Zusammenfassung
Die Erneuerung der deutschen Rechtsphilosophie zu Beginn unseres Jahrhunderts ist in erster Linie das Werk Rudolf Stammlers 1. Durch ihn wurde eine rechtsphilosophische Bewegung eingeleitet, die, so vielfältig und verschlungen ihre Wege im einzelnen auch sind2, im ganzen durch die Abkehr vom Positivismus gekennzeichnet ist. Die Abkehr vom Positivismus verband sie durchweg mit der Bejahung der Geschichtlichkeit des Rechts; so strebte sie einer Synthese der beiden großen Geistesströmungen: des „Naturrechts“ und des „Historismus“, zu3. Etwa zu Beginn der zwanziger Jahre hatte die vom Neukantianismus ausgehende Bewegung — mit Binders ersten Werken, mit Lask, Radbruch, Max Ernst Mayer, mit Emge, Laun u. a. — ihren Höhepunkt erreicht; sie setzte sich teilweise im „Neuhegelianismus“ (Binder, Schönfeld, Dulckeit) fort. Ihr zur Seite trat, ebenfalls in den zwanziger Jahren, eine weitere Richtung: die phänomenologische (Reinach, G. Husserl, Welzel). Der Einfluß dieser Richtungen auf die gleichzeitige dogmatische Rechtswissenschaft, die noch lange ganz überwiegend dem Positivismus verhaftet blieb, war zunächst, abgesehen vom Strafrecht, nur gering4. Dies erscheint um so verwunderlicher, als infolge ihres Ausgangspunktes, der Erkenntnistheorie Kants, die neukantische Rechtsphilosophie sich selbst ursprünglich weitgehend als eine Methodologie der Rechtswissenschaft verstand. Dies gilt vor allem auch für Stammler selbst. Erst im weiteren Fortgang gelangte man auch zur Rechtsethik und zuletzt zur Rechtsontologie. Heute aber haben viele der Erkenntnisse, die in der rechtsphilosophischen Bewegung der hinter uns liegenden Jahrzehnte gewonnen wurden, Eingang in die juristische Methodenlehre und auch in das dogmatische Schrifttum gefunden. Man ist sich aber ihrer Herkunft aus einem bestimmten rechtsphilosophischen Gedankenzusammenhang und damit der spezifischen Bedeutung mancher Aussagen kaum mehr bewußt. Zum Verständnis der gegenwärtigen Lage der Methodenlehre ist es daher unerläßlich, die rechtsphilosophische Bewegung, soweit sie für die Methodenlehre von Bedeutung ist, wenigstens in ihren Hauptzügen hier darzustellen5.
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Literatur
Hauptwerke: Wirtschaft und Recht nach der materialistischen Geschichtsauffassung, 1896, 5. Aufl. 1924; Theorie der Rechtswissenschaft, 1911 (2. Aufl. 1923; zit. nach der 1. Aufl.); Die Lehre von dem Richtigen Recht (zit. RR), 3. Aufl. 1926; Lehrbuch der Rechtsphilosophie, 3. Aufl. 1928. Zur Einführung besonders geeignet ist die Abhandlung „Wesen des Rechts und der Rechtswissenschaft“ in Rechtsphilosophische Abhandlungen und Vorträge, Bd. I, 1925, S. 395.
Eine Darstellung dieser Wege habe ich von meinem damaligen „neuhegelischen“ Standpunkt aus in meinem Buch „Rechts-und Staatsphilosophie der Gegenwart” (2. Aufl. 1935) gegeben. Aus dem Abstand von fast einem Menschenalter und auf Grund der seither gemachten Erfahrungen sehe ich, was wohl kaum betont zu werden braucht, heute vieles sehr anders als damals. Meine damalige, an Hegels allzu optimistischer Einschätzung der objektiven Vernünftigkeit und Sittlichkeit der Staatswesen seiner Zeit orientierte, Staatsauffassung habe ich bereits am Schluß meiner Abhandlung über „Sittlichkeit und Recht“ (1943) revidiert. Heute halte ich Hegels Staatsphilosophie für den am stärksten zeitbedingten und daher schwächsten Teil seiner Ethik und Rechtsphilosophie. Den Rahmen des Hegelschen Systems und dessen Anspruch, die Vollendung des sich wissenden Geistes zu sein, hat der Fortgang der Geschichte selbst widerlegt. Hegels großartige Leistung bleibt einmal seine Logik des „konkreten Begriffs”, zum anderen die Fortbildung der Ethik und Freiheitslehre Kants zu einer materialen Rechtswertlehre, vornehmlich in den ersten Teilen seiner Rechtsphilosophie. Insoweit halte ich auch heute den Hegelianismus der zwanziger Jahre noch nicht für „überholt“.
In seiner Rede über „Geschichte und Naturwissenschaft“, 1894 (abgedr. in „Präludien”, 3. Aufl. 1907, S. 359).
So genannt im Gegensatz zum „Marburger Neukantianismus“ (Hauptvertreter: Hermann Cohen). Über diesen vgl. meine Rechts-und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., S. 35 ff.; neuerdings LÜBbe in Arsp 1958, S. 333 ff
Vgl. dazu E. Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, S. 8 ff.
Vornehmlich in den späteren Auflagen seiner Schrift „Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft“. Zitiert wird die 1926 erschienene 6. und 7. Auflage (K. u. N.).
In der 1905 — in der Festschrift für Kuxo Fischer, Bd. 2 — erschienenen „Rechtsphilosophie“. Zitiert wird der Abdruck in den Gesammelten Schriften von Lask, Bd. 1.
Mindestens formal verfährt die empirische Richtung der Soziologie in der Weise der Naturwissenschaft, also generalisierend. Anders etwa Max Weber, bei dem die Soziologie wenigstens zu einem wesentlichen Teil eine historische Wissenschaft war. Sein „Idealtypus“ ist kein naturwissenschaftlicher Gattungsbegriff, sondern ein methodisches Hilfsmittel zur Erfassung historisch einmaliger Vorgänge. Webers Grenze liegt, wie oben (S. 69 Anm. 73) angedeutet, in der Beschränkung seiner Methodologie auf das „Verstehen” real-psychischer Vorgänge, im Gegensatz zum „Verstehen“ objektiv-geistiger Sinngebilde. Ein überaus aufschlußreicher Vergleich über den Begriff „Verstehen” bei Rickert und bei Max Weber findet sich bei A. V. Schelting, Max Webers Wissenschaftslehre, S. 364 ff.
Rechtsphilosophie, 3. Aufl., S. 1, Anm. 1.
Wir zitieren die dritte, als letzte von Radbruch selbst besorgte Auflage (1932). Eine B. Auflage, die Erik Wolf und Hans Peter Schneider besorgt haben, ist 1973 erschienen.
In diesem Sinne hatte ich Radbruchs „Relativismus“ in meiner Rechts-und Staatsphilosophie der Gegenwart (1931, 2. Aufl. 1935) verstanden. Diese Deutung halte ich auf Grund der überzeugenden Ausführungen F. v. Hippets nicht aufrecht.
Kennzeichnend dafür sind Erik Wolf, Strafrechtliche Schuldlehre, 1928; Erich Schwinge, Teleologische Begriffsbildung im Strafrecht, 1930.
Diese Formel hat Radbruch in seiner „Einführung in die Rechtswissenschaft“ (9. Aufl. 1952, S. 243) und in seiner „Vorschule der Rechtsphilosophie” (2. Aufl. 1959, S. 9) wiederholt.
Juristische Methodenlehre, 1940. — Von den rechtsphilosophischen Schriften Sauers sind weiter zu nennen: Das juristische Grundgesetz, 1923; Grundlagen der Gesellschaft, 1924; Rechts-und Staatsphilosophie, 1936; Grundlagen der Wissenschaft und der Wissenschaften, 2. Aufl. 1949; Lehrbuch der Rechts-und Sozialphilosophie, 1929; 2. Aufl., unter dem Titel: System der Rechts-und Sozialphilosophie, 1949.
Kroner, Von Kant bis Hegel, Bd. 1, 1921; Bd. 2, 1924.
So die von Nicolas Hartmann, 1929, Theodor Haering, 1929 und 1938; H. Glockner, 1929 und 1940. In einer gewissen Verbindung mit der „Hegel-renaissance“ steht auch die Neubearbeitung des „Wörterbuchs der philosophischen Begriffe” von Joh. Hoffmeister (2. Aufl. 1955 ).
Dieser Periode Binders gehören folgende Werke an: Rechtsnorm und Rechtspflicht, 1912; Rechtsbegriff und Rechtsidee, 1915; auch noch Prozeß und Recht, 1927.
Kennzeichnend für diese letzte Periode ist die 1935 erschienene „Grundlegung zur Rechtsphilosophie“. Dagegen ist die unter dem Titel „System der Rechtsphilosophie” 1937 erschienene, stark gekürzte 2. Auflage der „Philosophie des Rechts“ noch der mittleren Periode zuzurechnen. Binder hat hier gerade die auf die Methode der Rechtswissenschaft bezüglichen Teile ausgeschieden, um sie einerspäteren Neubearbeitung zu überlassen, der er den Titel „Wissenschaftslehre” geben wollte. Diese ist von ihm nicht mehr vollendet worden; Auszüge daraus har 1957 P. Futsch in Arsp 43, S. 531 veröffentlicht.
Daß die Bildung nur abstrakter Begriffe dazu führt, „den geistigen Gehalt aus den juristischen Begriffen zu eliminieren“, hat bereits E. Kaufmann in seiner „Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie” (1921, S. 75) ausgesprochen.
Vgl. auch Binders Abhandlung „Zur Lehre vom Rechtsbegriff“, Logos, Bd. 18 (1929), S. 1 ff., besonders S. 18 f.
In AcP 135 (1931), S. 1 ff.
Gesetz und Urteil, 1912.
LEss, Vom Wesen und Wert des Richterrechts, 1954, S. 9.
SchÖNfeld, Log. Str., S. 51: „Gesetz und Richterspruch sind relativ aufeinander.“
Daher spricht Henkel, Recht und Individualität (1957), S. 16 f. von einer,;individualisierenden“ und einer „generalisierenden” Tendenz der Gerechtigkeit.
In dieser „Umkehr“ ging freilich die erkenntnistheoretische Fragestellung — wie ein dem Bewußtsein „transzendentes” Sein dennoch adäquat gewußt werden kann — verloren. Sie bleibt aber berechtigt, auch wenn man die Antwort des Neukantianismus für unzureichend hält. Hier liegt das Anliegen, um das es Binder vornehmlich in seiner „Grundlegung zur Rechtsphilosophie“ ging.
Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935.
Naturalismus und Wertphilosophie, S. 77 ff.; Das neue Bild des Strafrechtssystems 3. Aufl. 1957; Das deutsche Strafrecht, 11. Aufl. 1969, S. 30 ff.
Die apriorischen Grundlagen des bürgerlichen Rechts, 1913. Zitiert wird die unter dem Titel „Zur Phänomenologie des Rechts“ im Jahre 1953 erschienene Neuausgabe.
In Betracht kommen folgende Arbeiten, die sämtlich in einem inneren Zusammenhang stehen: Rechtskraft und Rechtsgeltung (RKr.), 1925; Rechtssubjekt und Rechtsperson, AcP 127, S. 129; Recht und Welt, Festschr. f Edmund Husserl, 1929, S. 111; Negatives Sollen, Festschrift für Max Pappenheim, 1931, S. 87; Der Rechtsgegenstand (RG) 1933; Bemerkungen zur Lehre von den sogenannten Doppelwirkungen im Recht, Archives de Droit Privé (Athen), 1934, S. 690; Recht und Zeit (RZ), 1955; Person, Sache, Verhalten, 1969. Einige der älteren Abhandlungen sind wieder abgedruckt in dem Band Recht und Welt, 1964.
Vgl. auch RZ, S. 14: es handle sich um „die logischen — keineswegs bloß formallogischen — Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, wenn eine soziale Ordnung den Sinn einer Rechtsordnung haben soll“.
Das gilt kaum auch für die sog. Existenzphilosophie. Über sie und die in ihr gelegenen Möglichkeiten einer rechtsphilosophischen Auswertung vgl. das ungemein aufschlußreiche Kapitel über „Die rechtsphilosophische Grundfrage und die Existenzphilosophie“ bei Erich Fechner, Rechtsphilosophie (S. 223 ff.) sowie Zippelius, Das Wesen des Rechts, S. 104 ff. Völlig ablehnend Kelsen, Arsp, Bd. 43, S. 161 ff. (zu dem Buch von Georg Cohn, Existentialismus und Rechtswissenschaft, 1955). Audi TH. WÜRtenberger (Die geistige Situation der deutschen Strafrechtswissenschaft, S. 21 f.) hält die Frage, wohl mit Recht, für ungelöst, „ob von dieser Schau aus überhaupt ein Zugang zur Welt des Rechts offensteht”. Die Existenzphilosophie befaßt sich vorwiegend mit „Grenzsituationen“. Im Recht, jedenfalls im Zivilrecht, geht es indessen weit weniger um Grenzsituationen als um „Typisches” und»Normales“. Hierfür bedarf es eines Gleichmaßes der Entscheidungen. Dazu treffend Arthur Kaufmann in: Existenz und Ordnung. Festschr. für’ Erik Wolf, 1962, S. 372 ff. Das Buch von Maihofer, Recht und Sein (1954), ist, weil es auf typische Lebenssituationen und Existenzweisen abstellt, m. E. mehr der „Ontologie” als der Existenzphilosophie zuzurechnen
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Larenz, K. (1979). Die Abwendung vom Positivismus in der Rechtsphilosophie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Abteilung Rechtswissenschaft. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08715-2_6
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