Ich habe in den beiden vorangegangenen Kapiteln die emische Foltertheorie und in ihr eingesetztes Wissen anhand eines zeitlich-institutionell gerahmten Diskursausschnitts rekonstruiert, nämlich den textlichen – zunächst vor der Öffentlichkeit verborgenen – Diskurs innerhalb der CIA sowie zwischen OLC und CIA rund um den Fall Abu Zubaydah und der Etablierung des CIA-Folterprogramms infolge der Anschläge vom 11. September 2001. Diese Theorie ist historisch nicht isoliert zu betrachten. Zum einen steht die psychologisierende Theoretisierung von Folter in Kontinuität mit militärischen und geheimdienstlichen Diskursen des Kalten Kriegs, wie insbesondere der Historiker Alfred McCoy (2006, 2012a, 2012b) betont, für den ‚selbst-induzierter‘ Schmerz und Reizdeprivation den Kern eines spezifischen CIA-Folterparadigmas bildet. Zum anderen steht sie auch im Zusammenhang mit den Handlungs- und Situationsentwürfen im Rahmen des militärischen Folterprogramms im War on Terror, das dem Verteidigungsministerium unterstellt war und organisational, räumlich sowie personell prinzipiell getrennt war vom CIA-Programm (aber keineswegs unverbunden). Bevor ich mich den Folterpraktiken als aktualisierte Gewaltpraktiken in vergangenen sozialen Situationen anhand von Reports sowie Berichten von Überlebenden und anderen Beteiligten zuwende, stelle ich daher das diskursive Folterwissen in diesem Kapitel zu den Kontinuitäten mit dem Kalten Krieg und seiner Diffusion innerhalb des Folterkomplexes im War on Terror in Bezug. Ich möchte also nun den diachronen ‚Wissensfluss‘ in den Blick nehmen.

1 Feindmethoden: Kontinuitäten aus dem Kalten Krieg I

What is brainwashing? Were the American prisoners of war in North Korea brainwashed? Has the Department of Defense taken any action to prepare American soldiers for such treatment as their Chinese captors inflicted? These were some of the pressing questions confronting this country and which led to an investigation and hearings by the subcommittee (CGO 1956b: 1).

Mit diesen Worten beginnt ein Bericht eines US-Kongressausschusses über „Communist Interrogation, Indoctrination and Exploitation of American Military and Civilian Prisoners“ im Koreakrieg (1950–1953) (s.a. CGO 1954), welcher den Kalten Krieg bereits kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs ‚heiß‘ werden ließ. Der Neologismus „brainwashing“ stammt von dem Journalisten Edward Hunter, welcher ihn zum ersten Mal 1950 verwendete (Otterman 2007: 17). Er wurde in Folge des Krieges als Erklärung für das teils irritierende Verhalten von US-Kriegsgefangenen popularisiert (s.a. allgemein zu dem Begriff Killen/Andriopoulos 2011). Viele dieser Gefangenen gaben in Verhören Informationen preis oder ‚kooperierten‘ anderweitig. Insbesondere solche Fälle erfuhren große Aufmerksamkeit, in denen Soldaten freiwillig darauf verzichteten, in die USA zurückgeführt zu werden und teils politische Parolen und Positionen ihrer ehemaligen Feinde wiederholten, sowie Fälle von gefangenen Piloten, die (wohl fälschlicherweise) öffentlich den Einsatz von international geächteten biologischen Waffen gestanden, wie der Pilot der US Marine Frank Schwabel (s. zu diesem Fall Lech 2011). Der Ausdruck „brainwashing“ meint die durch diese Fälle begründete Sorge, dass die kommunistischen Feinde über besondere und neuartige Methoden zur Verhaltens- und Gedankenkontrolle verfügen könnten (Lemov 2005: 192 ff.).Footnote 1 Die drei Fragen, die den Ausschussbericht einleiten – nämlich, was „brainwashing“ sei, ob und wie es angewendet wurde sowie nach der Vorbereitung von Soldat:innen auf mögliche Kriegsgefangenschaft –, wurden keineswegs nur innerhalb dieses Ausschusses diskutiert, sondern waren darüber hinaus wesentlicher Teil medialer, politischer und wissenschaftlicher Diskurse in den USA („questions confronting this country“) in einer Zeit der öffentlichen Angst vor dem Kommunismus;Footnote 2 und nicht zuletzt die Streitkräfte und Geheimdienste stellten sie.

Das obige Zitat mag in diesem Zusammenhang zunächst überraschen. Welche Relevanz haben diese Fragen für das diskursive Folterwissen im War on Terror? Tatsächlich sind die (Folter-)Erfahrungen von US-Soldaten in nordkoreanischer und vor allem chinesischer Kriegsgefangenschaft indirekt in die oben umrissene Theoretisierung von Folter der CIA sowie in die des DoD ‚geflossen‘. Dies zeigt sich zunächst bezüglich des SERE-Trainings, auf das in den Handlungsentwürfen und Theoretisierungen im War on Terror verwiesen wird (s. Kapitel 8): Die dritte Frage, die der Ausschuss stellt – „has the Department of Defense taken any action to prepare American soldiers for such treatment as their Chinese captors inflicted?“ (CGO 1956b: 1) – ist Hintergrund der Etablierung der ersten SERE-Programme, mit denen die wahrgenommenen Mängel an Vorbereitung auf Gefangenschaft ausgeglichen und Soldat:innen, aufgrund ihrer besonderen Gefährdung insbesondere Pilot:innen der US AirForce (USAF), im Widerstand gegen feindliche ‚Verhörmethoden‘ trainiert werden sollten.Footnote 3 Hierzu beauftragten militärische Institutionen die Erforschung von ‚feindlichen Verhörmethoden‘ (im Folgenden zur Vereinfachung ‚Feindmethoden‘ genannt), welche auf Debriefings basierten, die Militärgeheimdienste mit den insgesamt 4.428 Soldaten (DoD 1955: 25) führten, die im Zuge von Gefangenenaustauschen – genannt Operation Little Switch und Operation Big Switch – in die USA rückkehrten.

An dieser Stelle möchte ich nicht detailliert auf diesen Prozess eingehen;Footnote 4 daher nur wenige Hinweise: Solche Befragungen protokollierten die militärischen Organisationen entweder in Form von standardisierten Fragebögen mit offenen Fragen oder mit mehrseitigen Narrativen der ehemaligen Gefangenen. Folgendes Zitat ist Teil eines insgesamt 23-seitigen Fragebogens („Air Intelligence Information Report“, USAF 1953) als ein Beispiel für die Befragung von Kriegsrückkehrern. Dieser betrifft den USAF-Piloten John Ellis, der nach einem Abschuss seines Flugzeugs am 20. Juli 1952 in Kriegsgefangenschaft geriet.Footnote 5

Were you subjected to brutal treatment or physical torture? – Yes (USAF 1953: 3).

Do you have any information on war crimes or atrocities? – Yes

Is this hearsay or firsthand information? – I was subjected to brutal treatment

If hearsay, from whom did you obtain the information? – This is my own personal experience

If the information was obtained from other PsW, can you give their names? I have heard of other PsW who were given brutal treatment

Can you state how they obtained the information? – No

Do you remember when and where these crimes and atrocities were committed? – I was subjected to inhuman treatment from the period 20 July 52 to 15 Februrary 1953, primarily in isolation near Camp #2 (USAF 1953: 18).

Neben Fragen zur Person, Umständen der Gefangennahme und verschiedenen taktischen Aspekten wie Terrain, „Towns, Industry and Mining“ (USAF 1953: 22) zielen zwei Fragen auf potentielle Foltererfahrungen („Were you subjected to brutal treatment or physical torture?“, „Do you have any information on war crimes or atrocities?“), die Ellis bejahte („Yes“, „I was subjected to brutal treatment“). Seine Behandlung bezeichnet er als „inhuman“ und nennt „isolation“ als Praxis, der er ausgesetzt wurde. Auf der letzten Seite des Protokolls empfiehlt der Vernehmer John Farnham Ellis für weiterführende Verhöre, auch zu dem Themenbereich seiner Foltererfahrung (USAF 1953: 23).Footnote 6 Neben Isolierung durch Einzelhaft wie in diesem Beispiel nennen andere Befragte vor allem erzwungenes Stehen als gewaltvolle Verhörtechnik.

Wissenssoziologisch ausgedrückt objektivierten die Befragungspraktiken die (leiblichen) Erfahrungen der Soldaten, die teils auch Folterüberlebende waren, und transformierten sie in organisationales Wissen. Die vom US-Militär beauftragten Verhaltensforscher wie insbesondere Louis Jolyon West, I. E. Farber, Harry Harlow und Alfred Biderman in Bezug auf die USAF (Biderman 1956, 1957; Sander/Biderman 1957; Farber et al. 1957; s.a. Army Security Center 1954) sowie Julius Segal (1956) in Bezug auf die US Army – die beiden zuletzt genannten befragte auch der Kongressausschuss (CGO 1956a: 78–106, 140–154) – nutzten anschließend dieses Wissen zur Theoretisierung von Feindmethoden und Widerstandsmöglichkeiten sowie zur Beantwortung der Frage, was ‚Gehirnwäsche‘ sein möge.Footnote 7 Teile des so produzierten Wissens ‚flossen‘ indirekt über die SERE-Trainingsprogramme in die Memoranden und cables des War on Terror.

Obgleich der Koreakrieg der Anlass für die Erforschung ‚feindlicher‘, spezifisch ‚kommunistischer‘, Verhörmethoden war, beschränkte sich diese Forschung nicht auf ihn. So untersuchten die Psychologen Lawrence Hinkle und Harold Wolff sowjetische und chinesische Polizeipraktiken in Verhörsituationen unabhängig von Kriegsgefangenschaft (Hinkle/Wolff 1957). Neben den militärischen Organisationen hatte zudem auch die CIA Interesse an den Feindmethoden und beauftragte die beiden Wissenschaftler zur Erforschung der vermeintlichen brainwashing-Techniken (Rejali 2009: 69).Footnote 8 All diesen Untersuchungen ist gemeinsam, dass sie zu dem Schluss kamen, der Begriff brainwashing sei irreführend, da er mystifizierend sei und fälschlicherweise eine hohe wissenschaftliche Professionalität unterstelle (Farber et al. 1957: 282; Biderman 1957: 8; Hinkle/Wolff 1957: 610; CIA 1956: 2). Biderman (1956: 202) schreibt beispielsweise über die Feindmethoden:

They [devices of coercive interrogation] are based primarily on simple, easily understandable ideas of how an individual’s physical and moral strength can be undermined, rather than upon subtle or startling psychological theories, Pavlovian or otherwise.

Keine neuartige psychologische Theorie, sondern einfach verständliche Vorstellungen über die menschliche Psyche und Physis seien die Basis der ‚Verhörtechniken‘. Diese seien keine rätselhaften Innovationen der Verhaltens- und Gedankenkontrolle. Im öffentlichen und wissenschaftlich-militärischen brainwashing-Diskurs der 1950er Jahre wurde dabei häufig auf Pavlov verwiesen und die Frage aufgeworfen, ob die Feindmethoden explizite Anwendungen und Weiterentwicklungen dessen Konditionierungstheorie waren („‘Pavlov Dogs’ treatment“, DoD 1955: 13) oder aber man zumindest die Techniken mit dieser Theorie psychologisch beschreiben und erklären könnte (s. z. B. Miller 1957: 50; Farber et al. 1957: 274; CGO 1956a: 4). Auch wenn Biderman hier Pavlovs Forschungen als mögliche Wissensquelle ablehnt, ist dieser Verweis vor dem Hintergrund der Relevanz dieser Theorie im Folterdiskurs des War on Terror interessant (s. Abschnitt 8.4).

Auch Hinkle und Wolff sahen in den untersuchten Feindmethoden keine Anzeichen für neuartiges esoterisches Wissen. Sie führten die Techniken stattdessen historisch auf vorrevolutionäre Folter- und Verhörpraktiken der zaristischen Polizei und Geheimdienste zurück,Footnote 9 die nach 1917 von bolschewistischen Sicherheitskräften fortgeführt, weiterentwickelt sowie anschließend nach China (und somit bis zum Koreakrieg) weitergegeben worden seien (Hinkle/Wolff 1957: 601). Während Farber, Harlow und West (1957: 273) die vermeintliche ‚Gehirnwäsche‘ mit dem Begriff „DDD syndrome“ zu theoretisieren und entmystifizieren suchten (DDD steht für „Debility, Dependency, and Dread“), entwickelte Biderman (1957: 619) eine Tabelle, in der er acht grundsätzliche ‚kommunistische‘ Techniken mit ihren Anwendungen und Wirkungen unterscheidet.Footnote 10

In diesen Theoretisierungen der Verhaltensforscher finden sich zahlreiche Ähnlichkeiten zu der in Kapitel 8 umrissenen emischen Foltertheorie des War on Terror. Dies gilt für die Begriffe ‚dependence‘ und ‚control‘, die auch hier mit einer extrem asymmetrischen dyadischen Beziehungen zwischen ‚Verhörer‘ und ‚Verhörten‘ und einem konditionierenden Belohnungs-/Strafe-System assoziiert sind (s. z. B. Farber et al. 1957: 3 f.; Biderman 1956: 206, 1957: 619; CIA 1956: 22, 116), sowie ‚discomfort‘ und ‚fear‘ als Bezeichnung für die emotional-leiblichen Effekte der Folter (s. z. B. CIA 1956: 48; Hinkle/Wolff 1957: 607). Auch bezüglich konkreter Techniken wie erzwungenes Stehen (Biderman 1957: 620 f.), andauernde Verhöre (CIA 1956: 36) und Deprivationen von Reizen, Schlaf, Hygiene oder Nahrung (s. z. B. Biderman 1957: 619; CGO 1956a: 205, 207; DoD 1955: 12) gibt es deutliche Überschneidungen. Diese Ähnlichkeiten liegen naheliegenderweise zum einen daran, dass das in den 1950er Jahren produzierte Wissen über die Feindmethoden in die SERE-Trainingsprogramme ‚floss‘; und von dort weiter in das diskursive Folterwissen des War on Terror. Das gilt insbesondere für Biderman:Footnote 11 Wie ein Militär-internes Memorandum (Rankin/Ross 2003) zeigt, wurden „Biderman’s Principles“ bei einem Training für militärisches Verhörpersonal in Guantánamo durch SERE-Personal genutzt (s.a. SASC 2008: 103). Dem Memorandum hängt zudem jene Tabelle Bidermans aus den 1950er Jahren über Feindmethoden an, die nun im Sinne des „reverse-engineering“ (SASC 2008: 103) als Folter- und Verhörtechniken gegen Gefangene in Guantánamo gewendet wurden. Auch waren Mitchell und Jessen laut einem Bericht des OMS (o. J.: 14) mit Bidermans Forschungen vertraut. Diesem Wissensfluss über die SERE-Programme kommt zum anderen ein weiterer ‚Fluss‘ (man könnte auch sagen: ein ‚Seitenarm‘) hinzu, denn die CIA nutzte bereits im Kalten Krieg die Forschungen zu Feindmethoden zur Entwicklung und Verschriftlichung einer emischen Foltertheorie.

2 „KUBARK“ und „HRET“: Kontinuitäten aus dem Kalten Krieg II

Neben den – dem Verteidigungsministerium untergeordneten – militärischen Organisationen hatte, wie gesagt, die CIA Interesse an der Erforschung von Feindmethoden. Das Wissen diente hier aber nicht ‚defensiv‘ der Etablierung des SERE-Trainings, sondern ‚offensiv‘ zur Aneignung von Techniken der Verhaltens- und Gedankenkontrolle gegen potentielle Feinde.Footnote 12 Der Geheimdienst finanzierte in diesem Zusammenhang zudem eigene Forschungen und Experimente, in die viele der oben genannten Verhaltensforscher eingebunden waren. In ihrem Buch „World as Laboratory“ bettet die Wissenschaftshistorikerin Rebecca Lemov (2005) diese Forschungen historisch in die amerikanische Geschichte experimenteller Verhaltensforschung im 20. Jahrhundert ein, welche eine theoretische Verschränkung von Psychoanalyse und Behaviorismus vollzog (Lemov 2005: 7). In Bezug auf die bereits oben genannten Wissenschaftler schreibt sie: „Almost all who were assigned to study the phenomenon of POW [prisoners of war] collaboration ended up in short order working for the CIA via one of its various ‘cut-outs’“ (Lemov 2005: 194). In ihrem berüchtigten MKULTRA-Projekt finanzierte die CIA sodann Forschungen teils indirekt über zwischengeschaltete Organisationen und somit für die Geförderten unsichtbar (Lemov 2005: 210).Footnote 13 Zu einem anderen Teil engagierte sie unmittelbar Wissenschaftler wie Wolff, Hinkle und West für geheime Experimente (Lemov 2005: 201; s.a. McCoy 2006: 28–30). Im Rahmen dieser Mindcontrol-Forschung wurden auch Menschenexperimente (unter anderem mit LSD als vermeintlicher Wahrheitsdroge) an Proband:innen ohne deren Wissen oder Zustimmung durchgeführt. Das Projekt wurde in den 1970er Jahren durch die Arbeit eines SSCI-Komitees (‚Church Committee‘) aufgearbeitet und publik gemacht (s. SSCI 1977). Für den Historiker McCoy (2006: 8), der die Foltertechniken im War on Terror primär auf diese Forschungen rückführt, führten diese zu einem „breakthrough“ und gar zur „first real revolution in the cruel science of pain in more than three centuries“. Diese ‚Revolution‘ sei die „perfection of psychological torture“ (McCoy 2006: 8).Footnote 14 Sie bestehe in der Abkehr von pharmologischen und hypnotischen Methoden der Gedankenkontrolle als ineffektiv, welche die CIA im Rahmen von MKULTRA ebenfalls erforschte, und der Hinwendung zu Methoden, die im Sinne einer behavioristischen Logik bei der Kontrolle über die Situation ansetzen und mittels Manipulation der räumlichen Umgebung der Gefolterten funktionieren. Insbesondere hätten sich die Techniken des ‚selbst-induzierten‘ Schmerzes und der sensorischen Deprivation als äußerst ‚effektiv‘ herausgestellt (McCoy 2006: 8). Die Ergebnisse von MKULTRA wurden in dem 1963 fertiggestellten und 1997 deklassifizierten ‚Verhörmanual‘ „KUBARK Counterintelligence Interrogation“ (CIA 1963) gebündelt oder „distilled“, wie McCoy (2012b: 21) es nennt. McCoy sowie ein Großteil der akademischen, aktivistischen und journalistischen Literatur zum US-Folterkomplex stellen die im War on Terror autorisierten und angewandten Foltertechniken mit dem KUBARK-Manual sowie dem darauf basierenden HRET-Manual (CIA 1983), welches in Schulungen in Lateinamerika eingesetzt wurde (s.a. Einleitung zu Kapitel 4), in Kontinuität (s. bspw. Borchelt/PHR 2005: 60 f.; Philipose 2007: 1063; Soldz 2008: 594; Wolfendale 2009: 52; Mann 2012: 313 f.; Welch 2015: 200 f.; Hilbrand 2015: 196; Arsenault 2017: 154; Nungesser 2020: 74–76). Diese Kontinuität weise auf ein spezifisches US-amerikanisches Folterparadigma hin, so die häufige Argumentation. Wie lässt sich der historische Zusammenhang zwischen diesen beiden Dokumenten einerseits und der in Kapitel 8 besprochenen Theoretisierung von Folter in den Dokumenten des War on Terror andererseits denken?

Zunächst gibt es Ähnlichkeiten bei der Argumentation. Dies gilt vor allem für den allgemein hohen Grad an Theoretisierung sowie der Rezeption psychologischen Wissens, das einerseits zu einer diskursiven Konstruktion von ‚Effektivität‘ und andererseits zur Abgrenzung von ‚klassischer‘ Folter genutzt wird. Das 128-seitige KUBARK-Manual bezieht sich neben anderen psychologischen Forschungen wie die von Donald Hebb zu sensorischer Deprivation an mehreren Stellen auf das organisational verfestigte Wissen über die Foltererfahrungen von US-amerikanischen Kriegsgefangenen in Korea (CIA 1963: 30, 73, 75, 84) und zitiert verschiedene Verhaltensforscher, darunter Biderman (CIA 1963: 91, 111), Hinkle und Wolff (CIA 1963: 83, 87, 113) sowie Farber, Harlow und West (CIA 1963: 83, 112).Footnote 15 Das Ziel von Verhören definiert das Manual wie folgt:

The long-range purpose of CI interrogation is to get from the source all the useful counterintelligence information that he has. The short-range purpose is to enlist his cooperation toward this end or, if he is resistant, to destroy his capacity for resistance and replace it with a cooperative attitude (CIA 1963: 38).

Das endgültige Ziel ist die Produktion von geheimdienstlich relevanten Informationen. Dem vorgelagert ist das Ziel der ‚Kooperationsbereitschaft‘, welche auch gegen Widerstand hergestellt werde. Es ergibt sich also wie in dem innerbehördlichen Diskurs im War on Terror eine Zielkette (s. Abschnitt 8.4), die jedoch ohne Verweise auf ein ticking bomb scenario auskommt. Auch hier ist die ‚Kooperationsbereitschaft‘ die Folge von psychologischen Zielzuständen, die wiederum durch leiblich-emotionale Effekte der jeweiligen Techniken mit ihrem spezifischen Körperzugriff hergestellt werden.

Die beiden Manuale des Kalten Krieges streben als primären Zielzustand psychologische „regression“ an (CIA 1963: 41, 76 ff., 83, 90, s.a. 1983: K-1, K-2, K-14, L-7). Im KUBARK-Manual ist zu lesen:

It is a fundamental hypothesis of this handbook that these techniques, which can succeed even with highly resistant sources, are in essence methods of inducing regression of the personality to whatever earlier and weaker level is required for the dissolution of resistance and the inculcation of dependence (CIA 1963: 41).

Die zentrale Stellung der Regression als Zielzustand der Folter als Mittel des Verhörs stellt das Manual an dieser Stelle besonders hervor („fundamental hypothesis“). Der Begriff meint hier einen temporären Abbau von Persönlichkeitsstruktur hin zu ‚früheren‘ Ebenen. Diese mentale Infantilisierung der ‚Verhörten‘ führe auch dazu, dass diese den ‚Verhörer‘ als Vaterfigur wahrnehmen würden, was für den Verhörprozess nützlich sei. Mehrfach nutzt das Manual dieses Argument, um die ‚Effektivität‘ der Foltertechniken zu begründen (CIA 1963: 40 f., 52 f., 77 f., 90, 103). Diese Theoretisierung von Regression nimmt in ihrer entwicklungspsychologischen und psychoanalytischen Formulierung des angestrebten Zielzustands eine ähnliche Funktion innerhalb der Zielkette ein, wie die der erlernten Hilflosigkeit und Abhängigkeit von Mitchell und Jessen. Zudem ist die Betonung einer dyadischen Beziehung zwischen ‚Verhörten‘ und ‚Verhörer‘, welche durch extreme Asymmetrie und Abhängigkeit („dependence“ findet sich auch explizit im obigen Zitat) geprägt ist, bei beiden Theoretisierungen zentral. Es ist daher folgerichtig, dass in beiden Fällen der sozialen Isolation der Gefolterten große Bedeutung zukommt. Der explizite Ausgangspunkt für die Etablierung dieser Beziehung ist auch im KUBARK die Kontrolle über die Situation und materielle Umgebung der Gefolterten (sprich die Gefangenschaft), die gezielt manipuliert werden soll (CIA 1963: 52, 86).

Das KUBARK-Manual (wie auch das HRET) teilen die besprochenen Techniken in „non-coercive“ (CIA 1963: 52–81) und „coercive“ (CIA 1963: 82–104) auf. Vor allem die zweite Kategorie umfasst Foltertechniken wie sensorische Deprivation und ‚selbst-induzierter‘ Schmerz durch erzwungenes Stehen. Als leiblich-emotionale Effekte, die die einzelnen Techniken zur Erreichung des Zielzustands (Regression) auslösen, nennt das Handbuch unter anderem „surprise“ (CIA 1963: 85), „mental discomfort“ (CIA 1963: 85), „physical discomfort“ (CIA 1963: 89) und „fear and anxiety“ (CIA 1963: 84). In diesem Punkt gibt es also ebenfalls tendenzielle Übereinstimmungen mit den Argumentationen von Memoranden und cables im Fall Abu Zubaydah.

Des Weiteren spielt in den beiden Handbüchern des Kalten Kriegs auch die Verletzung entlang von „Erwartungshorizonten“ (Nungesser 2019: 379) und situativen Situationsdeutungen der Gefolterten eine gewisse Rolle. Besonders deutlich wird dies bei der Begründung von Placebos (CIA 1963: 77 f., 98 f., 1983: K-12 f.): Auch wenn es keine simple Wahrheitsdroge gebe, könne es ‚effektiv‘ sein, ‚Verhörten‘ Placebos durch Zwang zu verabreichen und zu behaupten, es handle sich um ein „truth serum“ (CIA 1963: 77). Durch diese Täuschung könnten Gefolterte dazu verleitet werden zu ‚kooperieren‘, um der leidvollen Situation zu entkommen.Footnote 16 Das Handbuch argumentiert hier für die ‚Effektivität‘ von Placebos über die Antizipation der Situationsdeutung der Gefolterten und somit auf ähnliche Weise wie Mitchell (2002: 3) für die Verwendung von vermeintlich giftigen Insekten im Fall Abu Zubaydah. Besonders auffällig ist zudem die ähnliche Betonung von zeitlicher Desorientierung der Gefolterten durch verschiedene Deprivationspraktiken. So diene der Entzug von Nahrung nicht der physischen Schwächung durch Kalorienentzug, sondern der Zerstörung von Routine und subjektiver Zeitstruktur (CIA 1963: 52). Das gleiche gilt für die Deprivation von Schlaf (CIA 1963: 52) und natürlichem Licht (CIA 1963: 90). Außerdem empfiehlt das KUBARK die Anpassung der Techniken an die individuelle Persönlichkeit der Gefolterten; sprich die Adressierung spezifischer Verletzlichkeiten, die durch die Anwendung psychologischen Wissens erkennbar werden (s. bspw. CIA 1963: 11, 100, 103), wie dies Mitchell (2002) viele Jahre später für Abu Zubaydah behauptete.

Trotz dieser Gemeinsamkeiten sollten die Unterschiede, die ein direkter Vergleich zwischen den theoretisierenden Dokumenten der beiden historischen Phasen zeigt, nicht übersehen werden. Besonders auffällig ist, dass weder im KUBARK- noch im HRET-Manual die berühmteste Foltertechnik des War on Terror – nämlich Waterboarding – Erwähnung findet (s.a. Rejali 2009: 429). Zudem erfordern anders als bei den Techniken des KUBARK-Manuals viele der späteren enhanced interrogation techniques direkten gewaltsamen Körperkontakt zwischen Folternden und Gefolterten wie beispielsweise der „insult slap“ oder „walling“ (s. Abschnitt 7.2). Auch die Rolle des leiblichen Schmerzes als Effekt der Folter hat einen unterschiedlichen Stellenwert. Im innerbehördlichen Diskurs um den Fall Abu Zubaydah (sowie in späteren Handlungsentwürfen und Autorisierungen) wird Schmerz als ‚Körper-Selbst-Scharnier‘ explizit ausgeschlossen (s. Abschnitt 8.3). Auch das KUBARK- und HRET-Manual lehnen prinzipiell Schmerz ab (CIA 1963: 93–95, 1983: K-9-K-11), sofern er als „direct physical brutality“ (CIA 1963: 91) durch äußere Gewalteinwirkung mit Körperkontakt ausgelöst werde, und nutzen dies zur Abgrenzung von ‚klassischer‘ Folter. Diese Ablehnung wird aber durch mangelnde ‚Effektivität‘ begründet und nicht aufgrund von möglicher Schädlichkeit oder Illegalität. In Bezug auf Biderman argumentiert das KUBARK-Manual, dass unmittelbar von Folternden ausgelöster Schmerz den Widerstandswillen der Gepeinigten erhöhen würde (CIA 1963: 94 f.). Schmerz, der durch „subjecting the body to its own functions“ (Inhetveen 2011: 383) hergestellt werde (wie insbesondere durch erzwungenes Stehen), sei dagegen ‚effektiv‘, weil es die subjektive Erfahrung der eigenen Mitwirkung am Leiden herstelle (s.a. Abschnitt 3.4). Dies verweist auf einen grundlegenden Unterschied: Das KUBARK-Manual bemüht sich um keine Konstruktion von ‚Legalität‘ der Techniken. Es expliziert vielmehr die potentielle Illegalität der behandelten Techniken und pocht daher auf die Notwendigkeit von Autorisierungen durch höhere CIA-Stellen „if bodily harm is to be inflicted“ oder „if the detention is locally illegal“ (CIA 1963: 8). Vor diesem Hintergrund ist es auch wenig verwunderlich, dass das Manual keine Konstruktionen von ‚Unschädlichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘ bemüht, welche in den Torture Memos mit der Legalisierung der Folter als Nicht-Folter im Kontext der Anti-Folternorm einhergeht.

Etwas anders verhält es sich mit dem HRET-Manual: Als der US-Kongress Mitte der 1980er Jahre auf die Weitergabe von Folterwissen durch die CIA an lateinamerikanische Sicherheitskräfte aufmerksam wurde, nahm die CIA an mehreren Stellen handschriftliche Änderungen vor, um die Illegalität zu reduzieren (McCoy 2012b: 28).

E. Coercive techniques constitute an impropriety and violate policy. (CIA 1983: B-2).

G. If there are no built-in toilet facilities, he should either be given a bucket or escorted by a guard to the latrine. The guard stays at his side the entire time he is in the latrine. (CIA 1983: E-3).

Das obige Zitat zeigt zwei Beispiele für dieses Vorgehen.Footnote 17 Die ursprüngliche Version des Handbuchs bestimmt ebenso wie das KUBARK-Manual, dass die CIA-Zentrale die Anwendung von „coercive techniques“ zuvor autorisieren muss („always require prior HQS approval“). In der handschriftlichen Änderung sind die entsprechenden Wörter durchgestrichen. Stattdessen werden diese Techniken grundsätzlich untersagt („impropriety“, „violate policy“). Entsprechend änderte die CIA auch die Beschreibungen der einzelnen Techniken. Beispielsweise empfiehlt die ursprüngliche Version Hygienedeprivation durch den Entzug eines Klos zur Herstellung von Abhängigkeit, indem Gefolterte so gezwungen werden, nach Möglichkeiten zur – mehr oder weniger hygienischen – Ausscheidung von Kot und Urin zu fragen, anstatt diese autonom vornehmen zu können (s.a. Abschnitt 8.1 & 10.4). Die geänderte Version streicht dagegen genau die Satzbestandteile, die die Intentionalität der räumlich-materiellen Strukturierung der Gefangenschaft als Leidinduktion aufzeigen („should be“, „the subject should have to ask“).Footnote 18 Auf diese Weise zeigt sich der Einfluss der globalen Anti-Folternorm auf das Manual. Jedoch zielen die Änderungen nicht auf eine Legalisierung der Techniken wie bei den Torture Memos, sondern auf deren (äußerst oberflächliche) ‚Invisibilisierung‘.

Welche Rolle spielen nun die beiden Manuale des Kalten Krieges für die emische Foltertheorie des War on Terror? Ein unmittelbarer Zusammenhang in dem Sinne, als dass die Manuale als direkte Wissensquelle für die Formulierung der Theorie fungierten, kann letztlich nur vermutet werden. Denn anders als in Bezug auf die SERE-Trainingsmethoden gibt es keine direkten Verweise auf die älteren Manuale in den Handlungsentwürfen und autorisierenden Memoranden des War on Terror. Die behandelten Ähnlichkeiten in der Theoretisierung von Foltertechniken (als Verhörtechniken) und der damit einhergehenden Rezeption psychologischen Wissens legen einen Zusammenhang nahe, können aber auch über den ‚Wissensfluss‘ entlang der SERE-Programme erklärt werden. Schließlich beruhen sowohl das ‚offensive‘ Wissen der CIA als auch das ‚defensive‘ Wissen der SERE-Trainings großenteils auf den gleichen Quellen: namentlich die diskursive Objektivierung von Foltererfahrungen US-amerikanischer Soldaten im Koreakrieg. Über die Ähnlichkeiten hinaus gibt es einige wenige Hinweise. Das SSCI (2014: 18 f.) legt nahe, dass ein CIA-Mitarbeiter, der in den 1980er Jahren in das Foltertraining in Lateinamerika in Verbindung mit dem HRET-Manual eingebunden war, im Jahr 2002 „chief of interrogations“ (SSCI 2014: 19) des CIA-Folterprogramms wurde. Außerdem stellt die medizinische CIA-Unterorganisation OMS (o. J.: 11) die CIA-Praktiken im War on Terror in Kontinuität mit den MKULTRA-Forschungen und dem KUBARK-Manual,Footnote 19 während eine CIA-interne Untersuchung zur Anwendung unautorisierter Techniken auf das HRET-Manual und -Programm der 1980er Jahre verweist (Helgerson 2003: 6). Es ist also plausibel zumindest anzunehmen, dass die Manuale des Kalten Kriegs innerhalb der CIA ebenso wenig in Vergessenheit geraten waren wie im öffentlichen Diskurs. Dennoch ist es empirisch problematisch, schlicht zu behaupten, das KUBARK-Manual sei im War on Terror eingesetzt worden, wie dies beispielsweise die Philosophin Bonnie Mann (2012: 313) tut.

Unabhängig von der Frage, wie relevant das KUBARK- und HRET-Manual für die emische diskursive Foltertheorie infolge des 11. September 2001 im Einzelnen war, kann konstatiert werden, dass diese in Kontinuität zur psychologisierenden Theoretisierung von ‚effektiven‘ Folter- und Verhörtechniken sowie zur Abgrenzung von ‚klassischer‘ Folter durch sowohl militärische als auch geheimdienstliche Organisationen steht,Footnote 20 auch wenn dieser ‚Wissensfluss‘ in Teilen nicht öffentlich sichtbar (gleichsam ‚unterirdisch‘) verläuft. Dabei ist zu bedenken, dass der ‚Fluss‘ zunächst nur die Ebene der innerbehördlichen Theoretisierung und Legitimierung betrifft. Mit seiner Rekonstruktion ist also keineswegs gesagt, dass er die einzige oder primäre Wissensquelle der Foltertechniken des War on Terror sei (s. hierzu Rejali 2009: 427–430). Die Tatsache aber, dass das KUBARK-Manual in der Beschreibung und Begründung der ‚Verhörtechniken‘ ausschließlich deren ‚Effektivität‘ im Sinn hat und sich nicht um die Konstruktion von ‚Legalität‘ bemüht, lässt vermuten, dass auch die Begründung von ähnlichen Techniken in den organisationalen Dokumenten des War on Terror nicht ausschließlich der Legalisierung geschuldet war, sondern auch unabhängig von der Anti-Folternorm eine emische Überzeugung von ‚Effektivität‘ zum Ausdruck bringt.

3 Rezeption von Folterwissen in Guantánamo

Nicht nur für das CIA-Folterprogramm, auf das ich mich bei der Betrachtung von organisationalen Dokumenten bisher konzentriert habe, sondern auch für den militärischen Teil des Folterkomplexes im War on Terror sind foltertheoretisierende und -autorisierende Diskursfragmente öffentlich zugänglich, auf die ich nun ergänzend eingehe. Anders als bei der CIA stand dem Verhörpersonal der verschiedenen Streitkräfte und deren Militärgeheimdiensten mit dem US Army-Handbuch „FM [Field Manual] 34–52 Intelligence Interrogation“ (DoA 1992) bereits ein verbindliches und standardisiertes Dokument mit Handlungsentwürfen für militärgeheimdienstliche Verhöre zur Verfügung, welches sich an den Genfer Konventionen orientiert und Folter explizit untersagt.Footnote 21 Dennoch wurden im Verlauf des innermilitärischen Diskurses weitere ‚Verhörtechniken‘ über das Handbuch hinaus verschriftlicht und über die verschiedenen Folterorte verbreitet; und wie im CIA-Programm mit Kenntnis und teils Veranlassung der US-Regierung, insbesondere dem Verteidigungsministerium.

Das in den militärischen Dokumenten enthaltene, diskursiv verfestigte, Folterwissen ähnelt an vielen Stellen dem der CIA-Foltertheorie. Diese Ähnlichkeit liegt schon deshalb nah, weil – wie in diesem Kapitel schon deutlich wurde – geheimdienstliche und militärische Diskurse über ‚Verhörtechniken‘, Feindmethoden und Widerstandsmöglichkeiten seit dem Kalten Krieg grundsätzlich miteinander verbunden sind und in ihnen mitunter das gleiche Wissen (bspw. die psychologische Erforschung vermeintlicher ‚Gehirnwäsche‘ an US-Kriegsgefangenen) zum Tragen kommt. Das SERE-Training, dessen Methoden die Grundlage der autorisierten CIA-Foltertechniken darstellt, ist Teil des US-Militärs. Daher ist es wenig verwunderlich, dass auch Militärpersonal auf die Trainingsmethoden zurückgriff, um Foltertechniken zu etablieren. Vor allem die Untersuchung des US-Senats zum Folterprogramm des Verteidigungsministeriums und ihm unterstellten militärischen Organisationen rekonstruierte diesen Prozess, welcher in Guantánamo begann. Da der entsprechende Untersuchungsbericht (SASC 2008) viele Quellen verwendet, die nach wie vor öffentlich nicht zugänglich sind, ist er das wichtigste umfassende Dokument zur Diffusion von Folterwissen im US-Militär.

Bereits im Dezember 2001 trat das Verteidigungsministerium – genauer das von HaynesFootnote 22 geleitete Office of General Counsel – mit der für das SERE-Training zuständigen Behörde JPRAFootnote 23 in Kontakt, um diese um Hilfe bei der Entwicklung von ‚Verhörtechniken‘ zu bitten (SASC 2008: 3 f., 6). Am 28. Februar 2002 – also kurz nach der Einrichtung des Lagers in Guantánamo – verfassten JPRA-Mitglieder, darunter Jessen, ein Memorandum mit „Prisoner Handling Recommendations“ (CIA 2002k) für Camp X-Ray und einen „Exploitation Draft Plan“ (DoD 2002b), der Empfehlungen für ‚Verhörtechniken‘ beinhaltete. Jessen produzierte zudem eine Präsentation mit Empfehlungen für das Training von Verhörpersonal auf Guantánamo. Es bestand also früh ein eigenständiges Interesse an SERE-Techniken. Jedoch verstärkte sich dieses unter dem Einfluss der Etablierung des CIA-Programms, über das in Regierungskreisen Informationen kursierten (Mayer 2008: 89 f., 94 f.): Im Juli 2002 erbat und erhielt Haynes mittels Memoranden von der JPRA erneut Informationen über SERE-Trainingsprogramme und deren Wirkungen auf die Trainierten (SASC 2008: 24–31; Ogrisseg 2002; Baumgartner 2002). In der Folge verstärkte sich der Wissenstransfer zwischen Mitgliedern der JPRA und dem Verhörpersonal des Gefangenenlagers. Erstere trainierten zweiteres in SERE-Techniken im September 2002 (Young 2006: 35; SASC 2008: 38; Mayer 2008: 197) sowie Ende Dezember 2002 bis Anfang Januar 2003 (Rankin/Ross 2003).

Das so geschulte Personal, darunter Mitglieder des psychologischen Behavioral Science Consultation Team (BSCT), bat den Leiter der JTF-170Footnote 24 Dunlavey um die Autorisierung von gewaltvollen Techniken. Dunlavey (2002) leitete im Oktober 2002 die Anfrage entlang der militärischen Befehlsketten weiter nach ‚oben‘ und letztlich bis zum Verteidigungsministerium. Trotz Bedenken und Protesteten des FBI und verschiedener Militärangehöriger (SASC 2008: 74–81; Mora 2004) autorisierte Haynes (2002) die meisten der angefragten Methoden in einem folgenreichen „Action Memo“, das Rumsfeld schließlich am 2. Dezember 2002 unterzeichnete (dabei notierte er – entweder zynisch oder in Unkenntnis über die Unangemessenheit seines Vergleiches – die Frage, warum erzwungenes Stehen auf maximal vier Stunden begrenzt sei; er selbst stehe schließlich acht bis zehn Stunden am Tag). Hintergrund dieser Autorisierung war vor allem der Fall al-Qahtani.Footnote 25 Den als nachrichtendienstlich wertvoll eingeschätzten Gefangenen plante das BSCT und andere Mitglieder der JTF-170 einem speziellen, besonders gewaltsamen Verhörplan (später als Special Interrogation Plan bezeichnet) auszusetzen (SASC 2008: 81–84; s.a. DoD 2002a).

Die Techniken, um deren Genehmigung Dunlavey bat, sind in drei Kategorien eingeteilt. Vor allem die Kategorien 2 und 3 umfassen Techniken zur intendierten Leidinduktion. Unter Kategorie 2 fallen:

  1. (1)

    The use of stress positions (like standing), for a maximum of four hours.

  2. (2)

    The use of falsified documents or reports.

  3. (3)

    Use of the isolation facility for up to 30 days. […]

  4. (4)

    Interrogating the detainee in an environment other than the standard interrogation booth.

  5. (5)

    Deprivation of light and auditory stimuli.

  6. (6)

    The detainee may also have a hood placed over his head during transportation and questioning. […]

  7. (7)

    The use of 28-hour interrogations.

  8. (8)

    Removal of all comfort items (including religious items).

  9. (9)

    Switching the detainee from hot rations to MREs [Meal Ready to Eat].

  10. (10)

    (10) Removal of clothing.

  11. (11)

    (11) Forced grooming (shaving of facial hair etc.).

  12. (12)

    (12) Using detainees [sic] individual phobias (such as fear of dogs) to induce stress. (Dunlavey 2002: 10 f.).

Unter Kategorie 3 nennt das Dokument:

  1. (1)

    The use of scenarios designed to convince the detainee that death or severely painful consequences are imminent for him and/or his family.

  2. (2)

    Exposure to cold weather or water (with appropriate medical monitoring).

  3. (3)

    Use of a wet towel and dripping water to induce the misperception of suffocation.

  4. (4)

    Use of mild, non-injurious physical contact such as grabbing, poking in the chest with the finger, and light pushing (Dunlavey 2002: 11 f.).

Von der 3. Kategorie autorisierte das Verteidigungsministerium nur die vierte Technik. Die anderen drei mögen rechtlich zulässig sein, aber: „we believe that, as a matter of policy, a blanket approval of Category III techniques is not warranted at this time“ (Haynes 2002). Bereits am 15. Januar 2003 widerrief Rumsfeld (2003a) in einem Memorandum seine generelle Autorisierung der hier aufgelisteten Techniken. Dennoch ist die obige Liste empirisch relevant, denn zum einen schlossen Haynes und Rumsfeld nicht aus, in Einzelfällen oder zu anderen Zeitpunkten auch diese Techniken zuzulassen. Zum anderen zeigt ihre bloße Nennung in dem Dokument, dass sie als Folterwissen in Guantánamo und darüber hinaus zirkulierten.

Die genannten 16 Techniken werden in dem Dokument nicht wie in den OLC-Memoranden im Fall Abu Zubaydah in ihrer Funktionsweise näher bestimmt oder gar theoretisiert. Aber auch so finden sich Überschneidungen mit der CIA-Foltertheorie: Am auffälligsten sind sie bei „stress positions“ und dem waterboard (hier umschrieben mit: „wet towel and dripping water“), dessen angezielter leiblicher Effekt („misperception of suffocation“) ähnlich wie in den CIA/OLC-Dokumenten konzeptualisiert ist. Unter die Technik „mild, non-injurious physical contact“ fallen wohl, zumindest was den Körperbezug angeht, „facial slap“, „facial hold“ und „attention grasp“ (Mitchell 2002: 2).Footnote 26 Auch die Isolation der Gefangenen, der implizierte Schlafentzug („28-hour interrogations“), Reizdeprivation, das Ausnutzen individueller Phobien, der Entzug von Wärme, erzwungene Nacktheit, erzwungene Bartrasur, die Inszenierung von Todesgefahr („scenarios designed to convince“) und „dietry manipulation“ (Bradbury 2005a: 7) erinnern an Handlungsentwürfe der CIA (bspw. Mitchell 2002; CIA 2004a; Bradbury 2008: 7; OMS o. J.: 35). In anderen militärischen Dokumenten finden sich zudem Theoretisierungen, bei denen wie bei der CIA psychologisches Wissen eingesetzt wird, allerdings ohne Bezüge zu dem Konzept der erlernten Hilflosigkeit oder dem der Regression. Jedoch findet sich auch hier die Vorstellung der ‚Effektivität‘ einer radikal asymmetrischen Beziehung zwischen ‚Verhörer‘ und ‚Verhörten‘. Das SASC (2008: 82) zitiert den Special Interrogation Plan für al-Qahtani von November 2002 (welcher als solcher klassifiziert ist): „‘Induce and exploit Stockholm Syndrome‘ by establishing ‚an isolated, austere environment where the detainee becomes completely dependent on the interrogators and the interrogator presents himself as a ‘caretaker’ of the detainee’“. Auch hier wird also der Begriff der Abhängigkeit genutzt, um die angezielte Beziehung zu bezeichnen, die über die Kontrolle über Umwelt des Gefolterten und dessen Isolierung hergestellt würde (s. zum Vergleich Abschnitt 8.4). Der Wechsel von Plural zu Singular („interrogators“, „interrogator“) zeigt auch hier die Relevanz von dem dyadischen Verhältnis der Beziehung, wenngleich dieser Punkt nicht so ausgeprägt ist wie bei CIA-Dokumenten. Der Verweis auf das Stockholm Syndrom als gewünschter psychologischer Zielzustand findet sich an keiner anderen Stelle der öffentlich zugänglichen Dokumente, ebenso wenig wie die Metapher des „caretaker“ (bereits im Verhörplan in Anführungsstrichen) für die Rolle des Folterers. Gleichzeitig ähnelt diese Metapher der Idee vom Verhörer als Vaterfigur im KUBARK-Manual. Bei den psychologisierenden Theoretisierungen in Dokumenten des US-Militärs zeigen sich außerdem stärker als bei der CIA direkte Bezüge zur Erforschung von Feindmethoden im Kalten Krieg. Wie oben bereits erwähnt, zitieren die beiden JPRA-Mitglieder Rankin und Ross (2003) nach einem Training für Personal in Guantánamo Bidermans (1957: 619) Tabelle. Zudem nutzt ein anderes verhöranleitendes Dokument mit den Begriffen „monopoliztion [sic] of perception“ für die Bezeichnung von sensorisch orientierten Techniken und „demonstrated omnipotence“ (Moss 2002: 5) für die Inszenierung von extremer Machtdifferenz unmittelbar Bidermans Terminologie.

Vor dem Hintergrund der Anti-Folternorm argumentieren DoD-interne Dokumente wie auch der CIA/OLC-Diskurs für die Legalität der autorisierten Techniken mit den Konzepten des „special intent“ und „necessity“ sowie Verweisen auf Nordirland und Israel (Dunlavey 2002; DoD 2003: 8, 25; s.a. Rumsfeld 2003b: 1; zum Vergleich Abschnitt 7.2). Auch erhielt das DoD dabei Unterstützung durch das Justizministerium in Form des OLC (Yoo 2003). Entsprechend bemühen sich die Handlungsentwürfe ebenfalls nicht nur um die Konstruktionen von ‚Effektivität‘, sondern auch von ‚Unschädlichkeit‘ und ‚Notwendigkeit‘, wobei Bezüge auf medizinisches Monitoring (s. aber DoD 2002a: 3) und ein ticking bomb scenario weniger häufig auftreten (stattdessen erfüllen zumeist allgemeine Verweise auf eine „military necessity“ die legitimierende Funktion solcher spekulativen Szenarien, z. B. Rumsfeld 2003b: 1). Auch wird leiblicher Schmerz als ‚Körper-Selbst-Scharnier‘ (Inhetveen 2017: 104) konsequent in den Diskursfragmenten vermieden.

Fredman:

These techniques need involvement from interrogators, psych, medical, legal, etc.

Becker:

Would we get blanket approval or would it be case by case?

Fredman:

The CIA makes the call internally on most of the types of techniques found in the BSCT paper, and this discussion. Significantly harsh techniques are approved through the DOJ (DoD 2002a: 4).

Obiges Zitat zeigt einen Ausschnitt aus dem Protokoll des „Counter Resistance Strategy Meeting“ vom 2. Oktober 2002, das der CIA-Anwalt John Fredman mit Verhör- und BSCT-Personal in Guantánamo abhielt und das ich bereits in der Einleitung (Kapitel 1) zitiert habe. Die Diskussion kreist hier vor allem um ein „BSCT paper“ mit Vorschlägen von „harsh techniques“ vor dem Hintergrund des Falls al-Qahtani. Dieses „paper“ ist nicht öffentlich zugänglich, aber sein Inhalt entspricht wahrscheinlich dem des oben zitierten Memorandums von Dunlavey. Fredman bezieht sich hier genau auf die vier relevanten Diskursfelder der CIA-Foltertheorie (Geheimdienst, Psychologie, Medizin und Recht, s. Abschnitt 8.5), indem er bemerkt, dass für die vorgeschlagenen Techniken „interrogators, psych[ological], medical, legal [personnel]“ einbezogen werden müssten. Der leitende Verhörer David Becker erkundigt sich, ob Foltertechniken grundsätzlich („blanket approval“) oder individuell („case by case“) genehmigt würden, worauf Fredman auf die Autorisierung durch das Justizministerium (DOJ) verweist. Der CIA-Mitarbeiter Fredman tritt hier also als Experte für die Autorisierung und Legalisierung von Folter auf, der beratend zur Seite steht und sein nützliches Wissen mit dem interessierten Guantánamo-Personal teilt. Bei diesem Beispiel ist der direkte Einfluss des frühen CIA-Folterprogramms auf die militärischen Diskurse evident; insbesondere, wenn man bedenkt, dass das Protokoll als E-Mail-Anhang (mindestens) innerhalb der JTF-GTMO kursierte, wie die erste Seite des zitierten Dokuments zeigt.

Die oben zitierte Liste der 16 Techniken und andere theoretisierende Dokumente aus Guantánamo von 2002 beinhalten auch Spezifika des militärischen Folterprogramms in Guantánamo und darüber hinaus. Zum einen verweist der Ausdruck „comfort items“ (Dunlavey 2002: 11) für Artefakte, die den Gefangenen zur Verfügung gestellt oder entzogen werden, auf die für die US-Foltertheorie typische Unterscheidung von comfort/discomfort, zum anderen auf für Guantánamo spezifische Praktiken eines standardisierten Belohnungs-/Strafe- und Privilegiensystems (s. Abschnitt 11.2), welches stärker die gesamte Gefangenenpopulation des Ortes im Blick hat als nur individuelle Zu-Folternde. Auch in dem oben zitierten Gesprächsprotokoll wird bereits die Notwendigkeit von „camp-wide, environmental strategies designed to disrupt cohesion and communication among detainees“ (DoD 2002a: 2) benannt. Die Kontrolle über die Umgebung der Gefangenen zielt hier also nicht nur auf individuelle Leidinduktionen, sondern auf kollektive: Den Gefangenen soll nicht die Möglichkeit gegeben werden, durch gegenseitige Kommunikation eine Gruppenidentität und ein Wir-Gefühl („cohesion“) zu entwickeln. Auch die unter anderem von Jessen verfassten Empfehlungen für Camp X-Ray haben deutlich stärker die Gefangenenpopulation als Gruppe im Blick als die CIA-Verhörpläne und cables (CIA 2002k; DoD 2002b).Footnote 27

Verbunden mit dieser Perspektive ist auch die stärkere Adressierung von unterstellten kulturell-geschlechtlichen Verletzlichkeiten in der Folter, sprich der Einfluss des Otherings auf die Foltertechniken. Die semiotischen Verweise in der Folterpraxis auf vermeintlich spezifische Eigenarten muslimischer Männer finden sich insbesondere bei Berichten über militärische Folterorte (s. z. B. Butler 2008 zu Abu Ghraib), nicht so sehr in den Handlungsentwürfen und autorisierenden Memoranden. Es gibt aber einige wenige Hinweise. So nennt die oben zitierte Liste „religious items“ (Dunlavey 2002: 11) als Beispiele für comfort items und verweist so implizit auf das Muslim-Sein der Gefangenen. Die unter anderem von Jessen verfassten „Prisoner Handling Recommendations“ raten zudem dazu, das Belohnungs-/Strafe-System entlang „cultural desirability“ beziehungsweise „cultural undesirability“ zu strukturieren (CIA 2002k: 1). Außerdem nennt das Dokument von Dunlavey (2002) für das Ausnutzen von Phobien als Beispiel den Einsatz von Hunden, die in der Folge häufig als ‚Folterinstrumente‘ an militärischen Folterorten eingesetzt werden würden (s. Abschnitt 13.3 & 14.2). Wird die Technik hier noch über individuelle Phobien erklärt, so wie Mitchell (2002: 3) es bei seinem Vorschlag zur Nutzung von Insekten bei Abu Zubaydah tut, so schreibt General Ricardo Sanchez (2003: 12) in seinem autorisierenden Memorandum für Verhöre im Irak: „Presence of Military Working Dog: Exploits Arab fear of dogs“ (diese Formulierung tauchte auch in einem Memorandum in Afghanistan auf, SASC 2008: XXII). Sanchez adressiert hier also die kollektiv zugeschriebene, in diesem Falle ethnische („Arab“), Eigenschaft ‚Angst vor Hunden‘ und nicht individuelle Phobien. Auch die Verwendung von weiblichem Verhörpersonal war mit ethnischen Zuschreibungen an arabische Männer mit spezifischen Verletzlichkeiten geplant (SASC 2008: 45 f.). Die sich primär in den Folterpraktiken zeigende Relevanz des geschlechtlich-kulturellen Otherings ist also bereits in theoretisierenden Militärdokumenten angedeutet.

4 Diffusion von Folterwissen innerhalb des US-Militärs

Das diskursive Folterwissen verbreitete sich von Guantánamo aus zu den anderen militärischen Unterorganisationen in Afghanistan und dem Irak. Für die Verhörzentren des US-Militärs in Afghanistan gibt es keine öffentlich zugänglichen Handlungsentwürfe wie Verhörpläne oder autorisierende Memoranden. Der Untersuchungsbericht des SASC (2008) bietet aber hier erneut Anhaltspunkte. Obwohl Rumsfelds Autorisierung eines Teils der in Abschnitt 9.3 zitierten Liste von ‚Verhörtechniken‘ nur für Guantánamo erfolgte und bald widerrufen wurde, ist das Memorandum laut SASC (2008: XXIIf., 153 f.) von Guantánamo aus an Leitungspersonal von Folterorten in Afghanistan weitergeleitet geworden. Dort wurde es als prinzipielle Genehmigung ausgelegt, die Techniken an den jeweiligen Orten zu autorisieren, zu verschriftlichen und für Schulungen zu verwenden. Zuvor gab es bereits einen Austausch von Wissen über ‚Verhörmethoden‘, als Personal aus Afghanistan nach Guantánamo reiste (SASC 2008: 149). Im Jahr 2004 bat zudem das US Central Command die JPRA zweimal um Unterstützung bei ‚Verhören‘ in Bagram und Kandahar (SASC 2008: 224–230). Auch militärische Akteure in Afghanistan hatten also Interesse an ‚offensiv‘ gewendeten SERE-Techniken.

Nach der Invasion im Irak entstanden dort im Jahr 2003 weitere Verhörzentren und Gefangenenlager unter Leitung des US Central Command. Abgesehen von dem schon erwähnten Memorandum von General Sanchez (2003), das sowohl Einflüsse des US Army-Handbuchs als auch von SERE-Techniken aufweist, sind für den irakischen Teil des Folterkomplexes keine organisationalen Handlungsentwürfe bezüglich Verhöre und Folter zugänglich. Von Beginn an aber übernahm die für die Organisation von militärgeheimdienstlichen Verhören zuständige Special Mission Unit Task Force organisationale Handlungsentwürfe aus Afghanistan (SASC 2008: 158). Auch waren viele der Verhörleitenden MIs zuvor in Afghanistan oder Guantánamo tätig gewesen (DoA 2004c: 21). Vor allem aber reiste General Miller, welcher seit November 2002 Leiter der JTF-GTMO war, in den Irak, um die „effectiveness of counterterrorism interrogation“ (Miller 2003: 2) zu optimieren. Das bedeute für ihn allen voran ‚Verhörpraktiken‘ und Gefängnisorganisation denen in Guantánamo anzugleichen und sie eng miteinander zu verzahnen, kurz: „to GITMO-ize the operation“ (Karpinski zit. n. Taguba/Karpinski 2004: 92). Dazu übergab er schriftliche Dokumente zu ‚Verhörpraktiken‘ und -regeln in Guantánamo (DoA 2004c: 58), obwohl die USA anders als in Guantánamo und Afghanistan den Gefangenen die Rechte der Genfer Konventionen zusprachen. Ihn begleiteten mehrere Mitglieder der JTF-GTMO, die Folterwissen aus Guantánamo in die Militärgefängnisse des Irak brachten, indem sie dort beratend und trainierend tätig wurden (DoA 2004c: 59).Footnote 28 Zudem reiste auch JPRA-Personal zu Trainingszwecken in den Irak, um – ganz im Sinne des Reverse-Engineerings – das dortige Verhörpersonal mit den gewaltvollen SERE-Techniken vertraut zu machen (SASC 2008: 170–186).

Im Folterprogramm des US-Militärs diffundierte diskursives Folterwissen mittels interner Kommunikation durch Memoranden und anderen Dokumenten sowie durch Reisen von Personal zwischen verschiedenen Folterorten. Dieses Wissen ähnelt in Teilen dem theoretisierenden Folterwissen der CIA, sowohl in Bezug auf die Konzeptualisierung von Foltertechniken mit ihrem spezifischen Körper-Selbst-Verhältnis als auch der Abgrenzung von ‚klassischer Folter‘ und den damit verbundenen Konstruktionen von ‚Effektivität‘ und ‚Legalität‘ (wobei erste Konstruktion nicht als bloße Dienerin der zweiten verstanden werden kann). In beiden Fällen, welche miteinander über ‚Wissensflüsse‘ verbunden sind, finden sich in der Formulierung und Begründung von Handlungs- und Situationsentwürfen klare Bezüge zu psychologisch-militärisch-geheimdienstlichem Wissen, das im Kalten Krieg produziert wurde, insbesondere über kommunistische Feindmethoden. Die militärischen Dokumente zielen im Vergleich zu denen der CIA stärker auf die Gefangenen als Kollektive und nicht nur als individuelle Zu-Folternde. Aufgrund des Vorhandenseins des – grundsätzlich für Militärangehörige verbindlichen – US Army-Verhörmanuals (DoA 1992), das sich an den Genfer Konventionen orientiert, bestand von Beginn an Unklarheit über geltende Regeln, insbesondere im Irak. Das zeigt sich auch daran, dass es im innerbehördlichen Diskurs immer wieder Kritik an den Handlungsentwürfen und der ‚offensiven‘ Wendung von SERE-Wissen gab.

Während im CIA-Folterprogramm die Autorisierung und anschließende Verbreitung von diskursivem Folterwissen zentral vom Fall Abu Zubaydah ausging, ist dieser Prozess im US-Militär komplexer und undurchsichtiger. Zwar forcierten auch hier Teile der US-Regierung, insbesondere Haynes und Rumsfeld, gezielt die Hinwendung zu Folter als Mittel des Verhörs. Dennoch gab es für das US-Militär als Ganzes keine zentrale Autorisierung von Folter. Die Verbreitung von Folterwissen ist daher nicht ausschließlich als top-down-Prozess zu denken. Vielmehr besteht er aus dem Austausch von Wissen zwischen verschiedenen dem Verteidigungsministerium unterstellten Organisationseinheiten (JPRA, JTF-GTMO, US Central Command etc.) sowie zwischen solchen Einheiten und externen Behörden wie vor allem der CIA mittels schriftlicher Kommunikation und Personalreisen; ein Prozess, der nicht immer von höheren Ebenen autorisiert oder veranlasst wurde. Daher ist McCoys (2006: 5 f.) These arg vereinfachend, dass Ähnlichkeiten der Folter in Abu Ghraib mit CIA-Techniken (wie sie im KUBARK formuliert sind) beweisen würden, dass die CIA „the lead agency“ in Abu Ghraib und die Quelle von Folterwissen in den militärischen Folterorten gewesen sei.

Die beschriebenen ‚Wissensflüsse‘ betreffen vor allem das verschriftlichte Wissen über Foltertechniken, das heißt Wissen über deren Funktionsweisen mit ihren Körperbezügen und angezielten Effekten, ihren psychologischen Theoretisierungen und (innerbehördlichen) Legitimierungen. Damit ist keineswegs gesagt, dass die besprochenen diskursiven Wissensbestände die einzige Quelle für relevantes Folterwissen waren.Footnote 29 Zu denken wäre hier zum einen an weniger formalisiert übertragenes diskursives Wissen über vermeintlich spezifisch arabische oder islamische Verletzlichkeiten. Zum anderen ist davon auszugehen, dass auch Gewalterfahrungen am ‚eigenen Leib‘ der Soldat:innen inkorporiertes Wissen erzeugte, das in der Folter eingesetzt wurde. Nicht nur bei SERE-Trainings, das nur ein kleiner Teil der Militärangehörigen durchlaufen, sondern grundsätzlich müssen Soldat:innen in ihrer Sozialisation in militärische Institutionen Gewalt und Degradierungen erfahren; Erfahrungen, die auch als Gewaltwissen ‚offensiv‘ gewendet werden können (s. hierzu Inhetveen 2017: 109; Branao 2019; Inhetveen et al. 2020: 4). Zudem sind die in den vergangenen Kapiteln diskutierten Foltertechniken als Handlungsentwürfe grundsätzlich zu trennen von Folter als in sozialen Situationen vollzogene Praktiken. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Folternden ihre Gewalthandlungen unabhängig von den Verhörplänen, Memoranden und anderen Dokumenten ausübten. Wie bereits angedeutet, hatten solche textlichen Elemente durchaus Einfluss auf Foltersituationen.Footnote 30 Im Folgenden wende ich mich ereigneten Foltersituationen, deren Konstellierung und Verkettung sowie ihrem Verhältnis zu organisationalen Handlungsentwürfen zu.