Bisher habe ich nur angedeutet, dass Gefolterte nicht zur totalen Passivität verurteilt sind. In diesem Kapitel möchte ich diesen Aspekt in den Vordergrund rücken. Phänomenologisch-theoretische Auseinandersetzungen mit Folter skizzieren in Anschluss an Amery und Scarry für gewöhnlich eine maximale Machtdifferenz, die dem Opfer keine agency oder Widerständigkeit mehr lässt (s. Abschnitt 3.2). Sofsky (1996: 89) schreibt beispielsweise: „Der Gefolterte hat keine Chance zur Gegenwehr“,Footnote 1 während Grüny (2004: 192) das Folteropfer als „Objekt und nicht Partner des Handelns“ versteht. Bei genauerer Betrachtung erscheinen die Gefolterten ihres Ausgeliefertseins zum Trotz durchaus als handelnd und teils widerständig (s.a. in Bezug auf Guantánamo: Köthe 2021, 2023; Nungesser 2019: 392; in Bezug auf extreme Gewalt im Allgemeinen: Därmann 2021). Denn zum einen adressiert die Folter sie, insbesondere bei Techniken erzwungener Agentschaft und instrumenteller Machtausübung über Konditionierungslogik, als handlungsfähige Subjekte. Zum anderen können Gefolterte durchaus eigenständige agency entwickeln, also solche, die nicht von den Folternden intendiert (oder ‚gesteuert‘) wurde. Dementsprechend beschreiben Überlebende die – zweifellos extreme – Machtdifferenz nicht immer in derart absoluter Sprache wie die phänomenologisch-theoretische Literatur:

The relationship between the Joint Detention Group and the detainees was becoming very tense, and there was nothing much detainees could do to change their situation: the deck was stacked against us, and JDG held all the cards (Slahi 2017: 58).

Slahi benutzt hier eine Kartenspiel-Metaphorik, um die asymmetrische und konfliktreiche Beziehung zwischen der JDG (d. h. die für die Gefangenschaft zuständige Untergruppe der JTF-GTMO) zu umschreiben. Die Gefangenen haben die schlechten Karten („the deck was stacked against us“), die JDG die guten („all the cards“).Footnote 2 So sehr die Metaphorik die Machtdifferenz betont, erscheint diese eher als eine unfaire und ungleiche Verteilung und nicht als ein totaler Gegensatz von Allmacht-Ohnmacht. Die Unterworfenen sind hier also nicht zur absoluten Passivität verurteilte Opfer, die keinerlei Handlungsspielraum mehr haben, sondern einen sehr kleinen (nicht „nothing“, sondern „nothing much“ können sie tun). Worin bestanden diese letzten Spielräume und Ressourcen eigener Handlungsmacht? Wie versuchten Gefolterte ihre Situation erträglicher zu machen oder sich zur Wehr zu setzen?

1 Erfahrung von Ohnmacht und ‚Kooperationsbereitschaft‘

Zunächst möchte ich betonen, dass Gefolterte auch dann nicht als nur passiv Leidende angesehen werden können, wenn die Folternden im War on Terror ‚erfolgreich‘ – im Sinne der Herstellung von ‚Kooperation‘ – waren mit der Induktion von Scham, Schmerz und anderen Leiden sowie damit der Her- und Darstellung extremer Machtdifferenz. Die Verkettung von Degradierungen, physischer Gewalt, Entblößungen, Drohungen, Immobilisierungen und Deprivationen erzeugten, wie oben gezeigt, Erfahrungen von Ausgeliefertsein und großem Leid bei den Gefolterten. Diese Machtausübungen führten zum Teil – aber längst nicht immer – zu der von organisationaler Seite gewünschten ‚Kooperation‘ der Gefolterten in Verhören. Auch wenn die maximale Asymmetrie mit totaler Ohnmacht der Gefolterten nicht generell den komplexen sozialen Situationen der Folter gerecht wird, so erfahren die Gefolterten immer wieder, auch über die einzelnen qualvollen Momente hinaus, Ohnmacht. Rasul reflektiert:

when you are detained in those conditions, you are entirely powerless and have no way of having your voice heard. This has led me and many others to ‘cooperate’ and say or do anything to get away (Rasul et al. 2004: 67).

Die umfassende Machtlosigkeit („entirely powerless“) bringt („led“) Rasul und andere dazu zu ‚kooperieren‘, also die von Verhörer:innen gewünschten Handlungen durchzuführen. Das Verb lead macht deutlich, dass sich Rasul dabei nicht als frei handelnder Akteur sieht, aber auch nicht als quasi-mechanistisch manipuliertes Objekt. Teilweise berichten Überlebende von ‚Kooperation‘ im Sinne einer Entscheidung.

‘Don't worry! Just talk to them and everything is gonna be alright’, encouraged me David Hicks. Maybe his advice was prudent, and anyway I felt that things were going to get nastier. So I decided to cooperate (Slahi 2017: 203).

Slahi wird hier von Hicks ermutigt zu kooperieren („talk“) mit der Aussicht auf zukünftige Besserung der Situation („everything is gonna be alright“). Slahi entscheidet („decided“) sich in der Folge hierzu, nicht zuletzt vor dem Hintergrund der derzeitigen Verschlimmerung der qualvollen Situation („things were going to get nastier“). Die erfahrene Folter ist also ein entscheidender Grund für seine Kooperation. Ebenso spielt aber die Ermutigung eines Mitgefangenen eine Rolle. Vor allem aber ist die Kooperation keine mechanische Auswirkung der Folter, sondern eine bewusst gefällte Entscheidung unter der Bedingung der Folter (auch wenn dies ein Folterer im Sinne seiner Machtinszenierung leugnete)Footnote 3. Die in theoretischen Texten postulierte völlige Handlungsunfähigkeit der Opfer ist also empirisch auch bei erfolgter ‚Kooperation‘ nicht per se gegeben.

Solche situativen ‚Erfolge‘ der Folternden führten, wie der Senatsbericht (SSCI 2014) allgemein für das CIA-Folterprogramm feststellt, nicht zu dem Erreichen des organisationalen Ziels der Produktion nützlicher und zutreffender intelligence. Ganz im Sinne des altbekannten Einwands gegen Folter, der bereits in Zeiten der europäisch-judikativen Folter vorgebracht wurde und auch in den US-Manualen (z. B. CIA 1963: 94) diskutiert wird, produziert die Folter im Normalfall falsche Geständnisse und Informationen, die die Verhörer:innen und Analyst:innen gewöhnlich nicht von zutreffenden Aussagen unterscheiden können; oder das Personal produziert bewusst Falschaussagen beziehungsweise nehmen diese in Kauf, um organisational erwünschte – und insofern ‚nützliche‘ – intelligence zu produzieren. Der Fall Ibn Shaykh al-Libi ist ein Beispiel dafür, welche weitreichenden Folgen erpresste Falschaussagen haben können. Er sagte unter Folter aus, dass Al-Qaida mit dem irakischen Staat zusammenarbeite und diesen um Atomwaffen gebeten habe. Diese Falschinformation verwendete der damalige Außenminister Colin Powell in seiner Rede vor dem UN-Sicherheitsrat, in der er um Unterstützung für die bevorstehende Invasion des Iraks warb (SSCI 2014: 141; Raphael et al. 2019: 189). Der organisational hergestellte Druck, in Verhörsituationen Aussagen über eine Zusammenarbeit zwischen dem Irak und Al-Qaida zu erhalten (SASC 2008: 41), hatte also Einfluss auf die Foltersituation, die genau diese erwünschte Information produzierte. Diese wurde anschließend politisch genutzt (nämlich als Legitimierung eines Krieges). Sie war also ‚nützlich‘, wenngleich unzutreffend.

Der praktische Einwand gegen den angeblichen instrumentellen Nutzen zur Wahrheitsfindung, dass Gefolterte zu falschen Aussagen getrieben werden, ist aus der Perspektive der Folternden formuliert. Aus Sicht der Gefolterten folgen auf die ‚Kooperation‘ ganz eigene Handlungsprobleme. Der Überlebende Ahmed Al Darbi (2009: 6) berichtet in einem schriftlichen Statement von Bagram:

After they tortured me, I would say what they wanted me to say. I was fed detailed statements and names of individuals to whom I was to attribute certain activities. The military guards and interrogators told me that I had to repeat these same statements to other interrogators, and threatened to continue abusing me – or to make it even worse – if I did not cooperate. I found out that these ‚other interrogators‘ were FBI interrogators […] They would ask for the same details that I had discussed with the military interrogators and guards. I tried to repeat the same statements, because I was afraid of the threats made by the military guards and interrogators.

Infolge von Foltererfahrung durch militärische Verhörer:innen und guards macht Al Darbi belastende Aussagen, welche auf ihm genau vorgegebenen Informationen basieren („I was fed detailed statements and names“). Seine ‚Kooperation‘ endet hiermit nicht. Nur wenn er „these same statements“ in späteren Verhören mit FBI-Agent:innen wiederholt, wird er weiterhin als ‚kooperativ‘ angesehen. Aufgrund von Gewaltandrohungen, die auf der vergangenen Folter basieren („continuing“, „even worse“), und der durch sie ausgelösten Angst bemüht sich Al Darbi um exakte Wiederholungen. Dies fällt ihm nicht leicht, wie die Unsicherheit im Prädikat „tried“ andeutet. Nach seinem Transfer nach Guantánamo wird Al Darbi (2009: 8) erneut durch Drohungen gezwungen, seine Aussagen und Geständnisse exakt zu wiederholen. Auch der ehemalige CIA- und Guantánamo-Gefangene Binyam Mohamed musste eine ähnliche Dynamik erleiden und fasst sie in Notizen, die er von seinem Anwalt veröffentlichen ließ, so zusammen: „They weren’t really interrogations, more like trainings, training me what to say“ (Mohamed zit. n. Stafford Smith 2005: 16). Unter anderem musste er sich anhand von Fotografien anderer – ihm unbekannten – Terrorverdächtigen mit diesen in Verbindung setzen und sie belasten. In der Blacksite Cobalt sollte er zudem eine komplizierte „story that Washington wants“ über seine angebliche Verstrickung in einen Attentatsplan wiedergeben; doch: „I could not understand what they were talking about, and got it wrong. They hung me up for ten days“ (Mohamed zit. n. Stafford Smith 2005: 19). Das Verhörpersonal bestrafte ihn mit Positionsfolter („hung me up“), als es ihm nicht gelang die von ihm verlangten Aussagen ‚korrekt‘ zu performen, welche für die von höheren Stellen („Washington“) geforderte Informationsproduktion notwendig wäre.

In ähnlicher Weise musste Slahi (2017: 270–301) in einer zweiten ‚kooperativen‘ Phase, um als ‚kooperativ‘ gelten und damit auf Linderung der Folter hoffen zu können, andere belasten und die ihm zur Last gelegten Taten gestehen (insbesondere seine angebliche Beteilung an der Planung eines Terroranschlags in Toronto).Footnote 4 Slahi wurde nicht explizit mit Details ‚gefüttert‘ oder ‚trainiert‘. Seine Aussagen mussten aber ‚Sinn ergeben‘, also bereits vorhandene Theorien der Verhörenden bestätigen, welche er aus dem vom Verhörteam Gesagten rekonstruierte, spiegelte und erweiterte. Bei den Versuchen, den Erwartungen des Verhörpersonals gerecht zu werden, stand er stets in Gefahr nicht überzeugend zu sein, weil er nicht über genügend Informationen verfügte.Footnote 5

Die Performance des ‚kooperativen‘ Verhörten wurde also in allen drei Beispielen gerade dadurch erschwert, dass die Informationen und Geständnisse falsch waren. Auf den kurzweiligen ‚Erfolg‘ der Folternden folgen weitere verbale Interaktionen, die mit den vorausgehenden Situationen verbunden sind und bei denen die Gefolterten Handelnde, wenngleich unter massivstem Zwang, sind. Hier ist die agency der Gefolterten wie bei Techniken der erzwungenen Agentschaft intendierter Teil der Folter, auch wenn die Produktion zutreffender Informationen nicht unbedingt handlungsleitend ist (wohl aber die ‚nützlicher‘ Informationen über feindliche Netzwerke, die auch in anderen ‚Verhören‘ eingesetzt werden können, oder gar zur Legitimation eines Krieges). Wie ich in Abschnitt 3.4 geschrieben habe, ist die Handlungsfähigkeit der Gefangenen aber ambivalent. Sie kann sich also gegen die Interessen der Folternden richten.

2 Informationsverarbeitung

Der Machtgegensatz zwischen Folternden und Gefolterten ist zu einem Teil ein Gegensatz zwischen Wissen und Unwissen. Wie ich oben gezeigt habe, wurden Gefolterte zur Steigerung ihrer Qualen gezielt in Unwissenheit und Unsicherheit über ihre Situation gehalten, beispielsweise über die Ziele von Transporten oder über Uhrzeiten. Darauf reagierten Gefolterte, indem sie kleinste Informationen verarbeiten, die sie den häufigen sensorischen Deprivationen zum Trotz aufnehmen, um sich zu orientieren sowie ihrem Nicht-Wissen und dem Wissensmonopol der Folternden entgegenzuwirken. Damit üben sie keinen aktiven Widerstand im Sinne von nach außen gerichteten Handlungen aus, aber sie erscheinen vor diesem Hintergrund auch nicht als absolut passiv. Mehr noch: diese ‚Informationsverarbeitungen‘ können mitunter als schwache Widerstandpraktiken verstanden werden, die laut Iris Därmann (2021; Därmann/Wildt 2021) häufig vernachlässigt wurden – sowohl von der (‚jüngeren‘) Gewaltsoziologie als auch von der Widerstandsforschung.Footnote 6

El-Masri erinnert sich an seine Ankunft in Afghanistan folgendermaßen:

When it landed again, I was unchained and taken off the plane. It felt very warm outside, and so I knew I had not been returned to Germany. I learned later that I was in Afghanistan (El-Masri o. J.).

Außerhalb des Flugzeugs spürt El-Masri Wärme („very warm“). Diese Temperaturwahrnehmung verarbeitet er zum Wissen („I knew“), dass er nicht nach Deutschland geflogen (also zuvor belogen) worden war. Den Aufenthaltsort („Afghanistan“) weiß er aber noch nicht, sondern erfährt ihn später.Footnote 7 Auch über die Dauer der Reise konnte er etwas erfahren (El-Masri war während seines Transportes nach einer Injektion bewusstlos, sodass sein Zeiterfahren unterbrochen worden war):

Through a window at the top of the cell, Mr. El-Masri saw the sun setting and realized that he had been traveling for twenty-four hours (Watt et al. 2018: 12).

Er sah den Sonnenuntergang durch sein Zellenfenster. Diese visuelle Wahrnehmung führte (in Verbindung mit dem Wissen der ungefähren Abflugzeit) zur Erkenntnis („realized“) über die Dauer des Fluges („twenty-four hours“). Ein anderer Gefolterter nutzte leibliche Erfahrung, um die Dauer eines Fluges einzuschätzen, indem er von der Stärke des durch die Körperposition ausgelösten Schmerzes auf die Zeitdauer der eingenommenen Position rückschließt.Footnote 8

Teilweise waren es unabsichtliche Fehler seitens der Folternden, die die Möglichkeiten zur Informationsverarbeitung boten. Slahi (2017: 230) berichtet über Verhöre in Guantánamo vor seiner zweiten ‚kooperativen‘ Phase:

Interrogators made sure that I had no clue about the time, but nobody is perfect; their watches always revealed it. I would be using this mistake later when they put me in dark isolation.

Er weiß, dass Verhörer:innen ihn im Unwissen über die objektive Uhrzeit halten wollten (um subjektive Zeitstruktur zu zerstören, s. Abschnitt 8.3). Sie machten aber den Fehler, ihre Armbanduhren sichtbar zu tragen.Footnote 9 Diesen Fehler konnte Slahi nutzen, als er später in „dark isolation“ gehalten wurde, um sein durch starke sensorische Deprivationen unstrukturiertes subjektives Zeiterfahren mit der objektiven Zeit zu synchronisieren. Er wurde nämlich als Teil eines Special Interrogation Plan bei sensorischer Deprivation ‚entführt‘ und von Camp Delta zu einem geheimen Ort gebracht. Bei einer medizinischen Untersuchung konnte er erneut auf der Armbanduhr des Arztes die Uhrzeit ablesen und einschätzen, wie lange seine ‚Entführung‘ her war. Sogar in der folgenden Isolation in fast vollständiger Dunkelheit entwickelte er Strategien zur Zeitmessung:

I had no clue about time, whether it was day or night, let alone the time of day. I could only pray in my heart lying down, because I could not stand straight or bend. When I woke up from my semi-coma, I tried to make out the difference between day and night. In fact it was a relatively easy job: I used to look down the toilet, and when the drain was very bright to lightish dark, that was the daytime in my life (Slahi 2017: 262).

Zunächst hatte Slahi keine Anhaltspunkte zur Objektivierung der vergehenden Zeit und war derart verletzt, dass er in einem „semi–coma“ liegen musste und in dieser Position nur „in my heart“ beten konnte, das heißt ohne Verbalisierung und ohne den angemessenen Zeitpunkt zu kennen oder die eigentlich nötigen Bewegungen („stand straight“, „bend“) durchführen zu können. Mit der Verbesserung seines Zustands („woke up“) konnte er im Abfluss der Toilette in seiner Zelle leichte Lichtveränderungen („very bright to lightish dark“) wahrnehmen und dadurch Tag von Nacht unterscheiden. Dies nutzte er in der Folge zur Durchführung der – ihm in dieser Periode verbotenen – Gebete (Slahi 2017: 270). Die Abfolge der Tage zählte Slahi, indem er jeden Tag zehn Seiten des Korans rezitierte und erneut heimlich eine Armbanduhr eines Verhörers ablas (Slahi 2017: 282). In einer späteren Phase der Gefangenschaft erkundigte sich sogar ein guard, wie es Slahi gelungen sei, den objektiven Zeitverlauf zu verfolgen (Slahi 2017: 325).Footnote 10 Außerdem bemühte sich Slahi darum die Namen seiner Peiniger:innen zu erfahren, um sie später publik machen zu können (Slahi 2017: 283). Damit unterlief er teilweise die angestrebte Wirkung der Deprivation und somit den (tendenziell absoluten) Machtanspruch der Folternden. Seine auf ein Minimum reduzierte sinnliche Wahrnehmung ermöglichte ihm doch die Gewinnung von Wissen. Dieses Wissen konnte er für sinnstiftende Handlungen wie Beten und dem Erstellen eines (gedanklichen) ‚Dossiers‘ über die Folternden nutzen. Auf diese Weise leistete Slahi minimalen Widerstand, wenngleich er in der Folge dem Druck nachgab und die oben beschriebene zweite ‚kooperative‘ Phase begann. Dieses ‚Scheitern‘ schmälert nicht den widerständigen Charakter dieser Praktiken. Die Betrachtung von schwachen, kaum vernehmbaren oder gescheiterten Praktiken macht diese „als mikrorevolutionäre Ereignisse“ (Därmann/Wildt 2021: 7) sichtbar, in denen leidende Körper der erlittenen Gewalt etwas entgegensetzen. Solche Ereignisse würden jedoch leicht übersehen, wenn man nur auf erfolgreiche Widerstandspraktiken blickt (Därmann/Wildt 2021: 11). Im Fall von extremen sensorischen Deprivationen und Desorientierungen als beabsichtigte Leidinduktionen gilt dies auch für die beschriebenen Informationsverarbeitungen.

3 Gebete und Anrufungen als Situationstransformationen

Gebete, insbesondere der rituelle Salāt, waren autonome Praktiken der Gefolterten, das heißt solche Praktiken, die nicht durch die Folternden erzwungen und intendiert wurden. In seiner zuerst 1909 erschienenen Studie zum Gebet betont Marcel Mauss (2012: 486 ff.; s.a. Moebius 2012: 133 ff.) den sozialen Charakter von – auch individuell vollzogenen – Gebeten als Anrufungen. Von magischen Praktiken und Zauberformeln abgrenzend versteht Mauss (2012: 525) es als „ein oraler religiöser Ritus, der sich unmittelbar auf die sakralen Dinge bezieht“. Dies gilt auch für den Salāt, der über das Verbale hinaus eine komplexe Choreografie darstellt und sowohl in privaten als auch in öffentlichen Räumen vollzogen wird (Akca 2020: 65 f.). Zwar ist er weder bezüglich der exakten Durchführung noch seiner diskursiv zugesprochenen theologischen oder politischen Bedeutung eine homogene Praxis (Haeri 2013: 6). Auch lässt er Raum für individuelle und situative Variationen. Dennoch ist er – auch über verschiedene islamische Kontexte hinweg – ein eher formalisiertes Ritual mit fester Struktur (Henkel 2005: 492, 498).Footnote 11 Praktizierende Muslime führen ihn im Normalfall fünfmal täglich zu festen Uhrzeiten durch. Das Ritual bedarf einer sorgfältigen Vorbereitung durch rituelle Waschung der Extremitäten des betenden Körpers und Markierung des Gebetsraums durch Auslegen eines Teppichs (oder anderer flächiger Artefakte wie Zeitungen) in die geographische Richtung Mekkas (Qibla). Das eigentliche Gebet besteht in der Folge aus Rezitationen verschiedener Koransuren bei gleichzeitigen Körperbewegungen. Diese Choreographie schafft „a ritual sphere with a clearly demarcated interior“ (Henkel 2005: 497) oder sogar eine „sacred spacetime“ (Haeri 2013: 8), in die Betende eintreten. Indem die formalisierte Rezitation von Koransuren auf einen gemeinsamen „starting point“ (Henkel 2005: 500) verschiedenster islamischer Denominationen verweist, namentlich die Eigenschaft des Korans als göttliche Offenbarung, weisen sich die Betenden zudem als Muslime aus.

Es ist vor dem Hintergrund des US-Folterkomplexes offensichtlich, dass auch in Phasen, in denen Folternde das Beten nicht explizit verboten oder mit Strafgewalt daauf reagierten, die Durchführung des Salāt für die Gefangenen schwierig war. Wie im obigen Beispiel war er daher häufig Anlass für Informationsverarbeitungen, um das Ritual in seiner raumzeitlichen Ausrichtung unter Bedingungen von sensorischer Deprivation möglichst adäquat durchführen zu können.Footnote 12 Weitere Probleme bei der Vorbereitung ergaben sich durch Hygieneentzug (Slahi 2017: 11), erzwungene Nacktheit (Pitter 2012: 71), gezielte ‚Verunreinigungen‘ der Gefangenen durch Fäkalien (DoA 2004c: 136) oder feminisierte Objekte wie Parfüm (DoJ 2009a: 219) sowie Deprivation von religiösen Artefakten wie der Gebetsmatte (Rasul et al. 2004: 34). Vor allem aber ist der Salāt eine „body technique“ (Henkel 2005: 489) im Sinne Mauss‘ (1975). Körperlicher Schmerz und Schwäche wie bei Slahi oder Immobilisierungen des Körpers durch Fesselung konnten die nötigen Bewegungen unmöglich machen. Im schlimmsten Fall führten Gefangene wie Slahi (2017: 262) Gebete ohne äußerlich erkennbares Betverhalten „in my [their] heart“ durch.

Das Gebet spielt eine wichtige und wiederkehrende Rolle in Berichten von Folterüberlebenden. Das Beharren auf seine Durchführung lässt Gefolterte nicht nur als Handelnde erscheinen, sondern erneut als Widerständige. Adayfi berichtet beispielsweise von einem gemeinsamen Morgengebet am ersten Morgen in Camp X-Ray, das er zusammen mit anderen Insassen durchführte. Sie taten dies laut Adayfi (2021: 24) zunächst eher aus Routine denn aus intendierter Widerständigkeit: “We were praying the way we had prayed all our lives because prayer was as much a part of us as our skin and bones” und: “We did this, all of us, not thinking, our bodies going through the movements”. Das biographisch angeeignete („all our lives“) und inkorporierte Wissen über das Ritual (“as our skin and bones”, “our bodies”) leitete sie als Gruppe („we“), nicht aber bewusste Intentionen („not thinking“). Sie stoppten den gemeinsamen Salāt aber auch nicht, als die anwesenden guards die rituellen Handlungen verboten und schließlich mit Gewalt eingriffen. Adayfi meinte dabei sogar Angst bei den guards wahrzunehmen (Adayfi 2021: 24).

Die Versuche der Folternden, insbesondere in Verhörsituationen das Beten zu verhindern oder zu erschweren, kann auch ohne Rückgriff auf das gewaltsame Othering der Gefolterten als muslimische Männer (s. Kapitel 13) ‚verständlich‘ gemacht werden. Denn das Ritual verändert potentiell die soziale Situation – aus Perspektive der Folternden auf ungünstige Weise. Erstens kann die Vorbereitung und Durchführung eine raumzeitlich abgegrenzte rituelle Sphäre schaffen, in welche die Betenden eintreten. Sie entziehen sich auf diese Weise der durch Gewalt hergestellten Definitionsmacht der Folternden über die Situation. Sofern Adayfis Wahrnehmung von Angst bei den guards zutreffend war, impliziert diese emotionale Reaktion eine Art Anerkennung der situationstransformierenden Macht des Gebets seitens der Soldat:innen.Footnote 13 Zweitens verändert auch der Anrufungscharakter von Gebeten die Situation. Der formalisierte und repetitive Charakter bedeutet nämlich ebenso wenig wie die häufige Verwendung der dritten Person bezüglich Gott, dass Betende den Salāt nicht als direkte Kommunikation mit Gott erfahren können (Haeri 2013: 23 f.; zum untersuchten Fall s. bspw. Adayfi/Aiello 2021: 20). In der Adressierung Gottes wird eben jener kommunikativ in der Situation präsent. Dies gilt auch für nicht formalisierte Gebete und Anrufungen (Kurnaz/Kuhn 2017: 35). Als Dritter, der die Macht der Folternden übersteigt, unterläuft der adressierte Gott die Machtinszenierungen der Folternden und entzieht ihnen sogar Handlungsverantwortung; beispielsweise, wenn Gefangene den Zeitpunkt ihrer Freilassung ausschließlich von Gott abhängig deuten (Kurnaz/Kuhn 2017: 147, 208; s.a. Abbasi 2010). Die durch Anrufungen hergestellte Präsenz Gottes bedeutet aber freilich kein quasi-magisches Aufheben der Foltersituation. Folternde versuchten solche Situationsumdeutungen durch Beleidigungen, Witze und Gewalt zu unterbinden und die Situation zu ‚reprofanisieren‘ (s. beispielsweise Al-Sheikh 2004: 1; Slahi 2017: 252).Footnote 14 Dennoch zeigen Gebete und die kommunikative Einbeziehung Gottes, dass das Muslim-Sein der Gefangenen nicht nur zur Adressierung vermeintlich kulturspezifischer Verletzlichkeiten in der Foltergewalt genutzt wurde. Es war zugleich eine Ressource der Gefangenen, denn es stellte Wissen bereit, welches die Herstellung von individueller und kollektiver Handlungsfähigkeit sowie teils von Widerständigkeit ermöglichte.

4 Kommunikation mit Mitgefangenen

Sobald Gefangene nicht in Isolation gehalten wurden und sich gegenseitig wahrnehmen konnten, kommunizierten sie miteinander. Teilweise erreichten sie dies sogar zwischen auf sensorische Deprivation ausgelegten Zellen (Adayfi/Aiello 2021: 53). Die Interaktion wurde zum Austausch von Wissen genutzt wie über den Aufenthaltsort (Adayfi/Aiello 2021: 93). Die oben erwähnte ‚Entführung‘ Slahis beispielsweise, bei der er mit einem Boot an einen angeblich weit entfernten Ort gebracht wurde, war in ähnlicher Form bereits mit anderen Gefolterten durchgeführt worden. Aufgrund des Wissensaustauschs der Gefangenen zusammen mit Slahis individueller Informationsbearbeitung war die ‚Entführung‘ für ihn weder überraschend noch glaubhaft in Bezug auf die angeblich große Entfernung von Camp Delta. Insassen lernten von Mitgefangenen auch Sprachen und rituelles Wissen über Gebete (Kurnaz/Kuhn 2017: 14). Sogar einzelne guards versorgten bewusst sowie entgegen ihren Vorgaben die Gefangenen mit Informationen und führten teils gar freundschaftsähnliche Konversationen mit ihnen (s. bspw. Adayfi/Aiello 2021: 70). Auch ermöglichte die gegenseitige Wahrnehmbarkeit von Gefangenen emotionalen Zuspruch, beispielsweise wenn ein Gefangener zum Verhör abgeführt wurde (Slahi 2017: 60). Sie war zudem Voraussetzung für kollektive Widerstandspraktiken:

We don’t have many options to show that we are angry and when we don’t return the plates this presents them with a huge problem because they absolutely must get them back. And when 50 or a hundred of you are acting in this way, this is a huge problem for them because they will have to organize those interventions. With a hundred people or 50 people they will call on every single soldier. Afterwards they are very tired because for each cell they bring in about six, seven, eight soldiers in full gear with helmets, with sprays, what they call gas. They spray you so for one person or two persons that is easy for them. But when there are many of us, they cannot manage anymore. Then they negotiate (Mustafa 2010b).

Der ehemalige Guantánamo-Insasse Khaled Ben Mustafa berichtet hier von gemeinsamem Widerstand durch Gehorsamsverweigerung.Footnote 15 Eine der wenigen Möglichkeiten ist das Verweigern der Rückgabe von Tellern. Als individueller Akt stellt dies kein Problem für die Folternden dar („easy for them“): Ein IRF-Team („about six, seven, eight soldiers in full gear with helmets“) kann unter Einsatz von Reizgas („they spray you“) Strafgewalt ausüben und die Teller gewaltsam aus den Zellen entfernen. Anders ist es, wenn eine große Anzahl von Gefangenen („50 or a hundred“) auf diese Weise handeln. In jede Zelle der Widerständigen müssen IRF-Teams eindringen und physische Gewalt ausüben, was die personellen Kapazitäten strapaziert („every soldier“) und die beteiligten guards körperlich erschöpft („very tired“).Footnote 16 Diese organisatorischen Probleme mit der Situation umzugehen („cannot manage“) führten zur Verhandlungsbereitschaft seitens der Folternden. Hier ist es also das Stören der alltäglichen Abläufe, die durch das solidarische Handeln zu leichten Veränderungen führen kann.Footnote 17 Voraussetzung dafür ist aber neben der gegenseitigen Wahrnehmbarkeit die Bereitschaft der Gefangenen, die zu erwartende gewalttätige Reaktion in Kauf zu nehmen. Kurnaz (2017: 152 f.) und Adayfi (2021: 83) berichten sogar von einer erfolgreich durchgeführten und gegenüber der Organisation geheim gehaltenen Wahl eines zentralen Emirs, der als Oberhaupt der Gefangenenpopulation von Guantánamo fungierte, und später von Emiren für die einzelnen Blocks, die als Ansprechpartner für die Organisation dienten. Die Kommunikation zwischen den Gefangenen ermöglichte ihnen also nicht nur gegenseitige Solidarisierung, sondern gar die Institutionalisierung von sozialen Rollen und Verantwortungen.

5 Hungerstreik

Der Hungerstreik ist wohl die häufigste Form des Widerstands unter der Bedingung der Folter und gegen als ungerecht empfundene Gefangenschaft im Allgemeinen (s.a. Ellmann 1993; Schulz 2019). Schließlich kann damit eine letzte Autonomie aufrechterhalten und zugleich eine Gefahr für die folternde Organisation – nämlich der Tod des gefolterten Körpers (Popitz 1992: 53) – aufgebaut werden. El-Masri, der schon in seiner Zeit in Mazedonien einen individuellen Hungerstreik durchgeführt hatte, entschloss sich zusammen mit anderen Insassen in einer afghanischen CIA-Blacksite auf diese Weise gegen die Haftbedingungen zu protestieren (Watt et al. 2018: 14). Durch die Zellenwände konnten die Gefangenen heimlich und gegen die herrschenden Regeln kommunizieren und die kollektive Handlung beschließen. Nach 27 Tagen erreichte El-Masri damit ein Gespräch mit einem hohen CIA-Beamten und dem Gefängnisleiter, in dem diese zugaben, dass El-Masri ohne Grundlage festgehalten würde, aber nicht ohne Erlaubnis von hierarchisch höheren Stellen („permission from Washington“, El-Masri o. J.) entlassen werden könne. Daraufhin drohte El-Masri den Hungerstreik notfalls bis zu seinem Tod weiterzuführen (CIA 2007: 52).

In Guantánamo gab es zahlreiche kollektive Hungerstreiks (s. z. B. Al Hajj 2012; zu einer detaillierten Analyse der Streiks in Guantánamo s. Köthe 2021). In einem Fall war einer der Konflikte zwischen den Gefangenen und den guards in der frühen Phase in Camp X-Ray der Anlass.Footnote 18 Ein guard warf den Koran zu Boden und trat auf ihn. Es kam zu Protesten der anderen Gefangenen durch Rufe sowie Schlagen und Beißen der Käfigtüren.Footnote 19 Beim folgenden IRF-Einsatz entleerten zwei Gefangene laut Kurnaz sogar Eimer mit Wasser und Exkrementen über den guards.Footnote 20

Am nächsten Tag weigerten sich einige Gefangene, ihr Frühstück anzunehmen. Andere nahmen den Pappteller zwar entgegen, aßen aber nichts. Als die Wärter zu mir kamen, verweigerte auch ich das Essen. Auch Salah wollte nichts essen, selbst Abdul rührte seinen Teller nicht an. Wir hatten uns nicht abgesprochen, das geschah spontan. Zu Mittag aß niemand mehr in ganz Charly. Am Nachmittag erfuhren wir aus Bravo, dass sich alle Blocks am Hungerstreik beteiligten. Dabei blieb es. An jedem Morgen, Mittag und Abend kamen die Wärter mit Papptellern oder Emaries, und keiner nahm etwas an. […] Am vierten Tag des Hungerstreiks erschien der General bei uns. Er redete mit einem der Englisch sprechenden Gefangenen. Der Gefangene weigerte sich, vor dem General aufzustehen. Da nahm der General seine Mütze ab und setzte sich im Gang vor dem Käfig auf den Boden. In diesem Moment dachte ich: Wir waren nicht völlig machtlos. Wir konnten sie in die Knie zwingen, wenn wir gemeinsam hungerten! Sie wollten nicht, dass wir alle starben (Kurnaz/Kuhn 2017: 150).

Am nächsten Tag begann der kollektive Hungerstreik, den die Gefangenen in diesem Fall zunächst „spontan“, also ohne explizite Absprache, vollzogen. Er verbreitete sich über Kommunikation zwischen den Gefangenen in den verschiedenen Blocks in Camp X-Ray. Die Sichtbarkeit der Gefangenen, die die käfigförmigen Zellen in Camp X-Ray herstellten, war also nicht nur ein Mittel der Verhaltensüberwachung und -kontrolle durch die folternde Organisation JTF-GTMO, sondern wurde zu einer Ressource der widerständigen Gefangenen; das heißt, Camp X-Ray war kein reines Panoptikum im Sinne Foucaults (2015: 256–292). Schließlich („am vierten Tag“)Footnote 21 kam „der General“ (Lenhart). Als ein Gefangener sich weigert aufzustehen, setzt er sich auf den Boden. Dieses wörtliche Auf-Augenhöhe-Begeben des Leiters der Joint Task Force 160 deutet Kurnaz als Machtgewinn („nicht völlig machtlos“, „in die Knie zwingen“). Quelle und Voraussetzung dieses Machtgewinns ist aber freilich die Intention der Folternden, die Gefangenen nicht – zumindest nicht alle – sterben zu lassen, ebenso wie die Bereitschaft der Streikenden, die SchwächungFootnote 22 ihres Körpers und unter Umständen dessen Sterben in Kauf zu nehmen. Und tatsächlich folgen auf diese Ereignisse Verhandlungen zwischen beiden Seiten und anschließend leichte Verbesserungen der Situation (Kurnaz/Kuhn 2017: 150 ff.; Rasul et al. 2004: 54; Adayfi/Aiello 2021: 41). Die Hungerstreiks waren dabei auch Ausdruck und Mittel einer Solidarisierung unter den Gefangenen, was sich an der Forderung zeigt, das Privilegiensystem abzuschaffen (Köthe 2021: 65).

6 Organisationale Reaktionen: Zwangsernährung und Looping

Solche Widerständigkeiten hatten freilich ihre Grenzen und blieben von den Folternden nicht unbeantwortet. Kurnaz (2017: 154) bemerkt in seinem Bericht, dass der relative Machtgewinn an die Gesprächsbereitschaft von General Lenhart gekoppelt war und unter General Miller so nicht möglich war.Footnote 23 Im Falle von Hungerstreiks bestand die organisationale Reaktion in qualvoller Zwangsernährung. Mit folgenden Worten beschreibt Daniel Lakemacher, der als Teil des medizinischen Personals in Guantánamo tätig war, die Durchführung einer solchen Prozedur in einem Interview mit Witness to Guantánamo:

They have a … they have a special chair […] Um, and so then what they would do, their whole body is strapped in, so they don’t have the ability to move their limbs and even their torso at all because they’re…they’re strapped. And then they’d…you know, they’d force their head back…um, force their…force their head back, so that it creates a straight passage and then drop a…drop a gastro tube into their stomach and feed them Ensure. And the whole time the detainee trying to resist is trying to gag on it, so that he’ll be spitting it back up, so that it won’t actually be going down, trying to loosen the tube. And it just seemed like the most despicable thing seeing a grown man, with no…no ability to move in any way, except for some, you know, some movement with his jaw, with his mouth, with his head, marginally (Lakemacher 2010b).

Hierzu wird der gesamte Körper des Gefangenen auf einen dafür vorgesehenen Stuhl („special chair“) festgeschnallt und sein Kopf gewaltsam nach hinten gedrückt, sodass dem Gefangenen keine Bewegungsfreiheit mehr bleibt außer minimale „with his jaw, with his mouth, with his head“. Sodann kann die Zwangsernährung mittels einer „gastro tube“ vorgenommen werden. Gleichzeitig wehren sich die Gefangenen im Rahmen ihrer minimalen Möglichkeiten selbst noch in diesem Moment extremer Immobilisierung und Penetration: sie versuchen die Sonde durch Würgen zu lösen, auszuspucken und damit die erzwungene Nahrungsaufnahme zu verhindern. Lakemacher deutet seine Wahrnehmung („seeing a grown man“) eines wehrlosen („no ability to move“) erwachsenen Körpers als „most despicable“ – in Goffmans (2016: 50) Worten also im Sinne der „Degradierung in der Alter-Rangordnung“. Der Gegensatz zum Essen als kulturelle Körpertechnik der autonomen Nahrungsaufnahme ist so offensichtlich wie gravierend (Köthe 2021: 68). Für Gefolterte war die Prozedur eine äußerst gewaltvolle Erfahrung; so umschreibt Adnan Latif das leibliche Erleben der Einführung des Schlauches beispielsweise „like having a dagger shoved down your throat“ (zit. n. Falkoff 2007; s.a. Köthe 2021: 67). Dieser Vergleich mit einer Waffe im Inneren des Körpers, der laut Scarry (1985: 15) typisch ist für das schwierige Unterfangen der Verbalisierung von physischem Schmerz, lässt keinen Zweifel daran, dass die Penetration eine leibliche Verletzung war.

Zunächst konnten die Folternden mit dieser Maßnahme das Überleben des unterernährten Körpers sichern. In Guantánamo wurde das bei der Aufnahmeprozedur aufgenommene medizinische Körperwissen wie Größe und Gewicht genutzt, um das individuelle Sterberisiko einzuschätzen (Shimkus 2011a). Dazu führte die JTF-GTMO detailliert Buch über die Gewichtsentwicklung der einzelnen Gefangenen (s. DoD 2007). Die SOP enthalten ebenfalls standardisierte Verfahren für Hungerstreiks (JTF-GTMO 2004a: 19.3).Footnote 24 Auch in CIA-Blacksites wurden Gefangene zwangsernährt, so auch El-Masri (Watt et al. 2018: 16) in Anschluss an das oben erwähnte Gespräch mit dem Gefängnisleiter, oder Abu Zubaydah (SSCI 2014: 100). Aus machttheoretischer Perspektive sind Zwangsernährungen relevant, weil mit ihnen den Gefangenen die Möglichkeit genommen wird, ihren Tod notfalls in Kauf zu nehmen oder herbeizuführen, um nicht gehorsam sein zu müssen. Die letzte Kontrolle über den eigenen Körper und damit Autonomie wird den Gefolterten dadurch entzogen. El-Masris Drohung, die für die CIA auch vor dem Hintergrund seiner deutschen Staatsangehörigkeit eine reale Gefahr und damit eine Machtressource für El-Masri darstellte, konnte so unterlaufen werden. Lakemachers Beschreibung zeigt, dass die Zwangsernährungen gewaltvolle Handlungen waren, in denen ähnlich wie bei raumzeitlichen Übergängen unter extremer Immobilisierung in den Körper eingedrungen wird. In Guantánamo wurden sogar dieselben Schläuche ohne Reinigung nacheinander bei verschiedenen Hungerstreikenden benutzt, obwohl Blut und Speichel sichtbar anhafteten. Dadurch wurden die Gefangenen „zu einem grotesken Flüssigkeitsaustausch“ (Köthe 2021: 68) genötigt. Die Zwangsernährungen waren nicht zuletzt weitere Quellen von leiblichen Schmerzen, Leiden und (Autonomie-)Verletzungen des Selbst. Wie bei den Aufnahmeprozeduren (s. Kapitel 10) waren diese Wirkungen den Folternden bewusst und intendiert.Footnote 25 So wurden in CIA-Blacksites laut Senatsbericht bei mindestens fünf Gefangenen Zwangsernährungen und Rehydrierungen ohne angemessene medizinische Begründung (s.a. PHR 2014: 6) rektal durchgeführt.Footnote 26 Im Fall von al-Nashiri sogar mit dem größtmöglichen Schlauch („‚we used the largest Ewal [sic] tube we had.‘“, zitiert nach SSCI 2014: 100). Der Überlebende Majid Khan bezeichnete vor Gericht diese gewaltsame Penetration als „rape“ (Rosenberg 2021b). Das CIA-Personal verband die rektalen Zwangsernährungen erneut mit erhofftem Nutzen für das Verhör: Die Prozedur sei einem CIA-Memo zufolge „‘effective in getting KSM [Khalid Sheikh Mohammed] to talk‘“ (zitiert nach SSCI 2014: 83).Footnote 27 Andere Insassen wurden mit dieser Prozedur bedroht, was neben dem Bewusstsein über ihren gewaltvollen Charakter auch ihre Verwendung als Machtressource verdeutlicht. Die medizinisch legitimierte Reaktion auf die Widerstandshandlungen der Gefangenen wurde also im Sinne des Loopings intentional zur Verstärkung der Qualen genutzt sowie mit dem rationalen Ziel des Folterkomplexes verknüpft.

Obwohl die Zwangsernährungen derart gewaltvoll durchgeführt wurden und diese für die Gefangenen in Guantánamo erwartbar wurden, kam es dort immer wieder zu kollektiven Hungerstreiks, beispielsweise im Jahr 2013 (Köthe 2021: 82). Darin zeigt sich, dass diese Gewalt letztlich nicht ihr Ziel erreichte, die Widerständigkeit und Selbstermächtigung vollständig zu unterbinden. Den idealtypischen Setzungen, dass Gefolterte „keinerlei Deutungsspielraum“ (Grüny 2004: 192) haben und dass die Foltererfahrung zu einer „Zerstörung der Welt“ (Scarry 1992: 57) führe, sind also nicht generell zuzustimmen (s.a. Rejali 2009: 441 f.). Obwohl solche Maximalformulierungen für manche Situationen aufgrund des extremen leiblich-psychischen Leidens zutreffend sind (wie bei der beschriebenen Zwangsernährung), greifen sie zu kurz. Denn die Folter ist nicht isoliert in einzelnen Situationsmomenten, sondern in ihrer raumzeitlichen Verkettung sozialer Situationen zu verstehen. Gefolterte nutzen kleinste Ressourcen und Freiräume, die sich entgegen dem Bemühen der Folternden immer wieder ergeben, um minimale Handlungsfähigkeit herzustellen, Linderungen ihrer qualvollen Situationen zu erreichen oder gar Widerstand zu leisten in Form von „Mikrophysiken der Gegengewalt“ (Därmann 2021: 57).

Die letzten Ressourcen bietet zunächst der eigene Leibkörper mit seinen Wahrnehmungen, Eigenschaften (wie Sterblichkeit), Wissen (wie über den Salāt) und Produkten (wie Exkremente und Speichel). Der gepeinigte Leibkörper ist den Versuchen der Folternden zum Trotz nicht ausschließlich ein Werkzeug der Folter, sondern auch weiterhin ein Quell von Autonomie.Footnote 28 Besonders relevant ist die Interaktion mit Mitgefangenen, wenn diese durch gegenseitige Wahrnehmbarkeit möglich ist. Aber auch in individuellen und bloß innerlich vollzogenen Handlungen sowie in verbalen Interaktionen mit den Folternden zeigt sich eine erstaunliche Aktivität. Bei äußerlich erkennbaren Widerständigkeiten müssen die Gefangenen jedoch stets mit drastischen Reaktionen seitens der Folternden rechnen und diese häufig erleiden. Diese Reaktionen können im Sinne des Loopings zu gezielten Steigerungen der Leidinduktionen führen.