Der US-Folterkomplex infolge des 11. September 2001 ist einerseits typisch für moderne Folter im Kontext von liberal-demokratischer Staatlichkeit, vor allem hinsichtlich ihres nicht-judikativen Charakters, dem Einfluss von wissenschaftlichem Wissen, der Priorisierung von spurenarmen Techniken (clean torture), der Rahmung in einen Ausnahmezustand und der (relativen) Geheimhaltung. Andererseits hat er auch einige Besonderheiten, auf die ich in diesem Kapitel verweisen werde. Diese sind insbesondere die globale Vernetzung von extraterritorialen Folterorten, die Kooperation mit einer Vielzahl von weiteren Staaten und die Autorisierung einzelner konkreter Foltertechniken bis in höchste Regierungskreise.

Am 17. September 2011, also sechs Tage nach den Anschlägen auf das World Trade Center und das Pentagon verfasste Präsident Bush ein Memorandum of Notification (MON) (SSCI 2014: 11), das bis auf einzelne Zitate nach wie vor klassifiziert ist. Darin übergab Bush dem damaligen Director of Central Intelligence George Tenet, und damit der CIA, weitreichende Kompetenzen, um Menschen gefangen zu nehmen und festzuhalten, „who pose serious threat of violence or death to U.S. persons and interests or who are planning terrorist activities“ (zitiert nach SSCI 2014: 11). Auch wenn das MON selbst noch keine Verhör- beziehungsweise Foltertechniken erwähnte,Footnote 1 ist es der Startpunkt des Rendition, Detention and Interrogation (RDI) Programms der CIA (teils auch „CTC Programm“ genannt, CIA 2004c: 6)Footnote 2, in dessen Rahmen der Geheimdienst begann, Foltertechniken zu verschriftlichen und anzuwenden, welche in einer gewissen Kontinuität mit dem Kalten Krieg standen. Sie tat dies in Absprache mit Regierungsstellen, insbesondere dem Office of Legal Counsel (OLC), das der CIA juristisch ‚den Rücken freihielt‘ (d. h. die Techniken in Memoranden außerhalb der Folter verortete). Mehr als 119 Männer wurden im Rahmen dieses Programms in Kooperation mit verschiedenen Staaten wie beispielsweise Pakistan entführt und in einem globalen Netz von Geheimgefängnissen (Blacksites) gefangen gehalten sowie gefoltert oder an Drittländer wie Jordanien, Ägypten oder Syrien ausgeliefert. Der Folterkomplex lässt sich trotz gegenseitiger Verknüpfungen organisational grob in diesen geheimdienstlichen Teil und einen zweiten militärischen Teil gliedern. Denn auch das von Donald Rumsfeld geführte US-Verteidigungsministerium entwickelte parallel zur CIA ein Folterprogramm, in dem infolge des Eingreifens in den afghanischen Bürgerkrieg US-Streitkräfte vermeintliche Mitglieder von Al-Qaida und Taliban in militärisch kontrollierten Gefängnissen und improvisierten Verhörzentren gefangen nahmen und teilweise folterten. Diese Orte befanden sich, wie die Gefängnisse in Bagram und Kandahar, in Afghanistan sowie auf Kuba; dort innerhalb des Stützpunktes der US-Navy in Guantánamo. Nach dem 2. Irakkrieg und dem Sturz Saddam Husseins 2003 entstanden auch im Irak ähnliche Folterorte, von denen Abu Ghraib nach der Veröffentlichung der Fotographien von Folterungen durch militärische guards traurige Berühmtheit erlangte. Spätestens mit dem Ende der Präsidentschaft Bushs Anfang 2009 endeten diese Folterprogramme als gezielte Politik im War on Terror. Dieser zweifellos relevante Bruch bedeutete allerdings kein endgültiges Verschwinden des Folterkomplexes, wie die Existenz des Gefangenenlagers in Guantánamo zeigt. Im März 2024 befanden sich noch 30 Gefangene dort (NYT 2024), die jedoch weniger schlimmen Haftbedingungen ausgesetzt sind als in der Zeit zwischen den Jahren 2002 und 2009.

Zu Beginn der Präsidentschaft von Barack Obama (2009–2017) untersuchte der Geheimdienstausschuss des von der demokratischen Partei dominierten US-Senats (Senate Select Committee on Intelligence, im Folgenden SSCI abgekürzt) das Folterprogramm der CIA. Eine Zusammenfassung des so entstandenen Untersuchungsberichts wurde 2014 veröffentlicht. Diese rund 500-seitige Zusammenfassung („The Senate Intelligence Committee Report on Torture“, SSCI 2014), die häufig nur ‚CIA-Folterbericht‘ genannt wird, bezeichnete die Praktiken des Geheimdienstes explizit als Folter. Bei einer Pressekonferenz im Zusammenhang ihrer Veröffentlichung tat dies auch Obama (zit. n. Lewis 2014) mit dem Satz „we tortured some folks“. Damit wurde das Folterprogramm erstmals von höchsten politischen US-Institutionen als solches anerkannt. Zwar war bereits 2008 ein Untersuchungsbericht des Senate Committee on Armed Services (SASC 2008) über das militärische Folterprogramm in Afghanistan, Guantánamo und Irak veröffentlicht worden. Der Bericht unterließ es aber, die untersuchten Praktiken explizit als Folter zu bezeichnen (stattdessen wird zumeist der Begriff „detainee mistreatment“ verwendet). Der Bericht des SSCI war in der Folge zudem eine wichtige Grundlage für die weitere öffentliche Aufarbeitung des Folterkomplexes, weiteren FOIA-Anträgen und dem Prozess Salim v. Mitchell (dem bislang einzigen zum Teil erfolgreichen gerichtlichen Verfahren in den USA gegen Verantwortliche des CIA-Programms, s. Einleitung zu Kapitel 2).

1 Ausnahmezustand und die Autorisierung von Folter

Die Bush-Administration reagierte auf die Terroranschläge vom 11. September 2001, bei denen knapp 3.000 Menschen getötet wurden, mit einer Politik des Ausnahmezustands, der die Etablierung der Folterprogramme rahmte. Drei Tage nach den Anschlägen erklärte Bush (2001c) einen nationalen Notstand, der seitdem nicht außer Kraft gesetzt wurde. Am 18. September autorisierte sodann der US-Kongress den US-Präsidenten dazu, die US-amerikanischen Streitkräfte einzusetzen „against those nations, organizations, or persons he determines planned, authorized, committed, or aided the terrorist attacks“ (107th Congress of the United States 2001). Die Gefahr solcher Anschläge sei zudem „unusual and extraordinary“. Diese Resolution war bemerkenswert: Mit ihr war nicht nur der Weg bereitet für einen Krieg gegen einen als ungewöhnlich und außerordentlich verstandenen Feind, sondern sie sprach dem Präsidenten gar die alleinige Deutungshoheit („he determines“) darüber zu, wer als diese Feinde zu gelten habe. Am 20. September verkündete Bush (2001a) den „war on terror“ und stellte die anderen Länder mit seinen berühmten manichäischen Worten, die einer Drohung gleichkamen, vor die Wahl: „Either you are with us, or you are with the terrorists“. Als die Taliban, die zu dem Zeitpunkt den afghanischen Bürgerkrieg im Wesentlichen für sich entschieden hatten, es ablehnten, Osama bin Laden an die USA auszuliefern, begann am 7. Oktober die Operation Enduring Freedom. Sie war der erste kriegerische Einsatz des US-Militärs im War on Terror und hatte zum Ziel, die Taliban zu stürzen sowie insbesondere Osama bin Laden und andere Al-Qaida-Anführer festzunehmen oder zu töten.

Die US-Regierung entschied sich mit diesen und weiteren Maßnahmen dazu, die Anschläge als illegitime kriegerische Handlungen zu begreifen und auf sie mit einem ‚Krieg‘ zu reagieren, der von Beginn an global angelegt war und in emischer Perspektive besondere Maßnahmen erforderte. Diese sich überschlagenden Ereignisse der US-amerikanischen Politik und ihre Langzeitfolgen analysierten sozialwissenschaftliche Autor:innen häufig in kritischer Bezugnahme auf die Theorien Carl Schmitts (2021) und Giorgio Agambens (2020) als Politiken des Ausnahmezustands (z. B. Krasmann 2007).Footnote 3 Obgleich die US-Regierung in den folgenden Jahren Niederlagen vor dem Supreme Court erfuhr, trat in der Folge eine Normalisierung der ‚Ausnahme‘ ein, die langfristig die exekutive Macht der US-Regierung ausweitete und demokratische Normen suspendierte (z. B. Förster 2016, 2018). Wichtig sind sie hier als Rahmung des Folterkomplexes. Die Kommunikationswissenschaftlerin Susanne Kirchhoff (2018) betont in Anschluss an die kognitive Metapherntheorie (Lakoff/Johnson 2011), dass der Begriff War on Terror eine folgenreiche Metapher war. Der Diskurs der US-Regierung (und auch der Massenmedien) vernachlässigte alternative Metaphoriken wie ‚Terror als Verbrechen‘, die andere Handlungen und Maßnahmen nahegelegt hätten (nämlich Strafverfolgung anstatt Krieg). Im Sinne der Kriegsmetaphorik gab die Regierung den Geheimdiensten und Streitkräften den Vorzug gegenüber polizeilichen Behörden wie dem FBI bei den Reaktionen auf die Anschläge. Entscheidend an dieser Ausrichtung der US-Politik war der Vize-Präsident Dick Cheney sowie ein selbsternanntes „war council“, dem laut der Journalistin Jane Mayer (2008: 66) John Yoo, David Addington, Timothy Flanigan, Alberto Gonzales und Jim Haynes angehörten, die als Juristen in unterschiedlichen Positionen für die Regierung tätig waren. Diese Gruppe war – ergänzt um den Assistant Attorney General Jay Bybee (OLC) – im weiteren Verlauf die treibende und durchführende Kraft bei der Autorisierung von Folter.

Wie eingangs beschrieben stellt das MON vom 17. September 2001, welches die CIA zur Gefangennahme und -haltung von Terrorverdächtigen autorisierte, bereits den Beginn des geheimdienstlichen Folterprogramms dar. Zwar nannte das MON noch keine Verhör- oder Foltermethoden, trotzdem suchten CIA-Mitarbeiter:innen bereits ab November 2001 vorsorglich nach Möglichkeiten, sich juristisch gegen Strafverfolgung aufgrund von Folteranwendungen verteidigen zu können (Raphael et al. 2019: 74). Ein Memorandum schlägt hierzu mit Bezug auf ein israelisches Gerichtsurteil eine „necessity defense“ (CIA 2001: 1) vor „to avoid prosecution of US officials who tortured to obtain information that saved many lives“. In dieser Formulierung zeigt sich deutlich die Legitimierung der Folter im Sinne der utilitaristischen Logik, die – wie in der Einleitung bereits erläutert – unter dem Schlagwort ticking bomb scenario die akademischen Diskurse um Folter im frühen 21. Jahrhundert prägte: Folter ist angemessen und damit legal, weil sie in Ausnahmen notwendig sei, um Informationen zu produzieren, die Leid verhindern („saved many lives“). Ungewöhnlich ist hier die explizite Bezeichnung von Folter („tortured“) für mögliche Handlungen von US-Beamt:innen. In späteren Dokumenten wie in einem Memorandum des OLC vom 1. August 2002 wurde dies vermieden, welches sich nun auch auf das Urteil des ECHR im Verfahren Ireland v. United Kingdom bezog (OLC 2002). Es definierte ‚Verhörtechniken‘ durch eine extreme juristische Engführung der Folterdefinition außerhalb von Folter (s. Abschnitt 7.2), führte die „necessity defense“ dabei aber fort. Nachdem die CIA ihren ersten Blacksite-Insassen Abu Zubaydah zu foltern begann, autorisierte das OLC auf Basis dieser Argumentationen spezifische Foltertechniken, am 1. August 2002 unter anderem Schlafdeprivation und das Waterboard (Bybee 2002). Die Foltertechniken waren zuvor von Mitchell (2002) vorgeschlagen worden und basierten auf Methoden, die an SERE-SchulenFootnote 4 eingesetzt wurden. Bei diesen militärischen Trainingsprogrammen, in denen Mitchell wie auch Jessen tätig waren, werden Soldat:innen, insbesondere Spezialeinheiten und Pilot:innen, unter anderem darin trainiert, feindlichen Verhören zu widerstehen und Informationen zurückzuhalten. Dabei werden sie potentiellen Foltertechniken, die auf Erfahrungen von US-Kriegsgefangenen basieren, ausgesetzt. Der Prozess der (Rück-)Wandlung von Trainingsmethoden zu Foltertechniken wird zumeist als „reverse-engineering“ bezeichnet (z. B. SASC 2008: 103). Obwohl die Autorisierungen der Foltertechniken zunächst nur für diesen individuellen Fall galten, wendete die CIA die Techniken bald regelmäßig an.

Das FBI war an den Verhören von Abu Zubaydah und anderen CIA-Gefangenen beteiligt, wobei es immer wieder zu Konflikten zwischen den beiden Behörden und deren Personal vor Ort kam (SSCI 2014: 27). Neben einer Konkurrenz über die Leitung der Verhöre ging es dabei auch um die Frage nach angemessenen Verhörmethoden. Das FBI pochte auf ihre standardisierten Techniken und protestierte gegen die Folter der CIA, denn sie sei erstens illegal, weshalb Informationen und Geständnisse vor Gericht keinen Bestand haben könnten, und zweitens ohnehin ineffektiv. Der erste Einwand spiegelt den polizeilichen Charakter des FBI wider, welches neben der intelligence-Produktion die Strafverfolgung im Blick hatte. Dem gegenüber war die CIA als Geheimdienst an zweitem nicht interessiert. In einem anderen Streit zwischen den beiden Organisationen über Verhörtechniken und Zuständigkeiten bezüglich des Gefangenen Ibn Sheikh al-Libi stellte sich die US-Regierung explizit auf die Seite der CIA – und nicht nur in diesem Fall (Mayer 2008: 106 f.).Footnote 5 Dadurch entschied sie sich ganz im Sinne der skizzierten Metaphorik des ungewöhnlichen Krieges und der Politik der Ausnahme dagegen, mit ‚gewöhnlichen‘ zivilen Strafverfolgungsmethoden gegen Terrorverdächtige vorzugehen.

Für den militärischen Teil des Folterkomplexes war Bushs (2001b) Military Order vom 13. November 2001 entscheidend, die einen „extraordinary emergency“ verkündete, der besondere Maßnahmen notwendig mache. Sie bestimmte, dass ausländische Terrorist:innen von den Streitkräften gefangen und auf unbestimmte Zeit festgehalten werden können. Außerdem sollten sie nicht von regulären US-Gerichten, sondern von militärischen Sondertribunalen verurteilt werden, bei denen die rechtsstaatlichen Regeln erheblich eingeschränkt waren und die der Kontrolle des DoJ, und damit der Judikative, entzogen wurde (Förster 2017: 309 ff.; Mayer 2008: 82). Im Februar 2002 folgte die vom war council vorbereitete Entscheidung, die Genfer Konventionen für den War on Terror als ungültig zu erklären (Bush 2002). Damit war das rechtliche Konzept der Unlawful Combatants verbunden, das Kämpfer:innen von Al-Qaida und Taliban weder den Status von Kriegsgefangenen noch den von Zivilist:innen zuerkannte – und somit den Schutz vor Folter verwehrte – mit der Begründung, sie führten keinen regulären Krieg und seien keine Vertragspartner:innen der Genfer Konventionen.Footnote 6 Solche Formen der Delegitimierung von Feinden waren auch in anderen Fällen von Folter durch das US-Militär, wie beispielsweise im amerikanisch-philippinischen Krieg, ein wichtiger begünstigender Faktor (Einolf 2018: 135 f.). Im Fall des War on Terrors wurden so rechtlich unbestimmte Subjektive geschaffen (Agamben 2020: 10). Mit dem Gefangenenlager in Guantánamo errichtete das US-Militär sodann einen Folterort, in dem die als unlawful combatants markierten Menschen außerhalb des regulären US-Rechtssystems festgehalten werden konnten. Für Judith Butler (2004: XVI) bedeutet das eine (rechtliche) Dehumanisierung: „the humans who are imprisoned in Guantánamo do not count as human; they are not subjects protected by international law“. Schließlich dienen die Genfer Konventionen als humanitäres universelles Recht dazu zu bestimmen, was als humane Behandlung zu gelten habe (s.a. Butler 2004: 81). Ähnlich wie im Folterprogramm der CIA folgten im militärischen Programm des Verteidigungsministeriums Autorisierungen von Foltertechniken als ‚Verhörtechniken‘ durch Donald Rumsfeld (2002), wobei die militärischen Instanzen teilweise mit der CIA um die Kontrolle über als wertvoll erachtete Gefangene konkurrierte (Mayer 2008: 195). In den Fällen der High Value Detainees Mohamedou Slahi und Mohammed al-Qahtani autorisierte Rumsfeld sogar individuelle Special Interrogation Plans mit speziellen Techniken (SASC 2008: 81–84, 135 f.).

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die umrissene Politik einerseits typisch für moderne Folter durch liberal-demokratische Staaten ist. Die Folter wird geleugnet, die autorisierten Techniken sind spurenarm (im Sinne der clean torture) und sie ist in einen Ausnahmezustand eingebettet, der die Praktiken als notwendig erscheinen lässt, um ‚Leben zu retten‘. Auch wird sie von militärischen und geheimdienstlichen Akteuren an als ‚besonders‘ verstandenen Feinden angewandt. Die Torture Memos nehmen zur Legitimierung und Legalisierung explizit Bezug auf die Folterkomplexe und deren rechtliche Behandlung anderer demokratischer Staaten (Israel und Nordirland), um die autorisierten ‚Verhörtechniken‘ in ‚Einklang‘ mit der globalen Anti-Folternorm zu bringen. Ungewöhnlich ist andererseits, dass Politiker:innen bis in höchste Regierungskreise der Bush-Administration eingebunden waren und sogar über einzelne Foltertechniken entschieden. Die Folter erscheint dabei nicht wie seit dem 19. Jahrhundert üblich (nur) als illegale und geheimvollzogene staatliche Praxis.Footnote 7 Sie ist vielmehr wie die europäisch-judikative Folter eng mit juristischen Praktiken und Diskursen verknüpft, aber auf andere Weise: Während die europäische Folter in der Frühen Neuzeit ein Rechtsmittel zur Wahrheitsfindung war, verbleibt sie im US-Fall offiziell illegal. Das Recht ist hier gleichsam ein Hindernis, das die juristischen Argumentationen der Torture Memos und die executive orders in ein instabiles Gleichgewicht mit den autorisierten Foltermethoden bringt. Dabei wurde durch exekutive Macht ein rechtlicher Raum geschaffen, in dem liberal-demokratische Normen außer Kraft gesetzt sind.Footnote 8 Eine weitere Besonderheit des US-Falls ist die globale Vernetzung von Folterorten, denen ich mich jetzt zuwende.

2 Folterorte I: CIA-Blacksites

Die Orte, an denen die Folterungen im War on Terror stattfanden, waren extraterritoriale und öffentlich nicht zugängliche Verhörzentren, Gefängnisse oder gefängnisartige Lager, die sich als totale Institutionen fassen lassen (s. Abschnitt 10.1). Sie lassen sich aufteilen in Guantánamo, die CIA-Blacksites und weitere militärisch kontrollierte Einrichtungen in Afghanistan und Irak. Über lokale und zeitliche Unterschiede der einzelnen Orte hinaus unterscheiden sich diese drei Typen hinsichtlich der räumlichen Struktur, den jeweils vor Ort autorisierten sowie angewandten Foltertechniken, dem zugesprochenen rechtlichen Status der Insass:innen, den materiellen und technischen Bedingungen, den eingebundenen Organisationen und deren Kontrolle über die Situationen, der Gefängnispopulation und der öffentlichen Sichtbarkeit.

Zwischen den Jahren 2002 und 2009 betrieb die CIA neben kleineren inoffiziellen safe houses mindestens zehn geheime Blacksites, die teils mit großen Geldsummen errichtet wurden (Raphael et al. 2019: 18).Footnote 9 Anders als bei den Fällen Abu Ghraib und Guantánamo gibt es keine öffentlich zugänglichen Bilder von den Orten. Das erste CIA-Gefängnis („Detention Site Green, SSCI 2014: 23) wurde im März 2002 in Thailand eröffnet. Der erste Gefangene des CIA-Programms war Abu Zubaydah, der zuvor von der pakistanischen Polizei verhaftet worden war (SSCI 2014: 21 ff.). Bis zu diesem Zeitpunkt unterhielt die CIA keine eigenen Verhörzentren, sondern hatte nur Zugang zu Gefangenen, die von kooperierenden Staaten oder dem US-Militär festgehalten wurden. Es folgten Blacksites in Afghanistan, Polen, Rumänien, Marokko, GuantánamoFootnote 10 und Litauen (Raphael et al. 2019: 36 f.). Dadurch entstand ein Netz an Folterorten, die durch Flugzeuge räumlich-institutionell miteinander verbunden waren, wobei Afghanistan das Zentrum bildete. Besondere Bedeutung in den Erzählungen von Folterüberlebenden hatte das Gefängnis Salt Pit in der Nähe von Kabul, da viele der CIA-Gefangenen diesen Ort durchliefen. Dieser Ort wird von den Überlebenden aufgrund ständiger Dunkelheit auch als Darkness oder Dark Prison (z. B. Salim/Smith 2017: 94) und im Bericht des SSCI (2014: 4) als „SITE COBALT“ bezeichnet. Die CIA bemühte sich darum, die Gefangenenpopulation ihres Programms gering zu halten (Raphael et al. 2019: 133 f.). Sie übergab Gefolterte an andere Staaten, das US-Militär oder ließ sie in seltenen Fällen frei (z. B. im Fall Khaled El-Masri, s. El-Masri o. J.). Nachdem die CIA 2006 alle verbliebenen 14 Gefangenen an militärische Instanzen in Guantánamo übergeben hatte, internierte sie kurzzeitig noch zwei letzte Gefangene in Blacksites. Ab März 2008 unterhielt die CIA schließlich nur noch zwei Blacksites, die bis zu deren endgültiger Schließung 2009 keine Insass:innen mehr erhielten (Raphael et al. 2019: 135).

Im Vergleich zu den anderen Folterorten des Folterkomplexes zeichneten sich diese Geheimgefängnisse durch eine geringe Population aus. Zeitweise hielt die CIA nur eine einzige Person in einer Blacksite gefangen, beispielsweise zwischen März und November 2002 Abu Zubaydah in Site Green. Die geringe Zahl an Gefangenen war in deren Einordnung als „High Value Detainee[s]“ (CIA 2004a: 2), also in der Annahme ihrer besonderen nachrichtendienstlichen Relevanz und hoher Stellung innerhalb von Al-Qaida, begründet. Damit verbunden war auch der größere Spielraum bei Foltertechniken, den die Regierung und das Justizministerium der CIA zusprach. So war beispielsweise Waterboarding nur für CIA-Blacksites autorisiert und wurde in seiner spezifischen Form wohl auch nur dort angewandt.Footnote 11

Wie oben bereits ausgeführt, beteiligten sich teilweise FBI-Agent:innen an Verhören, wie auch seltener Mitglieder nicht-US-amerikanischer Geheimdienste. Die räumliche Verortung in kooperierenden Staaten und die damit verbundene Abhängigkeit von deren Duldung führte teils zu organisatorischen Problemen (SSCI 2014: 23). Die organisationale Kontrolle der CIA auf das Geschehen innerhalb der Blacksites war insofern stark ausgeprägt, als Verhörpläne und Protokolle angefertigt und Verhöre videoaufgezeichnet wurden sowie die Gefängnisleiter:innen in Kontakt mit der CIA-Zentrale waren, welche durchaus direkten Einfluss auf die Folter nahm (s. bspw. Helgerson 2003: 23). Allerdings war diese Kontrolle lokal unterschiedlich ausgeprägt. Insbesondere über die Vorgänge im Salt Pit, in dem der Insasse Gul Rahman aufgrund der Folter starb, war die CIA-Führung nur bedingt informiert (SSCI 2014: 54). CIA-Blacksites waren zudem stärker als die anderen Folterorte geheim und der öffentlichen Sichtbarkeit entzogen. Nicht nur wurde die bloße Existenz des CIA-Programms erst bei der Übergabe der Gefangenen an das US-Militär von der US-Regierung öffentlich bestätigt (Bush 2006), mit Ausnahme von Site Green hielt die CIA die Standorte der Blacksites sogar den Regierungsmitgliedern gegenüber geheim, um das Risiko zu verringern, dass diese Orte publik werden (SSCI 2014: 23).Footnote 12

3 Folterorte II: Guantánamo

Das militärische Gefangenenlager in Guantánamo Bay auf Kuba wurde am 11. Januar 2002 eröffnet, als die ersten 20 Gefangenen aus Afghanistan dorthin transportiert wurden, was das DoD mit Fotographien der gefesselten und sensorisch deprivierten Ankömmlinge in orangenen Uniformen öffentlich inszenierte (Rosenberg 2022a). Im Februar 2002 waren bereits über 200 Insassen interniert (Worthington 2007: 125). Zuvor hatte es in der Bush-Administration seit Herbst 2001 Überlegungen gegeben, ein Lager unter US-amerikanischer Kontrolle außerhalb von Afghanistan und zugleich außerhalb der Reichweite von US-Gerichten als militärisches Verhörzentrum und Gefangenenlager zu nutzen (Philbin/Yoo 2001; Worthington 2007: 125 f.). Die Wahl fiel auf den Marinestützpunkt auf Kuba, der dem US Southern Command untersteht und dessen Fläche im Jahr 1903 von Kuba an die USA verpachtet worden war (Maran 2006: 152). Wie in den CIA-Blacksites und in den Folterorten in Afghanistan wurde den Gefangenen zunächst der Status als Kriegsgefangene und somit der Schutz der Genfer Konventionen verwehrt. Das ICRC hatte aber Zugang zum Lager. Mit insgesamt ca. 780 Insassen hatte das Lager eine deutlich größere Gefangenenpopulation als alle CIA-Blacksites zusammen.

Guantánamo durchlief seit seiner Gründung einige Wandlungen. Diese betreffen die räumliche und organisationale Struktur sowie den rechtlichen Status. Zunächst entstanden unter der Führung von General Michael Lenhart im Camp X-Ray provisorische, aus Käfigen bestehende Zellen – laut dessen Aussage innerhalb von nur 87 Stunden (Lehnert 2021).Footnote 13 Das Camp war in den 1990er Jahren als Flüchtlingslager genutzt worden (Ross/Rothe 2013: 146). Es entwickelte in der Folge eine differenzierte Infrastruktur. Drei Monate nach der Eröffnung wurden alle Gefangenen in das neu errichtete Camp Delta (bestehend aus Camp 1, 2 und 3) transportiert (Fletcher/Stover 2009: 5). Es folgten Camp 4, Camp Inguana und Camp Echo (Ross/Rothe 2013: 153). Die Camps mit ihrer jeweiligen Untergliederung in verschiedene Blocks waren mit der emischen Differenzierung der Gefangenen entlang zugesprochener Gefährlichkeit, Informationswert und ‚Kooperationsbereitschaft‘ sowie einem Privilegiensystem (s. Abschnitt 11.2) verknüpft. Damit einher ging die organisationale Strukturierung. Zu Beginn betrieben zwei lokale Untereinheiten des US Southern Command das Lager, die unterschiedliche Ziele verfolgten (Denbeaux et al. 2015: 9): Die Joint Task Force 160 (geleitet von Lenhart) war für die Organisation des Gefängnisses zuständig und die Joint Task Force 170 (geleitet von General Michael Dunlavey) für die Durchführung der militärgeheimdienstlichen ‚Verhöroperationen‘ (Fletcher/Stover 2009: 43 f.). Im November 2002 wurden beide Einheiten zur Joint Task Force Guantánamo (JTF-GTMO)Footnote 14 vereinigt und General Geoffrey Miller unterstellt. Zwar war die JTF-GTMO wiederum in die Joint Intelligence Group (JIG) und die Joint Detention Group (JDG) unterteilt. Dennoch wurden ‚Verhörpraktiken‘ und Gefängnisalltag unter Millers Leitung organisational eng miteinander verzahnt (s. Kapitel 11 zu der Bedeutung für Foltersituationen). Daneben operierten noch weitere Organisationen im Lager wie die Criminal Investigation Task Force (CITF), die die militärischen Gerichtsverfahren gegen Gefangene im War on Terror vorbereiten sollte (Mayer 2008: 188 f.). Die CITF war ebenfalls dem Verteidigungsministerium unterstellt, nicht aber dem Southern Command, und war zudem anders als die JTF-GTMO nicht damit beauftragt intelligence zu produzieren. Damit erfüllte sie polizeiähnliche Funktionen und hatte daher auch ähnliche Konflikte mit militärgeheimdienstlichem Verhörpersonal wie das FBI, welches ebenfalls in Guantánamo aktiv war. So protestierten beide Organisationen gegen den äußerst gewaltsamen Special Interrogation Plan für al-Qahtani (SASC 2008: 78 f., 84 ff.). An der Ausarbeitung dieses Verhörplans und allgemein der Etablierung von Foltertechniken war das der JIG zugeordnete Behavioral Science Consultation Team (BSCT) entscheidend beteiligt, das die ‚Verhöroperationen‘ durch (militär-)psychologische Expertise optimieren sollte sowie als ein Bindeglied zwischen Verhör- und medizinischem Personal fungierte (JTF-GTMO 2002). Schließlich führten auch die CIA sowie ausländische Geheimdienste Verhöre in dem Gefangenenlager durch oder waren an ihnen beteiligt (s. z. B. Slahi 2017: XXIII, 204; Rasul et al. 2004: 107). Verhöre und sogar der Alltag in den jeweiligen Blocks wurde grundsätzlich von Kameras aufgezeichnet (Denbeaux et al. 2008).

In den mehr als 20 Jahren seines Bestehens wandelte sich auch der rechtliche Status des Lagers sowie seiner Insassen. Zunächst hatten die Gefangenen keinerlei Zugang zu Anwält:innen und keine Möglichkeit juristisch gegen ihre Internierung vorzugehen. Dies änderte sich, als Ende 2002 das Center for Constitutional Rights (CCR) im Namen der – zumeist als Tipton Three bezeichneten – britischen Insassen Shafiq Rasul, Ruhal Ahmed und Asif Iqbal sowie dem Australier David Hicks das Verfahren Rasul v. Bush bemühte (von dem diese vertretenen Insassen nichts erfuhren; s. Margulies 2006: 76).Footnote 15 Der Supreme Court erklärte 2004 in letzter Instanz die Militärtribunale der Military Order für illegal. Er urteilte weiter, dass, obgleich das Lager außerhalb der USA verortet ist, die Insassen gegen ihr Festhalten mit Habeas-Corpus-PetitionenFootnote 16 vorgehen können. Das Urteil (Stevens 2004) ermöglichte bedingten Zugang von Anwält:innen zu Gefangenen und führte zu ersten Entlassungen. Nach dem anschließenden Gerichtsverfahren Hamdan v. Rumsfeld (Stevens 2006) wurde den Insassen zudem gegen den Willen der US-Regierung der Status von Kriegsgefangenen zugesprochen.Footnote 17 Hoffnungen aber, dass diese eingeschränkte Integrierung von Guantánamo in das US-amerikanische Rechtssystem zur Schließung des Folterortes führen würde, erfüllten sich nicht; stattdessen wandelte sich Guantánamo von einer „interrogation chamber“ mit ex- und intensiver Folteranwendung hin zu einem „long-term detention center“, wie es der in das erste Verfahren des CCR involvierte Anwalt Joseph Margulies (2012) ausdrückt.

Auf das Urteil des Supreme Court hin wurden die Combatant Status Review Tribunals eingerichtet, die bis 2009 über den Status der einzelnen Gefangenen bestimmten und entschieden, ob sie an Drittstaaten überführt werden können. Zwischen 2009 und 2010 teilte sodann die Guantánamo Review Task Force die verbliebenen 240 Insassen in drei Gruppen auf – nämlich in solche, die angeklagt, an andere Staaten überführt oder ohne Anklage weiter gefangen gehalten werden sollten. Seit 2013 entscheidet das Periodic Review Board regelmäßig darüber, ob die Internierung der verbliebenen Kriegsgefangenen ‚notwendig‘ ist (NYT 2024). Die meisten ehemaligen Häftlinge wurden in andere Staaten überführt. Neun Insassen starben während ihrer Gefangenschaft in Guantánamo.Footnote 18 Im März 2024 befanden sich noch 30 Insassen im Lager. Davon sind 16 zur Überführung an Drittstaaten freigegeben.Footnote 19 Nur ein Gefangener ist verurteilt. Zehn sind angeklagt, vier von ihnen wegen Beteiligung an den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Das eigentliche Gerichtsverfahren hat über 20 Jahre nach dem Verbrechen durch Al-Qaida (Stand: März 2024) noch nicht begonnen (Rosenberg 2024). Die restlichen drei Gefangenen, darunter Abu Zubaydah, verbleiben im rechtlichen „limbo“ (Maran 2006: 172) ohne Anklage oder Autorisierung zur Entlassung.Footnote 20 Die Schwierigkeiten, Gefangene rechtsmäßig zu verurteilen oder überhaupt vor Gericht zu stellen, sind vor allem in den Folterungen, unter deren Einfluss Aussagen erzwungen wurden, begründet. Dies unterstreicht erneut, dass es bei den Gefangennahmen und Verhörpraktiken nicht oder höchstens zweitranging darum ging, Verantwortliche des Terrorismus juristisch zu belangen.

Seit der Gründung des Gefangenenlagers beschäftigt sich mit ihm eine Großzahl von Veröffentlichungen von Journalist:innen, Menschenrechtsorganisationen und Akademiker:innen. Neben dem Aufdecken von Vorgängen und der Gewalt vor Ort, vor allem in der frühen Phase des Camps (s. bspw. HRW 2004; AI 2005; CCR 2006; Worthington 2007; Denbeaux et al. 2008), steht häufig der besondere Status des Ortes und seiner Insassen aus juristischer Perspektive im Vordergrund (Maran 2006; Margulies 2006; Jenks/Jensen 2011; Zevnik 2011). Ein anderer Teil der Literatur kritisiert die offiziellen Narrative des DoD. Das betrifft zum einen die vermeintliche Gefährlichkeit der Insassen. Bereits 2006 zeigte das Center for Policy and Research an der Seton Hall Law School in einem vielbeachteten Bericht, dass selbst nach Daten, die das DoD veröffentlichte, nur 8 % der Gefangenen als Kämpfer von Al-Qaida eingestuft wurden (Denbeaux et al. 2006: 9). Daran anschließend bezweifeln Autor:innen häufig auch die offiziellen legitimierenden Funktionen des Lagers, namentlich dem Festhalten gefährlicher Feinde, deren Verurteilung vor Militärgerichten und die Produktion von relevanter intelligence. Guantánamo diene primär als verstecktes Laboratorium für geheimdienstlich-psychologische Experimente (Denbeaux et al. 2015).Footnote 21 In sozialwissenschaftlicher Perspektive kann – unter Berücksichtigung der demonstrativen, aber eingeschränkten SichtbarmachungFootnote 22 des Ortes durch das DoD – Guantánamo auch als auf äußere Dritte gerichtete Kommunikation verstanden werden. Für den Politikwissenschaftler John Hickman (2013) beispielsweise ist die Einrichtung des Gefangenenlagers als symbolische Rache, Strafspektakel und Machtdemonstration zu verstehen. Ähnlich argumentieren sowohl der Sozialwissenschaftler Andrew Neal (2007) und der Religionswissenschaftler Mattias Gardell (2008) unter Bezugnahme auf die Machttheorie Foucaults sowie des Ausnahmezustands von Schmitt und Agamben, dass sich in Guantánamo eine eigentümliche Mischung aus Souveränitäts-, Disziplinar- und Biomacht zeige (s.a. Wilcox 2011 in Bezug auf die Zwangsernährung in Guantánamo). So handelt es sich bei den Bildern von in Käfigen gefangenen und gefesselten Körpern in orangenen Uniformen für Gardell um die Darstellung globaler Souveränitätsmacht, die zugleich auf eine globale Disziplinierung zielt.

Diese Kritiken am legitimierenden Diskurs um Guantánamo sind implizit mit dem Begriff (Gefangenen-) ‚Lager‘ verbunden, mit der der Ort in den öffentlich-medialen Diskursen gewöhnlich charakterisiert wird. Diese Bezeichnung ist auch in der Perspektive der kultur- und sozialwissenschaftlichen Lagertheorien berechtigt (s. hierzu auch Greiner 2011). In Fällen von Lagerinstitutionen separieren Staaten Menschen aufgrund zugesprochener kollektiver Eigenarten (wie Ethnizität) von der restlichen Gesellschaft an räumlich und rechtlich abgegrenzten liminalen Orten, die tendenziell von einem Provisorium zu Dauereinrichtungen werden und an denen andere (und teils unklare) Regeln als in der sozialen Umgebung gelten (Bochmann i.E.). Diese allgemeinen Merkmale treffen prinzipiell auf Guantánamo zu. Jedoch ist die Relevanz von kollektiven Merkmalen nicht immer eindeutig. Zwar ist die gruppenbezogene Einordung der Insassen als jihadistische Terroristen, enemy combatants und männliche Muslime klar erkennbar. In der emischen Legitimierung des Lagers aber sind auch zugesprochene individuelle Vergehen der Insassen ausschlaggebend (was Guantánamo näher an die Institution Gefängnis rücken würde); eine Perspektive, die, wie oben geschildert, zu Recht kritisiert wurde. Die Frage danach, ob Guantánamo mehr einem Gefängnis oder mehr einem Lager ähnelt, ist also gleichsam politisch und in die Debatten um diesen Ort impliziert. Analytisch ist die Rationalisierung von Guantánamo als Verhörzentrum mit dem Ziel der intelligence-Produktion jedoch nicht als bloße Legitimierung von der Hand zu weisen. Sie war zeitweise für Verhörsituationen, in denen Insassen auch als Individuen befragt und gefoltert wurden, und für die Organisation der Camps in der frühen Phase des Lagers empirisch relevant (s. Kapitel 11). In dieser Hinsicht ähnelte die Situation der Gefangenen zugleich einer Untersuchungshaft in einem Gefängnis. Daher bezeichne ich im Folgenden das Lager teilweise auch als ‚Gefängnis‘, wenn ich diese Aspekte betonten möchte – freilich ohne mir die Legitimierung dieses Folterortes zu eigen zu machen.

4 Folterorte III: Militärgefängnisse und -lager in Afghanistan und Irak

Neben CIA-Blacksites und Guantánamo gab es mehrere dem US Central Command und somit dem DoD unterstellte Folterorte in Afghanistan und dem Irak, von denen Abu Ghraib in den medialen und akademischen Diskursen besondere Aufmerksamkeit erhielt. In Afghanistan waren diese vor allem Bagram und Kandahar; im Irak Abu Ghraib, Camp Bucca und Camp Fallujah. Diesen Orten ist gemeinsam, dass sie eine vergleichsweise hohe Gefangenenpopulationen hatten,Footnote 23 über die nicht im gleichen Maße detaillierte Informationen verfügbar sind wie zu den Insassen in CIA-Blacksites und Guantánamo. Die Folterorte – besonders im Irak – waren zudem in die umgebenden counterinsurgency-Konflikte eingebettetFootnote 24 und weniger gesichert. So konnten beispielsweise Gefangene aus Kandahar (Worthington 2007: 103), Bagram (Raphael et al. 2019: 57) und Abu Ghraib (Taguba 2004: 20 f.) fliehen. Derartige Vorgänge wären für CIA-Blacksites kaum und noch viel weniger für Guantánamo vorstellbar gewesen.

Nach der Invasion von Afghanistan unter amerikanischer Führung wurde im Dezember 2001 ein Gefangenenlager (Kandahar Collection Point) am Flughafen von Kandahar als erstes US-amerikanisches Verhörzentrum im War on Terror eingerichtet (Hajjar 2011: 9).Footnote 25 Vermeintliche Mitglieder von Taliban und Al-Qaida waren zuvor von afghanischen Kräften wie dem Warlord Rashid Dostum, teils mit Unterstützung von US-amerikanischen Spezialkommandos, festgenommen und in Scheberghan und anderen Orten gefangen gehalten worden, bevor sie an reguläre US-amerikanische Streitkräfte übergeben (bzw. nicht selten gegen Kopfgeld verkauft)Footnote 26 wurden; so auch die Tipton Three. In diesen nicht US-geführten Gefängnissen war aber US-amerikanisches Personal prinzipiell anwesend und führte Verhöre durch (HRW 2004: 3; s.a. Rasul et al. 2004: 6 ff.). In der Folge entwickelte sich ab März 2002 der ehemalige sowjetische Flughafen bei Bagram zum Zentrum der militärischen Verhöroperationen und Folter in Afghanistan (Bagram Collection Point). Er war wie Kandahar Ausgangspunkt von vielen Transporten nach Guantánamo (Worthington 2007: 170). Zwischen den Folterorten in Afghanistan und Guantánamo bestand darüber hinaus ein Austausch von Informationen (inklusive über ‚Verhörtechniken‘) und Personal (DOA 2004: 20 f.). Bagrams Gefangenenpopulation wuchs bis Mai 2005 auf über 400 Insassen an, die keine Möglichkeit hatten, rechtlich gegen ihre Internierung vorzugehen (Hajjar 2011: 11). Im Dezember 2002 starben dort zwei Gefangene aufgrund von Folter, was zu einer militärstrafrechtlichen Untersuchung (DoA 2008), aber nicht zu Verurteilungen führte (Golden 2005; Gibney 2007). Wie in Camp X-Ray bestanden die Zellen aus Käfigen (Al Darbi 2009: 3). Trotz der Entscheidung der US-Regierung, die Genfer Konventionen für den War on Terror für ungültig zu erklären, hatte das ICRC teils Zugang zu dem Gefängnis. Wie auch im Irak und Guantánamo operierten zudem das FBI und die CIA in den afghanischen Militärgefängnissen (DoJ 2009a: 63).

Grundsätzlich ähnelten die Folterorte im Irak jenen in Afghanistan. Auch hier nutzte das US-Militär bereits vorhandene Infrastrukturen wie das Gefängnis Abu Ghraib, das bereits vor der Invasion von 2003 für Folter berüchtigt war (Binder 2013: 282 f.). Die ‚Verhör‘- und Internierungspraktiken wurden zudem nicht zuletzt durch die Versetzung von General Miller in den Irak denen in Guantánamo und Afghanistan angeglichen (SASC 2008: 189–199). Jedoch gibt es fünf wesentliche Unterschiede zu den militärisch geführten Folterorten in Afghanistan. Erstens wurde die globale Öffentlichkeit auf die Folter durch US-amerikanische Soldat:innen primär durch die berüchtigten Fotographien aus Abu Ghraib im April 2004 aufmerksam, die unter anderem nackte gefesselte und sensorisch deprivierte Männer in demütigen Posen zeigten, ebenso wie dabei lachende US-amerikanische MPs.Footnote 27 Die so hergestellte extreme Sichtbarkeit der Foltergewalt – mehr als diese Gewalt selbst – war eine Besonderheit von Abu Ghraib. Auch in Camp Bucca (HRW 2004: 28) und in Camp Fallujah (Fair 2016: 107–135) kam es zu Folterungen. Ganz im Gegensatz zu jenen Bildern aus Guantánamo, die das DoD selbst inszenierte und publizierte, waren die Bilder aus Abu Ghraib nie für die Öffentlichkeit gedacht gewesen. Sie waren aber wohl Teil einer gezielten Strategie, um die Gefangenen mit der Drohung zu erpressen, die Bilder den Angehörigen zu zeigen (Hersh 2004). Zweitens hatte Abu Ghraib mehr noch als andere Militärgefängnisse eine sehr hohe Population, der vergleichsweise wenig Personal gegenüberstand. Zeitweise fasste das Gefängnis rund 7.000 Gefangene – bei gerade einmal 92 MPs in der Funktion von guards (Rothe 2013: 170). Drittens gibt es Berichte von weiblichen Insassinnen, die schwere sexuelle bzw. sexualisierte Gewalt durch Wachpersonal erfuhren (Harding 2004; Church III 2005: 296 ff.). Viertens sprach die US-Regierung den Gefangenen im Irak den Status von Kriegsgefangenen zu. Daraus folgten größere lokale Unklarheiten über geltende Regeln und eine Verantwortungsdiffusion; denn die Gewalt gegen Gefangene sowie die aus Afghanistan und Guantánamo migrierten ‚Verhörtechniken‘ erschienen damit auch aus organisatorischer Perspektive stärker als Devianz. Fünftens waren neben verschiedenen DoD-Organisationen, der CIAFootnote 28 und dem FBI auch die Sicherheitsunternehmen Titan und CACI in den Folterorten im Irak aktiv, deren Personal sich an Verhören und Foltergewalt beteiligte. Diese Einbindung von weiteren privatwirtschaftlichen Organisationen steigerte noch die unklaren Verantwortlichkeiten und Regeln.

Dem politischen Skandal, den die Bilder 2004 auslösten, kamen ein Bericht des ICRC (2004) und eine DoD-interne Untersuchung (Taguba 2004) zuvor, die systematische Gewalt an den Gefangenen in Abu Ghraib – häufig durch MIs durchgeführt oder angeordnet – feststellten. Nach der Veröffentlichung der Fotographien folgten weitere vom DoD beauftragte Untersuchungen (Church III 2005; Schlesinger et al. 2004; DoA 2004c). Sie stellten allesamt Vergehen des Gefängnispersonals fest, waren aber jeweils auf bestimmte Zeiträume und Organisationseinheiten beschränkt.Footnote 29 Auch deshalb unterließen diese Berichte es, Verantwortliche auf hierarchisch höheren Ebenen zu benennen.Footnote 30 Entsprechend hatten die wenigen Soldat:innen, die angeklagt wurden, niedrige Ränge (Rothe 2013: 175; Binder 2013: 394).

Auf den Skandal folgten zudem akademische und journalistische Auseinandersetzungen mit dem Folterort. Ein Strang dieser Literatur bemüht sich, ähnlich wie bezüglich Guantánamo, die offiziellen Narrative der Bush-Administration und des US-Militärs zu entkräften – in dem Fall die Unterstellung, es handelte sich bei der Foltergewalt um Einzelfälle, also um Taten weniger individueller Soldat:innen (‚a few bad apples‘). Diese Literatur zeigt dagegen den systematischen Charakter der Folter und die Einbindung in den Folterkomplex auf. Sie tut dies, indem sie die organisationalen Verknüpfungen mit den anderen US-Folterorten sowie politische Verantwortlichkeiten benennt, wobei zugleich die Uneindeutigkeit von Regeln und Anweisungen sowie die damit verbundene Verantwortungsdiffusion berücksichtigt wird (Danner 2004; HRW 2004; Huggins 2005; Monahan/Quinn 2006; Gourevitch/Morris 2008; Rothe 2013). Andere Autor:innen fragen nach den politischen und medialen Diskursen um den Skandal (Binder 2013), wobei häufig die Täterinnenschaft der beiden MPs Lynndie England und Sabrina Harman im Vordergrund steht (Banihaschemi 2006; Gronnvoll 2007), sowie auf die geschlechtlichen, sexualisierten und kulturellen Bezüge der Foltergewalt fokussiert (Butler 2008; Caldwell/Mestrovic 2008; Caldwell 2012; Spens 2014; Case 2018; Puar 2018: 79–113; Eichert 2019).

Die Folterorte im War on Terror waren global verteilte und vernetzte Gefängnisse und Gefangenenlager. Die emische Differenzierung der Gefangenen hing tendenziell mit denen der Orte, Organisation, gewünschter intelligence und (autorisierten und/oder angewendeten) Foltertechniken zusammen, ebenso wie den zur Verfügung gestellten Ressourcen. Während in CIA-Blacksites viele Gelder flossen,Footnote 31 nur wenige Insassen interniert waren, denen zunächst ein besonders großer Informationswert zugesprochen wurde, und gewaltvollere Foltertechniken von höchsten Regierungskreisen autorisiert waren, die zum Teil in individuellen Verhörplänen verschriftlicht wurden, befand sich Abu Ghraib am anderen Ende der Skala: dort gab es hohe Gefangenenpopulationen, unklare Zuständigkeiten und Regeln bezüglich ‚Verhörtechniken‘ sowie Ressourcenmangel (z. B. hinsichtlich Personal und Ausrüstung). Das Gefangenenlager Guantánamo hat als ein dritter Typ in seinem über 20-jährigen Bestehen individuelle, insbesondere rechtliche, Wandlungen durchlaufen. In seiner Anfangszeit ähnelte es aber den Blacksites der CIA insofern, als dass es mit großen Ressourcen ausgestattet war sowie es mit den Special Interrogation Plans für die beiden als ‚wertvoll‘ erachteten Insassen Slahi und al-Qahtani auch individuelle Folterpläne gab, die von der US-Regierung autorisiert wurden.

Obwohl es berechtigte Zweifel gibt, was die Relevanz der Informationsgewinnung als Motiv der Folter angeht – sowohl für moderne Folter im Allgemeinen als auch für den US-Fall im Speziellen – sei an dieser Stelle doch nochmals betont, dass in der jeweiligen Anfangszeit der Orte starker Druck auf Verhörpersonal ausgeübt wurde, intelligence zu produzieren. In den Lagern des Afghanistankrieges hieß das vor allem: Aufenthaltsorte von bin Laden und anderen führenden Al-Qaida-Mitgliedern (Worthington 2007: 98); in CIA-Blacksites und Guantánamo anstehende Anschlagspläne infolge des 11. September (s. z. B. Helgerson 2003: 23) und vermeintliche Kooperationen zwischen Al-Qaida und dem irakischen Staat (SASC 2008: 41); und im Irak Hinweise auf angebliche Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein (Fair 2016: 90, 93). In der frühen Phase des War on Terror gab es also auch eine tendenzielle Differenzierung entlang der Folterorte, was die gewünschten Informationen anging. Im Folgenden verzichte ich darauf, die Orte getrennt zu diskutieren. Die aufgezeigten Unterschiede und Gemeinsamkeiten sind dabei aber zu bedenken.