einbindung in den situativen Kontext leistet der Hippocampus. Erst er ermöglicht das episodische Erinnern. Dieser hirnphysiologischen funktionalen Unterscheidung zwischen MTL und Hippocampus entspricht weitgehend die psychologische Unterscheidung zwischen nichtintendierten impliziten Behaltensleistungen (wie beim Wiederholungspriming) und expliziten Erinnerungsleistungen (wie z. B. beim Free Recall). Die Unterscheidung bedeutet auch, dass der MTL eher die automatische kontextfreie Aktivierung von Gedächtniseinheiten bewirkt, während der Hippocampus ihre kontrollierte Einbindung in raum-zeitliche Kontexte leistet. Wir haben in Abschn. 9.3 gesehen, dass die automatische Aktivierung von Gedächtniseinheiten und ihre kontrollierte Elaboration auch im multimodalen Gedächtnismodell eine wichtige Rolle spielen.

Nur das explizite Behalten beruht auf der hippocampalen Aktivität. Der Hippocampus leistet die bewusste Zuwendung zu Reizen. Aber er ist nur zum Teil der Ort, an dem die Gedächtnisinhalte gespeichert werden. Diese werden auch im Endhirn (Neokortex) gespeichert. Hierbei spielen sensorische und motorische Areale des Neokortex eine bedeutsame Rolle. In den sensorischen Neokortizes werden mithilfe der hippocampalen Formation die Wahrnehmungsinhalte und im motorischen Neokortex die motorischen Handlungen gespeichert. Die aufgabenspezifischen sensorischen und motorischen Prozesse, die beim Enkodieren stattfinden, werden so integriert, dass später die Aktivierung von Teilmustern genügt, um sie insgesamt zu reaktivieren (Nyberg 2006). Damit wird auch die zentrale Annahme des multimodalen Gedächtnismodells, dass sensorische und motorische Prozesse neben konzeptuellen zum episodischen Erinnern beitragen (Engelkamp und Zimmer 2006, Kap. 5), durch die neurowissenschaftliche Forschung gestützt.

Auch wenn die Ergebnisse der neurowissenschaftlichen Gedächtnisforschung nicht Punkt für Punkt den Annahmen der gedächtnispsychologischen Systemmodelle entsprechen, wird doch deutlich, dass Gedächtnistheorien, die auf Systemdifferenzierungen verzichten, dem Funktionieren des menschlichen Gehirns nicht gerecht werden.

Eine zentrale Annahme der psychologischen Gedächtnisforschung findet allerdings keine direkte Parallele in der Hirnforschung. Das ist die Annahme konzeptueller Information und eines zentralen konzeptuellen Systems, die in psychologischen Theorien weit verbreitet ist. Sie erhält ihr besonderes Gewicht dadurch, dass sie u. a. zwischen sensorischen Eingangs- und motorischen Ausgangssystemen vermittelt (Engelkamp und Zimmer 2006, Kap. 5). Die konzeptuelle Information ist Träger der kategorialen Bedeutung, die von sensorischen und motorischen Modalitäten abstrahiert. Es überrascht, dass gerade dieser prominente Informationstyp psychologischer Theorien keine direkte Entsprechung in der Hirnforschung findet. Allerdings spricht einiges dafür, dass die konzeptuelle Information neurowissenschaftlich gesehen eher im vorderen als im hinteren Teil des Neokortex verarbeitet wird. Etwas anders formuliert: Die Information wird umso abstrakter, je mehr sich die Verarbeitung von den primären sensorischen Kortizes, wo die Informationsverarbeitung beginnt, über die Assoziationskortizes nach vorne zum Stirnbereich ausbreitet. Vieles spricht also dafür, dass der präfrontale Kortex an der semantischen Informationsverarbeitung beteiligt ist. Vielleicht ist das konzeptuelle System in den psychologischen Modellen zu umfassend konzipiert und enthält zu unterschiedliche Inhalte, als dass eine bestimmte Gehirnstruktur als alleiniger oder vornehmlicher Träger dieser Information infrage kommt.

Kontrollfragen

  1. 1.

    Was versteht man unter funktioneller Anatomie des Gehirns , und wie wird sie untersucht?

  2. 2.

    Was geschieht im Broca- und Wernicke-Areal, wenn eine Person ein Wort hört und es nachsprechen soll?

  3. 3.

    Woher weiß man, dass der Hippocampus für das Funktionieren des episodischen Gedächtnisses entscheidend ist?

  4. 4.

    Welche Funktion hat der mediobasale Temporallappen (MTL) für das Behalten?

  5. 5.

    Wie tragen der Hippocampus und der MTL gemeinsam zu der episodischen Erinnerung bei, ein bestimmtes Objekt zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort gesehen zu haben?

  6. 6.

    Was versteht man unter dem Alt-Neu-Effekt im ereigniskorrelierten Potenzial (EKP)?

  7. 7.

    Inwiefern unterstützen Alt-Neu-Effekte im EKP die Unterscheidung zwischen vertrautheits- und retrievalbasiertem Wiedererkennen?

  8. 8.

    Man nimmt an, dass der MTL für den Erwerb semantischen, dekontextualisierten Wissens zuständig ist. Welche Befunde stützen diese Annahme?

  9. 9.

    Was spricht dafür, dass auch der Neokortex an episodischen Gedächtnisleistungen beteiligt ist?

Weiterführende Literatur

Kolb, B. & Whishaw, J. Q. (1996). Neuropsychologie. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Kupfermann, I. & Kandel, E. (1996). Lernen und Gedächtnis. In E. R. Kandel, J. H. Schwartz & T. M. Jessell (Hrsg.), Neurowissenschaften (Kap. 35). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.

Nyberg, L. (2006). Functional imaging studies of intentional and incidental reactivation: Implications for the binding problem. In H. D. Zimmer, A. Mecklinger & U. Lindenberger (Eds.), Handbook of binding and memory (pp. 517–526). Oxford: Oxford University Press.