Zusammenfassung
Eine Darstellung der Funktionen des Großhirns bereitet deshalb größte Schwierigkeiten, weil wir über seine interessanteste Fähigkeit, die es in weit stärkerem Maße besitzt als niedere Gebiete, nämlich die Transformation von Erregungen in Gefühle und Wahrnehmungen und von Handlungsentwürfen in Erregungen, nichts wissen und auch nichts wissen können. Unsere Denkmöglichkeiten sind offenbar so eingerichtet, daß das LeibSeele-Problem sie übersteigt. Griesinger hat das plastisch so ausgedrückt: „Und wenn ein Engel herniederstiege und uns die Lösung brächte — wir würden ihn nicht verstehen.“ Unsere Schilderung kann damit nur gleichsam flächenhaft erfolgen; es fehlt eine ganze Dimension. Wir werden nur mit Hilfshypothesen arbeiten können, deren Unzulänglichkeit uns stets bewußt bleiben muß; einmal mit einer dualistischen, wonach das Körperliche Voraussetzung des Seelischen ist, oder anders ausgedrückt: die niedrigere Schicht, die das Seelische trägt; ein andermal mit einer monistischen, nach der Körper und Seele Ausdruck ein und desselben Urphänomens sind, so wie man seinerzeit Gaurisankar und Mt. Everest als ein und denselben Berg bezeichnete, nur jeweils von verschiedenen Tälern gesehen. Wir werden nur eine Art Werkzeugkunde treiben können; über die Hand jedoch, die diese Werkzeuge führt, werden wir nichts aussagen können. Damit ist jedoch schon viel gewonnen, einmal für das Verständnis der Lebensvorgänge überhaupt, dann auch für die Weiterentwicklung der klinischen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten. Je differenzierter die Werkzeuge ausgebildet sind, um so besser wird ein und dieselbe Hand damit arbeiten können. Trotz der uns von vornherein auferlegten Beschränkung werden wir weiter versuchen müssen, die Grenzen unseres Wissens hinauszuschieben, wenn wir diese auch niemals überspringen können. Dabei wird man das Problem gleichzeitig mit 2 grundsätzlich verschiedenen Methoden angehen, einer neurophysiologischen und einer psychologischen. Der eine Beobachter schildert dabei sozusagen die Vorderseiten der Münzen, der andere die Rückseiten, wobei wir allerdings leider nicht wissen, wieweit es sich um die gleichen, wieweit urn völlig verschiedene Münzen handelt. Ja, es ist durchaus denkbar, daß bei diesem Vorgehen der eine das Aussehen von Münzen und der andere deren Kaufkraft schildert, also etwas prinzipiell Verschiedenes. Es sollte dabei eine Durchmischung sowohl der Methoden wie auch der verwandten Ausdrücke möglichst vermieden werden. Das ist vorläufig deshalb noch nicht durchführbar, weil aus unserem täglichen Sprachgebrauch und aus der früheren Hirnforschung zu viele psychologische Ausdrücke in die Physiologie übernommen worden sind und weil sich schwierige physiologische Tatbestände oft wesentlich leichter und verständlicher in einer psychologischen Sprache umschreiben lassen. Man muß sich dabei nur immer der prinzipiellen Verschiedenheit der beiden Kategorien bewußt bleiben.
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Rein, H. (1960). Großhirn. In: Schneider, M. (eds) Einführung in die Physiologie des Menschen. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-28812-2_19
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