Zusammenfassung
Als eine allgemeine (europäische) Geistesbewegung hat der „Positivismus“ im Laufe des zweiten Drittels des 19. Jahrhunderts in Deutschland alle Geisteswissenschaften mehr oder weniger erfaßt1. Wieweit dabei im einzelnen unmittelbare Einflüsse der „positivistischen“ Sozialphilosophie Auguste Comtes, englischer Philosophen (Bentham, J. St. Mill)2 oder der Naturwissenschaften, insbesondere die „Entwicklungslehre“ Darwins, mitwirkten, wieweit eine Wiederaufnahme des älteren „Empirismus“, der Assoziationspsychologie Lockes, in der Rechtswissenschaft auch der utilitaristischen Ethik eines Thomasius 3 vorgelegen hat, braucht hier nicht untersucht zu werden. Genug, daß die Rechtswissenschaft an der allgemeinen Hinwendung zum Positivismus ihren vollen Anteil genommen hat4. Als Gegenbewegung sowohl gegen das rational-deduktive Naturrecht wie gegen die metaphysische Grundeinstellung der idealistischen deutschen Philosophie, aber auch gegen die Romantik und die ältere „Historische Schule“ ist der Positivismus vornehmlich durch das Streben gekennzeichnet, nicht nur alle „Metaphysik“, sondern auch die Frage nach einem „Sinn“ des Daseins, nach „Werten“ oder „Gültigem“ als unbeantwortbar aus der Wissenschaft zu verbannen und diese streng auf die „Tatsachen“ und deren empirisch zu beobachtende Gesetzlichkeit zu beschränken5. Für die Naturwissenschaften, nicht aber für die Ethik und die Rechtslehre konnte er sich dafür bis zu einem gewissen Grade auf die Erkenntnistheorie Kants berufen.
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Literatur
Vgl. etwa Rothacker Einleitung in die Geisteswissenschaften, 2. Aufl. 1930, S. 190 ff.; speziell zum positivistischen Wissenschaftsbegriff: Ernstv.Hippel Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, S. 196 ff.
Ober den Einfluß Benthams auf den späteren Jhering und auf die Interessenjurisprudenz Ph. Hecks vgl. Coing in Arsp 1968, S. 69 ff.
Vgl. zu Ttomasius meine Abhandlung über»Sittlichkeit und Recht“ in »Reich und Recht in der deutschen Philosophie”, 1943, Bd. I, S. 202 ff.; Erik Wolf Das Problem der Naturrechtslehre, 3. Aufl. 1964, S. 137 ff.
Vgl. Schonfeld Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 68 ff., 510 ff.
Vgl. die treffende Darstellung dieser Position und ihrer Auswirkungen auf die Rechtslehre bei Coing Grundzüge der Rechtsphilosophie, 2. Aufl., S. 58 ff.
Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht, 1935, S. 2; Schonfelo, a.a.O., S. 63 u. 524.
So Brusiin, Über das juristische Denken, 1951, S. 156 ff.
So eindeutig Kelsen in seiner Schrift „Was ist Gerechtigkeit?“, 1953.
Welzel, Naturalismus und Wertphilosophie im Strafrecht (1935); Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 563, der (in den Anm. 16–18) auch auf den Zusammenhang einer „naturalistischen“ Moral-und Rechtstheorie mit Nietzsches »Willen zur Macht“ hinweist; Erik Wolf, Große Rechtsdenker, S. 623 ff.
Vgl. meine Schrift über „Das Problem der Rechtsgeltung“ (1929, Neudruck mit einem Nachwort, 1967); Henkel, Einführung in die Rechtsphilosophie, S. 543 ff. u. Festschr. f. Marcic, 1974, S. 63; Ryffel, Grundprobleme der Rechts-u. Staatsphilosophie S. 371 ff.
Der Vortrag erschien zuerst 1848 im Druck. Er ist jetzt zugänglich in einer Ausgabe der Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 1956. Ober Kirchmann vgl. S.Int-Landsberg, Geschichte der deutschen Rechtswissenschaft III, 2, S. 737 ff.; Wiercker, Privatrechtsgeschichte, S. 415; meinen Vortrag „Über die Unentbehrlichkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, Berlin 1966.
In der so benannten Schrift von O. v. Gierke im Jahre 1889.
Der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs und das deutsche Recht, 1889.
A. Menger, Das Bürgerliche Recht und die besitzlosen Volksklassen, 1890 (Neudruck der Wissenschaftl. Buchgesellschaft, 1968). Dazu Wieacker, Privatrechtsgeschichte, S. 457.
Vgl. die äußerst kritischen Bemerkungen Reichels in seinem Geleitwort zu der Schrift von Harry Lange, Die Wandlungen Jherines, 1927.
Seine methodologischen Hauptwerke werden wie folgt zitiert: Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112, S. 1, zit. GA; Das Problem der Rechtsgewinnung, 1912, zit. RG; Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, zit. B. Vgl. ferner den Anhang über „Begriffsjurisprudenz und Interessenjurisprudenz“ in seinem Grundriß des Schuldrechts, 1929, und die Aufsätze in AcP 122, 173; 142, 129 u. 297.
Vgl. die Abhandlung »Begriff und Konstruktion in der Lehre der Interessenjurisprudenz“ in Festschr. f. Heck, Rmelin u. A. B. Schmidt, 1931, S. 60.
Reichsgericht und Interessenjurisprudenz, RG Festschr., Bd. I, S. 161; Wohin führt die Interessenjurisprudenz? 1932; Die Hinwendung der Rechtswissenschaft zum Leben, 1939; Die Rechtswissenschaft im Umbau, 1950.
So vor allem in seinen Grundrissen des Schuldrechts und des Sachenrechts. 29 RG 1; B 31, 51.
Coing hat jedoch (in Arsp, 1968, S. 69 ff.) nachgewiesen, daß die Grundgedanken und sogar die Terminologie der „Interessenjurisprudenz“ bereits bei dem Philosophen Eduard Beneke (in seiner 1830 erschienenen Einleitung zu einer Schrift von J. Bentham) vorgebildet sind.
Daß Hecks Rechtstheorie ihren immanenten Voraussetzungen nach auf dem philosophischen Positivismus beruht, habe ich 1937 in AcP 143, S. 271 ff. ausgeführt. Vgl. auch Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, S. 575 f. und, Grundlegung der Rechtswissenschaft, S. 516.
O. Brusiin, Über das juristische Denken, S. 124, Anm. 54.
Nachweise aus der Rechtsprechung bringt Hubmann, AcP 155, S. 88. 56 Beachtlich dazu Pawlowski, Njw 58, 1561.
Das ist auch der Grundgedanke der Schrift von Max Rumpf, Gesetz und Richter, 1906.
Den Ausdruck als Sammelbezeichnung für alle Gegner der formalen Begriffsjurisprudenz zu gebrauchen, wie dies z. B. in der Dissertation von Kanigs, 25 Jahre Freirechtsbewegung (1932) geschieht, hat wenig Sinn. Die Oberzeugung, daß jedes Gesetz „Lücken“ habe, ist gewiß nicht auf die Anhänger der „Freirechtsbewegung” beschränkt, wie das Stampe, Die Freirechtsbewegung (1911), S. 25 anzunehmen scheint. Will man den schillernden Ausdruck zur Kennzeichnung einer bestimmten, wissenschaftlich ernst zu nehmenden Richtung gebrauchen, so paßt er am ehesten auf diejenigen, die gegenüber jeder Art von abgeleiteter, rational vermittelter Fallentscheidung den Vorrang des Willens,des Gefühls oder der „Intuition“ betonen und deshalb den Richter überall da, wo die Entscheidung dem Gesetz nicht „unmittelbar” zu entnehmen ist, statt auf gedankliche Oberlegungen, auf sein eigenes Rechtsempfinden verweisen. Die Schwierigkeit einer Abgrenzung der „Freirechtsbewegung“ gegenüber verwandten Strömungen, etwa der Interessenjurisprudenz oder der soziologischen Rechtsfindungsmethode, folgt aus der Unklarheit des Terminus „freies Recht”. Die „Freirechtler“ haben es im Grunde jedem überlassen, sich darunter vorzustellen, was ihm beliebt. Vgl. zu dieser Schwierigkeit Moench, Die methodologischen Bestrebungen der Freireichtsbewegung auf dem Wege zur Methodenlehre der Gegenwart, 1971, S. 14 ff.
Der Kampf um die Rechtswissenschaft. Von demselben Verfasser, doch sehr viel gemäßigter: Aus der Vorgeschichte der Freirechtsbewegung, 1925. Ferner: Zur Lehre vom richtigen Recht, 1909 (Kritik an Stammler), Rechtswissenschaft und Soziologie, 1911; The Definition of Law, Cambridge, 1958. Die meisten dieser Schriften sowie einige weitere sind nunmehr auch zugänglich in dem von TH. Würtenberger, 1962 herausgegebenen Auswahlband „Rechtswissenschaft und Soziologie“ (Freiburger Rechts-u. Staatswissenschaftl. Abh., Bd. 19 ).
Schreibjustiz und Richterkönigtum, 1907; Die Gemeinschädlichkeit der konstruktiven Jurisprudenz, 1909; Juristischer Kulturkampf, 1912; Was will die Freirechtsschule?, 1929. Eine Auswahl aus diesen Schriften erschien 1965 unter dem Titel „Gerechtigkeitswissenschaft“ (herausgegeben von Foulkes, eingeleitet von Arthur Kaufmann). Es kann nicht verwundern, daß die schon im Ton oft maßlose Kritik, die FucHs an der Rechtswissenschaft seiner Zeit übte, eine über das nötige Maß hinausgehende Gegenkritik zur Folge hatte. Den maßvollen Urteilen von Arthur Kaufmann 1St zuzustimmen.
H. IsAY, Rechtsnorm und Entscheidung, 1929, S. 56.
Zutreffend sagt Moench, a.a.O., S. 165: „Für sie war alles das irrational, was sie nicht mit formal-logischen Mitteln bewältigen konnten.“ Vgl. auch die treffende Kritik an der „Freirechtslehre” und ihr verwandten Strömungen im Rechtsdenken der Gegenwart bei Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechts-lehre, 1965, S. 190 ff.
Die juristische Logik, 1918.
Aus der großen Zahl seiner Schriften führe ich an: Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 1911 (zit. H); Ober Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 1911; Allgemeine Staatslehre, 1925; Der juristische und der soziologische Staatsbegriff, 2. Aufl. 1928; Reine Rechtslehre, 1934, 2. Aufl. 1960 (zit. RR); Was ist Gerechtigkeit? 1953; Was ist die Reine Rechtslehre? Festschr. f. Z. Giacometti, 1953, S. 143 (zit. FG). Ein chronologisches Verzeichnis der bis 1959 erschienenen Veröffentlichungen Hans Kelsens, das 483 Nummern umfaßt, ist dem Buche „Reine Rechtslehre“ beigegeben. Zum gegenwärtigen Stand der Reinen Rechtslehre Walter in RTh, Bd. 1, S. 69. Zur Kritik vgl. Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, 1921; W, H. Kelsens rechtstheoretische Methode, 1930; S. Marck, Substanz- und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, 1925; Ernst V. Hippel, Mechanisches und moralisches Rechtsdenken, 1959, S. 15 ff., 180 ff.; Rupert Hofmann, Logisches und metaphysisches Rechtsverständnis (Zum Rechtsbegriff Hans Kelsens), 1967; Karl Leiminger, Die Problematik der Reinen Rechtslehre, 1967; W. Schild, Die zwei Systeme der Reinen Rechtslehre, Wiener Jahrb. f. Philosophie, Bd. IV, 1971, S. 150. Eine Brücke zwischen der Reinen Rechtslehre und der (von Kelsen abgelehnten) ontologischen Naturrechtslehre versucht Rene Marcic (Cisterr. Ztschr. f. Offentl. R., Bd. 11, S. 395; Bd. 13, S. 69; Verfassungsgerichtsbarkeit und Reine Rechtslehre, 1966) zu schlagen.
Dieser Einwand ist Kelsen oft gemacht und m. E. von ihm nie ausgeräumt worden. Vgl. Erich Kaufmann, Kritik der neukantischen Rechtsphilosophie, S. 31; Siegfried Marck, Substanz-und Funktionsbegriff in der Rechtsphilosophie, S. 28 f., und meine Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl., S. 46. Völlig zutreffend bemerkt Hans-Ludwig Schreiber, Der Begriff der Rechtspflicht, 1966, S. 144, die Reine Rechtslehre, die die Unableitbarkeit des Sollens aus einem Sein postuliert hatte, ende in der Faktizität.
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Larenz, K. (1979). Rechtstheorie und Methodenlehre unter dem Einfluß des positivistischen Wissenschaftsbegriffs. In: Methodenlehre der Rechtswissenschaft. Abteilung Rechtswissenschaft. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-08715-2_5
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