1.1 Anatomie

Phylogenetisch ist das Gleichgewichtsorgan eines der ältesten Sinnessysteme, wenn nicht das älteste überhaupt. Vor über 600 Millionen Jahren gab es bereits beim Hohltier Statozysten zur Wahrnehmung der Schwerkraft. Beim Menschen wird das Ohr in der Embryonalentwicklung als erstes aller Sinnesorgane angelegt. Die Entwicklung des Innenohrs beginnt in der 6. Woche.

Zum Gleichgewichtssystem gehören das Vestibularorgan, der Vestibularnerv und die Vestibulariskerne im Hirnstamm.

Im Innenohr jeder Seite befindet sich jeweils ein Gleichgewichtsorgan mit seinen Teilorganen, die in Form des knöchernen Labyrinths im Felsenbein eingebettet sind. Der cochleäre Anteil des Labyrinths liegt vorne und die Bogengänge hinten. Beide bilden eine Längsachse, die von hinten oben lateral nach vorn unten medial verläuft. Die Cochlea befindet sich demnach vorne medial und die Bogengänge hinten lateral.

Das knöcherne Labyrinth besteht aus sehr festem enchondralen Knochen, welcher nach Frakturen nicht in der Lage ist, Kallus zu bilden. Das häutige Labyrinth besteht aus den Bogengängen, den drei Drehbeschleunigungsrezeptoren, sowie den Otolithenapparaten Sakkulus, den zwei Linearbeschleunigungsmessgeräten, und enthält Peri- und Endolymphe.

Man unterscheidet die folgenden Bogengänge

  • Seitlicher, horizontaler bzw. lateraler (vor allem aus chirurgischer Sicht) Bogengang. Dieser wird auch als horizontaler bezeichnet, obwohl er bei aufrechter Körperhaltung nicht genau waagerecht liegt. Er steht zur Körperachse in einem Winkel von 60°. Erst bei Vorwärtsneigung des Kopfes um 30° liegt der laterale Bogengang horizontal. Beachtet werden sollte seine Lage zum Antrum mastoideum und zum N. facialis.

  • Vorderer bzw. oberer (ebenfalls aus chirurgischer Sicht), anteriorer bzw. superiorer Bogengang. Dieser ist vertikal ausgerichtet und erreicht als Eminentia arcuata die mittlere Schädelgrube.

  • Hinterer bzw. posteriorer Bogengang. Dieser steht ebenfalls vertikal, befindet sich jedoch rechtwinklig zum oberen Bogengang.

Die Bogengänge münden mit den fünf Öffnungen in den Utrikulus. Der hintere Bogengang reicht mit seinem unteren Schenkel und der Ampulle am weitesten nach unten und stellt damit für Otokonien eine Prädiktionsstelle dar.

Die drei Bogengänge stehen annähernd in den drei Hauptrichtungen des Raumes und repräsentieren die einzelnen Dimensionen. Sie registrieren die Bewegungsreize in den drei Raumrichtungen bei Bewegungen des Kopfes.

Die Hauptachsen der beiden Otolithenorgane Sakkulus und Utrikulus stehen in einem Winkel von 90° zueinander, wobei der Sakkulus senkrecht steht. Zur Horizontalen bilden der horizontale Bogengang und der Utrikulus einen nach vorne offenen Winkel von 30°. Beim Gehen vor allem auf unebener Fläche wird der Kopf leicht nach vorne geneigt, sodass die horizontalen Bogengänge weitestgehend horizontal ausgerichtet sind. Dadurch wird eine optimale Arbeitsebene erzielt.

Die vertikalen Bogengänge sind so angeordnet, dass sich der rechte anteriore und der linke posteriore Bogengang in einer Ebene befinden. Diese optimalen Stimulationsebenen bezeichnet man entsprechend der Lage als RALP- (rechter anteriorer und linker posteriorer Bogengang) und als LARP-Ebene (linker anteriorer und rechter posteriorer Bogengang). Zueinander gehörige Bogengänge einer Ebene werden damit immer gemeinsam beschleunigt, und zwar immer in entgegengesetzter Richtung bzw. mit entgegengesetztem Vorzeichen.

Die Sinnesepithelien des vestibulären Labyrinths befinden sich in den Ampullen der drei Bogengänge und im Otolithenapparat . Man unterscheidet zwei Typen von Haarzellen beim Menschen: die flaschenförmigen Typ-I-Haarzellen und die zylindrisch geformten Typ-II-Haarzellen. Diese sind von Endolymphe umgeben. Beide Typen funktionieren als mechanosensorische Rezeptoren, wobei nach Reizung durch Dreh- oder Linearbeschleunigung die mechanoelektrische Transduktion erfolgt.

Der Rezeptorpol beider Zelltypen enthält Stereozilien, welche bei der Aufsicht hexagonal angeordnet sind. Der adäquate Reiz ist eine Scherbewegung der Sinneshärchen. Lateral des Stereozilienbündels befindet sich eine Kinozilie. Eine Verbiegung in Richtung Kinozilie führt zu einer Depolarisation, die Bewegung in die entgegengesetzte Richtung zur Hyperpolarisation.

Die Ampulle stellt das eigentliche Rezeptororgan des jeweiligen Bogengangs dar und reagiert auf Drehbeschleunigung. Der Rezeptor besteht aus der als Membran fungierenden Cupula (lat. kleine Tonne), welche auf der Crista ampullaris gelagert ist und der Ampullenwand fest anliegt und damit den Endolymphschlauch abdichtet. Die Cupula ist das wichtigste Bindeglied der Reizübertragung von der Endolymphbewegung zu den Haarzellen, d. h. von der mechanischen Bewegung zu der Reiztransformation. Die Bewegung wird durch den subcupularen Raum ermöglicht. Zusätzlich soll der obere Teil der Ampulle mit Polysacchariden, welche den Flüssigkeitsstrom auf den unteren Teil der Cupula lenken, angefüllt sein. Die Haare der Sinneszellen verlaufen durch den subcupularen Raum hindurch und ragen in die Cupula hinein, sodass eine Verschiebung der Cupula auf der Crista zu einer Verbiegung der Sinneshaare führt und eine Erregung der Sinneszellen auslöst. Die Cupula wirkt wie eine Membran. Sie ist am Dach und auch an den Seitenwänden der Ampulle befestigt, kann aber bei Drehbeschleunigungen dem Druck der Endolymphe an ihrem seitlichen Rand und am Unterrand, d. h. wo die Sinneshaarzellen Kontakt mit der Cupula haben, nachgeben. Es erfolgt dadurch eine segelartige Ausbuchtung besonders im mittleren und unteren Bereich, die die vestibulären Sinneszellen erregt, jedoch keine wie früher angenommene schwingtürartige Bewegung, da die Cupula vor allem am Dach angeheftet ist.

Die Endolymphströmungen werden entsprechend der Richtung als utrikulopetal, d. h. in Richtung Utrikulus bzw. ampullofugal, d. h. von der Ampulle weggerichtet bezeichnet.

Die Otolithenorgane sind Maculae bzw. Sinneszellen im Vestibulum des Labyrinths. Sie dienen der Messung geradliniger Beschleunigungen und der Schwerkraft. Die Maculae sind mit einer Membran mit prismatischen Kalziumkarbonatkristallen in Form von Calcit, den sog. Otolithen (Statokonien, Statolithen bzw. Otokonien, Ohrsteinchen) bedeckt, wobei sie wahrscheinlich über Molekülfibrillen mit der Gallertschicht verbunden sind. Die kleinen Kalksteinchen haben ein etwa 2,7-mal höheres spezifisches Gewicht als die umgebende Endolymphe und einen Durchmesser von 2–5 µm.

Die einzelnen Informationen aus den verschiedenen vestibulären Rezeptoren fließen über den N. vestibularis in den vestibulären Kernen der Medulla oblongata zusammen. Die Afferenzen der Rezeptoren des horizontalen und des vorderen Bogengangs sowie des Utrikulus münden in den N. vestibularis superior und die des hinteren Bogengangs und des Sakkulus in den N. vestibularis inferior. Der obere Sakkulus gibt ebenfalls einen kleinen Ast zum N. vestibularis superior (Ramus sacculi, „Voit’s nerve“) ab.

Die Kenntnis der Innervation ist wichtig für das Verständnis kompletter und partieller peripherer vestibulärer Störungen.

Anteriore, horizontale Ampulle (N. ampullaris anterior, N. ampullaris lateralis) und Utrikulus → N. vestibularis superior

Hintere Ampulle (N. ampullaris posterior = N. singularis) und Sakkulus → N. vestibularis inferior

Man unterscheidet insgesamt 4 Vestibulariskerne :

  • Nucleus vestibularis superior (Bechterew-Kern: Blickfeldmotorik)

  • Nucleus vestibularis lateralis (Deiters-Kern: Stützmotorik)

  • Nucleus vestibularis medialis (Roller-Kern)

  • Nucleus vestibularis inferior (Schwalbe-Kern)

Die Kerne nehmen nicht nur vestibuläre Reize auf, sondern auch Bewegungsinformationen aus den visuellen und propriozeptiven Sinnessystemen entgegen. Die Kerngebiete links und rechts sind durch Kommissurenfasern verbunden. Die bilaterale Verbindung ist für die Kompensation einseitiger Labyrinthausfälle verantwortlich.

1.2 Physiologische und pathophysiologische Aspekte

1.2.1 Funktion des Gleichgewichtssystems

Die Funktion des Gleichgewichtssystems wird vom Gesunden kaum wahrgenommen, da die meisten der Leistungen automatisch ablaufen. Erst bei Störungen meldet sich das Gleichgewichtssystem sehr eindrucksvoll in Form von Schwindelgefühl und vegetativen Störungen. Das Gleichgewichtsorgan ist weiterhin ein Sinnessystem mit verschiedenen Aufgaben, ohne dass es eine einzelne Aufgabe allein erfüllen kann:

  • räumliche Orientierung (Information über die Stellung des Kopfes im Raum oder Bewegungen der Umwelt – perzeptiv)

  • Informationen über das Einwirken von linearen und angulären Beschleunigungskräften

  • die Koordination und Regulation der Augenbewegungen (damit bei Kopfbewegungen ein Blickziel möglichst schnell und scharf gesehen werden kann – okulomotorisch)

  • die Koordination von Bewegungsabläufen durch Einflüsse auf die Skelettmuskulatur

  • die Gewährleistung eines Reflextonus (Stabilisierung der Körperhaltung – postural)

Die drei Bogengänge reagieren auf Drehbeschleunigungen in Form von angulären Reizen. Kopfbewegungen führen aufgrund der Trägheit der Endolymphe zu einer Flüssigkeitsbewegung in den Bogengängen. Der horizontale Bogengang wird am häufigsten stimuliert und stellt auch den empfindlichsten Rezeptor dar. Typische Stimulationsformen für diesen Bogengang sind Kopfschütteln, Körperdrehungen wie beim Walzertanzen oder Hin- und Herdrehen auf einem Drehstuhl.

Durch Beschleunigungsreize wird ein in der Ebene des Bogengangs schlagender Nystagmus erzeugt, wobei die langsame Komponente der Strömungsrichtung der Endolymphe entspricht.

Die Otolithenorgane sind Rezeptoren für lineare Beschleunigungen (geradlinige Bewegungen oder Kopfkippungen). Ein Beispiel ist die Gravitation bei Normalstellung des Kopfes. Der Sakkulus wird vorwiegend durch vertikale, wie z. B. beim Fahrstuhlfahren, und der Utrikulus durch horizontale lineare Beschleunigungen, wie z. B. beim Anfahren oder Abbremsen eines Fahrzeuges, stimuliert. Je nach Ausrichtung des Körpers registrieren beide Rezeptoren die Schwerkraft bzw. Erdbeschleunigung. Allerdings können nach Albert Einstein lineare Beschleunigungssensoren wie die Otolithenorgane nicht zwischen Schwerkraft („tilt“) und zwischen linearer Beschleunigung („translation“) differenzieren. Das Gehirn ist aber in der Lage, durch andere Sensoren, wie z. B. durch die Bogengänge, sogar im Dunkeln die richtige Körperbewegung zu rekonstruieren.

Der Bogengangsapparat registriert Winkelbeschleunigungen und der Otolithenapparat Linearbeschleunigungen (Sakkulus: vertikal, Utrikulus: horizontal).

1.2.2 Augenbewegungssysteme

Das vestibuläre System muss gewährleisten, fixe oder bewegte Ziele auch bei Bewegungen des Körpers oder bei Erschütterungen visuell fixieren oder verfolgen zu können. Weiterhin müssen auch Entfernungen korrigiert werden. Verschiedene Systeme der Augenbewegung sind dafür verantwortlich:

  • Der vestibulookuläre Reflex (VOR) : Blickstabilisierung der optischen Wahrnehmung während Bewegungen des Kopfes und des Körpers durch kompensatorische Augenbewegungen.

  • Das sakkadische System : Sakkaden sind schnelle Augenbewegungen (Geschwindigkeit: 200–700°/s), die willkürlich (um schnell ein Objekt in den Bereich der Fovea zu bekommen) oder unwillkürlich (schnelle Rückstellbewegung beim Nystagmus) auftreten können (Körper und fixiertes Bild bewegen sich nicht).

  • Das Blickfolgesystem (langsame Blickfolge): ist für langsame Augenbewegung zur Verfolgung von bewegten Sehzielen zuständig (ohne eine Eigenbewegung).

  • Das Vergenzsystem : Verantwortlich für die Zielfixation bei Änderung einer Entfernung (Konvergenz: nasale Bewegung beider Augen – Sehachsen werden zusammengeführt; Divergenz: Augen werden nach temporal bewegt, Sehachsen auseinander geführt).

Der VOR dient dazu, die Position der Augen im Raum bei Kopfbewegungen und damit die Projektion der visuellen Eindrücke auf der Netzhaut zu stabilisieren. Während einer Drehung des Kopfes um 15° nach rechts ruft der VOR eine Drehung der Augen um 15° nach links hervor. Weit entfernte Objekte bleiben damit stabil auf der Netzhaut. Bei der visuellen Stabilisierung näherer Objekte müssen sich dagegen die Augen weiter drehen als der Kopf.

Dieser Reflex kontrolliert nicht die absolute Position der Augen, sondern die Geschwindigkeit. Der VOR ist einer der schnellsten Reflexe, den der Mensch besitzt (im Vergleich zum Blickfolgesystem fünfmal schneller – 75 ms versus 15 ms Reaktionszeit), und ist über einen Reflexbogen aus drei Neuronen verschaltet (3-Neuronen-Reflexbogen ). Bei diesem Bogengangreflex werden durch Kopfdrehung kompensatorische Augenbewegungen ausgelöst. Gerade bei schnellen und sich laufend ändernden Kopfbewegungen ist eine sehr kurze Reaktionszeit erforderlich.

Der Reflex gibt die Informationen vom peripheren Labyrinth über den Vestibularisnerven (1. Neuron im zweiteiligen Ganglion vestibulare im inneren Gehörgang), das Vestibulariskerngebiet, die vestibulären Projektionen im Hirnstamm (2. Neuron im Vestibulariskerngebiet) an die Kerngebiete der okulomotorischen Hirnnerven bzw. sog. Effektorneuron im Bereich der Augenmuskelkerne (N. oculomotorius, N. trochlearis, N. abducens – 3. Neuron der okulomotorischen Motoneurone) der Gegenseite weiter. Der 3-Neuronen-Reflexbogen stellt das Kernstück des VOR dar.

Man unterscheidet drei Hauptarbeitsebenen des VOR bzw. der von ihm generierten Augenbewegungen:

  • Horizontal – bei Kopfbewegungen um die vertikale Körperlängs-(Z)-Achse (Yaw) (horizontaler VOR)

  • Vertikal – Beugung und Reklination des Kopfes in sagittaler Richtung um die horizontale binaurale (durch beide Ohren zu denkende) Y-Achse (Pitch) (vertikaler VOR)

  • Torsionell – bei seitliche Bewegungen des Kopfes um die Seh-(X)-Achse (Roll) (torsioneller VOR)

Diese Hauptarbeitsebenen spielen bei der Klassifizierung des zentralen Schwindels eine wichtige Rolle.

Bei den meisten Kopfdrehungen sind alle Bogengänge beteiligt, wobei es jedoch eine gewisse Arbeitsteilung gibt. Der VOR in der Horizontalebene (Yaw-Ebene ) wird vom horizontalen Bogengangspaar und der VOR in der Roll - und der Pitch-Ebene wird von den vertikal angeordneten anterioren/posterioren Bogengängen versorgt. Die vertikalen Arbeitsebenen Pitch und Roll werden durch die Verschaltung der in der Sagittalen gelegenen beiden vertikalen Bogengänge erregt. Da sich der horizontale Bogengang in einem Winkel von 60° zur Körperachse befindet, ist letztendlich kein Bogengang exakt in den drei Hauptarbeitsebenen des VOR angeordnet.

Bei den geradlinigen Bewegungen (Translationen ) unterscheidet man:

  • oben ↔ unten

  • rechts ↔ links

  • vorn ↔ hinten

Aus funktioneller Sicht kann man demzufolge je nach dem beteiligten Sensor einen angulären VOR (a-VOR) von einem linearen VOR (l-VOR) unterscheiden. Der l-VOR erfasst lineare Beschleunigungen in Bezug auf die Schwerkraft, welche durch die Otolithenorgane gemessen werden. Der a-VOR und der l-VOR sind eng miteinander verflochten und garantieren neben der Blickstabilisierung auch eine stabile Körperhaltung. Mit dem VOR wird im Allgemeinen der a-VOR gemeint.

Der VOR ist in allen Richtungen des dreidimensionalen Raums aktiv. Kopfrotationen werden durch die Bogengänge und Translationsbeschleunigungen bzw. Beschleunigungen relativ zur Schwerkraft werden durch die Otolithenorgane registriert.

Amplitude und Geschwindigkeit der Augenbewegung sind kompensatorisch der jeweiligen Kopfbewegung im dreidimensionalen Raum angepasst. So wird durch den VOR während einer Kopfbewegung die visuelle Umwelt stabil auf der Retina abgebildet bzw. das Blickfeld stabilisiert. Sonst würden Oszillopsien entstehen bzw. ein betrachtetes Objekt wäre während einer Bewegung an verschiedenen Retinaorten abgebildet. Außer der okulomotorischen Projektion des VOR besteht eine weitere zum vestibulären Kortex ziehende Projektion, die für die Raumorientierung und Wahrnehmung zuständig ist. Weiterhin existiert eine vestibulospinale Projektion, die vom Vestibulariskerngebiet über den Tractus vestibulospinalis medialis oder lateralis zieht und die für die Haltungsregulation verantwortlich ist. Der VOR verfügt damit über drei Schenkel: okulomotorische, perzeptive und posturale Schenkel. Diese können die einzelnen Symptome des vestibulären Schwindels erklären.

Der optimale Arbeitsbereich für den VOR beträgt etwa 1–16 Hz, d. h. er umfasst langsame und schnelle Bewegungen. Die kontinuierlich beanspruchte vestibuläre Rezeptorfunktion weist damit frequenzspezifische Arbeitsbereiche und eine zeitliche Dynamik auf. Die Orientierung im Raum, die Haltungsregulation und die Stabilisierung des Blickfeldes erfordern Signalstärken unterschiedlicher Frequenz. Das vestibuläre System wird in einem breiten Frequenzspektrum beansprucht, wobei niederfrequente Signale für die Speicherung bzw. Navigation erforderlich sind und höherfrequente Signale bei der Bewegung in Form von Gehen oder Laufen entstehen. Die dynamischen Anforderungen betragen bei geringer bis hoher Belastung 1–10 Hz und können unter stärkerer körperlicher Beanspruchungen über 10 Hz betragen. Der Dynamikbereich bzw. die nieder- und höherfrequenten Bereiche können mit verschiedenen Testverfahren untersucht werden. Z. B. wird mit der thermischen Prüfung nur der VOR im niederfrequenten Bereich (0,025–0,01 Hz) erfasst. Zum Vergleich Drehprüfungen: 1 Hz, Kopfschütteln: 2 Hz, Kopfimpulstest (KIT): 5–7 Hz.

1.2.3 Nystagmus

Unter einem Nystagmus versteht man unwillkürliche rhythmische Hin- und Her- bzw. Auf- und Abbewegungen der Augen. Meist sind beide, seltener auch nur ein Auge betroffen. Der Begriff Nystagmus stammt aus dem Griechischen (nystagmos = die Schläfrigkeit). Man unterscheidet zwei grundsätzliche Formen: den vestibulären Rucknystagmus (jerk nystagmus) und den Pendelnystagmus (pendular nystagmus). Ein Rucknystagmus ist durch die regelmäßige Abfolge von zwei verschiedenen Phasen gekennzeichnet. An eine langsame Augenbewegung in einer Richtung schließt sich eine rasche Augenbewegung in die entgegengesetzte an usw. Das langsame Abweichen der Augen aus einer bestimmten Position ist Ausdruck der zugrunde liegenden Störung, wodurch der Nystagmus ausgelöst wird. Die rasche Nystagmusphase ist die zentrale bzw. hirnstammgesteuerte Positionskorrektur. Die Schlagrichtung des Nystagmus wird nach der Richtung der raschen Phase bezeichnet. Diese Rückstellbewegung wird nicht durch das gleichgewichtsregulierende System bzw. den VOR hervorgerufen. Augenbewegungen, die nicht auf einem vestibulären Reiz zurückzuführen sind, können auf eine vestibuläre Fehlfunktion hinweisen.

Horizontale Augenbewegungen werden auf pontiner Ebene erzeugt, wohingegen vertikale Bewegungen zentraler im Bereich der rostralen Formatio reticularis generiert werden.

Die Nystagmen werden immer nach der schnellen Komponente benannt, obwohl es sich hierbei nur um eine reflektorische Rückstellbewegung der maximal ausgelenkten Augen handelt. Jedoch ist die schnelle Komponente visuell besser zu erfassen als die langsame. Das langsame Abweichen der Augen aus einer bestimmten Position ist Ausdruck der zugrunde liegenden Störung.

Vestibuläre Zellen weisen im Gegensatz zu den auditorischen Haarzellen eine Ruhe- bzw. Spontanaktivität auf. Die Haarzellen senden also auch dann Potenziale, wenn es nicht zu einer Reizung kommt bzw. wenn sich der Kopf nicht bewegt. Dadurch wird durch eine Reduktion der Ruhefrequenz eine Abbremsung und durch eine Erhöhung der Ruhefrequenz eine Beschleunigung ermöglicht. Die Änderung des Aktionspotenzials wird dann über die Nervenbahnen zentral weitergegeben. Zentral wird dann aus der beidseitigen Ruheaktivität eine Differenz gebildet. Beträgt sie null, bedeutet das, dass sich der Kopf nicht bewegt.

Eine utrikulopetale Cupulaauslenkung führt zu einer Depolarisation und bewirkt eine Steigerung der Spontanaktivität bzw. der Aktionspotenzialfrequenz (Exzitation) mit entsprechender Nervenreizung. Durch eine utrikulofugale Auslenkung der Cupula kommt es zu einer Hyperpolarisation und zu einer Verminderung der Aktionspotenzialrate (Inhibitation). Über das mediale Längsbündel werden die Nervenimpulse zu den ipsilateralen Augenmuskelkernen fortgeleitet. Bei einer horizontalen Kopfdrehung wird aufgrund der Achsensymmetrie des peripheren Vestibularapparates der Bogengang der einen Seite aktiviert und auf der anderen Seite inhibitiert. Eine Rotation nach rechts erzeugt damit am rechten Bogengang eine utrikulopetale Auslenkung der Cupula und es kommt zu einer langsamen Augenbewegung in die entgegengesetzte Richtung des Reizes. Zentral wird sogleich eine schnelle Rückstellbewegung des Auges bewirkt. Diese Bewegung entspricht der schnellen Phase des Nystagmus.

Es gibt drei wichtige Gesetzmäßigkeiten, die die Beziehung zwischen der Ebene der Bogengänge, der Richtung des Endolymphstroms und der Richtung der Augenbewegungen beschreiben. Diese wurden 1892 von Julius Richard Ewald vorgestellt und werden als Ewald‘sche Gesetze bezeichnet.

Die Ewald’schen Gesetze

  1. 1.

    Ewald’sches Gesetz: Die Endolymphströmung ruft einen in der Ebene dieses Bogengangs schlagenden Nystagmus hervor, dessen langsame Komponente der Richtung der Strömung entspricht.

  2. 2.

    Ewald’sches Gesetz: Die Stimulation („pull“) eines vestibulären Bogengangs ist wirksamer als dessen Hemmung („push“). Im lateralen Bogengang ruft die ampullopetale Strömung eine stärkere Wirkung als die ampullofugale hervor. Im anterioren und posterioren Bogengang kommt es durch die ampullofugale Strömung zu einer stärkeren Wirkung als durch die ampullopetale (auch als 3. Ewald’sches Gesetz bezeichnet).

Die Raumebene eines Bogengangs korreliert mit einer Hauptzugrichtung eines verschalteten Augenmuskels (1. Ewald’sches Gesetz):

  • Horizontaler Bogengang: horizontale Augenbewegung

  • Oberer bzw. vorderer Bogengang: Bewegung der Augen nach oben, mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang

  • Hinterer Bogengang: Bewegung der Augen nach unten, mit Drehung weg vom stimulierten Bogengang

Das 2. Ewald’sche Gesetz basiert auf zwei Verbindungsarten zwischen den Bogengängen und dem Hirnstamm. Eine Verbindung weist eine lineare neuronale Aktivität auf, d. h. bei gleicher Kopfdrehung nach rechts und nach links ist die Zu- und Abnahme des Aktionspotenzials gleich groß. Die zweite Verbindung ist nichtlinear und reagiert vor allem auf eine ipsilaterale Beschleunigung. Die Unterfunktion eines horizontalen Bogengangs führt zu einer Asymmetrie der vestibulären Reizung mit einer erhöhten Abnahme des vestibulären Signals bei Drehung des Kopfes zur betroffenen Seite. Dieses Phänomen ermöglicht, ein peripher-vestibuläres Defizit nachzuweisen, und es wird bei dem KIT ausgenutzt (pathologischer KIT zur Seite mit der vestibulären Unterfunktion).

Der vestibulospinale Reflex dient dagegen der Stabilisierung der Körperhaltung, wobei er den Körpertonus überwiegend über die Streckmuskulatur (aufrechtes Stehen, Gehen) steuert. Damit eine stabile, aufrechte Körperhaltung gewährleistet wird, werden im ZNS die vestibulären Afferenzen sowohl von den Bogengängen als auch von den Otolithenorganen kontinuierlich mit den afferenten Informationen vom visuellen System, den Propriozeptoren in den verschiedenen Gelenken und den Somatosensoren in den Fußsohlen abgeglichen. Das System liefert Informationen über die Stellung des Körpers im Gelände, d. h. stehend, sitzend oder liegend, Informationen über die Kopf- und Rumpfposition und auch über die Beschaffenheit des Untergrundes, d. h. fest oder weich sowie glatt oder holprig.

Die relevanten Systeme

Drei Eingangssysteme (Input):

  • Peripher-vestibuläres System

  • Visuelles System

  • Propriozeptives System

Zwei Ausführungssysteme (Output):

  • Blickfeldstabilisierung mittels VOR

  • Erhaltung des Körpergleichgewichts durch vestibulospinale Reflexe

1.2.4 Funktionsstörungen

Die Hauptfunktionen des vestibulären Systems spiegeln sich in den Störungen

  • Schwindel (Wahrnehmung bzw. Raumorientierung)

  • Augenfehlstellung, Nystagmus (Blickstabilisation)

  • Ataxie, Fallneigung (Haltungsregulation)

  • Übelkeit, Erbrechen (Vegetativum)

wider.

Diese vier Hauptfunktionen können verschiedenen Orten des Gehirns zugeordnet werden. Schwindel tritt z. B. durch widersprüchliche Informationen bei einer Störung der Funktion der vestibulären, der visuellen oder der propriozeptiven Rezeptoren des Orientierungssinns auf. Der wahrgenommene Schwindel basiert auf einer kortikalen Störung der Raumorientierung. Durch eine richtungsspezifische Tonusverschiebung des VOR bzw. der zentralen Tonusdifferenz antwortet das zentrale vestibuläre System mit dem alarmierenden Symptom Schwindel, und es kommt zu einem Nystagmus (vestibulookuläre Störung). Stand- bzw. Gangunsicherheiten sind das Ergebnis inadäquater vestibulospinaler Reaktionen. Infolge Beteiligung des limbischen Systems werden die als zunächst angenehm empfundenen Körperbewegungen als Unlust interpretiert. Durch eine chemische Aktivierung des medullären Brechzentrums kommt es bei einer starken Seitendifferenz (SD) zur ­Auslösung von Nausea (griech. Schiff) und Emesis.

Eine vestibuläre Tonusdifferenz führt in Ruhe zu einer Scheinbewegung und dann auch zu Schwindelbeschwerden.

Ein Funktionsverlust eines der beiden Gleichgewichtsorgane führt zu einer Abnahme des afferenten Reizes zum Gleichgewichtskerngebiet. Dort kommt es zu einer Asymmetrie der neuronalen Aktivität, welche z. B. auch physiologisch bei Drehbewegungen auftritt. Diese Asymmetrie wird als eine kontinuierliche Drehung des Kopfes zur intakten Seite interpretiert. Aufgrund des VOR wird der Augenmuskeltonus auf der kontralateralen Seite vermindert, sodass kompensatorisch die Augen synchron aus der Mittelstellung zur kranken Seite bzw. mindertonisierten Seite gezogen werden. Die Geschwindigkeit hängt von dem Ausmaß der Differenz ab. Bei dieser Bewegung handelt es sich um die langsame Phase des Nystagmus. Ab einem individuell verschiedenen Triggerpunkt werden die Augen sehr rasch zurückgestellt. Diese Rückbewegung ist die schnelle Phase des Nystagmus und entspricht einer Sakkade. Der Funktionsverlust eines Gleichgewichtsorgans führt zu einem horizontal gerichteten Nystagmus mit vertikalen und rotatorischen Anteilen zur intakten Seite.

Ein beidseitiger Verlust des VOR führt zu einem Dandy-Phänomen , welches durch Oszillopsien bzw. hüpfende Netzhautbilder während Bewegungen gekennzeichnet ist.

Durch eine Funktionseinschränkung oder einen -verlust wird auch der dynamische Bereich des VOR eingeschränkt bzw. verringert. Eine Störung der vestibulären Funktion kann bei peripheren oder zentralen Erkrankungen auftreten. Ursache kann eine Schädigung des Rezeptors (z. B. benigner paroxysmaler Lagerungsschwindel, Morbus Menière) oder eine Störung der Nervenbahnen (Vestibularisschwannom) bzw. -strukturen (Kleinhirn- oder Hirnstammerkrankungen) sein. Bei bestimmten Krankheitsbildern ist auch eine multifaktorielle Genese möglich (Schwindel im Alter).