Das Verständnis von Folter ebenso wie ihr institutionelles Setting, ihre Funktion, kosmologische Rahmung und nicht zuletzt ihre Methoden sind Wandlungen unterworfen. In der (sozial-)wissenschaftlichen Literatur zu Folter werden solche Wandlungen vor allem vor dem Hintergrund einer Unterscheidung zwischen ‚vormoderner‘, mittelalterlicher bzw. frühneuzeitlicher und zumeist europäischer Folter auf der einen Seite und modernen Ausprägungen ab dem frühen 20. Jahrhundert auf der anderen Seite diskutiert. Im Folgenden setze ich das Phänomen Folter nicht in Bezug zu soziologischen Modernisierungstheorien oder entwickle gar eine eigenständige folterbezogene Modernisierungstheorie. Vielmehr soll unter Bezugnahme auf vorhandene Literatur eine historische Kontextualisierung des US-Falls erfolgen. Neben der Verlagerung von Folter als legaler Bestandteil von Rechtsverfahren (im Folgenden judikative Folter genannt) hin zu geheimer Anwendung durch staatliche Akteure wie Geheimdienste, Polizei und Militär sowie einer geringeren Relevanz der Funktion der Wahrheitsfindung wird der wissenschaftliche Charakter, d. h. der Einfluss moderner wissenschaftlicher Expertise auf Foltertechniken, als Merkmale moderner Folter genannt. Für den letztgenannten Aspekt kann der US-Fall geradezu exemplarisch gelten. Denn anhand organisationaler Dokumente lässt sich eine in hohem Maße auf psychologischem Wissen basierende emische Foltertheorie rekonstruieren. In der Einleitung des 1963 fertiggestellten ‚Verhörmanuals‘ „KUBARK Counterintelligence Interrogation“ der CIA (1963) heißt es:Footnote 1

The interrogation of a resistant source who is a staff or agent member of an Orbit intelligence or security service or of a clandestine Communist organization is one of the most exacting of professional tasks. […] In such circumstances the interrogator needs all the help that he can get. And a principal source of aid today is scientific findings. The intelligence service which is able to bring pertinent, modern knowledge to bear upon its problems enjoys huge advantages over a service which conducts its clandestine business in eighteenth century fashion (CIA 1963: 2).

Die im Manual diskutierten Methoden sollen also – anders als unmoderne Geheimdienste „in eighteenth century fashion“ – „scientific findings“ und „modern knowledge“ nutzen. An einer anderen Stelle grenzt sich das Manual zudem explizit von ‚klassischer‘ Folter ab (CIA 1963: 94). Ein solches modernes und wissenschaftlich-informiertes Selbstverständnis findet sich auch in der Zeit des War on Terror und wird in Kapitel 8 genauer analysiert. An dieser Stelle sei nur betont, dass auch in emischer Perspektive der Folter einsetzenden US-Organisationen die Distinktion zwischen modernen und nicht-modernen Folter- bzw. Verhörtechniken relevant ist.

Das KUBARK-Manual wurde 1997 nach einem auf dem FOIA-Antrag durch The Baltimore Sun zusammen mit dem in Schulungen in Honduras eingesetzten Manual Human Resource Exploitation Training Manual (HRET) (CIA 1983), welches auf dem ersten Manual basiert, deklassifiziert und damit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht (Cohn et al. 1997). Nur ein Jahr zuvor waren nach einer internen Untersuchung des US-Verteidigungsministerium (s. Michel 1992) auch geheime Schulungsunterlagen der umstrittenen School of the Americas (SOA) publik geworden, mit denen das US-Militär lateinamerikanische Sicherheitskräfte unter anderem in Aufstandsbekämpfung und Folter unterrichtet hatte (Priest 1996; s.a. Gill 2004: 49, 212). Diese Schulungsunterlagen bestätigten den Verdacht, dass die USA Foltermethoden nach Südamerika und an andere Orte verbreitet hatten. Beispielsweise schreibt der Historiker Peters (1991: 209) in seinem Werk über die Geschichte der Folter, das zum ersten Mal 1985 veröffentlicht wurde, bereits von Gerüchten über geheime US-Folterschulen (s.a. Radtke 1979: 5; Lemoyne 1988).Footnote 2 Diese Enthüllungen in den 1990er Jahre über die gezielte Diffusion von Foltertechniken durch das US-Militär und die CIA reihen sich ein in enttäuschte Hoffnungen auf ein weitgehendes Verschwinden von Folter in ähnlicher Weise wie beispielsweise Sklaverei (Nowak 2012: 9). Denn obwohl Folter zwar völkerrechtlich global und absolut verboten ist, bleibt sie eine übliche Praxis moderner Staaten. Wieso die Hoffnungen bisher enttäuscht wurden – zumal Folter bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts als überwunden galt und ihre Delegitimierung als ‚barbarisch‘ und ‚unzivilisiert‘ lange vor ihrem globalen Verbot begann – ist eine zentrale Frage von akademischen Auseinandersetzungen mit dem Phänomen moderner Folter. Wie ist also die Persistenz oder Wiederkehr der Folter zu erklären? Und wie unterscheidet sich die Folter des 20. und 21. Jahrhunderts von vorherigen Formen?

1 Vormoderne Folter in Europa

Zumeist wird die Geschichte der vormodernen Folter in Hinblick auf das europäische Rechtswesen des Mittelalters und der frühen Neuzeit sowie dessen antiken griechischen und römischen Vorläufern betrachtet (siehe beispielsweise Ruthven 1978; Peters 1991). Auch das ursprünglich 1910 erschienene zweibändige Werk „Die Tortur. Geschichte der Folter im Kriminalverfahren aller Völker und Zeiten“ von Franz Helbing (1999a, 1999b) behandelt seinem Titel zum Trotz fast ausschließlich Europa. Dennoch und obwohl es mit orientalistischen Deutungen (Said 2012) bis hin zu starken kulturalistischen Abwertungen durchzogen ist,Footnote 3 bietet es interessante Einblicke in die (europäische) Foltergeschichte. Helbing versteht das Erzwingen von Aussagen mit gewaltsamen Mitteln als „leider zu natürlich, zu menschlich“ (Helbing 1999b: 257) als dass Folter im Sinne eines Diffusionismus einen bestimmbaren Ursprung habe. Vielmehr geht er davon aus, dass sie oder ihr ähnliche Praktiken wie Ordalien (Helbing 1999a: 13–29) auch in den meisten Gesellschaften ohne überlieferte Folterwesen unabhängig voneinander angewandt wurden, sofern eine Art Kriminalverfahren vorhanden war (Helbing 1999a: 89).Footnote 4 Auch wenn dieses Argument nicht unplausibel ist, entbehrt es sich freilich empirischer Überprüfbarkeit. Neben ‚westlichen‘ Gesellschaften gibt es nämlich nur wenig historische Evidenz von ‚vormoderner‘ judikativer Folter (Einolf 2007: 108). Zu nennen sind hier jedoch zumindest Russland (Helbing 1999a: 86–89; Peters 1991: 131–134), das Osmanische Reich (Peters 1991: 129), Persien/Iran (Rejali 1994; Lincoln 2009) und Japan (Peters 1991: 129 f.).

In Griechenland tauchte Folter im 5.–4. Jahrhundert v. Chr. zusammen mit der Entstehung von Prozessen zur Lösung von Rechtstreitigkeiten auf (Peters 1991: 33–41). In den polis waren Freie von der Folter ausgeschlossen. Sie betraf daher vor allem Sklav:innen und Kriegsgefangene. Erste wurden nicht nur bei vermeintlichen Vergehen gefoltert, sondern auch, wenn sie als Zeug:innen aussagen sollten. Prinzipiell wurde ihren Zeugenaussagen nämlich ein geringerer oder kein Wert zugesprochen. Erst unter Folter wurden diese im Gerichtsverfahren anerkannt. Das antike Rom übernahm viele hellenische Rechtsverfahren, so auch die Folter, deren Anwendung es ausdehnte. Anders als in Griechenland konnten ab dem frühen Kaiserreich zunehmend auch freie Bürger:innen gefoltert werden. Dies betraf Christ:innen (Peters 1991: 49 f.) und andere des Hochverrats verdächtige Personen (Peters 1991: 52 f.). Die rechtlichen Bedingungen für Folter von Freien wurden bis zum 4. Jahrhundert zudem auf weitere Vergehen ausweitetet (Peters 1991: 59).

Wahrscheinlich führte das Ende des Weströmischen Reichs zunächst zu einem Rückgang von Folter in Europa (Peters 1991: 55 f.). Zwar ging das römische Recht in vielen Belangen, inklusive der Folter, in dem kanonischen Recht der katholischen Kirche auf, welches sich im Lauf des Mittelalters in Europa ausbreitete. Jedoch schien die Kirche zunächst nur wenig oder gar keinen Gebrauch von der Folter zu machen und stand ihr kritisch gegenüber (Helbing 1999a: 85 f.). Dies änderte sich erst im Zuge einer „Rechtsrevolution“ (Peters 1991: 69) ab dem 12. Jahrhundert. Das römisch-kanonische Recht wurde zunehmend akademisiert, systematisiert und rationalisiert (Peters 1991: 85 ff.). In gewissem Sinne kann hier bereits eine ‚Verwissenschaftlichung‘ der Folter gesehen werden. Jedoch bestand sie nicht wie ab dem 20. Jahrhundert in einem Einfluss medizinischen und psychologischen Wissens, sondern betraf ausschließlich die Rechtswissenschaft. Waren bis dahin noch Gottesurteile wie der Zweikampf üblich, wurde nun die menschliche Urteilskraft der Richter in den neuen Inquisitionsverfahren ausschlaggebend, sowohl in kirchlichen als auch weltlichen Gerichten. In der dabei entwickelten strengen Beweishierarchie kam dem Geständnis der Angeklagten die höchste Stellung zu. Wenn weniger als zwei Zeug:innen vorhanden waren, war das Geständnis die einzige Möglichkeit zur Verurteilung, denn Indizien waren hierzu nicht ausreichend (Langbein 2006: 4).Footnote 5 Peters sieht darin die primäre Ursache für das vermehrte Auftreten der Folter, die der Wahrheitsfindung diente (Peters 1991: 69). Allerdings musste ein unter Folterschmerzen gemachtes Geständnis häufig, wie in Frankreich, nochmals vor Gericht wiederholt werden, um rechtsgültig zu werden (Foucault 2015: 53). Zum ersten Mal wurde 1259 unter Papst Innocenz IV Folter als Mittel der neuen Inquisitionsverfahren im kanonischen Recht offiziell verankert (Helbing 1999a: 110) und in der Folge entstanden viele weitere Gesetzestexte in Europa, inklusive Russland, die die Folter kodifizierten und regelten, wie die berühmte deutschsprachige Carolina von 1533 (Helbing 1999a: 185–199). Die Folter war „zwar grausam, aber nicht maßlos“, wie Michel Foucault (2015: 54) sich ausdrückt. „Augenblicke, Dauer, Instrumente, Länge der Seile, Schwere der Gewichte, Zahl der Keile, Eingriffe der verhörenden Beamten“ (Foucault 2015: 55) waren genau definiert. Aufgrund von sprachlichen Differenzen in den häufig multilingualen Gesellschaften gab es zumindest im Frankreich des 17. Jahrhunderts sogar formalisierte Regeln für Übersetzungspersonal in Gerichtsverfahren und Folterverhören (Cohen 2016); Translationspersonal war auch an den Folterorten des War on Terror relevante Teilnehmer:innen von Folter- und Verhörsituationen (s. Abschnitt 14.5). Im mittelalterlichen Japan scheint ebenfalls die juristische Relevanz des Geständnisses eine Institutionalisierung von Folter begünstigt zu haben, während im Osmanischen Reich anders als im christlichen Europa Folter gegen den expliziten Protest der religiösen Eliten von weltlichen Behörden angewandt und in einem geringeren Maße auch kodifiziert wurde (Peters 1991: 129 f.). Ein hoher sozialer Status (v. a. Adel) konnte in den westeuropäischen Ländern zunächst vor Folter schützen. Auch waren häufig Kranke, Schwangere, Kinder und Alte ausgeschlossen (Helbing 1999a: 247). Jedoch wurden die Ausnahmen zunehmend reduziert und die möglichen Anlässe ausgedehnt. Peters (1991: 94) spricht hier von einer „nivilierenden Tendenz“ des römisch-katholischen Verfahrens.

Auf päpstlich-kirchlichen Druck hin war Häresie auch von weltlichen Gerichten als Straftat behandelt worden und die Inquisition (und mit ihr die Folter) ab dem 13. Jahrhundert vor allem gegen (vermeintlich) heterodoxe Ketzer:innen eingesetzt worden (Peters 1991: 97 f.). Die neuen Verfahren verbreiteten sich aber nicht überall gleichermaßen. Während sie beispielsweise in England nicht Fuß fassten und Folter daher zunächstFootnote 6 kaum zum Einsatz kam (Peters 1991: 90; Helbing 1999a: 106), spielte die Inquisition in Spanien in Folge der reconquista bis ins 19. Jahrhundert eine große Rolle, vor allem bei der Unterdrückung von den unter Zwang zum Christentum konvertierten Jüd:innen und Maur:innen, denen unterstellt wurde, nur scheinbar christlich zu sein (Helbing 1999a: 112, 116–137). Zu einem weiteren Anstieg von Folter kam es schließlich im Zusammenhang der Hexenverfolgung in der Frühen Neuzeit. Diese fand großenteils im Gebiet des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation statt und betraf sowohl katholische als auch protestantische Gebiete. Erst in der Folge ihres Abklingens verschwand die Folter ab Mitte des 18. Jahrhunderts schrittweise aus der europäischen Rechtspraxis und den Gesetzbüchern, beginnend mit Preußen im Jahr 1754 (Langbein 2006: 62). Dieser Prozess wurde 1851 abgeschlossen, als schließlich der schweizerische Kanton Glarus Folter abschaffte (Peters 1991: 127).

2 Das Verschwinden der judikativen Folter

In der Aufklärung wurde die Folter aus moralischen und praktischen Gründen kritisiert und als inhumane barbarische Praxis delegitimiert.Footnote 7 Sie verursache unnötiges Leiden und führe zur Produktion von unwahren Geständnissen. Dieser zweite praktische Einwand war allerdings schon in früheren Zeiten vorgebracht (Langbein 2006: 9) und auch von Folter befürwortenden Juristen diskutiert worden (Peters 1991: 105 f.).Footnote 8 Als im 19. Jahrhundert die Folter aus dem Rechtswesen verschwunden war, interpretierten die zeitgenössischen Historiker:innen diesen Prozess im Rahmen eines teleologischen progressiven Geschichtsverständnisses als Ergebnis der aufklärerischen Kritik und einer fortschreitenden Humanisierung (Peters 1991: 111; Langbein 2006: 64 f.). In der UN-Definition von Folter hallt diese Perspektive im Ausdruck des „inhuman treatment“ (UN 1984) und auch in Diskursen von Menschenrechtsorganisationen wie AI nach. Diesem klassischen Narrativ stehen in der späteren wissenschaftlichen Literatur alternative Erklärungen gegenüber. Einolf (2007: 109 f.) teilt diese in drei Argumentationsstränge auf. Erstens wird der Prozess durch rechtsimmanente Entwicklungen erklärt, besonders prominent von dem Rechtshistoriker John Langbein (2006), der die klassische Erklärung in seinem zuerst 1977 erschienenen Buch „Torture and the Law of Proof“ gar als „fairy tale“ (Langbein 2006: 10) abtut. Ein erneuter Wandel der Beweishierarchie, welcher bereits im 17. Jahrhundert und somit vor der aufklärerischen Kritik begann, habe zu neuen Verfahren der Herstellung rechtlicher Wahrheit geführt. So wie die hohe Stellung des Geständnisses im römisch-kanonischen Recht eine Bedingung der Folter war, habe die zunehmende Anerkennung des Indizienbeweises (und damit eine geringe Relevanz von Geständnissen) die Folter überflüssig gemacht. Ohne diese Entwicklung wäre die aufklärerische Kritik wohl verhallt.

Für die vorliegende Untersuchung ist der zweite Argumentationsstrang besonders relevant, da er kulturelle Deutungen von leiblichem Schmerz in den Fokus rückt. Einolf nennt für ihn stellvertretend die These von Lisa Silverman (2001) (für eine ähnliche Argumentation s.a. Cohen 2010), nach der ein Wandel kultureller Vorstellungen von körperlichem Schmerz für das Verdrängen der Folter verantwortlich zu machen ist. Bis zum 18. Jahrhundert konnte Schmerz durchaus positiv besetzt werden und war mit spirituellem Wachstum assoziiert, was sich z. B. in religiösen Selbstverletzungspraktiken zeigte. In der Folge wurde er als etwas rein Negatives aufgefasst.

Diesem Argumentationsstrang möchte ich noch weitere Überlegungen zuordnen, so auch die instruktive Argumentation des Kulturanthropologen Talal Asad (Asad 1996, 2003: 100–124) zur Entstehung der globalen Anti-Folternorm ausgehend von westlich-kulturellen Vorstellungen von (In-)Humanität. Auch er sieht geänderte Schmerzvorstellungen als Grund für die Delegitimierung von Folter, und betont gleichfalls, dass seit dem 18. Jahrhundert Schmerz als etwas rein Negatives wahrgenommen werde. Jedoch sei gleichzeitig eine utilitaristische Logik von Vergleichbarkeit von Leiden entstanden, die eine Unterscheidung zwischen überflüssigem und notwendigem Schmerz oder Leid vollzog. Gewalt sei in dieser Perspektive ‚inhuman‘ und ‚unzivilisiert‘ (d. h. ‚barbarisch‘ oder ‚grausam‘), wenn sie ‚überflüssiges‘ Leiden produziere, während Gewalt und ihr verursachendes Leid als notwendig angesehen wurden, wenn sie mit ihrem (als ‚notwendig‘ verstandenen) Nutzen verrechnet wurden.Footnote 9 Ein angemessener Nutzen der Folter wurde jedoch nicht mehr angenommen. Asad betont, dass die westeuropäischen Mächte versuchten, die neuen ‚humanen‘ Standards auch in ihren Kolonien im Sinne einer Zivilisierungsmission durchzusetzen (welche selbst durchaus ‚notwendiges‘ Leiden verursachen durfte) (Asad 2003: 109 ff.). Als Beispiel nennt er die englische Empörung über rituelle Selbstverletzungen in Indien, die als ‚barbarisch‘ denn ‚unnötig‘ wahrgenommen wurden (Asad 2003: 111 f.). In Hinblick auf die normativen Folterdiskurse im frühen 21. Jahrhundert bestätigt sich Asads Feststellung. Die ins Feld geführten Argumente für eine begrenzte Legalisierung von Folter wendeten die beschriebene utilitaristische Logik an. Unter Bezugnahme auf spekulative Szenarien (ticking bomb scenario im englischsprachigen und ‚Rettungsfolter‘ im deutschsprachigen Diskurs) werden die gefährdeten Leben mit den durch Folter verursachten Leiden bzw. Schmerzen der Täter:in verrechnet. Dadurch, so das Argument, ist die Foltergewalt unter bestimmten Umständen ‚notwendig‘ (also nicht ‚barbarisch‘) und sollte legalisiert werden. Auch die in den untersuchten organisationalen Dokumenten des US-Falls diskursive Vermeidung von Schmerz, das heißt das Ausblenden und Leugnen von Schmerzzufügung in den Beschreibungen von ‚Verhörmethoden‘, ist vor diesem Hintergrund zu sehen (s. insb. Abschnitt 8.3).

Im weiteren Sinne kann das Postulat der Soziologin Gesa Lindemann (2018: 79–82, 111–113) über das Folterverbot „als ein zentrales Element der Institutionalisierung des freien, verkörperten lebendigen Menschen“ (Lindemann 2018: 113) dem Argumentationsstrang zugeordnet werden. Sie begründet das Ende der judikativen Folter mit einer Wandlung der Kosmologie des Körper-Selbst-Verhältnisses. Ausgehend von frühmodernen medizinischen Vorstellungen würde der individuelle Mensch zunehmend als identisch mit seinem Körper wahrgenommen. Während zuvor die – bloß den Körper verletzende – Folter nicht den unsterblichen seelischen Kern der Willensfreiheit betraf und somit die Gefahr, falsche Geständnisse zu produzieren, als gering betrachtet wurde, griff in der neuen Perspektive der induzierte Schmerz das Subjekt als Ganzes an. Er reduzierte damit die Willensfreiheit der Gefolterten und zwang sie zu potentiell falschen Aussagen. Die Abschaffung der Folter ist für Lindemann also primär der modernen Vorstellung von der Verkörperung des Menschen zuzuschreiben.

Schließlich kann in ähnlicher Stoßrichtung das Verschwinden judikativer Folter auch vor dem Hintergrund der Zivilisationstheorie von Norbert Elias (1988a, 1988b) betrachtet werden, wie es der Politikwissenschaftler Andrew Linklater (2007) tut. Elias untersuchte den Zusammenhang zwischen langfristigen historischen „soziogenetischen“ und „psychogenetischen“ Prozessen ab dem späten Mittelalter, d. h. den Einfluss, den die sozialen Umbrüche auf die psychisch-emotionale Struktur der Individuen hatten. Die verschiedenen miteinander verzahnten Prozesse wie das Ansteigen von Scham und Peinlichkeitsgrenzen bezeichnet er mit dem – analytisch benutzten – Begriff ‚Zivilisation‘. Teil davon ist auch eine wachsende Sensibilität gegenüber Gewalt und menschlichem, aber auch tierischem, Leiden. Diese führe nicht zwangsläufig zu einer Verringerung oder Verschwinden von Gewalt und Leiden, zumindest aber zu einem Verdrängen aus der öffentlichen Sichtbarkeit, wie dies zum Beispiel mit der Schlachtung von Tieren (s.a. Hamilton/Taylor 2013: 63 f.), Strafpraktiken (s.a. Spierenburg 2013) und eben Folter (Linklater 2007: 112 f.) geschehen ist. Durch den Bezug auf Elias kann die Geschichte der Folter also im Rahmen allgemeinerer Wandlungen von Gewalt verstanden werden.

Als dritte Perspektive nennt Einolf Michel Foucaults (2015) These von einem historischen Umschwung von Souveränitäts- zur Disziplinarmacht in „Überwachen und Strafen“. Das Verschwinden judikativer Folter im engeren Sinne nimmt in dem Buch keinen zentralen Platz ein, wird aber im Rahmen des Wandels des Strafstils im Europa des 18. Jahrhunderts mitbehandelt (Foucault 2015: 9–90). Foucault interessiert sich stärker für die Marter des Ancient Regime, die zwar mit Folter verbunden aber von dieser unterschieden war, weil sie nicht der Produktion von Geständnissen im Verhör diente.Footnote 10 Sie war eine äußerst gewaltvolle „Strafliturgie“ (Foucault 2015: 47), die an dem Körper der Verurteilten Narben als Zeichen seiner Schande hinterließ und die verletzte Souveränität rituell wiederherstellte. Der neue und weniger gewaltvolle Strafstil, der sich in kurzer Zeit durchsetzte und sich im Entstehen der modernen Gefängnisse zeigte, zielte nun weniger auf den Körper, sondern auf die ‚Seele‘ der Verurteilten und deren Reform durch Disziplinierung. Foucault macht dafür ebenfalls nicht eine zunehmende Humanisierung durch aufklärerische Ideen verantwortlich. Vielmehr habe sich die Machtform der Disziplinierung als neue „‚politische Ökonomie‘ des Körpers“ (Foucault 2015: 36) durchgesetzt, weil sie effektiver produktive und unterworfene Körper herstelle. Beim Wandel des Strafstils handle es sich also „nicht so sehr um eine Intensitätsminderung als vielmehr um eine Zieländerung“ (Foucault 2015: 25) von Strafe.

Darius Rejali (1994) folgt in seiner historischen Untersuchung zu Folter im Iran zunächst Foucaults Argumentation, wobei er seine theoretischen Überlegungen zum Verhältnis von Folter und Moderne durchaus allgemein und nicht auf den Iran begrenzt versteht.Footnote 11 Er erkennt in den traditionellen Strafzeremonien im Iran der frühen Kadscharen-Dynastie gewaltsame Rituale, die den Souverän und die soziale Ordnung darstellen und legitimieren. Im Zuge einer Modernisierung im 19. Jahrhundert haben sich die Strafpraktiken ebenfalls hin zu Disziplinierung verschoben. Allerdings argumentiert Rejali im Gegensatz zu Foucault, dass die Folter als Praxis deshalb nicht aufhörte zu existieren, sondern auch eine Wandlung durchmachte und nun auf die Disziplinierung der Bevölkerung anstatt auf zeremonielle Zurschaustellung von Macht ziele (ohne jedoch selbst mit Disziplinarmacht identisch zu sein).

Wie Peters und Einolf betonen, war das Verschwinden judikativer Folter ein komplexer Prozess (Peters 1991: 124 f.; Einolf 2007: 110 f.), zu dessen Verständnis alle genannten Argumentationen, die sich keineswegs zwangsläufig widersprechen,Footnote 12 einen Beitrag leisten können. Welche von ihnen am zutreffendsten ist, soll hier nicht diskutiert werden. Mit ihrer Darstellung möchte ich das Auftreten moderner, nicht-judikativer Folter besser verständlich machen und besonders den US-Fall kontextualisieren und historisch situieren.

3 Die ‚Wiederkehr‘ der Folter

Da die Abschaffung der judikativen Folter in Europa im 19. Jahrhundert als die Überwindung der Folter insgesamt und im Rahmen eines humanistisch-progressiven Geschichtsverständnisses aufgefasst wurde, war es irritierend, als im frühen 20. Jahrhundert die Folter im modernen Gewand wieder auf der Bildfläche auftauchte – vor allem nach dem Ersten Weltkrieg in der frühen Sowjetunion und in Nazi-Deutschland. Jedoch ist es fraglich, ob die Folter als Praxis überhaupt aufgehört hatte und dann wiederkehrte, oder, ob sie sich, wie Rejali (1994) es für Iran aber auch darüber hinaus postuliert, bloß veränderte und zunächst weniger sichtbar war. Tatsächlich gibt es Hinweise für eine Kontinuität der Folter im 19. Jahrhundert (Reemtsma 1991c: 256). Dass Helbing (1999b: 231 ff.) von zeitgenössischen Fällen in der österreichischen und russischen Polizei sowie US-amerikanischen und französischen Militär zu berichten weiß, ist hier besonders interessant, da sie die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg betreffen. Auch ist davon auszugehen, dass in den Kolonien europäischer Mächte die Folterpraxis weiter angewandt worden war (Reemtsma 1991a: 27; s. zu Südafrika: Peters 1991: 177 ff.; zu Vietnam: Rejali 2009: 146–148; zu Philippinen: Einolf 2018: 131 ff.; zu Indien: Ruthven 1978: 181 ff.). Für Europa kann aber vermutet werden, dass es im 20. Jahrhundert nicht zu einer Wiederkehr, aber zumindest zu einem (Wieder-)Anstieg der Folter kam (Einolf 2007: 227 f.).

Als Reaktion auf die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts enttäuschte Hoffnung auf das Verschwinden der Folter verankerten die UN nach dem Zweiten Weltkrieg das Verbot der Folter in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (UN 1948, Artikel 5). Ebenso wurde es in der überarbeiteten Version der Genfer Konventionen (O.V. 1949, Artikel 3a, 17, 87, 130) als Teil des humanistischen Völkerrechts international verankert. Dennoch kam es in der Folge erneut nicht zu einem Abbruch. Bereits im Korea-Krieg kam es zu Folterungen von US-amerikanischen und anderen Kriegsgefangenen seitens nordkoreanischer und chinesischer Militärangehöriger (s. Abschnitt 9.1). Besonders viel Aufmerksamkeit in der westlichen Öffentlichkeit erfuhren die Folterungen im Algerienkrieg durch französische Kräfte (Vidal-Naquet 1963; Maran 1996; Förster 2024). Schließlich war bis dahin das Auftreten der Folter in kommunistischen und faschistischen Staaten als eine Art Wiederkehr jener im Prinzip überwundener ‚barbarischer‘ Vergangenheit gesehen worden, vor der liberal-demokratische Staaten immun seien (Peters 1991: 174). Weitere bekannte und dokumentierte Fälle von Folter in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sind das Apartheids-Regime in Südafrika (Bernstein 1972), lateinamerikanische Diktaturen in den 1970er und 80er Jahren wie Chile (Kletten 1991), Argentinien (Taylor 1997; Heredia 2010; Dürr 2016) und Brasilien (Huggins 2005), der Vietnam-Krieg (Rejali 2009: 170–177) – Folter wurde dort sowohl von südvietnamesischen und US-amerikanischen als auch von nordvietnamesischen und Vietcong-Einheiten eingesetzt -, die Roten Khmer in Kambodscha (Bultmann 2020, 2021), die Obristendiktatur in Griechenland (AI 1977; Haritos-Fatouros 1991), Israel (Cohen/Golan 1991; Ron 1997), Nordirland (Conroy 2000; Cobain 2013: 135–165) und die Türkei (Akçam 1991). Weder ist diese Liste vollständig, noch ist hier Platz, auf die einzelnen Fälle näher einzugehen. Allerdings gibt sie bereits einen Eindruck von der Persistenz und weltweiten Verbreitung der Folter im 20. Jahrhundert. Zu der öffentlichen Dokumentierung und Sichtbarmachung von Folteranwendungen haben seit den 1960er Jahren Menschenrechtsorganisationen wie insbesondere AI beigetragen (Peters 1991: 206; s. bspw. AI 1973, 1977; Forrest 1996). Die UN-Deklaration gegen Folter von 1975 und die Anti-Folterkonvention von 1987 sind als Reaktion auf die – der internationalen Ächtung trotzenden – Persistenz der Folter zu verstehen und zum Teil auf das Engagement von AI zurückzuführen (Forrest 1996: vi).

Relevant ist hier vorrangig die Frage, wie sich die nicht-judikative Folter von vorherigen Formen unterscheidet und wie ihr Auftreten zu erklären ist. Der gravierendste und offensichtlichste Unterschied besteht darin, dass Folter nun als „Werkzeug des Staates, nicht des Gesetzes“ (Peters 1991: 140) angewandt wird. Peters nennt vier wichtige Anhaltspunkte, wie es dazu kam, wobei er die an Helbings orientalistische Thesen erinnernde und zuweilen verbreitete kulturalistische Erklärung, dass die Wiederkehr der Folter einer Ausbreitung eines grausamen ‚Asiatismus‘ im frühen 20. Jahrhundert zuzurechnen sei, ablehnt (Peters 1991: 143 f., 173). Erstens sei mit den modernen Polizeiapparaten ein neues Element des Strafrechts geschaffen worden, in denen es – normalerweise ohne Wissen oder Zustimmung von Richter:innen – zu Folter mit dem Ziel der Erpressung von Aussagen und Geständnissen kommen konnte (Peters 1991: 147–153). In den USA beispielsweise, deren Polizei Peters dafür anfälliger als die englische ansieht, wurde die als the third degree (s.a. Leo/Koenig 2018; Rejali 2009: 70–74) bezeichnete Gewalt im Polizeiverhör bis in die 1930er Jahre häufig angewandt und in der Folge öffentlich aufgearbeitet. Vor allem aber, wenn Polizeikräfte mit politischen Straftaten wie dem anarchistischen Terrorismus im russischen Zarenreich betraut waren, kam laut Peters Folter zum Einsatz (s.a. Helbing 1999b: 232–245). Zweitens sei im modernen Militär, aufgrund seiner relativen Autonomie von juristischer und ziviler Kontrolle und der zunehmenden Relevanz nachrichtendienstlicher Informationen in modernen Kriegen – vor allem in „counterinsurgency wars“ (Einolf 2007: 114) –, beim Verhör von Gefangenen zunehmend Gewalt zum Einsatz gekommen (Peters 1991: 153–156). Auch der untersuchte Folterkomplex ist im Wesentlichen diesem Kontext zuzuordnen. Drittens habe laut Peters (1991: 153–156; s.a. Einolf 2007: 116 f.) die Relevanz der Kategorie des politischen Verbrechens in den neuen Nationalstaaten ab dem 19. Jahrhundert Folteranwendung durch staatliche Akteure begünstigt. Bereits in England während der Auseinandersetzung zwischen protestantischer Monarchie und katholischer Opposition im 16. und 17. Jahrhundert war Folter primär aufgrund des Vorwurfs des Verrats angewandt worden (Langbein 2006: 81–128), jedoch im Vergleich zu modernen Folterkomplexen in einem geringeren Ausmaß (Einolf 2007: 117). Da der Staat nun aber zunehmend mit dem Volk als Ganzes und nicht mehr nur mit den herrschenden Monarchen als Personen verbunden wurde, kam es zu einer Ausweitung dessen, was unter Verrat verstanden wurde und politische Verbrecher:innen wurden anders als ‚gewöhnliche‘ Kriminelle behandelt. Dem Staat kritisch oder feindlich eingestellte Menschen, wie die Anarchist:innen in Frankreich oder Russland, oder solchen, denen eine staatsfeindliche Einstellung unterstellt wurde, fielen in diese Kategorie, die Folter wahrscheinlicher machte. Schließlich verschärfte sich laut Peters der dritte Aspekt in revolutionären und totalitären Staaten wie der frühen sowie stalinistischen Sowjetunion und in Nazi-Deutschland, in denen die Trennung zwischen Recht und Politik weitestgehend aufgehoben und das politische Verbrechen als Verrat am Volk und Partei noch weiter ausgedehnt wurde (Peters 1991: 162–174).

4 Merkmale moderner Folter

In der Literatur werden verschiedene Merkmale benannt, in denen sich die moderne Folter von vorherigen Formen unterscheidet. Erstens ist das schon beschriebene geänderte institutionelle Setting zu nennen. Helbing (1999b: 256) bemerkte bereits im Jahr 1910, dass Folter nun „weniger formell und legal in Erscheinung tritt“. War die judikative Folter Teil des offiziellen kodifizierten Rechts, ist die Folter seit dem 19. Jahrhundert eine zumeist illegale Praxis von staatlichen Akteuren wie Polizei, Geheimdienst oder Militär, die im Geheimen stattfindet, deren Anwendung oder Einordnung als Folter von ihren Anwender:innen und ihren Vorgesetzten geleugnet wird, und die somit weniger sichtbar ist.

Zweitens wird häufig auf eine Verschiebung des Zwecks von Folter verwiesen. Wie in Abschnitt 3.5 beschrieben wird häufig vorgebracht, dass Folter nun grundsätzlich nicht mehr der Wahrheitsfindung oder Informationsgewinnung diene (s. dazu auch Peters 1991: 208 f.). Auch wenn diese These in ihrer Absolutheit schwierig ist, ist sicher richtig, dass Folter nicht mehr auf gleiche Weise wie im Europa des Ancient Regime der Herstellung juristischer Wahrheit dient. Zwar kann Folter immer noch der Produktion von Geständnissen dienen, beispielsweise im Polizeiverhör oder im Zusammenhang der stalinistischen Schauprozesse. Ähnlich wie in Zeiten der vormodernen judikativen Folter kann hierzu die besondere Relevanz von Geständnissen in der strafrechtlichen Praxis polizeilicher Folter Vorschub leisten, wie Rejali (2009: 49–55) am Beispiel des modernen Japans zeigt. Jedoch wird sie in solchen Fällen nicht explizit als Mittel der rechtlichen Wahrheitsfindung benannt, sondern verschwiegen.

Drittens werden häufig Unterschiede in den Methoden hervorgehoben sowie, damit untrennbar verbunden, der Einfluss von Psychologie und Medizin als typisch für moderne Folter benannt. Schon früh bemerkten Aktivist:innen und Wissenschaftler:innen, dass die Foltergewalt des 20. Jahrhunderts weniger ‚blutig‘ wurde und sich in ihr der Einfluss moderner Wissenschaft zeigte (s. bspw. Radtke 1979: 4 f.). Damit verbunden ist auch eine andere kosmologische Rahmung der Folter, die nun als säkularisierte oder zumindest als weniger explizit religiös legitimierte Praxis auftritt. Das Prinzip der verschiedenen Techniken der judikativen Folter wie die Wippe, Bein- und Daumenschrauben oder die Wasserfolter beschreibt Peters (1991: 210) zusammenfassend wie folgt:

Die Neurologie der frühen europäischen Folter basierte im wesentlichen auf dem Schmerz überdehnter Muskeln und ausgerenkter Gelenke, dem schonungslosen Druck von Klemmvorrichtungen auf innerviertes Gewebe und Muskel-Knochen-Systeme, dem Versengen großer Flächen von Nervenenden mit Feuer und der erstickenden und das Gedärm ausdehnenden Wirkung des Wassers.

Ab dem 20. Jahrhundert kommt dagegen eine größere Vielzahl von Techniken zum Einsatz, zu denen die Elektrofolter (d. h. das Zufügen von Schmerz durch Elektrizität, s.a. AI 1997), Positionsfolter wie erzwungenes Stehen, sexualisierte Gewalt sowie ‚psychologische‘ (z. B. Schlaf- und Reizdeprivation) und pharmalogische Techniken gehören. Die Verschiebung der Methoden trägt dabei zu der tendenziellen Unsichtbarkeit der modernen Folter bei, da weniger Spuren an den gefolterten Körpern hinterlassen werden. Rejali (2009) spricht daher in seiner umfassenden Studie über die Diffusion von Foltertechniken in der Moderne von clean torture. In seinem Buch zu Folter im Iran fasst er (1994: 6) den Unterscheid zur vormodernen Folter zugespitzt so zusammen:

Modern torture is clinical, not ritual, torture. The torturer operates on his patient. His methods and instruments are drawn from medicine, engineering, psychology, and physiology.

Der untersuchte US-Fall sticht hier besonders hervor, denn hier ist der wissenschaftlich-moderne Anspruch, der Einfluss von psychologischem Wissen sowie die organisationale Einbindung von Psycholog:innen besonders deutlich. Häufig sehen Autor:innen hier und in der modernen Folter allgemein – normativ in kritischer Absicht – eine Art Effizienzsteigerung durch Präzisierung oder Verfeinerung (z. B. Peters 1991: 220; McCoy 2006: 8). Jedoch sollte vermieden werden, in etischer Perspektive die Folter selbst als ‚wissenschaftlich‘ oder als besonders ‚effektiv‘ zu bezeichnen. Denn sonst läuft man Gefahr, den modernen Selbstbeschreibungen von Folterkomplexen wie denen der CIA zu folgen (s.a. Welch 2015).Footnote 13

5 Folter als Unfall der Moderne?

Das teleologisch-progressive Geschichtsverständnis bezüglich Folter hat in Hinblick auf die rein rechtliche Entwicklung eine gewisse Berechtigung. Es kann vom Verschwinden der judikativen Folter im Europa des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zum globalen und absoluten Verbot der Folter im Jahr 1987 von einer fortschreitenden Delegitimierung der Folter gesprochen werden. Daher kann normative Kritik an Folter durch deren Skandalisierung als unzivilisiert und rückschrittlich von Menschenrechtsorganisationen und anderen Akteuren ein durchaus erfolgreiches diskursives Mittel gegen Folter sein, wenngleich moderne Folterregime ebenfalls unter Bezugnahme auf das Konzept der Zivilisation eine Legitimation vornehmen können (indem nämlich den zu folternden ‚Feinden‘ Unzivilisiertheit vorgeworfen wird; s. zu Algerien: Maran 1996; zum War on Terror: Linklater 2007 und Butler 2008). Jedoch ist es allein schon vor dem Hintergrund der Vielzahl an empirischen Fällen seit dem frühen 20. Jahrhundert analytisch wenig sinnvoll, moderne Folteranwendungen als einen Rückfall in ‚barbarische‘ Vorzeiten zu verstehen und damit gleichsam historisch zu isolieren (s.a. Reemtsma 1991c: 258). Zudem zeigen die obigen Ausführungen, dass Folter in unterschiedlichen Kontexten relevant wird, die unmittelbar mit moderner Staatlichkeit verbunden sind.

Wenn sich das Paar Moderne – Folter nicht als Antagonismus fassen lässt, wie steht es mit dem Verhältnis zwischen (liberaler) Demokratie und Folter? Immerhin ist das Folterverbot vor allem in demokratischen Staaten Teil ihres Selbstverständnisses und dort ist das Menschenrechtsmonitoring durch Journalist:innen oder NGOs besonders stark. Wie ich schon erwähnt habe, setzen jedoch auch liberale demokratische Staaten Folter ein (s.a. Parry 2010: 97–134). Auch das outsourcing von Folter durch Auslieferung von Gefangenen an nicht-demokratische Staaten zum Zweck der Folter ist – auch im War on Terror – übliche Praxis (Mayer 2005a). Dennoch gibt es teilweise einen Optimismus, dass liberal-demokratische Staaten weniger wahrscheinlich Folter einsetzen als autoritäre, zumindest in Form von Staatsterror gegen ‚eigene‘ Bürger:innen, und dass eine globale Hegemonie liberaler Ideologie einen langsamen Rückgang von Folter bewirken könne (Cohen/Corrado 2005; Einolf 2007: 117 f.). Rejali (2009) macht aber auf einen weiteren Aspekt aufmerksam, nämlich die enge Verbindung zwischen Demokratie und Menschenrechtsmonitoring einerseits und der Verbreitung von clean torture andererseits. Sein Kernargument, welches er mit großer Materialfülle untermauert, lautet, dass die nunmehr weitverbreitetsten ‚sauberen‘ Techniken zuerst in Demokratien Anwendung fanden und sich im Lauf des 20. Jahrhunderts global ausbreiteten, um das Menschenrechtsmonitoring zu unterlaufen (s. für eine ähnliche Argumentation in Bezug auf Israel: Ron 1997; und auf Spanien: Pérez-Sales et al. 2016). Die Rolle der frühen Sowjetunion und Nazi-Deutschlands für die Entwicklung und Diffusion moderner Foltertechniken wie der Elektrofolter werde häufig überschätzt (z. B. von Peters),Footnote 14 während die Relevanz von bis ins 19. Jahrhundert zurückreichenden kolonialen, militärischen und polizeilichen Folter- und Straftraditionen westlich-demokratischer Länder wie Frankreich, England und den USA unterschätzt werde. Die Verbreitung moderner ‚sauberer‘ Methoden ist in dieser Perspektive also weniger einer Verwissenschaftlichung zuzuschreiben (obgleich wissenschaftliches Wissen dabei relevant ist).Footnote 15 Vielmehr ist sie eine nicht-intendierte Folge des globalen Folterverbotes und dem Engagement für die Durchsetzung desselben. Folter und Demokratie sind somit nicht per se als Gegensätze zu denken, auch wenn liberal-demokratische Staaten weniger häufig und intensiv von Folter Gebrauch machen mögen.

Die zweifellos relevanten Unterschiede zwischen vormoderner und moderner Folter sollten jedoch nicht überbewertet werden. Es finden sich nämlich bei näherer Betrachtung auch Gemeinsamkeiten und Ähnlichkeiten. Zum einen ist Folter auch in Fällen starker Normalisierung stets als eine besondere Maßnahme für (wie auch immer definierte) besondere Gruppen, Gefahren und Verbrechen wie Verrat verstanden worden (Peters 1991: 12; Helbing 1999b: 259). Dabei ist sie „immer auch Mittel sozialer Grenzziehung“ (Reemtsma 1991b: 14) und richtet sich auf feindliche oder minderwertige ‚Andere‘, ob es sich dabei um Sklav:innen in der europäischen Antike oder in den Südstaaten der USA, ‚kontrarevolutionäre Subjekte‘ in Kambodscha, Terrorist:innen (Anarchisten:innen im Zarenreich, Al-Qaida im War on Terror, ETAFootnote 16 in Spanien, IRA in Nordirland), Hexen und Ketzer:innen in Europa, oder ‚linke Subversive‘ in Lateinamerika handelt. Des Weiteren ist auch die Verschiebung der Methoden eher graduell zu verstehen. Auch im Mittelalter und der Frühen Neuzeit bedeutete Folter nicht immer die unmittelbare Verletzung des Körpers. Der erste Schritt bestand im Zeigen der Folterinstrumente (Peters 1991: 101), was bereits zu einem Geständnis führen und damit die direkte Schmerzzufügung überflüssig machen konnte. Schlafentzug gab es ebenfalls bereits als Technik (Peters 1991: 102). Die Wasserfoltertechniken der Inquisition und moderne Formen wie das waterboarding sind auch nicht grundsätzlich verschieden (Rejali 2007: 381 f.). Auch berichten im War on Terror Gefolterte von einer der Wippe äußerst ähnlichen Technik (s. Einleitung von Kapitel 2). Schließlich kann nicht nur judikative, sondern auch moderne Folter als rituelle Praxis (Bultmann 2020; Sironi 2011: 89; Zirfas 2004; s. Abschnitt 3.3) und als Ausübung von Souveränitätsmacht (Hernawan 2016; Wilcox 2011) analysiert und beschrieben werden. Für den Fall Guantánamo (s.a. Abschnitt 5.3) schreibt Andrew Neal (2007: 71) beispielsweise treffend:

Wenn die Anschläge von 9/11 als symbolisches Verbrechen gegen die Souveränität der Vereinigten Staaten geplant waren und als solches auch interpretiert und repräsentiert wurden, so zielen die Praktiken der gegenwärtigen Politik der Ausnahme nicht einfach darauf ab, zu verstehen, zu untersuchen, zu bestrafen […] In seiner symbolischen Bedeutung ähnelt das Schauspiel von Guantánamo – so sehr die Abläufe dort auch im Dunkeln liegen mögen – dem Schauspiel der vormodernen öffentlichen Hinrichtung.

Auch wenn sich moderne Folter und judikativ-europäische Folter durch einen klar erkennbaren historischen Umbruch unterscheiden, welcher das institutionelle Setting, den rechtlichen Status, die kosmologische Rahmung und die Sichtbarkeit betrifft, wäre es also unangemessen, sie als zwei völlig verschiedene Phänomene voneinander zu betrachten. Gleichzeitig ist die moderne Folter selbst heterogen. Der hier untersuchte US-Fall ist dabei hinsichtlich seiner Legitimierung tendenziell im national security model zu verorten, in dem die Produktion von intelligence in militärischen und geheimdienstlichen Verhören als vordergründiges und rationalisierendes Motiv zu erkennen ist. Die Folter richtet sich hier gegen feindliche und potentiell ‚barbarische‘ Terroristen in Form von muslimischen Männern (Butler 2008). Auch ist der von Rejali beschriebene Einfluss der Anti-Folternorm und des Menschenrechtsmonitorings auf die Foltertechniken besonders deutlich, wie ich noch zeigen möchte, ebenso wie der wissenschaftlich-moderne Selbstanspruch und die explizite Rezeption psychologischen Wissens. In Bezug auf das letztgenannte Merkmal moderner Folter ist der US-Fall geradezu idealtypisch, weshalb ich in den Abschnitte 79 die Foltertheorie diskursanalytisch genauer betrachte.