Q. Do you presently have any injuries to your waist as a result of being tied to the wall, as you described?

A. Yes.

Q. And what are those injuries?

A. It’s painful.

Q. Can you describe for me the pain?

A. I can’t describe how painful it was.

Q. Do you presently experience the pain?

A. Yes.

Q. Can you describe for me the pain that you feel presently?

A. Maybe I need to tie you here so that -- for one hour so you can feel the pain, if you want to know the pain. (Salim/Smith 2017: 163 f.).

Dieser eindrückliche Dialog entstammt der Befragung des Folterüberlebenden und Klägers Suleiman Abdullah Salim („A“) in dem von der ACLU initiierten Verfahren Salim v. Mitchell am United States District Court for the Eastern District of Washington. Salim, ein tansanischer Fischer, wurde aufgrund einer Namensverwechslung von kenianischen Behörden an die CIA übergeben und in zwei Gefängnissen in Afghanistan gefoltert. Dieses Gerichtsverfahren ist eine Besonderheit, denn es ist das bisher einzige zumindest teilweise erfolgreiche vor einem US-amerikanischen Gericht, in dem Verantwortliche des US-Folterkomplexes angeklagt wurden; erfolgreich, weil es überhaupt zugelassen wurde und es nicht zu Freisprüchen kam; nur teilweise, weil es 2017 mit einem Vergleich und ohne Schuldsprüche endete. Möglich war dieser Zivilprozess, weil die beiden angeklagten Militärpsychologen James Mitchell und Bruce Jessen, häufig als die ‚Architekten‘ des CIA-Folterprogramms bezeichnet, private contractors – zunächst als Privatpersonen und ab 2005 mit ihrem eigens für das Folterprogramm gegründeten Unternehmen Mitchell, Jessen and Associates – der CIA waren und damit nicht den rechtlichen Schutz wie verantwortliche US-Beamt:innen genießen.Footnote 1 Das Verfahren war auch daher relevant, weil in seinem Zuge die CIA genötigt wurde, viele bis dahin geheime Dokumente zum Folterprogramm zu deklassifizieren.

Der Fragensteller ist der Anwalt James T. Smith („Q“), der aufseiten der Angeklagten tätig war. An dieser Stelle der Befragung bezieht er sich auf eine nicht offiziell autorisierte Foltertechnik, die Salim erleiden musste und die der vormodernen Technik der Wippe ähnelt: Seine Hände wurden hinter seinem Rücken gefesselt und mit einer Kette an der Wand befestigt. So wurde eine extrem schmerzhafte Körperposition erzwungen, der Salim nicht entweichen konnte. Der Anwalt nötigt Salim, den langfristig ausgelösten Schmerz in seiner Taille verbal genau zu beschreiben, was diesem schlicht nicht möglich ist. Die einzige Möglichkeit, die Salim sieht, Smith das Wissen über seinen Schmerz zu vermitteln („if you want to know the pain“), ist der ‚Vorschlag‘, dass dieser sich der Foltertechnik selbst unterzieht. Es ist wenig verwunderlich, dass das Gericht die Befragung an dieser Stelle unterbrechen musste, weil Salim eine retraumatisierende Dissoziation erfuhr.Footnote 2

Ich möchte hier nicht weiter auf die naheliegenden und hochrelevanten Probleme eingehen, die das Zitat impliziert: das retraumatisierende Pochen des Anwalts auf eine genaue Beschreibung des Schmerzes, die Schwierigkeiten der juristischen Aufarbeitung und der Herstellung von Accountability sowie das auf Dauer gestellte Leid, das Folter hervorbringt. Der Dialog zeigt daneben auch zentrale methodische und forschungsethische Probleme der vorliegenden Untersuchung auf. Zum einen ist hier die insbesondere von der Literaturwissenschaftlerin Elaine Scarry (1992: 82) betonte sprachliche Unausdrückbarkeit von Schmerz, welche eine Untersuchung, die auf textlichen Dokumenten beruht, vor Schwierigkeiten stellt. Salim macht deutlich: Nur die Erfahrung des Schmerzes selbst produziert Wissen über den Schmerz. Damit verbunden ist auch die generelle Frage, wie leibliche Erfahrung in sozialwissenschaftlicher Forschung beschreibbar gemacht und in empirische Analysen einbezogen werden kann. Dieses Problem wird noch dadurch verstärkt, dass der Zugang zu Folter nur indirekt ist. Zum anderen stellt sich die forschungsethische Frage, wie mit einem solch sensiblen Thema wie Folter umgegangen werden sollte, insbesondere, wenn man wie ich empirisch auf Foltersituationen schauen möchte und nicht primär auf legitimierende Diskurse. Im Folgenden möchte ich darlegen, wie ich mit diesen Problemen umgegangen bin, sowie meinen methodischen Zugang vorstellen. Dieses Kapitel wird von Kapitel 6 fortgesetzt, in dem ich meinen Umgang mit Daten näher erläutere.

1 Forschungsethische Fragen

Beim obigen Dialog liegt die Annahme nah, dass sich der Anwalt mit seiner Befragung an der Gewalt beteiligt, indem die Fragen Salims Foltererfahrung aktualisieren und damit seine langfristigen Verletzungen und Leiden zumindest situativ verstärken. So weit auch das bohrende juristische Fragestellen durch den Anwalt von der Gesprächsführung in einem qualitativen Interview durch eine Sozialwissenschafter:in entfernt ist, so ist doch auch bei wissenschaftlichen Interviews die Gefahr der Retraumatisierung grundsätzlich gegeben (RAIO 2019: 22; zur Retraumatisierung von Folterüberlebenden bei medizinischer Behandlung, s. Schippert et al. 2021), ebenso wie die Gefahr der sekundären Traumatisierung der Interviewenden (Gulowski 2022).Footnote 3 Da im untersuchten Fall eine Vielzahl an organisationalen Dokumenten, Reports und Berichten von Folterüberlebenden zugänglich ist, konnte ich die Datenerhebung auf dieses Material ausrichten und habe nur ergänzend Expert:inneninterviews mit Anwält:innen und mit einem Folterüberlebenden geführt. Aber auch über diese spezifischen Situationen von Befragungen von Überlebenden im Gerichtssaal oder in wissenschaftlichen Interviews hinaus stellt sich die Frage, ob eine intensive Beschäftigung mit Folter und extremer Gewalt nicht grundsätzlich problematisch ist, vor allem wenn sie nicht unmittelbar der Therapie der Gefolterten dient. „Soll die Menschheit zum Schaden auch noch die Analyse dazubekommen [?]“ fragt der Gewaltforscher Jan Philipp Reemtsma (Reemtsma 1991b: 12) in Bezug auf Folter als Forschungsgegenstand und antwortet:

Entweder es ist überhaupt frivol, sich angesichts menschlichen Elends mit Theorien über dieses Elend die Zeit zu vertreiben – und das ist es natürlich einerseits immer –, oder man hält am Anspruch sozialwissenschaftlichen Bemühens fest, die Welt zu beschreiben, wie sie ist, damit sie verbessert werde (Reemtsma 1991b: 12).

Wenn die Sozialwissenschaften in ihrem Selbstverständnis die sozialen Realitäten empirisch und theoretisch beschreiben und analysieren möchten, können sie auch derart traumatisierende soziale Phänomene wie Folter nicht ignorieren. Vor dem Hintergrund des Bemühens moderner Staaten, den Einsatz von Folter als politisches Herrschaftsmittel zu verschleiern, kann zudem auch Schweigen oder Weg-Sehen als Beteiligung an der Gewalt gesehen werden. Dennoch ist der Einwand, dass die Beschreibung der Gewalt diese in einem gewissen Sinne wiederholt und man sich so komplizenhaft mit der Gewalt verstrickt, nicht völlig von der Hand zu weisen.Footnote 4 Letztlich ist diese Ambivalenz wohl nicht aufzulösen. Es ist also zumindest Vorsicht geboten. Ich bemühe mich daher im Folgenden bei Beschreibungen von Gewaltpraktiken und -Erfahrungen um größtmögliche Sachlichkeit. Auf Dramatisierungen von Brutalitäten sowie auf Schockeffekte möchte ich ebenso verzichten wie auf Situationsbeschreibungen, die detaillierter sind, als die Analyse notwendig macht. Damit will ich „lustbetonten Voyeurismus“ und „ästhetisierten Stil“ vermeiden, welche die Soziologin Birgitta Nedelmann (1997: 70) in den 1990er Jahren bei Wolfgang Sofskys einflussreichem Buch „Traktat über die Gewalt“ (Sofsky 1996) zu Recht feststellt. Gleichzeitig ist es aber trotz der Relevanz des Nachvollziehens von emischen Täter:innenperspektiven wichtiger noch als bei anderen interpretativen Forschungen, die kritische Distanz zu diesen Perspektiven zu verdeutlichen. Insbesondere bei der Analyse von organisationalen Dokumenten wie Manualen bedeutet das, dass ich die in diesen Dokumenten implizierte Gewalt explizieren und die Euphemismen, die die Foltergewalt notdürftig verschleiern (wie ‚enhanced interrogation techniques‘), als Euphemismen bezeichnen muss (s. hierzu auch Hajjar 2012).

Ein zweites Problem stellt sich bei der Analyse von Folter als wissensbasierter Gewalt, die auf die effektive Verletzung des Selbst der Gefolterten zielt: Man kann sich seine Rezipient:innen nicht aussuchen. Ist es daher nicht denkbar, dass Folternde solche Untersuchungen nutzen, um ihre Gewalt zu ‚optimieren‘? Tatsächlich ist es wohl so, dass im US-Folterkomplex eingebundene Psycholog:innen akademische Literatur zum Thema der Therapie von Gefolterten rezipierten (Gray/Zielinski 2006: 129). Das Wissen um Heilung kann schließlich auch zur Verletzung genutzt werden (das gleiche gilt selbstverständlich auch für die umgekehrte Richtung), wie auch allgemein die Relevanz von medizinischem Wissen und Personal in modernen Folterkomplexen zeigt (s. bspw. Goldstein/Breslin 1986). Das kann aber nicht als bindender Grund dafür herhalten, dieses Wissen gar nicht erst zu produzieren. Für das vorliegende Buch im Speziellen meine ich, dass der Nutzen für Folternde ohnehin gering wäre. Denn erstens nutze ich primär Daten, die öffentlich zugänglich sind. Ich produziere also kein innovatives Wissen über konkrete Foltertechniken. Vielmehr entsteht neues Wissen dadurch, dass ich diese Daten mit wissenschaftlicher, primär soziologischer, Theorie ‚ins Gespräch‘ bringe. Das ist mit einer Abstrahierung verbunden, die keine neuartige Anwendbarkeit in der Gewaltpraxis nahelegen würde. Zweitens behandle ich die Frage der Verletzungseffektivität der Techniken nicht als solche, sondern rekonstruiere emische Konstruktionen von Effektivität. Drittens ist es zwar nicht völlig auszuschließen, dass die Analysen von Foltertechniken und -praktiken Inspirationen für Folternde darstellen können. Dennoch ist es deutlich leichter, sich über schnelle Internetrecherchen auf Seiten wie Wikipedia oder Youtube über Möglichkeiten der Folterausübung zu informieren als über Lektüre soziologischer Literatur. Außerdem zeigt die Geschichte der Folter seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, dass sich Folternde auch ohne jede akademische Literatur global über ihr Wissen austauschen und ihre Techniken mitunter angleichen (s. hierzu bspw. Austin 2016).

2 Körperwissen und Leiblichkeit

Die vorliegende Untersuchung basiert empirisch und theoretisch auf meiner Mitarbeit in dem soziologischen Forschungsprojekt „Folter und Körperwissen“, welches „Wechselwirkungen zwischen Foltertechniken und dem Körperwissen, das in ihnen zum Tragen kommt, soziologisch in den Blick“ (Inhetveen et al. 2020: 2) nahm. Das Projekt war komparativ angelegt und untersuchte neben dem US-Folterkomplex (bei stärkerer Berücksichtigung des Kalten Krieges) die beiden Fälle der Diktaturen in Chile und Argentinien sowie der Roten Khmer in Kambodscha.Footnote 5 Es verfolgte damit eine „vergleichend vorgehende Körpersoziologie der Folter“ (Inhetveen et al. 2020: 3; zu theoretischen Vorüberlegungen s.a. Inhetveen 2011), bei der auch die Einbettung von kulturellen Körperbildern in verschiedene Kosmologien berücksichtigt wird (Descola 2011). Es schließt konzeptionell zum einen an gewaltsoziologische und machttheoretische Überlegungen Heinrich Popitz' (1992: 24–78) an sowie zum anderen an körper- und wissenssoziologische Diskurse, die um eine „Somatisierung des Wissensbegriffs“ (Hirschauer 2008; s.a. Knoblauch 2005; Stadelbacher 2016) bemüht sind.

Körpersoziologische Diskussionen, in denen Körper zum einen „als Produkt, zum anderen als Produzenten von Gesellschaft“ (Gugutzer 2015: 8) betrachtet werden, greifen konzeptionell zumeist in Anschluss an Maurice Merleau-Ponty (1974), Helmut Plessner (1975) und Hermann Schmitz (2011) auf die phänomenologische Unterscheidung zwischen Körper und Leib zurück (s. z. B. Lindemann 1996; Jäger 2014; Gugutzer 2015). Während mit ‚Körper‘ der objektive Körper als sinnlich wahrnehmbares, physisches und räumlich ausgedehntes Ding gemeint ist, bezeichnet ‚Leib‘ den subjektiv gelebten und erfahrenden Körper. Diese Unterscheidung ist aber nicht ontologisch, sondern bloß analytisch zu verstehen (Jäger 2014: 49). Die beiden Begriffe betonen unterschiedliche Aspekte des menschlichen embodiment; oder phänomenologisch ausgedrückt: seiner leibkörperlichenFootnote 6 Verfasstheit. Für Plessner (1975: 288 ff.) besteht das Besondere am Menschen gerade in seiner Beziehung zum eigenen Leibkörper, die er als „exzentrische Positionalität“ bezeichnet. Wie der (Leib-)Körper von Tieren sei der des Menschen das unhintergehbare Zentrum. Jedoch sei anders als bei Tieren, deren Positionalität nur zentrisch sei, der Mensch zugleich aus diesem Zentrum herausgesetzt und nehme ein reflexives Verhältnis zu seiner Positionalität ein (z. B. im Blick in den Spiegel). Menschen spüren also nicht nur; sie spüren auch, dass sie spüren und sind daher ihr Leib und haben zugleich ihren Körper. Plessner nennt dies auch den Doppelaspekt der menschlichen Existenz. Diese begriffliche Unterscheidung ist auch für das Verständnis von Folter nützlich (s. Abschnitt 3.3). So können Praktiken, die keinen Körperkontakt beinhalten wie sensorische Deprivation als Verletzungen des Leibes begriffen werden, obwohl der materielle Körper nicht verletzt wird (Inhetveen et al. 2020: 5).

Der Begriff Körperwissen kann grundsätzlich in Wissen über den Körper und Wissen des Körpers unterschieden werden (Keller/Meuser 2011).Footnote 7 Erstes Wissen meint körperbezogenes, diskursives und kognitives Wissen wie beispielsweise schriftlich fixiertes medizinisches Wissen. Zweites meint präreflexives und inkorporiertes Wissen, bei dem der (Leib-)Körper selbst als Träger des Wissens erscheint (wie beim Habituskonzept im Sinne Pierre Bourdieus). Leiblichkeit, also das subjektive Erfahren von Körperlichkeit, spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Beide Wissensformen waren für das gemeinsame Forschungsprojekt (Inhetveen et al. 2020: 6) – und wichtiger: für die vorliegende Untersuchung – relevant. Wissen über den Körper ist in die emische Foltertheorie der organisationalen Dokumente eingelassen. Beispiele sind das Wissen über somatische und psychische Wirkungen von Foltertechniken, auf das in Handlungsentwürfen verwiesen wird, oder das durch medizinisches Monitoring hergestellte Wissen über Gewicht und Körpertemperatur von Gefolterten. Folterwissen über effektive Verletzung kann aber auch Wissen des Körpers sein. Eine wichtige Quelle ist hierfür beispielsweise die Gewalterfahrungen ‚am eigenen Leib‘ der Folternden, die beispielsweise Soldat:innen bei der Sozialisation in militärische Institutionen machen und als Wissen inkorporieren (Inhetveen 2017: 109; Inhetveen et al. 2020: 4), das sie in Foltersituationen anwenden können.Footnote 8 Auch das Wissen Salims über den erfahrenen Schmerz ist inkorporiert und ‚wehrt sich‘ gegen reflexive Verbalisierung, wie der obige Dialog zeigt.

Leibliche Erfahrungen und inkorporierte Wissensbestände sind methodisch schwer zu greifen. Grundsätzlich können video-basierte Methoden oder ethnographische Verfahren, die den Leibkörper der Forscher:in als Instrument und eigene leibliche Erfahrung im Forschungsfeld reflexiv nutzen,Footnote 9 sich diesen Aspekten des menschlichen embodiment nähern. Aber auch solche Zugänge stehen vor dem Problem, dass jedes (wissenschaftliche) Schreiben oder Sprechen über Leiblichkeit und Wissen des Körpers notwendigerweise nur Wissen über den Körper produzieren kann (Keller/Meuser 2011: 24 f.). Bei dem Forschungsgegenstand ‚Folter‘ stehen solche Zugänge aus offensichtlichen Gründen ohnehin nicht zur Verfügung. Für den diskursanalytischen Teil meiner Untersuchung stellt dies methodisch kein Problem dar, weil ich dort organisationales Wissen über Körper sowie Handlungs- und Situationsentwürfe rekonstruiere. Ich kann das Problem produktiv wenden, indem ich danach frage, wie die emische Foltertheorie mit ihm umgeht. Denn um ‚effektive‘ Foltertechniken zu verschriftlichen, müssen die organisationalen Dokumente diskursiv einen Zusammenhang zwischen leiblicher Erfahrung und äußerem körperlichen Zugriff herstellen (wobei im US-Fall psychologische Begriffe eine wesentliche Rolle spielen). Schwieriger ist es, wenn ich ereignete Folterpraktiken und -situationen beschreibe und analysiere. Hier bin ich auf die sprachlichen Beschreibungen in Berichten von Gefolterten und anderen Anwesenden, organisationalen Dokumenten wie Verhörprotokolle und Reports angewiesen, um auf situative Interaktionen rückzuschließen. Hierbei sind die unterschiedlichen Arten von Daten und die jeweils implizierten unterschiedlichen Perspektiven zu reflektieren. Durch das Aufeinanderbeziehen der Perspektiven ist es aber möglich, neben dem Ablauf von äußeren Handlungen (die von den jeweiligen ‚Sprecher:innen‘ als relevant eingestuft werden) die Deutungen von Gewalt und Verletzung durch Beteiligte – oder allgemeiner: die Deutungen der Situationen mit ihrem Machtungleichgewicht – zu erarbeiten. Der Relevanz von Leiblichkeit und inkorporiertem Wissen kann ich mich so interpretativ annähern (s.a. Inhetveen et al. 2020: 6; Jäger 2014: 207, 213). Was ich aber nicht kann, ist, wie der Anwalt Smith nach dem ‚genauen‘ Schmerz und Leid zu fragen, die Gefolterte erfahren.

3 Forschungsstil: Grounded Theory und Situationsanalyse

Mein Zugang und Umgang mit den Daten ist durch den Forschungsstil der Grounded Theory nach Anselm Strauss (1998) und seiner Weiterentwicklungen durch Kathy Charmaz (2015, 2020, 2021) und insbesondere Adele Clarke (2012, 2018, 2021) geprägt. Das bedeutet zunächst: Ich habe im Sinne des theoretical samplings Datenerhebung, -selektion und -analyse iterativ betrieben. Dabei habe ich die Analysesoftware Atlas.ti zur Kodierung der Daten, Verfassen von Memos und Erstellung von Netzwerken zwischen Kodes genutzt. Clarkes (2011) Vorschläge zu einer „Situationsanalyse“ unter Verwendung von kartographischen Visualisierungen waren sowohl bei der Konzeption und Durchführung des gemeinsamen Forschungsprojektes „Folter und Körperwissen“ (Inhetveen et al. 2020) als auch für mein Promotionsprojekt instruktiv (in beiden Fällen mit Anpassungen an die Forschungsfragen).

Clarke geht es grundsätzlich um eine Erweiterung der Grounded Theory nach dem „postmodern turn“Footnote 10 unter Einbeziehung poststrukturalistischer, feministischer und neomaterialistischer Perspektiven als einen „hybrid approach“ (Clarke 2021: 225) bei gleichzeitiger Entledigung von positivistischen Bestandteilen der Grounded Theory. Sie fordert eine analytische Konzentration auf „the broader situation“ (Clarke 2021: 230) und deren Deutungen im Feld. In Abgrenzung zu Goffman (2001: 55), welcher soziale Situationen auf die physische Kopräsenz und gegenseitige Wahrnehmbarkeit von mindestens zwei Menschen eingrenzt, schreibt sie: „Meine Verwendung des Begriffs ist viel breiter und umfasst einschlägige institutionelle und andere meso- bzw. makrosoziologische Formationen“ (Clarke 2012: 65 [s. dort Fußnote 35]). Wichtig für ihre Erweiterung des Begriffs ist die Ablehnung der Vorstellung eines äußeren Kontextes von Handlungssituationen: „Die Bedingungen der Situation sind in der Situation enthalten. So etwas wie ‚Kontext‘ gibt es nicht“ (Clarke 2012: 112 [Herv. i. O.]). Schließlich können die Elemente, die zu ihrer Konstituierung beitragen, nicht außerhalb der Situation verortet werden (Clarke 2012: 74). Zu solchen konstituierenden Elementen zählt Clarke unter anderem menschliche Akteure, Organisationen und nichtmenschliche Elemente wie technische Artefakte, physikalische Objekte, Tiere oder Diskurse. Auch die Forscher:in selbst sei vor dem Hintergrund ihrer Verkörperung und der notwendigen Situiertheit – auch wissenschaftlichen – Wissens (Haraway 1988) in der jeweiligen Forschungssituation zu verorten. Im Sinne Clarkes ist meine zu erforschende ‚Situation‘ der US-Folterkomplex im War on Terror, wie ich ihn in der Einleitung definiert habe, und seine öffentliche Sichtbarmachung, auf die ich aufbaue und an der ich teilhabe. Aufgrund meines Fokus auf Folter als körperliche Praktiken ist es aber sinnvoll, begrifflich an einer engen Goffman’schen Situation als analytische Einheit festzuhalten; nicht zuletzt, um die Anschlussfähigkeit an gewaltsoziologische Überlegungen zu gewährleisten (s. Kapitel 3). Daher verwende ich den Begriff – sofern nicht anders kenntlich gemacht – in diesem Sinne.

Clarkes Ansatz gab meiner Untersuchung im Speziellen sowie dem Forschungsprojekt „Folter und Körperwissen“ (Inhetveen et al. 2020) von Beginn an wichtige Impulse. Für mein Promotionsprojekt betrifft das zum einen die Verankerung der Grounded Theory Methodologie in die Theorie des symbolischen Interaktionismus und der pragmatistischen Philosophie (Clarke 2012: 43–76) bei gleichzeitiger Einbeziehung Foucault’scher Diskursanalyse, welche mit einer Dezentrierung des wissenden Subjektes einhergeht (Clarke 2012: 7–91, 183–216).Footnote 11 Ich betrachte zum einen organisationale Dokumente, insbesondere Situationsentwürfe, in diskursanalytischer Perspektive. In Bezug auf diesen Teil meiner Untersuchung kann ich grundsätzlich dem Foucault’schen Programm folgen und „Diskurse [nicht] als Gesamtheiten von Zeichen (von bedeutungstragenden Elementen, die auf Inhalte oder Repräsentationen verweisen), sondern als Praktiken […] behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 2013: 74). Diese „Gegenstände“ sind insbesondere die Foltertechniken sowie deren ‚Effektivität‘, ‚Legalität‘ und ‚Unschädlichkeit‘.

Zum anderen analysiere ich aber auch auf Basis textlicher Daten körperliche Praktiken in und situative Deutungen von Foltersituationen. Trotz des äußerst asymmetrischen Charakters dieser Situationen ist es, wie ich zeigen möchte, sinnvoll, sie mit Begriffen interpretativer und interaktionistischer Soziologie zu fassen. Auch die in der Tradition des symbolischen Interaktionismus in Folge von George Herbert Mead und Herbert Blumer betonte Relevanz der Perspektivenübernahme durch beteiligte Akteure ist bei Folter als asymmetrischer Interaktion zumindest rudimentär gegeben (Breger 2022: 98–101). Die explizite Verankerung von Situationsanalyse und Grounded Theory in den symbolischen Interaktionismus ist hierbei fruchtbar, da so theoretische und methodische Zugänge ineinandergreifen; Clarke (2011: 44) nennt diese Verankerung „Theorie-Methoden-Paket“. Bei der Analyse in diesem Sinne komme ich aber nicht umhin, die sprachlichen Daten nicht nur als „Diskursfragmente“ (Jäger, Jäger 2007: 27) oder bloß als nachträgliche Narrativierungen zu behandeln. Ich muss auch annehmen, dass sie auf situative Situationsdeutungen in der Vergangenheit verweisen und darüber hinaus auch auf materielle Abläufe, körperliches Verhalten und Verbalisierungen.Footnote 12 Schließlich sind direkte Beobachtungen, wie sie bei ethnographischen Verfahren üblich sind, keine Option. Die Erforschung von Folter hat stets das Problem, dass die Forscher:innen nur indirekten Zugang zum Feld haben. Rejali (1994: 3) schreibt dazu:

All this shows how much I depend on language to give shape to the violence of the world I live in. I depend on language to see what I cannot see, to conjure up for me the physical site on which torture takes place and the devices that are used.

Ich muss also bei aller kritischen Reflexion den jeweiligen Sprecher:innen prinzipiell ‚glauben‘, dass ihre Beschreibungen und Erzählungen Aufschluss über ihre situativen Erfahrungen und Situationsdeutungen geben. Schon aus forschungsethischen Gründen tue ich das im Zweifel stärker bei Berichten von Folterüberlebenden als bei organisationalen Situationsbeschreibungen wie Verhörprotokollen (s. hierzu auch Köthe 2021: 58; Nungesser 2022). Ein analytischer Grund ist zudem, dass aufgrund des globalen Folterverbots und der tendenziellen Invisibilisierung von Folter ein organisationales Interesse besteht, die Gewalt herunterzuspielen; ein Interesse, dessen Relevanz auch für ursprünglich geheime Dokumente nicht auszuschließen ist.

Die Entscheidung, mich empirisch und analytisch auf das ‚Innere‘ des Folterkomplexes – insbesondere die Foltersituationen, ihre organisationale Herstellung und das in ihnen eingesetzte Wissen – zu fokussieren, bedeutet keineswegs, dass ich konstituierende Elemente der breiteren ‚Situation‘ im Clarke’schen Sinne ignoriere. Clarkes Vorschlag, das zunächst eigene Wissen in Situations- und Relationsmaps mithilfe von heuristischen Elementen, die in ‚Situationen‘ konstituierend sein können, zu visualisieren und zu organisieren, war ausgesprochen hilfreich.Footnote 13 Durch das Herstellen solcher Maps, die ich sowohl im Rahmen meines Promotionsprojektes als auch fallvergleichend im gemeinsamen Forschungsprojekt „Folter und Körperwissen“ (Inhetveen et al. 2020) kontinuierlich weiterentwickelte, konnte ich bereits vor der eigentlichen Datenerhebung auf Basis von Literaturlektüre relevante Elemente des US-Folterkomplexes (also der ‚Situation‘ im breiteren Sinne) identifizieren und auf ihr Verhältnis befragen (z. B. bezüglich des Einflusses von Menschenrechtsdiskursen auf die Foltertechniken). Die Orientierung an der Situationsanalyse ermöglichte mir zudem die Sensibilisierung für die Komplexität der Situationen (im engen Sinne) und der relationalen Konstellationen der sie konstituierenden Elemente (s. insbesondere Kapitel 14). Wichtig dabei war auch die Betonung von nicht-menschlichen Elementen oder „Objekten“ (Blumer 1981: 90), denen Clarke unter Bezug auf die Science and Technology Studies sowie die Actor Network Theory Aktantenstatus zuspricht. Auch im US-Folterkomplex sind neben Menschen (technische) Artefakte sowie räumliche und materielle Strukturen an der Konstituierung von Situationen als Foltersituationen erheblich beteiligt (s. Abschnitt 14.2).

Bei der Kodierung des Materials leiteten mich neben den theoretischen Impulsen der Situationsanalyse und den mit ihnen verbundenen Heuristiken auch die theoretischen Vorüberlegungen und Erkenntnisinteressen des Forschungsprojekts sowie die fallbezogene Literatur. Mit dieser Einbeziehung meines Vorwissens und meiner Vorannahmen in den Analyseprozess folge ich der Weiterentwicklung der Grounded Theory durch Charmaz und Clarke. Charmaz (2015: 405) schreibt in Bezug auf die von ihr konzeptionalisierte Constructivist Grounded Theory:

Original conceptions of grounded theory required researchers to avoid applying theories and ideas to their data from relevant literature. Constructivist grounded theorists view this position as untenable and naïve because both novice and seasoned researchers already have a fund of knowledge and experience. Hence, constructivist grounded theorists are less troubled by researchers being aware of ideas about the research topic before entering the field than their objectivist counterparts.

Das Ideal der frühen Grounded Theory, dass Forscher:innen Datenanalyse unbeeinflusst von Vorkenntnissen betreiben, lehnt Charmaz (wie auch Clarke) als naiv ab. Vorannahmen und Interessen seitens der Forschenden sind unvermeidlich und daher zu reflektieren, statt auszublenden. Die Analyse ist zudem ein interpretativer Konstruktionsprozess und ergibt sich nicht einfach aus Daten (Charmaz 2015: 404 f.). Diese Abkehr von einem radikalen Induktionismus – die bereits bei Strauss (1998: 36 f.) angelegt ist – ist mit einer Abkehr von der Vorstellung verbunden, am Ende der Analyse müsse der (eine) relevante basic social process des Handlungsfeldes aufgedeckt werden oder eine Schlüsselkategorie stehen (Clarke 2012: 67 ff.). Stattdessen geht es insbesondere Clarke darum, die Heterogenitäten einer ‚Situation‘ sowie die in ihr vorhandenen Perspektiven und Positionen zu erfassen, anstatt durch die Unterstellung von Einheitlichkeit diese Komplexität zu übersehen. Für Clarke ist sogar „die Darstellung der Komplexität der entscheidende Punkt“ (Clarke/Keller 2011: 128). Diese Überlegungen waren für die Konstruktion meines heterogenen Datenkorpus und meine Analyse instruktiv, bei der ich mich um eine Sensibilisierung von Relationalität, Komplexität und Heterogenität bemühte, ohne den Fokus auf Muster im Material zu verlieren. Diese methodischen Anmerkungen zu meinem Promotionsprojekt sollen an dieser Stelle genügen. Wie ich mein Datenkorpus generiert und wie ich mit ihm umgegangen bin erläutere ich in Kapitel 6. Zuerst möchte ich aber allgemein auf Basis unterschiedlicher Literatur das soziale Phänomen ‚Folter‘ näher fassen sowie den untersuchten Fall vorstellen und historisieren; das heißt: mein Vorwissen und theoretische Vorannahmen weiter offenlegen, was auch ein besseres Verständnis für meinen Datenkorpus und dessen Situierung ermöglicht.