Soziale Situationen sind ja dadurch definiert, daß wir an ihnen nur dann teilnehmen können, wenn wir unseren Körper und seine dazugehörige Ausstattung einbringen. Das macht uns verwundbar, da wir durch unsere Körperlichkeit prinzipiell Angriffen anderer durch die Gerätschaften ausgesetzt sein können, die sie kraft ihrer Körper in die Situation einbringen (Goffman 2001: 60).

Goffman (2001: 55) nimmt bekanntlich „die gegenseitige körperliche Präsenz zum Ausgangspunkt“ für seine Analyse von sozialen Interaktionen, die in sozialen Situationen als raumzeitliche Einheiten stattfinden; das heißt „in Umwelten, in denen zwei oder mehr Individuen anwesend sind, und zwar so, daß sie aufeinander reagieren können“, sich also wahrnehmen (s.a. Goffman 1971: 29). Er hat dabei vor allem gewaltarme Interaktionen des Alltags und im öffentlichen Raum im Sinn. Wie das obige Zitat zeigt, war Goffman aber bewusst, dass jede körperliche Präsenz eine prinzipielle Verletzbarkeit gegenüber anderen Interaktionsteilnehmer:innen bedeutet. Folter als soziale Situation zu betrachten, bedeutet in diesem Sinne zunächst diesen ganz allgemeinen Aspekt sozialer Interaktion radikal in den Vordergrund zu rücken und extrem asymmetrisch zu verteilen: hier Menschen, die gefoltert werden; dort Menschen, die ihre Körper und „Gerätschaften“ einsetzen, um erste zu verletzen.

Grundsätzlich ist ‚Situation‘ ein zentraler Begriff der Soziologie, welcher in unterschiedlichen Ausprägungen benutzt wird (s. hierzu zusammenfassend Schützeichel 2019). Seit dem berühmten Thomas-TheoremFootnote 1, das auch für Clarke (2012: 65) grundlegend ist, stehen die Situationsdefinitionen von Individuen und deren Konsequenzen im Interesse soziologischer Analyse (s. z. B. Hitzler 1999). Um es mit phänomenologischen Begriffen auszudrücken, bedeutet die Relevanz solcher emischen Definitionen für das soziologische Verständnis, dass Situationen dann ‚soziale Situationen‘ sind, „wenn der Handelnde sie als ‚ein alter ego einschließend‘ definiert‘“ (Hitzler 1999: 294).Footnote 2 Den genauen Stellenwert, den Soziolog:innen der emischen Situationsdefinition darüber hinaus geben, und in welches Verhältnis sie diese Definitionen zu situativen Handlungen setzen, unterscheidet sich allerdings (s. hierzu Schützeichel 2019: 212–218). Grundlegend sollte klar sein, dass die – zweifelsohne hochrelevanten – emischen Situationsdefinitionen nicht willkürlich vorgenommen werden können oder Situationen ein ausschließliches Ergebnis von individuellen Deutungs- und Definitionsprozessen sind, sondern durch die Historisierung und Verkörperung der Subjekte vorbestimmt sowie daher immer nur zu einem gewissen Grad offen auslegbar sind (Schütz/Luckmann 1979: 134 f.). Mit den Gewaltsoziologen Thomas Hoebel und Wolfgang Knöbl gehe ich im Rahmen meiner Untersuchung davon aus, dass Situationen auch unabhängig von emischen Deutungen und Definitionen existieren, die aber einen erheblichen Einfluss auf den Verlauf und die Verkettung von (Gewalt-)Situationen haben (Hoebel/Knöbl 2019: 178). Dabei ist stets – wie bei Clarke – die Relationalität der situativen Elemente zu bedenken: „Der Verlauf realisiert sich in der antizipierten, vollzogenen und schließlich memorierten Form konkret nur dadurch, dass ihn die Beteiligten in ihren Relationen zueinander formen“ (Hoebel/Knöbl 2019: 178).

Indem ich mich dem Phänomen ‚Folter‘ mit Hilfe des Situationsbegriffs nähere, schließe ich an gewaltsoziologische Diskurse an, die infolge sowohl der deutschsprachigen ‚Innovatoren:innen‘ der 1990er Jahre (v. a. Trotha 1997; Nedelmann 1997; Sofsky 1996) als auch dem US-amerikanischen Soziologen Randall Collins (2008) mit seinem einflussreichen Buch „Violence. A Micro-sociological Theory“ einen starken Situationsfokus entwickelten (s. bspw. Equit et al. 2016; für einen kurzen Überblick: Hoebel/Malthaner 2019). Während die ‚Innovator:innen‘ vor allem unter Bezugnahme der Phänomenologie um detaillierte Beschreibungen von Gewalt(-erfahren) bemüht waren und kausale Erklärungsversuchen eine Absage erteilten, versucht Collins über mikrosoziologische Beschreibungen von situativen und emotionalen Dynamiken Gewalt interaktionstheoretisch und kausal zu erklären. Gemeinsam ist beiden Ansätzen, dass sie Faktoren außerhalb oder vor den Situationen vernachlässigen, und sich damit von der klassischen Gewaltforschung abgrenzen, die der Situation vorgelagerten Ursachen von Gewalt wie beispielsweise Motiven den Vorrang gibt. Entsprechend werden besonders in Anschluss an Collins Gewaltsituationen analysiert, die eher einen ‚spontanen‘ Charakter aufweisen und in denen es eine Art Kippmoment gibt (wohingegen Folter, zumindest im US-Fall, deutlich durch ihre ausgeprägten organisationalen Rahmungen vorstrukturiert ist)Footnote 3. Diese phänomenologischen und mikrosoziologischen Fokussierungen auf Situatives leiden jedoch unter einem „Anwesenheitsbias“ (Hoebel/Malthaner 2019: 8). Daher bemüht sich die jüngere gewaltsoziologische Literatur auch darum, Mikro-Makro-Gegensätze zu überwinden und abwesende Elemente in situationsbezogene Gewaltanalysen theoretisch und methodologisch zu integrieren (s. Hoebel/Knöbl 2019; Hoebel 2019; Braun 2019; Ebner/Stopfinger 2020; Kron/Verneuer 2020).

Im vorherigen Kapitel dürfte schon klar geworden sein, dass ich, auch wenn ich Clarke in ihrer starken Ausweitung des Situationsbegriffs nicht folge, keinen radikalen mikrosoziologisch-interaktionistischen Ansatz verfolge, der situative Vorgänge ausschließlich durch situative Dynamiken erklärt wie bei Collins. Folter als wissensbasierte Praxis zu verstehen (Inhetveen et al. 2020: 3) impliziert bereits die Annahme, dass in zeitlich vorgelagerten Situationen produziertes oder angeeignetes Wissen für Foltersituationen relevant ist. Aus wissenssoziologisch-phänomenologischer Perspektive gilt ganz allgemein, dass Wissen Situationen vorstrukturiert und miteinander verkettet (Schütz/Luckmann 1979: 148 f.). Für die vorliegende Untersuchung betrifft das nicht nur Körperwissen über effektive Verletzung als „Rezeptwissen“ (Schütz/Luckmann 1979: 148) – sei es inkorporiert oder diskursiviert –, sondern auch breite Wissensordnungen wie beispielsweise das globale Verbot der Folter und Menschenrechtsdiskurse, in deren Kontext sich moderne Folter ereignet. Ebenso sind die räumlich-institutionellen Rahmungen der Foltersituationen hochrelevant (s. Abschnitt 5.25.4). In diesem Kapitel möchte ich zum Zwecke meiner Untersuchung erste theoretische Überlegungen anhand von gewaltsoziologischer, phänomenologischer sowie weiterer folterbezogener Literatur darüber anstellen, was das Spezifische an Folter(-situationen) ist.

1 Die Definition der Vereinten Nationen

Zunächst sei nochmals daran erinnert, dass Foltersituationen keinesfalls selten sind. Vielmehr stellen sie eine „Alltäglichkeit des Unfassbaren“ dar, um einen Buchuntertitel des ehemaligen UN-Sonderberichterstatters für Folter Manfred Nowak (2012) zu zitieren. Spätestens seitdem 1987 die Anti-Folterkonvention der UN („Convention against Torture and Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment“, UN 1984) in Kraft trat, ist das Verbot von Folter völkerrechtlich fest verankert. Dafür gilt der juristische Grundsatz des Ius Cogens. Das bedeutet: es ist absolut und nicht relativierbar (Nowak 2012: 8). Anders als viele andere rechtliche Normen kann es also nicht in Ausnahmefällen gelockert werden. Das ändert aber nichts an der traurigen Tatsache, dass Folter weltweit ein verbreitetes Phänomen ist. In 141 Ländern – das entspricht etwas dreiviertel der UN-Mitgliedsstaaten – stellte 2014 Amnesty International (AI 2014), deren Engagement gegen Folter zum Kern ihrer Tätigkeit gehört, Folteranwendungen fest.Footnote 4 Die moderne Delegitimierung ist damit aber keineswegs irrelevant, sondern hat Einfluss darauf, wie gefoltert wird (also auf Foltersituationen). Ich komme in Kapitel 4 auf diesen Punkt zurück, wenn ich die historische Pertinenz von Folter behandle.

Die Definition der Anti-Folterkonvention ist ein sinnvoller Ausgangspunkt für das Verständnis von Foltersituationen. Denn erstens ist die Definition die völkerrechtlich bindende und weitverbreitetste Definition; es ist also naheliegend, sie auch für diese Untersuchung zu betrachten, um die Anschlussfähigkeit an die bestehende interdisziplinäre Literatur zu Folter zu gewährleisten. Zweitens bin ich als Forscher normativ und methodisch selbst in die Diskurse um Folter situiert und folge mit den genutzten Daten Relevanzsetzungen der jeweiligen sichtbarmachenden Akteure (s. Kapitel 6), welche ihr Folterverständnis zumeist an der UN-Definition orientieren. Drittens ist die UN-Definition im US-Fall von unmittelbarer Relevanz: Die USA ratifizierten die Konvention (wie fast alle Staaten)Footnote 5 und übernahmen ihre Folterdefinition; allerdings mit Vorbehalten gegenüber dem Konzept des mentalen Leidens, die für die Autorisierung der Folter im War on Terror folgenschwer waren (McCoy 2012: 31; s. Abschnitt 7.2). Bei den Versuchen der Bush-Administration und insbesondere des OLC, die – als enhanced interrogation techniques bezeichneten – Foltertechniken zu legalisieren, war die Folterdefinition ein wichtiger Bezugspunkt: In eigenwilligen juristischen Interpretationen der UN-Definition wurden die Techniken außerhalb des Bereichs von Folter definiert. Die Definition ist insofern nicht nur analytischer Ausgangspunkt, sondern zugleich Teil des Datenkorpus. Sie lautet wie folgt:

For the purposes of this Convention, the term torture means any act by which severe pain or suffering, whether physical or mental, is intentionally inflicted on a person for such purposes as obtaining from him or a third person information or a confession, punishing him for an act he or a third person has committed or is suspected of having committed, or intimidating or coercing him or a third person, or for any reason based on discrimination of any kind, when such pain or suffering is inflicted by or at the instigation of or with the consent or acquiescence of a public official or other person acting in an official capacity. It does not include pain or suffering arising only from, inherent in or incidental to lawful sanctions (UN 1984).

Auffällig ist, dass die Definition Folter nicht auf Handlungen oder Techniken eingrenzt, die über ihre äußerliche Form bestimmt sind („any act“). Vielmehr bildet der Ausdruck „severe pain and suffering“, zu dem auch explizit psychisches Leiden gezählt wird, das Zentrum der Definition. Ob eine Handlung zu Folter zählt oder nicht, hängt also zunächst vom subjektiven Erfahren von starkem Leid oder Schmerz aufseiten Gefolterter ab. Jedoch nennt die Definition drei Einschränkungen. Erstens, das subjektive Leiden der Gefolterten muss „intentionally“ zugefügt werden. Unbeabsichtigt induzierte Qualen fallen also nicht unter Folter. Die möglichen Motive sind vielfältig: Neben der Gewinnung von Informationen und dem Erpressen von Geständnissen fallen darunter Bestrafung, Einschüchterung, Nötigung oder Diskriminierung „of any kind“. Ich komme unten auf die Frage nach der Instrumentalität und Intentionalität von Folter zurück (s. Abschnitt 3.5). Zweitens muss Folter durch staatliche Akteure und im Auftrag von für Staaten handelnde Personen ausgeführt werden, um als solche klassifiziert zu werden. Drittens sind solche Schmerzen oder Qualen ausgenommen, die durch gesetzlich zugelassene Sanktionen und Strafen („lawful sanctions“) verursacht werden.

Auf die Grenzen dieser Definition wurde schon häufig verwiesen (s. z. B. Parry 2010: 34–40), ebenso wie allgemein auf die Schwierigkeit der genauen Bestimmung von Folter (s. z. B. AI 1973: 29–34; Asad 1996: 1082; Kenny 2010). Die entscheidende Rolle, die das subjektive Erfahren der Gefolterten einnimmt, macht es schwer, verbindlich festzuschreiben, wo Folter beginnt, also ab wann Schmerz oder Leiden stark genug sei, um als „severe“ bezeichnet zu werden. Diese Unklarheit erschwert es, Folteranwendungen juristisch zu belegen, und ist einer der Gründe, warum Folternde und ihre Vorgesetzten gewöhnlich mit Straffreiheit rechnen können, was bisher mit wenigen Ausnahmen auch für den US-Folterkomplex gilt.Footnote 6 Dennoch hat die Offenheit der UN-Definition, namentlich die Inklusion von psychischen Qualen und die Unbestimmtheit, was konkrete Praktiken und Techniken angeht, den prinzipiellen Vorteil, dass das Verbot nicht einfach durch die Nutzung anderer, z. B. nicht Schmerz-induzierender, Techniken umgangen werden kann, was solche Legalisierungsversuche wie die der Bush-Administration noch deutlich erleichtern würde.

Unklarheit schafft auch die dritte Eingrenzung der UN-Definition, denn die Konvention erklärt nicht, wie durch gesetzeskonforme Sanktionen verursachte Qualen von solchen zu unterscheiden sind, die in den Bereich der Folter fallen (Parry 2010: 36). Vor allem bei Strafen ist diese Differenzierung kaum möglich. Ähnlich schwierig verhält es sich mit der Abgrenzung der Folter von „Other Cruel, Inhuman or Degrading Treatment or Punishment“ (UN 1984). In juristischen Argumentationen werden zu dieser Kategorie zumeist solche Praktiken gezählt, die der Folter zwar ähnlich sind, aber bei denen mindestens eine der notwendigen Bedingungen nicht erkennbar ist wie beispielsweise die Intentionalität der Leidzufügung (Cakal 2021: 153). Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stufte im Jahr 1978 im Verfahren Ireland v. United Kingdom (ECHR 1978) die Techniken, die in britischer Gefangenschaft gegen IRAFootnote 7-Mitglieder eingesetzt wurden und die als The Five TechniquesFootnote 8 bezeichnet werden (Conroy 2000: 6), nicht als Folter ein.Footnote 9 Vielmehr handele es sich dabei ‚bloß‘ um inhumane und degradierende Behandlung (s.a. Parry 2010: 111–114). Das ausgelöste pain and suffering hätte nicht den Grad von Folter („severe“) erreicht.Footnote 10 Das Urteil wurde auch in den juristischen Argumentationen der Bush-Administration genutzt, um die autorisierten Techniken, die The Five Techniques ähneln, außerhalb von Folter zu definieren (Bybee 2002). Entgegen der Auffassung des ECHR argumentiert Nowak zusammen mit Elizabeth McArthur, dass nicht der Grad der Qualen den Ausschlag geben kann, eben weil er schwer bestimmbar ist (Nowak/McArthur 2006). Vielmehr sei der Aspekt der detention entscheidend. Also kann beispielsweise identische (und illegale) Polizeigewalt als Cruel, Inhuman or Degrading Treatment eingeordnet werden, wenn sie während einer Demonstration stattfindet, jedoch als Folter, wenn sie in einer Zelle geschieht. Diese Betonung der Gefangenschaft, also der Kontrolle über den Körper und damit Wehrlosigkeit der Gefangenen als notwendige Bedingung, ist ein in der Tat nützliches Kriterium, um Foltersituationen einzugrenzen.

Schließlich mag die Einschränkung auf staatliche Akteure überraschen. Zwar ist sie sehr eng und es wäre sicher sinnvoll, auch para-staatliche und andere politische Gewaltakteure wie Milizen und terroristische Gruppen als potentielle Folternde einzubeziehen. Eine solche prinzipielle Eingrenzung ermöglicht es aber, Folter von – unter Umständen identischen – Praktiken abzugrenzen, die keinen politischen Charakter aufweisen. Der Historiker Edward Peters (1991: 23) argumentiert in seinem kanonischen Werk über Folter, es „ließe sich sagen, daß die Folter in gleicher Beziehung zu privaten Verstößen wie Besitzstörung, Körperverletzung oder Vergewaltigung steht wie eine durch den Staat verfügte Hinrichtung zu Mord“. Identische sexuelle beziehungsweise sexualisierte GewalthandlungenFootnote 11 sind demnach beispielsweise als Folter zu sehen, wenn sie im Zusammenhang von (para-)staatlicher Gefangenschaft stehen, nicht aber, wenn sie als häusliche Gewalt auftreten. Peters argumentiert in diesem Punkt sehr bestimmt und moniert die alltagssprachliche Ausweitung des Begriffs Folter bzw. torture auf verschiedenste Situationen, um deren qualvollen, schmerzvollen oder nur unangenehmen Charakter zu betonen (Peters 1991: 195–199). Für diese Engführung wurde Peters auch kritisiert. Im Fall der häuslichen Gewalt übersehe er damit deren strukturelle Ähnlichkeiten zu Folter (Copelon 1994, zit. n. Crelinsten 2002: 253). Collins (2008: 141) diskutiert langanhaltende häusliche Gewalt ebenso als „Terroristic Torture Regime“. Auch jüngere Veröffentlichungen fordern, geschlechtsbezogene Gewalt außerhalb von Gefangenschaft wie Vergewaltigung oder erzwungene Genitalbeschneidungen als „genderized torture“ (Pérez-Sales/Zraly 2018) zu begreifen. Ohne die Ähnlichkeiten in Abrede zu stellen, wie sie besonders für Vergewaltigung und Folter auffällig sind (s.a. Améry 1980: 56; Sussman 2005: 4), hat Peters’ allgemeine Sorge, dass eine starke Ausweitung des Folterbegriffs zu einem Verlust analytischer Schärfe führt, durchaus Berechtigung. Zum Zweck der vorliegenden Untersuchung verstehe ich daher – ohne jeden Anspruch auf Allgemeingültigkeit – Folter ausschließlich als Gewalt in Zusammenhang mit (para-)staatlicher Gefangenschaft und betrachte nur derartige Fälle.Footnote 12

2 Folter als extreme Machtdifferenz

Die UN-Definition zeigt bereits einen Rahmen von Foltersituationen auf, lässt aber vieles offen. Um das Spezifische an Folter und ihrer Funktionsweise soziologisch zu fassen, bedarf es daher weiterer Überlegungen. Die Betonung der subjektiven Erfahrung von Leid und Schmerz legt nahe, Foltersituationen dabei primär von der Perspektive der Gefolterten her einzugrenzen und phänomenologische Überlegungen einzubeziehen.

Häufig sind es die eindringlichen Worte Jean Amérys (1980) in „Jenseits von Schuld und Sühne“, auf die theoretisch orientierte Literatur verweist, um die Erfahrung der Folter zumindest im Ansatz begreifbar zu machen (s. z. B. Reemtsma 1991a: 26, 1991b: 17; Sussman 2005: 26; Taylor 2007: 710; Görling 2013: 125; van Grunsven 2014: 149). Der Holocaust-Überlebende Améry war im Zweiten Weltkrieg als Mitglied des belgischen Widerstands von der GestapoFootnote 13 gefoltert worden. Seine Beschreibungen von Folter als Verlust von „Weltvertrauen“ (Améry 1980: 56), „Grenzverletzung des Ichs“ (Améry 1980: 63) und absoluten Machtgewinn des Folterers, der zu einem „Herr über Fleisch und Geist, Leben und Tod“ (Améry 1980: 66 f.) werde und dem der Gefolterte teilweise gar „eine Art schmählicher Verehrung entgegenbrachte“, haben die Vorstellung von Folter entscheidend mitgeprägt. Spätere phänomenologische Beschäftigungen wie die von Scarry (1992) in ihrem ebenfalls vielzitierten Werk „Der Körper im Schmerz“ und im deutschsprachigen Raum von Sofsky (1996: 83–100) oder dem Phänomenologen Christian Grüny (2003, 2004: 189–212) liefern ähnliche Beschreibungen und Analysen. In solchen phänomenologischen Auseinandersetzungen sowie in weiterer an ihnen anschließender theoretisch orientierter Literatur sind Foltersituationen wie bei Améry durch den extremen Antagonismus zwischen Folterer:in und Gefolterten gekennzeichnet (Breger 2022: 95 f.; Inhetveen et al. 2020: 12).Footnote 14 Obwohl die damit verbundene Vorstellung einer absoluten Machtdifferenz nicht der Komplexität der empirischen Realitäten gerecht wird (Inhetveen et al. 2020: 12–14; Köthe 2021), ist es durchaus sinnvoll, die extreme Asymmetrie von Foltersituationen als Ausgangspunkt zu nutzen, um das Spezifische an Folter greifbar zu machen.

Den Gegensatz zwischen Folternden und Gefolterten beschreibt Sofsky (1996: 89) beispielsweise mit folgenden Worten:

Der Antagonismus von Täter und Opfer markiert den äußersten Grenzpunkt sozialer Gegenseitigkeit. Die Tortur ist kein Duell, keine Kraftprobe des Willens. Der Gefolterte hat keine Chance zur Gegenwehr.

Für Sofsky stellt die Folter gleichsam einen Endpunkt des Sozialen dar; eine Situation, die so stark durch Asymmetrie geprägt ist und in der die Gefolterten so sehr unterworfen sind, dass die Foltergewalt gar nicht mehr als soziales Handeln verstanden werden könnte (Sofsky 1996: 92). Grüny (2004: 192) formuliert in ähnlicher Weise:

Die Situation der Folter läßt dem Opfer keinerlei Deutungsspielraum, was die eigene Position angeht: Es ist ausgesetzt und hilflos, Objekt und nicht Partner des Handelns. Der Folternde demonstriert, daß sein Zugriff keine Grenzen kennt und daß es diesem Zugriff vollständig ausgeliefert ist.

Gefolterten werden in dieser Perspektive also keine Handlungsmacht oder gar Widerstandsmöglichkeiten eingeräumt. In solchen Maximalformulierungen („keine Chance“, „keinerlei Deutungsspielraum“, „keine Grenzen“, „vollständig ausgeliefert“) erscheinen Gefolterte ausschließlich als passive Opfer, die die Gewalt der Folternden wehrlos erleiden müssen. Genau dieses maximale Ausgeliefertsein aufseiten der Gefolterten bedeutet spiegelbildlich den äußersten Machtgewinn aufseiten der Quälenden. „Der absoluten Macht der Folterer entspricht die absolute Ohnmacht der Opfer“ schreibt ganz in diesem Sinne auch der Soziologe Jürgen Mackert (2011: 454). Dieser Machtgegensatz ist auch auf die emischen Situationsdeutungen zu beziehen. Die Soziologin Laura Wolters (2022: 94 f.) schreibt zu Vergewaltigung (die eine mögliche Foltertechnik darstellt): „Die sexuelle Übermächtigung bedeutet auch eine Übermächtigung in Bezug auf die Deutungshoheit über die Situation [als sexuelle Situation]“. Auch bei Foltersituationen besteht die Ohnmacht unter anderem darin, dass für Gefolterte die soziale Situation als eine extreme Machtdifferenz komplett bestimmt ist, sie also keinen „Deutungsspielraum“ (Grüny 2004: 192) bei der Definition der Situation haben.

Die Machtdifferenz von Foltersituationen lässt sich begrifflich anhand der Machttheorie Popitz‘ beschreiben. Popitz (1992: 17) folgt zunächst Max Webers klassischer Machtdefinition, die besagt, dass Macht jede Chance bedeute, „innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichwohl worauf diese Chance beruht“ (Weber 2014: 38). Die anthropologische Grundlage von Macht (also die grundlegendste „Chance“, auf der Macht beruht) identifiziert Popitz (1992: 43 ff.) in der Verletzungsoffenheit und Verletzungsmächtigkeit, welche alle Menschen miteinander teilen. Unter Verletzungsmacht versteht er die „Macht, andere etwas erdulden zu lassen“ (Popitz 1992: 43). Sie zeige „unverhüllter als in anderen Machtformen, wie überwältigend die Überlegenheit von Menschen über andere Menschen sein kann“ (Popitz 1992: 43). Verletzungsoffenheit wiederum bedeute die „Fragilität und Ausgesetztheit seines Körpers, seiner Person“ (Popitz 1992: 44). Die aus diesen beiden – miteinander verzahnten – anthropologischen Konstanten resultierende Möglichkeit (oder „Chance“) Gewalt auszuüben (d. h. zu verletzen) nennt Popitz Aktionsmacht. Diese „direkteste Form von Macht“ (Popitz 1992: 43) kommt bei der Folter in Form von Induzieren von pain and suffering zum Einsatz (z. B. bei Schlägen). Durch die Gefangenschaft, also die Kontrolle über den Körper der Gefolterten und die daraus resultierende Wehrlosigkeit, sind in Foltersituationen Verletzungsmächtigkeit und -offenheit „maximal ungleich verteilt“ (Breger 2022: 94). Damit unterscheidet sich Folter deutlich von weniger asymmetrischen Gewaltsituationen wie Schlägereien oder von solchen Situationen, in denen Unterlegene Fluchtversuche unternehmen können. Insofern ist Sofskys Pochen darauf, Folter nicht als eine Art Wettkampf zu deuten, sehr berechtigt.

„Vollkommene Macht“, welche „vollkommene Ohnmacht“ bewirke, beruht für Popitz (1992: 54) allgemein auf der Fähigkeit zur ‚absoluten‘ Gewalt, das heißt: die Möglichkeit, andere Menschen nicht nur zu verletzen, sondern zu töten. Ganz im Sinne Amérys (1980: 66 f.) bedeute vollkommene Macht „Herr-Sein über Leben und Tod“ (Popitz 1992: 53). Diese Vollkommenheit ist aber nicht voraussetzungslos, wie Popitz (1992: 59) am Beispiel der Märtyrer:in beschreibt: „Der Machthaber kann den Märtyrer töten – er ist Herr über seinen Tod –, aber er kann ihn nicht zwingen, am Leben zu bleiben“. Die Bereitschaft zu sterben kann also Unterlegenen die Möglichkeit bieten, Gehorsam zu verweigern und so die Machtausübung zu unterlaufen (s.a. Giddens 1997: 229). Folter – zumindest in ihren modernen Ausprägungen – zielt jedoch nicht auf Tötung. Gefolterten ist auch gewöhnlich die Möglichkeit zur Selbsttötung genommen (Mackert 2011: 452; Breger 2022: 94). Dies gilt auch für den War on Terror. So wurden beispielsweise in Guantánamo und in CIA-Blacksites äußerst gewaltsame Zwangsernährungen durchgeführt, um Gefangene am Leben zu erhalten (s. Abschnitt 12.6). Das Ausgeliefertsein der Gefolterten bezieht sich also nicht nur auf ihre extreme situative Verletzungsoffenheit – sprich: die Unfähigkeit, sich gegen die erleidende Gewalt zu wehren oder ihr zu entgehen –, sondern auch auf die Unfähigkeit, sich selbst tödlich zu verletzen oder anderweitig den eigenen Tod herbeizuführen. Die Macht, die Folternde ausüben, erscheint somit durchaus als „vollkommen“.

Nichtsdestotrotz sind der absolute Antagonismus zwischen Folternden und Gefolterten und die hierin begründete maximale Machtdifferenz idealtypisch und als „theoretische Fiktionen“ (Köthe 2021: 81) zu verstehen; und dies aus zwei Gründen. Erstens ist Folter keineswegs als rein dyadische Beziehung zu denken (Inhetveen et al. 2020: 13). So wurde bereits vielfach nicht nur auf die institutionelle und organisationale Eingebundenheit der Folternden (s. z. B. Rejali 2007: 163; Cakal 2021) hingewiesen, welche die vermeintliche Allmacht derselben einschränkt, sondern auch auf die Relevanz von (dem) Dritten für das Verständnis von Folter im Speziellen (Taylor 1997: 129; Görling 2012: 66; Gardell 2008: 152 f.) und von Gewalt im Allgemeinen (Nedelmann 1997: 66 f.; Reemtsma 2013: 467–488; Koloma Beck 2011; Lindemann 2014: 253–276, 2018: 67 f.). Foltersituationen sind empirisch durch komplexe Konstellationen von Akteuren (Inhetveen et al. 2020: 13) und weiteren nicht-menschlichen Elementen geprägt, wie ich in den Abschnitte 1014 am Fall des War on Terror darstellen möchte. Neben Verhörer:innen sind häufig unmittelbar medizinisches Personal, guards oder andere Gefolterte beteiligt. Dabei ist eine Unterscheidung zwischen beobachtenden Dritten und aktiven Teilnehmer:innen nicht immer möglich, sodass auch Ärzt:innen oder Übersetzungspersonal Gewalt ausüben – also als Folternde auftreten – können. Zudem kann das Dritte in Form von Öffentlichkeit oder technischen Artefakten wie Kameras präsent sein (Inhetveen et al. 2020: 13). Im War on Terror übertrugen beispielsweise Kameras oder einseitig verspiegelte Fenster häufig Verhöre in benachbarte Zimmer, in denen weiteres Verhörpersonal das Geschehen beobachtete (s. Abschnitt 14.6). Technische Intermediäre erweitern dann die Situation im Goffman’schen Sinne zur „synthetic situation“ (Knorr Cetina 2009), die über bloße körperliche Kopräsenz hinausgeht.

Zweitens ist die Ohnmacht der Gefolterten nicht immer absolut. Obwohl sie prinzipiell wehrlos sind, können sie immer wieder Widerständigkeiten oder zumindest autonome Handlungsfähigkeit entwickeln (s. bspw. zum Fall Argentinien Heredia 2010: 202–227). So erzeugten Guantánamo-Insassen mittels kollektiver Hungerstreiks organisationale Probleme (Köthe 2021; s.a. Nungesser 2019: 329 f.). Aber auch mit anderen, weniger sichtbaren Praktiken wie innerlich vollzogenen Gebetshandlungen erscheinen Gefolterte bei genauerem Hinschauen häufig als erstaunlich aktiv. Die Vorstellung von Gefolterten als absolut passive Opfer greift also zu kurz. In Kapitel 12 komme ich auf die Frage nach Ohnmacht und Widerständigkeit von Gefolterten vor dem Hintergrund des empirischen Materials zurück. Dabei gilt es, „eine Sprache zu finden, welche die radikale Asymmetrie des Folterkontexts nicht relativiert, zugleich aber sensibel bleibt gegenüber Resilienzen, Coping-Strategien und widerständigen Handlungen“, wie der Soziologe Frithjof Nungesser (2019: 392) treffend formuliert.

3 Die Funktionsweise von Folter

Was bedeutet es genauer, wenn man sagt, Folternde nutzen die Verletzungsoffenheit der Gefangenen aus, um Macht über sie auszuüben? Die phänomenologische Unterscheidung zwischen Körper und Leib ist nützlich, um sich dieser Frage zu nähern. Die Folter als spezifische Form von Gewalt zielt weder primär auf die (äußerliche) Verletzung des objektiven Körpers als Zeichen, wie die Marter des Ancient Regime (Foucault 2015: 44–90), noch auf dessen Überwältigung oder Tötung, sondern auf das subjektive Erfahren von pain and suffering. Der Psychiater Federico Allodi (1999: 102) schreibt:

The intention and effect of torture are based on the properties of the natural body [Körper], mostly its tendency to unity with the experienced body [Leib] and thereafter with the spirit or consciousness. That is, torture is observed as physical violation and damage, and experienced as pain and suffering.

Das heißt, Folter richtet sich „zwar als äußerliche Handlung auf den Körper als Objekt, greift aber zugleich den an ihn gekoppelten Leib und das Selbst an“ (Breger 2022: 96). Es sind also die leibkörperliche Verfasstheit und die unhintergehbare Umweltoffenheit des Menschen, die Folternde auf vielfältige Weise gegen die Gepeinigten wenden.

Extremer Schmerz als Verbindung oder „Scharnier“ (Inhetveen 2017: 104) zwischen dem äußeren Zugriff auf den Körper und dem subjektiven leiblich-psychischen Leiden steht im Zentrum der phänomenologischen Theorien der Folter von Scarry, Sofsky und Grüny. Entscheidend in dieser Perspektive ist, dass eine Art ‚Verleiblichung‘ der Gefolterten eintritt. Das bedeutet, dass das Individuum nur noch durch „einen alles überstrahlenden Schmerz mit der Welt verbunden ist“, wie der Soziologe David Le Breton (2003: 32) allgemein über extremen Schmerz schreibt. Keine andere Wahrnehmung oder leibliche Erfahrung ist mehr möglich. Da das „hier“ des Leibes „absolut“ (Schmitz 2011: 2), also „nicht eine im Verhältnis zu anderen Positionen […] bestimmte Ortslage, sondern vielmehr die Festlegung der ersten Koordinaten“ (Merleau-Ponty 1974: 125) ist, ist beim Erfahren des extremen Schmerzes kein sinnhafter Weltbezug mehr möglich. Daher spricht Scarry (1992: 57) auch von „Auslöschung der Bewußtseinsinhalte und […] Zerstörung der Welt“. In diesem Zuge bricht auch jede reflexive Distanz zu sich selbst zusammen (Grüny 2003: 91). Mit den Worten Plessners (1975) gesprochen, verlieren Gefolterte so ihre exzentrische Positionalität, weil sie nur noch ihr Leib sind, der passiv Schmerz erfährt. Folglich widerfährt Gefolterten in diesem Sinne gleichsam eine ‚Animalisierung‘ (Trotha 1997: 28). Améry (1980: 66) nennt diese Erfahrung „Verfleischlichung“ und Grüny (2004: 229) „Materialisierung“. Durch das Erleiden solchen Schmerzes wird der „eigene Leib selbst zum Feind […] zum Komplizen der Folter“ (Sofsky 1996: 94).Footnote 15 Es ist daher naheliegend, dass in solchen Momenten Bewusstlosigkeit und sogar der Tod für Gefolterte willkommen sein können (Améry 1980: 68). Solche tiefgreifenden Erfahrungen sind es auch, die über die Foltersituationen hinaus bleibende Traumatisierungen bei Folterüberlebenden verursachen (Grüny 2003: 113).

Im Erfahren von äußerstem Schmerz sowie der damit verbundenen radikalen Verletzungsoffenheit und Wehrlosigkeit zeigt sich die beschriebene Machtdifferenz besonders deutlich, denn hier sind Gefolterte tatsächlich zur Passivität verurteilt und sie erfahren die Übermacht ihrer Peiniger:innen unmittelbar im eigenen Erleiden-Müssen. Diese Momente sind wie die absolute Machtdifferenz jedoch idealtypisch zu verstehen und betreffen nur einen Teil der Folter, die sich über längere Zeiträume erstreckt. Nicht nur graduieren Folternde häufig den Schmerz (Foucault 2015: 46; Inhetveen 2011: 381 f.), sodass die absolute Verleiblichung nicht immer gleichermaßen auftreten muss (was die phänomenologische Literatur weniger berücksichtigt). Auch ist Schmerz nicht das einzig mögliche ‚Scharnier‘. Insbesondere für den War on Terror und andere moderne Fälle wie dem Nordirland-Konflikt, in denen oft nicht schmerzinduzierende Methoden angewandt wurden, ist es wichtig zu fassen, was Folter jenseits von Schmerzzufügung bedeutet. Dies wird in der Literatur zunehmend berücksichtigt (s. bspw. Hilbrand 2015; Cakal 2018; Pérez-Sales et al. 2016; Nungesser 2019; Pérez-Sales 2020, 2021).

Zur Schmerzinduktion wie Schlägen kommen zunächst Praktiken hinzu „die den Effekt der Folter und die Erfahrung des Schmerzes verstärken, ohne diesen selbst zu induzieren“ (Breger 2022: 97) wie erzwungene Nacktheit und andere demütigende Aufnahmeprozeduren (Goffman 2016: 27 ff.), soziale Isolierung, beleidigende und degradierende Sprechakte sowie verschiedene Desorientierungen wie das gezielte Im-Unwissen-Halten über Aufenthaltsorte, Uhrzeiten oder zukünftige Pläne. Grundsätzlich werden die Foltersituationen und die rahmende Gefangenschaft mit ihren räumlichen und zeitlichen Strukturen so organisiert, dass sie in den Gefolterten möglichst viel Unsicherheit verursachen. Solche Praktiken sind nicht bloß für sich genommen leidinduzierend, sondern können die leibliche Erfahrung von Schmerz verstärken. Schließlich „läßt sich [Schmerz] nicht außerhalb der sozialen Beziehungen verstehen“ (Le Breton 2003: 8). Gleichsam als negatives Spiegelbild einer Schmerzklinik verhindern Folternde mittels dieser Praktiken laut Grüny (2004: 207) Linderung:

Wo die soziale Situation des Patienten in einer Weise verändert werden soll, die ihm möglichst viel Rückhalt und emotionale Stärkung gibt, wird der Gefolterte der größtmöglichen Unsicherheit und Verlassenheit ausgesetzt.

Hier zeigt sich auch der zum Teil theatralischeFootnote 16 und rituelle Charakter von Folter (s.a. McCoy 2006: 10). Für Carola Hilbrand (2015), die einen dezidiert theaterwissenschaftlichen Ansatz verfolgt, steht dieser Charakter im Fokus der Analyse, während die Psychologin Françoise Sironi Folter allgemein als gewaltsame „deculturation“ (Sironi/Branche 2002: 540) versteht, das heißt: als den Versuch der Zerstörung von kultureller Identität durch Folter als Ritual der Herauslösung. Auch der Soziologe Daniel Bultmann (2020) erkennt in der Semiotik der Folter der Roten Khmer einen liminal-rituellen Prozess. Das ritualtheoretische Konzept der Liminalität (Van Gennep 2005; Turner 1970: 93–111; in Bezug auf Folter: Zirfas 2004) ist hier ebenso wie das der totalen Institution von Goffman (2020; in Bezug auf Folter: Grüny 2003: 92; Mackert 2011: 452; Nungesser 2020: 54) hilfreich für das Verständnis von Folter als gewaltsamer Prozess der Transformation (s. Abschnitt 10.1). Für den Kulturwissenschaftler Reinhold Görling (2012: 63 ff.) besteht Folter gar völlig aus der Umkehrung sozialer Anerkennungsrituale, die eine ebenfalls umgekehrte Funktion haben: Exklusion statt Integration. Wenn Peter Dienel (1971: 9) in Bezug auf Goffman und den öffentlichen Raum schreibt: „Körperliche Anwesenheit bedeutet eine grundsätzliche Gefährdung“, und weiter: „erst die Ordnung der Situation macht die beruhigenden Signale des Anderen verständlich“, dann gilt für Folter das Gegenteil.Footnote 17 Die Ordnung von Foltersituationen ist auf extreme ‚Beunruhigung‘ ausgelegt. So relevant diese Praktiken sind, halte ich es aber nicht für sinnvoll Folter völlig in ihrer Inszenierung aufgehen zu lassen, weil ansonsten die Gefahr besteht, dass die Rolle des leiblichen Leidens und des körperlichen Zugriffs in den Hintergrund rückt.Footnote 18

Des Weiteren nutzen moderne Folternde Techniken, die nicht primär Schmerzen verursachen, aber dennoch über den äußeren Zugriff auf den Körper leiblich-psychisches Leiden induzieren und keineswegs als „torture lite“ (Wolfendale 2009) verstanden werden dürfen.Footnote 19 Nicht zuletzt adressieren Handlungsentwürfe und Praktiken im War on Terror die gefolterten Körper über die Zufügung sensorischer Reize wie Musik, Kälte oder grelles Licht sowie durch den gezielten Entzug derselben (‚sensorische Deprivation‘). Solche teils als ‚psychologische Folter‘ bezeichneten Praktiken (s. z. B. McCoy 2012b; Pérez-Sales 2016) funktionieren wie Schmerzinduktionen über die oben beschriebene Verknüpfung von Körper, Leib und Selbst, nutzen aber andere ‚Scharniere‘ (Inhetveen 2017: 104).Footnote 20 Gleiches gilt für Schlafentzug, den verschiedene Wachhalte-Praktiken wie die Zufügung von akustischen Reizen erzeugen, und schaminduzierende Techniken wie erzwungene Nacktheit.

Die verschiedenen möglichen Foltertechniken mit ihren unterstützenden Praktiken adressieren also den Körper mit dem Ziel der Produktion von pain and suffering auf unterschiedliche Weise. Inhetveen (2011) unterscheidet zwischen Inflictions, Deprivation und Subjecting the body to its own functions. Letztes meint, dass der Körper zwangsweise in eine Lage gebracht wird, die leibliche Qualen ohne weitere Zufügung oder Deprivation produziert (z. B. erzwungenes Stehen). Diese Einteilung ist nützlich, um Foltertechniken bezüglich ihres Körperbezuges und unabhängig vom verwendeten ‚Scharnier‘ zu systematisieren, wobei sich die drei Typen durchaus überschneiden können. Zum Beispiel ist die Verwendung von grellem Licht zunächst eine Zufügung von starken optischen Reizen, zugleich aber ein Entzug von Tageslicht und dadurch von Zeitstruktur. Darüber hinaus unterscheidet Nungesser (2019: 379) sechs „Kanäle“ (ähnlich dem „Scharnier“-Begriff, Inhetveen 2017: 104), welche Folternde als Verbindungsglied zwischen Verletzungsoffenheit und -mächtigkeit des Menschen ausnutzen. So greifen Folterpraktiken über physische Gewalt hinausgehend „die Körperkontrolle, die Territorien des Selbst und den personalen Status der Opfer an“ und untergraben „soziale Einbettung, identitätsstiftende […] Werte und Erwartungshorizonte“ der Gefolterten. Diese sechs ‚Kanäle‘ sind ebenfalls nützliche Heuristiken, um Folterpraktiken über ihren konkreten Körperbezug hinaus zu differenzieren.

4 Folter als intersubjektiver Prozess

Folternde nutzen bei der Herstellung von Foltersituationen die Vielfältigkeit der menschlichen Verletzungsoffenheit aus, die die unhintergehbare Leiblichkeit und Verstrickung des Menschen mit seiner Umwelt bedingen, um subjektive Erfahrungen von pain and suffering zu erzeugen. Wenn Sofsky (1996: 92) schreibt, dass Folter die Person in einen Organismus verwandle, „in ein lebendes Stück Fleisch, in ein Arbeitsobjekt, an dem sie herumhantiert und dessen Zustände sie willkürlich manipuliert“, dann ist das einerseits zweifellos richtig; nämlich in Bezug auf das Ausgeliefertsein und die häufige Immobilisierung von Gefolterten. Andererseits ist die Vorstellung einer „Vergegenständlichung“ (Sofsky 1996: 92) insofern irreführend, als dass – anders als beispielsweise beim Schlachten von Tieren – Gefolterte in der Gewaltpraxis ja gerade als fühlende und leidensfähige Subjekte adressiert werden und nicht als bloße „Arbeitsobjekte“ (s. zu diesem Punkt auch Nungesser 2019: 386). Das bedeutet außerdem, dass Folter eines gewissen ‚Einfühlungsvermögens‘ bedarf, das ich an anderer Stelle in Anschluss an Alfred Schütz als „leibkörperliche Reziprozität“ (Breger 2022: 98) bezeichnet habe und das in einem Spannungsverhältnis zu der Relevanz des Otherings und Feindkonstruktionen steht (s.a. Abschnitt 13.4). Menschen gezielt Leid zu induzieren, setzt voraus, dass die Folternden den Körper des zu Folternden alter ego als „Ausdrucksfeld“ (Schütz 2016b: 168) des inneren Geschehens interpretieren müssen, also den nicht direkt wahrnehmbaren fremden Leib appräsentieren. Eine solche Appräsentation ist zugleich eine grundlegende Voraussetzung für Perspektivenübernahme und ferner für gegenseitiges Verstehen und soziale Interaktion im Allgemeinen (Schütz 1971: 146 f., 2016a: 141 ff.; s.a. Knoblauch 2017: 104–110). Die Soziologin Stephanie Stadelbacher (2010: 304) schreibt in diesem Sinne in Bezug auf Schütz:

Der wahrnehmbare Körper und der (appräsentierte) wahrnehmende Leib gehören zusammen. Der ego prinzipiell ähnliche Körper von alter ego wird so zum Ausgangspunkt für die Generalthese der Reziprozität der Perspektiven, die Basis jeder Intersubjektivität.

Jeder intersubjektive Prozess basiert also auch auf der Wahrnehmung des anderen Körpers als ähnlich zu dem von ego und daher auf der Annahme eines ähnlichen Leibkörpers von alter ego als „psychophysische Einheit“ (Schütz 1971: 146). Eine Vergegenständlichung, wie sie Sofsky postuliert, ist demnach nur schwer vorstellbar, weil eben dieser basale Prozess notwendig ist, sofern Folter als gezielte Leidinduktion verstanden werden soll. Zwar ist diese leibkörperliche Reziprozität in den oben beschriebenen Fällen extremen Schmerzes nicht selbst reziprok, sondern einseitig. Dennoch wird vor diesem Hintergrund deutlich, dass Foltergewalt stets als soziales Handeln verstanden werden muss und Foltersituationen als soziale Situationen (Breger 2022: 93–97).

Folter richtet sich aber nicht nur auf ein alter ego, das als leidfähig verstanden wird, sondern auch als handlungsfähig. So schreibt der Philosoph David Sussman (2005: 30):

Torture does not merely insult or damage its victim’s agency, but rather turns such agency against itself, forcing the victim to experience herself as helpless yet complicit in her own violation.

Folter erzwingt also sogar eine ‚Verstrickung‘ der Agency von Gefolterten in die Foltergewalt. Ihre Handlungsmacht wird gegen sie selbst gewendet; ein Vorgang, der ganz ähnlich bei sexueller beziehungsweise sexualisierter Gewalt vorkommt (s. hierzu Wolters 2022: 202–209).Footnote 21 Wolters (2022: 202) bemerkt dazu: „Die hier untersuchte [sexuelle] Gewalt üben die Täter als Personen an Personen aus, an Subjekten mit Agency, an handlungsfähigen Wesen“. Dieser Punkt wird bei Folter anhand des Beispiels eines erzwungenen Geständnisses deutlich, das eine Gefolterte zunächst nicht machen wollte. Ein solches bedeutet ja nicht nur eine Unterwerfung unter den Willen der Folternden, sondern ist auch eine Handlung, wenngleich sie unter Zwang geschieht. Um ein simples Gegenbeispiel zu nennen: Man würde sicher nicht behaupten, dass ein Objekt, welches jemand gezielt von einem Abgrund stößt – sei es ein menschlicher Körper, ein Stein oder ein anderer Gegenstand –, dazu gezwungen worden wäre, zu fallen. Denn ein solcher Stoß ist eine rein mechanisch-physische Einwirkung auf das Objekt und das Fallen deren notwendige Auswirkung und keine Handlung. Anders verhält es sich, wenn jemand mit vorgehaltener Waffe (also mittels Drohung) jemand anderen dazu bringt (bzw. ‚zwingt‘) selbst zu springen. Hier besteht der Zwang darin, die Handlungsoptionen durch Sanktionsdrohung extrem einzuengen, also eine Frage zu „oktroyieren“ (Popitz 1992: 81), die die Unterworfenen sich nicht stellen wollten. Zwang und Handlungsfähigkeit sind also keine Gegensätze. Vielmehr setzt Zwang Handlungsfähigkeit voraus, wie grundsätzlich Anthony Giddens (1997: 229 ff.) bemerkt. Im Vokabular Popitz’ gesprochen nutzen Folternde nicht nur Aktionsmacht, sondern auch „instrumentelle Macht“ (Popitz 1992: 79), die stets „über Subjekte ausgeübt wird, die prinzipiell im gleichen Sinne handlungsfähig sind wie die Machtausübenden“.

Folternde nutzen nun ihre Übermacht auch dazu aus, subjektive Erfahrungen von „Mitwirkung“ (Wolters 2022: 202) zu erzeugen. Wie die Philosophin Janna van Grunsven (2014) in Hinblick auf Sussman richtig feststellt, ist dies auch vor dem Hintergrund des anthropologischen Doppelaspekts menschlicher Existenz zu sehen. Der eigene Leib kann nämlich nur deshalb als „Komplize der Folter“ (Sofsky 1996: 94) wahrgenommen werden, weil Gefolterte ein reflexives Verhältnis zu ihrem Leibkörper einnehmen können (aufgrund des temporären Verlustes von exzentrischer Positionalität zwar nicht in den Momenten maximalen leiblichen Leidens; wohl aber danach). Techniken, die Subjecting the body to its own functions (Inhetveen 2011) als Körperzugriff nutzen, zielen – zumindest in der emischen diskursiven Foltertheorie des US-Folterkomplexes – genau auf solche Erfahrungen der ‚Verstrickung‘ oder Mitwirkung. Das KUBARK-Manual schätzt die ‚Effektivität‘ von ‚selbst-induziertem‘Footnote 22 Schmerz gegenüber von außen zugefügtem deshalb als höher ein, weil beim ersten die Gefolterten sich als mitverantwortlich für ihr Leiden erführen (CIA 1963: 93–95). Die erzwungenen Masturbationen in Abu Ghraib sind ein weiteres Beispiel für Folter durch erzwungene Agentschaft (s. z. B. DoD 2004: 2).

Bei diesem Aspekt der Folter sollten zwei Ebenen unterschieden werden. Erstens kann Folter seitens der Gefolterten stets situativ und affektiv als Mitwirkung gedeutet werden,Footnote 23 da sie die Leiblichkeit der Gefolterten gegen sie wendet. Hier erfahren Gefolterte ihren Leibkörper also als komplizenhaft, wobei sie nicht zu bestimmten Handlungen gezwungen werden müssen (z. B. bei ‚selbst-induziertem‘ Schmerz durch Körperpositionen, die mittels Fesselungen gewaltsam ohne ihr Mittun hergestellt werden). Davon abzugrenzen sind zweitens Praktiken der erzwungenen Agentschaft, bei denen durch Sanktionsandrohung eine bestimmte Handlung (z. B. mit ausgestreckten Armen stehen oder Masturbation) erzwungen wird.Footnote 24 Das Postulat der Handlungsunfähigkeit der Gefolterten greift also nicht nur zu kurz, weil Gefolterte widerständige Praktiken entwickeln können, sondern weil Handlungsfähigkeit Teil der Funktionsweise von Folter ist. Das bedeutet, die Agency von Gefolterten ist nicht grundsätzlich ausgeschaltet, aber im höchsten Grad ambivalent.

5 Intentionalität und Instrumentalität

Implizit habe ich Folter in Anschluss an Allodi (1999: 202) bisher insofern als instrumentelle Gewalt verstanden, als ich davon ausgehe, dass die verschiedenen Praktiken mit dem Ziel angewendet werden, leiblich-psychisches Leiden zu induzieren. Damit ist aber zunächst nur der intentionale Charakter der Folter als Leidinduktion benannt (Cakal 2021: 156). Die – tendenziell über Foltersituationen im engen Sinne hinausführende – Frage nach dem Zweck der Leidinduktionen ist so relevant wie heikel. Relevant, weil die Instrumentalität notwendige Bedingung der UN-Folterdefinition ist; heikel, weil die Frage unmittelbar mit der Legitimierung durch folternde Akteure verbunden ist. Hinsichtlich dieser Frage nach dem Zweck der Folter findet sich eine gewisse Diskrepanz zwischen der juristischen Literatur und besonders der rechtlichen Praxis einerseits und der sozial- und kulturwissenschaftlichen sowie psychologischen Literatur andererseits.

Die UN-Definition nennt unterschiedliche Zwecke der Folter (nämlich „obtaining (…) information or a confession, punishing (…), or intimidating or coercing“, UN 1984), ohne Folter auf diese kategorisch zu beschränken. Der Rechtswissenschaftler Ergün Cakal (2021: 154) schreibt in Bezug auf die juristischen Diskurse und rechtliche Praxis von Gerichten, dass erstens diese Zwecke zumeist als staatliche Motive (entgegen privaten) interpretiert wurden. Zweitens wird mithilfe des juristischen Begriffs des ejusdem generis die Konvention in Bezug auf weitere mögliche Zwecke folgendermaßen ausgelegt: „The use of the phrase ‚for such purposes as‘ indicates a preference for a purpose or motivation to achieve an intended end that is akin to those that have been listed“ (Cakal 2021: 154 [Herv. i. O.]). Entsprechend argumentierte ein Teil der urteilenden Gerichte, dass ein klar erkennbarer Zweck, der im staatlichen Interesse steht, vorhanden sein müsse, um fragliche Gewaltpraktiken als Folter klassifizieren zu können (Cakal 2021: 154).Footnote 25

Demgegenüber betonen viele akademische Autor:innen, dass der Zweck der Folter nur schwer bestimmbar ist (wenn Folter denn überhaupt auf mehr als auf Unterwerfung ziele). Mit der Vorstellung der Folter als absolute Machtdifferenz ist zudem meist die Annahme verbunden, dass moderne Folter anders als die der Frühen Neuzeit nicht (mehr) der Wahrheitsfindung dient. So argumentiert Scarry (1992: 70 f.), dass der Zweck der Informationsgewinnung in Verhören bloß vorgeschoben sei. Die Literaturwissenschaftlerin unterteilt Folter in die Zufügung von Schmerz und in die Befragung. Während zweites als Zweck des ersten zu fungieren scheine, sei das Gegenteil der Fall. Die Befragung sei nur der moralische und politische Vorwand für die Schmerzzufügung. Die Antwort sei nicht aufgrund enthaltener Informationen wichtig, sondern, weil sie eine Unterwerfung unter den Willen der Folternden bedeute.

Andere Autor:innen argumentieren, Folter ziele statt auf die Produktion von Geständnissen oder Informationen zwar situativ auf die ‚Brechung‘ des Individuums beziehungsweise seiner Identität, dabei aber letztlich auf Verbreitung von Schrecken in der gesamten Bevölkerung oder einer „‚gemeinte[n]‘ Gruppe“ (Reemtsma 1991b: 18). Diese Behauptung ist, wenn sie mit dem Anspruch auf absolute Allgemeingültigkeit vorgebracht wird (z. B. Sironi/Branche 2002: 539; Görling 2013: 124 f.), sicher nicht haltbar. Jedoch ist seit dem 20. Jahrhundert in der Tat vermehrt Folter als Teil von Staatsterror aufgetreten, bei dem bewusst eine gewisse Willkür bei der Auswahl der Opfer angewandt wurde, wie es beispielsweise Diane Taylor (1997) für den Fall Argentinien zeigt. Die Geheimhaltung der Folter wurde nicht so weit getrieben, dass die Folter vollständig unsichtbar wurde. Vielmehr wurde durch die teils öffentliche Inszenierung des ‚Verschwindens‘ und die Rückkehr der traumatisierten und verletzten Folterüberlebenden oder der toten Körper in die gesellschaftliche Sichtbarkeit die Folter als offenes Geheimnis praktiziert, um die Bevölkerung durch Angst unter Kontrolle zu halten (s.a. Reemtsma 1991b: 14). Die gefolterten Körper dienen hier also gleichsam als Kommunikation an Dritte. Diese Form kann mit Rejali auch allgemeiner als „civic disciplinary model“ (Rejali 2009: 55) gefasst werden, in dem Folter der Disziplinierung von zumeist als ‚Andere‘ verstandene und marginalisierte Teile der Bevölkerung dient, wie beispielsweise mutmaßliche (afro-amerikanische) Drogendealer im US-amerikanischen urbanen Kontext (Rejali 2009: 57 f.). Die Verletzung des individuellen physischen Körpers kann in dieser Perspektive als Disziplinierung des sozialen Körpers verstanden werden (s. in Hinblick auf Papua: Hernawan 2016). Jedoch wäre es empirisch nicht überzeugend zu meinen, damit den einen ‚wahren‘ Zweck der modernen Folter ausgemacht zu haben.

Grundsätzlich können sich verschiedene Zwecke überlagern sowie sich entlang verschiedener Ebenen unterscheiden – beispielsweise mögen Folternde vor Ort andere Motive verfolgen als politisch verantwortliche, aber abwesende Akteure – und die Frage nach den Motiven für Folter ist letztlich eine empirische (Inhetveen et al. 2020: 11 ff.). Informationsgewinnung (also Folter als Verhörtechnik), beispielsweise zur Aufdeckung ‚feindlicher‘ Netzwerke, kategorisch auszuschließen, ist nicht überzeugend. Im War on Terror ist das Produzieren von intelligence (also nachrichtlich relevanter Informationen) als ein initiales, organisational rationalisierendes, Ziel klar erkennbar. Dies betrifft vorrangig die Anfangszeit des Folterkomplexes und bedeutet keineswegs, dass dieses Ziel situativ immer ausschlaggebend gewesen sein muss. Die Folter des War on Terror kann des Weiteren zugleich als eine Bestrafung von oder Drohung an Kollektive sowie als militärpsychologische Experimente (Denbeaux et al. 2015) verstanden werden. Auch Améry (1980: 61, 67), auf den sich eine Vielzahl der phänomenologischen sowie weiteren Literatur bezieht, nennt die Informationsgewinnung zumindest als ein Ziel der Gestapo-Folter. Zudem machen counterinsurgency wars und ähnliche bewaffnete Konflikte Folter wahrscheinlicher, in denen eine Seite zumeist ohne das Tragen erkennbarer Uniformen Guerilla-Taktiken anwendet (oder solche ‚feindlichen‘ Gruppen vom Folterregime imaginiert werden) und daher intelligence eine größere Rolle spielt, wie der Soziologe Christopher Einolf (2018) argumentiert. Rejali (2009: 46) nennt dies das „national security model“. Beispiele sind neben dem War on Terror der US-Philippinische Krieg, der Vietnamkrieg, der Nordirland-Konflikt und der Algerienkrieg. Dass Informationsgewinnung aus emischer Perspektive ein instrumenteller Zweck der Folter sein kann, bedeutet im Übrigen allerdings keineswegs, dass Folter hierzu auch geeignet sei. So argumentiert Rejali (2009: 480–518) überzeugend, dass Folter hinsichtlich des Produzierens von nützlichen und zutreffenden Informationen dysfunktional ist (zum US-Fall s.a. SSCI 2014).

Die Vehemenz, mit der teilweise gegen ein mögliches Motiv der Informationsgewinnung argumentiert wird, liegt auch in der Tatsache begründet, dass insbesondere im War on Terror das ticking bomb scenario mit seiner utilitaristischen Logik vor allem der Legitimierung von Folter als in Ausnahmen notwendiges Mittel des Verhörs dient und damit der Verschleierung von Folter als weiterverbreitete und geradezu gewöhnliche Praxis (s. hierzu bspw. Farrell 2020). Folter unter anderem auch als Verhörmittel zu verstehen, steht in dieser Perspektive bereits im Verdacht, der Rationalisierung von Folter Vorschub zu leisten. Solche Argumente sind ernst zu nehmen und wie ich in der Einleitung bereits deutlich gemacht habe, stimme ich der scharfen Kritik am ticking bomb scenario als Ausgangspunkt für politische, rechtliche und ethische Debatten zu. Deshalb aber analytisch Folter im War on Terror völlig von Verhörzielen zu trennen ist empirisch nicht überzeugend. Zum einen würde ein solcher Schritt die Annahme implizieren, dass die Verweise auf Verhörziele in organisationalen Dokumenten bloße Rationalisierungen und Legitimierungen wären, die keinerlei Auswirkung auf die Foltersituationen und -praktiken hätten. Zum anderen müsste man Deutungen sowohl von Verhörpersonal (s. z. B. Nelson 2014) als auch von Folterüberlebenden (s. z. B. Adayfi/Aiello 2021: 72 f.) als ‚falsch‘ verwerfen, als irrelevant einstufen oder ignorieren.

Es gilt daher, die verschiedenen möglichen Zwecke weder von vornhinein ein- noch auszuschließen oder gegeneinander auszuspielen, und dabei immer im Blick zu haben, dass artikulierte Motive seitens folternder Akteure (Individuen oder Organisationen) zunächst als Rationalisierungen betrachtet werden müssen.Footnote 26 Wie gesagt, können sich Motive und Rationalisierungen auch überlagern. Beispielsweise berichten Folterüberlebende von häufiger und als situative Strafe für ‚Regelbrüche‘ kommunizierter Gewalt durch guards in Guantánamo, die jedoch mit dem abwesenden Verhörpersonal in Hinblick auf Verhörsituationen abgesprochen war (s. Kapitel 11). Aus juristischer Perspektive ist der Vorschlag von Cakal (2021: 164 f.) nützlich, bei Gewalt an Gefangenen durch staatliche Beamt:innen (oder anderweitig institutionell eingebundenem Personal) zunächst anzunehmen, dass die Gewalt nicht individuell oder ‚privat‘, sondern in einem staatlichen oder organisationalen Interesse steht. In jedem Fall sollte klar sein (juristisch und darüber hinaus): „Ultimately, ambiguity as to purpose should never downgrade the seriousness of an act which is otherwise as equally physically and psychologically harmful“ (Cakal 2021: 165). Im Rahmen meiner Untersuchung genügt mir die Feststellung, dass eine Intentionalität der praktizierten oder organisational entworfenen Leidinduktionen erkennbar ist, damit ich sie als Folterpraktiken verstehe.

Zusammenfassend verstehe ich Foltersituationen als soziale Situationen, in denen ein oder mehrere Menschen anderen prinzipiell wehrlosen Menschen in (para-)staatlicher Gefangenschaft intentional Leiden zufügen. Dazu nutzen sie die, durch die leibkörperliche Verfasstheit und Umweltoffenheit bedingten, vielfältigen Verletzungsoffenheiten des Menschen aus, um von der äußeren Kontrolle auf die inneren Vorgänge gewaltsam Einfluss zu nehmen. Sie bringen – inkorporiertes oder diskursives – Wissen über effektive Leidinduktion ein (gewissermaßen als „Gerätschaften“, Goffman 2001: 60). Dabei adressieren Peiniger:innen die Gefolterten als leidens- und handlungsfähige Subjekte, als soziale alter egos. Diese Situationen sind durch eine extreme Asymmetrie geprägt, die sich auch darin zeigt, dass die Folternden die Macht über die Situationsdefinition auf ihrer Seite haben. Für die Gefolterten ist die übermächtige Präsenz der folternden alter egos leiblich spürbar. Das bedeutet aber nicht, dass Gefolterte per se handlungsunfähig und rein passiv sind. Ihre Agency ist potentiell vorhanden, aber hochgradig ambivalent. Denn sie wird einerseits zur Leidinduktion gegen die Unterworfenen selbst gewendet, andererseits kann sie sich in widerständigen Praktiken und Coping-Strategien zeigen. Foltersituationen sind zudem stets in ihren historischen, diskursiven und organisationalen Rahmungen zu betrachten, denen ich mich nun zuwenden möchte.