Der Alltag außerhalb der Verhöre in den – vor allem militärisch-kontrollierten – Folterorten des War on Terror war ebenfalls Bestandteil der Foltererfahrungen der Gefangenen. Dies möchte ich für das Beispiel des Gefangenenlagers in Guantánamo rekonstruieren, dessen Strukturierung Nungesser (2020) als „organisierter Stress“ bezeichnet. Der Akteursgruppe der guards kommt dabei deshalb eine große Bedeutung zu, weil sie alltäglich mit den Gefangenen interagierte und als die primäre Vermittlerin der organisationalen Interessen auftrat. Sie bestand in den Militärgefängnissen und -lagern aus MPs, also Mitgliedern der Militärpolizei. Guards hatten grundsätzlich hierarchisch eine niedrige Position inne. Als Personal der totalen Institution sorgten sie für das Aufrechterhalten der Gefangenschaft durch Nahrungsvergabe und Bewachung. Darüber hinaus führten sie Gewalt im Gefängnisalltag aus, setzten in Guantánamo das disziplinierende Privilegiensystem – bestehend aus Belohnungen und Strafen – um, und waren auch an der Gewalt in Verhörsituationen beteiligt.

1 Guards und ihr Verhältnis zum Verhör

Die alltägliche Gewalt außerhalb des Verhörraums konnte dem Verhör dienen. Zwar gab es stets eine klare raumzeitliche Trennung zwischen Verhörsituationen und dem Leben der Gefangenen in der Zelle: Befragungen fanden gewöhnlich in speziellen Räumen statt, nicht aber in der Zelle eines Gefolterten. Den Übergang zwischen den beiden Räumen bildeten im Übrigen, ebenso wie das wiederholte erzwungene Umziehen von Zelle zu Zelle (DoJ 2009a: 227), weitere Situationen von Gewalt durch guards (z. B. DoJ 2009a: 239; Rasul et al. 2004: 44). Trotzdem verschwimmt bei genauerer Betrachtung die Grenze zwischen Gefangenschaft und Verhör, wenngleich sie sich nicht auflöst. Der von unter anderem Jessen verfasste „Exploitation Draft Plan“ (DoD 2002b) mit Empfehlungen der JPRA zur Organisation eines DoD-Folterortes fasst die allgemeinen Aufgaben der guards wie folgt zusammen:

– Guards:

– Provide security for the subject and team

– Transport the subject to and from interrogations

– Accompany the subject in necessary hygiene care

– Remain neutral in regard to the subject

– Assist with team requirements as instructed (DoD 2002b: 7).

Die guards sollten also als alltägliche Arbeit für „security“ und „hygiene care“ der Gefolterten („subject“) sorgen, diese für Verhöre transportieren bzw. eskortieren und ihnen grundsätzlich „neutral“ begegnen. Der letzte Punkt („Assist […] as instructed“) deutet weitere flexible Funktionen an und zeigt die hierarchisch niedrige Position der guards als Befehlsempfänger:innen. Verhörpersonal war ihnen grundsätzlich höhergestellt.Footnote 1 In einer Folie einer Präsentation, die Jessen unter anderem für Vermittlung von SERE-Wissen an Verhörer:innen in Guantánamo nutzte, nennt er als einen ‚psychologischen Aspekt‘ des Verhörs: „Interrogator must appear to control everything“ (Jessen o. J.a: 14). Neben der schon aus den vorherigen Kapiteln bekannten „control“ über Gefolterte als wichtiger ‚Hebel‘ erfolgreicher ‚Befragung‘ in der US-Foltertheorie findet sich hier die Relevanz der Inszenierung („must appear“) einer generellen Kontrolle, die auch die guards miteinschließt: In derselben Präsentation gibt Jessen die Anweisungen „Identify yourself as a superior“ und „Arrange the guard to bend to your authority“ (Jessen o. J.a: 27). Zu der Inszenierung der Kontrolle gehört also auch die der hierarchischen Höherstellung innerhalb der Organisation und insbesondere den guards gegenüber.

Folgende Schilderung der Erfahrung einer FBI-Agentin in einem Bericht des Justizministeriums verdeutlicht die Einbindung der guards in die Folter durch direkte Anweisungen durch Verhörer:innen:

She […] walked into an interview room and encountered a detainee whose hands and feet were shackled to the floor so that the detainee could not stand. She said that the room was stifling hot, there was a strong smell of urine and feces, and there was a small pile of hair next to the detainee's head. The MPs on duty told the agent that the detainee had been there since the day before and that the MPs were told by his interrogators to leave him there and not bring him any food or water until the interrogators came back. The MPs also told the FBI agent that they had been instructed to do this for other detainees (DoJ 2009a: 224).

Die beschriebene Technik ist die in Guantánamo häufig angewandte Stressposition des short shackling (DoJ 2009a: 254), hier verbunden mit Nahrungs-, Flüssigkeits- und Hygieneentzug. Auch wenn aus dem Zitat nicht ersichtlich wird, ob die Fesselung durch guards durchgeführt worden war (was sehr wahrscheinlich ist), ist ihre unmittelbare Einbindung durch Befehle („the MPs were told“; „had been instructed“) offensichtlich. Ihr Mitwirken bezieht sich in diesem Fall auf Folter im Verhörraum und besteht in der Nichtausübung ihrer alltäglichen Pflichten zur Versorgung des Gefangenen („leave him there and not bring him any food or water“) über längere Zeiträume („since the day before“). Auch in Abu Ghraib und Bagram wurden die MPs durch Anweisungen des Verhörpersonals in Form von MIs (Military Intelligence) oder private contractors aktiv in die Folter eingebunden, was mitunter zu Spannungen führte.Footnote 2

Dass auch die (Gewalt-)Handlungen der guards außerhalb des Verhörraums und die durch sie gesicherten Haftbedingungen dem Verhör dienten, wird in den Handlungsentwürfen des DoD an einigen Stellen angedeutet.Footnote 3 Ein Beispiel bietet folgende Passage aus Rumsfelds autorisierendem Memorandum von April 2003, die wenige Monate später auch in dem Memorandum von General Sanchez (2003: 13) im gleichen Wortlaut wiederholt werden würde:

Interrogation operations are never conducted in a vacuum; they are conducted in close cooperation with the units detaining the individuals. The policies established' by the detaining units that pertain to searching, silencing, and segregating also play a role in the interrogation of a detainee (Rumsfeld 2003b: 5).

Verhöre sollen also in enger Zusammenarbeit mit den „units detaining the individuals“, also den guards, durchgeführt werden. Die Metapher „vacuum“ verweist auf ein Verständnis von Verhör ohne Betrachtung der raumzeitlichen Umgebung der Gefangenschaft. In der deutlichen Verneinung der Angemessenheit dieser Metapher („never conducted in a vacuum“) zeigt sich in emischer Perspektive die Relevanz der Verkettung der Verhör- und Foltersituationen mit den ihr vor- und nachgelagerten sozialen Situationen. Der zweite Satz betont die Relevanz („play a role“) der durch guards aufgestellten und durchgesetzten Regeln der Haft („policies established' by the detaining units“), die gewissermaßen das ‚Vakuum‘ ausfüllen, und benennt dabei drei weitere Aufgaben der guards („searching, silencing, and segregating“).

In Berichten von Folterüberlebenden finden sich ähnliche Deutungen von dem organisationalen Verhältnis der guards zu Verhörer:innen sowie von der Verbindung zwischen Haftbedingungen und Verhör. So berichtet Mohamedou Slahi:

The torture was growing day by day. The guards on the block actively participated in the process. The interrogators tell them what to do with the detainees when they came back to the block. I had guards banging on my cell to prevent me from sleeping. They cursed me for no reason. They repeatedly woke me, unless my interrogators decided to give me a break. I never complained to my interrogators about the issue because I knew they planned everything with the guards (Slahi 2017: 225).

Slahi sieht eine aktive Beteiligung der guards an der Folter auch in ihrem alltäglichen Verhalten im Zellenblock, welches aber durch Verhörer:innen bestimmt („interrogators tell them“, „interrogators decided“) und mit diesen geplant werde. Sein Wissen um die Absprache von guards und Verhörpersonal erscheint ihm so sehr evident, dass er es unterließ, sich bei den Verhörer:innen zu beschweren („never complained“). Wie beim obigen Beispiel des gefesselten Gefolterten besteht die Beteiligung der guards nicht in Gewaltanwendung mit Körperkontakt, sondern im praktischen Umsetzen des Schlafentzugs durch akustische Wachhalte- und Weckpraktiken wie Schlagen gegen die Zelle oder beschimpfende, beleidigende Sprechakte („cursed“). Auch Asif Iqbal deutet das alltägliche Verhalten der guards im Camp X-Ray in ähnlicher Weise:

The behaviour of the guards towards our religious practices as well as the Koran was also, in my view, designed to cause us as much distress as possible. They would kick the Koran, throw it into the toilet and generally disrespect it. It is clear to me that the conditions in our cells and our general treatment were designed by the officers in charge of the interrogation process to ‘soften us up’ (Rasul et al. 2004: 34).

In diesem Fall ist es das Verhalten der guards gegenüber religiösen Praktiken und insbesondere dem Koran im Gefängnisalltag, welches als gewaltsam erfahren und gleichfalls den Verhörer:innen als Befehlsgeber:innen zugesprochen wird, ebenso wie im Allgemeinen die „conditions in our cells“ und das „treatment“. Die Metapher des „soften us up“ wird auch in Berichten anderer Beteiligter und von anderen Folterorten genutzt, um die Intention der Gewalt durch guards zu bezeichnen (DoA 2004c: 108, 2008: 1562; DoJ 2009a: 293).Footnote 4 Sie findet sich aber nicht in den organisationalen Handlungsentwürfen. Sie umschreibt den Umstand, dass die alltägliche Gewalt im Zellenblock als eine Vorbereitung für das Verhör (aber nicht als Teil desselben) fungierte oder fungieren konnte, indem sie den Widerstand der Verhörten schwächen und ‚erfolgreiche‘ Befragungen erleichtern sollte. Insofern ist die alltägliche Gewalt mit den Verhörsituationen verbunden und muss bei der Betrachtung dieser Situationen berücksichtigt werden. Jedoch bleibt sie prinzipiell raumzeitlich getrennt von solcher Gewalt, die unmittelbar in Verhörsituationen durch Verhörpersonal veranlasst, durchgeführt oder zumindest in dessen Kopräsenz ausgeübt wird. Die von der FBI-Agentin beschriebene Situation ist ein Zwischenfall, denn die Folter durch Stresspositionen sowie Nahrungs- und Hygieneentzug fand einerseits im Verhörraum statt, war aber von der Befragung durch die lange Abwesenheit der Verhörer:innen zeitlich getrennt.

2 Comfort Items und Privilegiensystem

Eine Besonderheit von dem Folterort Guantánamo war, dass in Camp Delta ein explizites „Privilegiensystem“ (Goffman 2016: 54) – in emischer Terminologie: „Detainee Behavioral Management“ (JTF-GTMO 2004a: 8.1) – mit Übergabe der Leitung der JTF-GTMO von General Dunlavey an General Miller eingeführt wurde, und an dessen Entwicklung das BSCT beteiligt war (JTF-GTMO 2002). Es fungierte als ein Bindeglied zwischen dem rationalen Ziel der Institution und dem Alltag der Gefangenen.

The Detainee Classification System is a five level system of rewards based on the premise that a detainee’s behavior determines the privileges they are allowed (JTF-GTMO 2004a: 8.3).

So definieren die SOP die gestaffelte Differenzierung von Gefangenen („Detainee Classification“). Die Gefangenen sollen in fünf Levels eingeteilt werden, wobei ihr Verhalten die ihnen gewährten Belohnungen („rewards“) bestimmen soll. Das erste Level bot die meisten ‚Privilegien‘; das vierte bildete das untere Ende der Staffelung. Das fünfte Level hatte einen Sonderstatus (Intel Level) und war für „intelligence gathering purposes“ (JTF-GTMO 2004a: 8.3) ausgelegt. Für Goffman bestehen Privilegiensysteme in totalen Institutionen erstens aus einer expliziten Hausordnung, die die Regeln den Insass:innen erklären; zweitens aus „Belohnungen oder Privilegien als Gegenleistung für den Gehorsam gegenüber dem Stab“ (Goffman 2016: 54); und drittens aus Strafen „als Folgen von Regel-Übertretungen“.

Zwar sehen die SOP prinzipiell eine Ausgabe einer Hausordnung („camp rules“, s. u.) vor. Jedoch findet sich davon nichts in Berichten Überlebender. Das unten beschriebene Erlernen-Müssen der Regeln und die flexible Auslegung der Regeln durch guards legen zudem ebenfalls nah, dass entweder keine solche explizite Einweisung erfolgte (an anderen Orten wie Abu Ghraib oder Bagram ist dies noch weniger vorstellbar) oder sie wenig mit den durchgesetzten Regeln zu tun hatte. Die Privilegien bestanden vor allem in – durch die Levels gestaffelten – Zugangsrechten zu sogenannten comfort items, deren Bezeichnung bereits in Dunlaveys (2002) Memorandum von Oktober 2002 auftaucht und die auf die in den theoretisierenden Dokumenten des US-Folterkomplexes häufige Unterscheidung von comfort/discomfort verweist. Goffman (2016: 54 f.) stellt fest, „daß viele dieser potentiellen Vergünstigungen lediglich Teile der Rechte und Vergünstigungen sind, die der Insasse früher für gesichert hielt“. Entsprechend handelte es sich bei den comfort items um Alltagsgegenstände und umfasste „almost everything that was not screwed or welded down in the cages“ (Rasul et al. 2004: 57). Nach dem Eintritt in Camp Delta sollten den Gefangenen für mindestens zwei Wochen nur „Basic comfort items“ (JTF-GTMO 2004a: 4.3) zugestanden werden, namentlich:

(a) ISO Mat (b) One blanket (c) One towel (d) Toothpaste/finger toothbrush (e) One Styrofoam cup (f) Bar of soap (g) Camp Rules (h) Koran

Die Gegenstände haben zum Großteil einen direkten Körperbezug und dienen dem Wärmen bzw. der minimalen Pflege des eigenen Körpers. Hinzu kommt neben den „rules“ der Koran als religiöses Artefakt. Das Privilegiensystem ist also vor allem als ein Entzugssystem zu verstehen, das als ‚Privilegien‘ leichte Linderungen der Deprivationen verspricht. Als solche Belohnungen waren zusätzliche Gegenstände wie eine Gebetskette oder weitere Bücher, als Strafen (bzw. emisch: Disziplinierungen) das Wegnehmen von comfort items oder auch der Verlust von warmen Mahlzeiten vorgesehen (JTF-GTMO 2004a: 8.2).Footnote 5 Darüber hinaus war das Privilegiensystem mit der räumlichen Struktur des Camps verknüpft. Die verschiedenen Blocks wurden den Levels mit ihren jeweiligen Rechten zu comfort items zugeteilt, wobei Gefangene auf den Leveln vier und fünf in Isolationshaft gehalten wurden. Das bedeutet, eine Änderung der Position innerhalb des Privilegiensystems war gewöhnlich mit einem erzwungenen Zellenumzug verbunden.Footnote 6 Ausführende der Belohnungen und Strafen waren guards. Das Privilegiensystem muss als Versuch verstanden werden, den Zusammenhalt der Gefangenen zu unterminieren (Nungesser 2020: 72), war aber auch mit den Verhörpraktiken verbunden.

Dieses „behavioristische Konditionierungsmodell“ (Goffman 2016: 56) wird in den SOP zunächst ohne Bezug auf das offizielle Ziel der Intelligence -Produktion durch Verhöre legitimiert, sondern mit dem Wohlergehen aller ‚Mitglieder‘ der Institution: „This system will protect the health, safety, and security of all persons“ (JTF-GTMO 2004a: 8.1). In dieser Perspektive dient dieses System der bloßen Verwaltung des Gefängnisses und das zu erzielende „positive behavior“ (JTF-GTMO 2004a: 8.1) bezieht sich auf den Gefängnisalltag. Trotzdem war das Privilegiensystem auch mit den Verhören verknüpft. Schließlich konnten Gefangene zu Verhörzwecken auf das Intel Level gestuft werden. Darüber hinaus gibt es weitere explizite Bezüge zu Verhören:

Personnel will not extend nor promise to a detainee any special privilege or favor not available to all detainees, nor furnish detainees with information except through official channels. The JIG Commander may grant exceptions for the purpose of interrogations (JTF-GTMO 2004a: 1.3).

Das Personal soll den Gefangenen also keine Vergünstigungen (oder Informationen) außerhalb des standardisierten Systems zugestehen. Zu Verhörzwecken sind aber Ausnahmen möglich und müssen von der Leiter:in der JIG genehmigt werden. In Bezug auf die Anfangszeit der Gefangenschaft soll zudem die bereits aus Abschnitt 8.4 bekannte „dependence of the detainee on his interrogator“ (JTF-GTMO 2004a: 4.3) dadurch erreicht werden, dass die Verhörer:innen als Gatekeeper des Zugangs zu comfort items fungieren. Auch Überlebende deuten die Einteilung der Gefangenen in Level und die Zugänge zu comfort items als abhängig von der ‚Kooperationsbereitschaft‘ im Verhör (z. B. Rasul et al. 2004: 55; Fletcher/Stover 2008: 30). Die starke Standardisierung entlang klarer Verhaltensregeln (im Gefängnisalltag) und damit Erwartbarkeit des Belohnungs-/Strafe-Systems, die die SOP großenteils suggerieren, war nicht gegeben.Footnote 7 Stattdessen war das System auch Mittel des Verhörs (im Sinne des soften up) und wurde zu diesem Zweck individuell angepasst (Rasul et al. 2004: 55). Außerdem wurden in das Belohnungs-/Strafe-System entgegen der SOP weitere Praktiken integriert. So wurde die medizinische Behandlung von Verletzungen teilweise vom ‚positive behavior‘ abhängig gemacht (s.a. Rasul et al. 2004: 127). Ahmed berichtet:

I have problems with my eyes and need special lenses to correct my vision. If untreated this condition can cause permanent damage, I would get severe headaches because it would strain my eyes to read the Koran. After one and a half years I got the lenses but it was considered a comfort item which they would threaten to take unless I co-operated (Rasul et al. 2004: 55).

Ahmeds Augenprobleme führen ohne die richtige Behandlung („lenses“) zu weiteren körperlichen Leiden („permanent damage“, „severe headaches“). Erst nach langer Zeit bekommt er die nötigen Linsen, die aber als comfort items eingeordnet und somit in das Privilegiensystem integriert werden. Ahmed muss also damit rechnen, dass ihm die Linsen als Strafe für Nicht-Kooperation wieder weggenommen werden. Hier wird zudem deutlich, dass Drohungen ein wichtiger Teil des Systems sind („they would threaten“). Strafen bestanden zudem nicht nur in Deprivationen und räumlichen Verlegungen, sondern auch in manifester oder angedrohter körperlicher Gewalt.

3 IRF-Teams und Strafgewalt

Die Durchführung von – als Sicherheitsmaßnahmen oder Strafen rationalisierter – Gewalt wurde in Guantánamo vor allem von einer speziellen Einheit von guards, den sogenannten IRF-Teams (Immediate Reaction ForceFootnote 8), durchgeführt, welche direkten Körperkontakt und –verletzungen anwandten. Trotz ihrer hierarchisch niedrigen Stellung und den standardisierten Vorgaben zeigen sich dabei Handlungsfreiräume der guards. Dass die Abkürzung IRF in den untersuchten Dokumenten mehrfach als Verb genutzt wird,Footnote 9 verdeutlicht, wie sehr die Gewalt durch IRF-Teams alltäglich war. In Erzählungen ehemaliger Insassen, insbesondere bei Kurnaz und den Tipton Three, sind die Teams für einen großen Teil der Folter außerhalb von Verhörsituationen verantwortlich. Ebenso spielen sie in den 2004 fertiggestellten SOP (JTF-GTMO 2004a) eine große Rolle.Footnote 10 Daher lohnt sich ein detaillierter Blick auf diese speziellen Einheiten.

Die IRF-Teams bestanden laut SOP aus fünf gesondert ausgerüsteten MPsFootnote 11. Ihre Einsätze wurden grundsätzlich von begleitenden Soldat:innen gefilmt (Rasul et al. 2004: 72; JTF-GTMO 2004a: 24.3). Die Ausrüstung umfasste laut SOP folgende Gegenstände:Footnote 12

(1) Riot Helmet or Kevlar Helmet with ballistic visor

(2) Shin protectors

(3) Ballistic vest or Flak Vest

(4) Latex or similar gloves;

(5) Additional leather gloves are optional.

(6) Lexan shield

(7) Handcuffs

(8) Leg Irons (JTF-GTMO 2004a: 24.1).

Die Ausrüstung bestand also vorrangig aus defensiven, den Körper der guards vor Verletzungen abschirmenden, Gegenständen, während die „handcuffs“ unmittelbar auf die Körper der Gefangenen zielten – genauer: auf deren Immobilisierung. Diese Ausrüstung ähnelte also denen von zivilen riot-Polizeieinheiten, wie sie bei Demonstrationen zum Einsatz kommen, und impliziert bereits, dass die IRF-Teams mehr als andere Einheiten für direkte Gewaltanwendung verantwortlich waren. Die IRF-Teams wurden von anderen guards in bestimmten Situationen durch einen „Brevity Code“ (JTF-GTMO 2004a: 24.5) herbeigerufen. Diese Situationen wurden vonseiten der guards über die vermeintliche Widerständigkeit eines Gefangenen oder eine vermeintliche Sicherheitsgefährdung definiert, was in den SOP bereits angelegt ist:

The IRF Team is intended to be used primarily as a forced cell extraction team, specializing in the extraction of a detainee who is combative, resistive, or if the possibility of a weapon is in the cell at the time of the extraction. It is not intended to be used on every detainee who is to be moved to maximum security, but on those who indicate or demonstrate an intention to resist the move to a maximum-security block or another location. […] Use the minimum force necessary for mission accomplishment and force protection. […] Use of the IRF Team and levels of force are not to be used as a method of punishment (JTF-GTMO 2004a: 24.6).

Die IRF-Teams sollen also vor allem aggressive und widerständige Gefangene („combative, resistant“) gewaltsam aus Zellen entfernen („forced cell extraction“), um sie zu „maximum security“, das heißt in Isolationshaft, zu verlegen oder an einen anderen Ort zu transportieren. Außerdem sollten sie zum Einsatz kommen, wenn die Möglichkeit bestünde, dass sich eine Waffe in der Zelle befindet. Grundsätzlich sollte möglichst wenig Gewalt angewendet werden. IRF-Teams sollten zudem nicht zur Bestrafung genutzt werden. Sie waren also nicht explizit in das Privilegiensystem integriert.

Von dieser Beschreibung der Aufgaben der Einheiten weichen die Berichte von Überlebenden erheblich ab: Erstens riefen guards zu einer großen Zahl von Anlässen IRF-Einheiten herbei, die zweitens keineswegs immer eine „cell extraction“ durchführten und wurden drittens die Einsätze meist als Strafe für ‚Regelverstöße‘ gerahmt. Trotz der zitierten Anweisung, IRF-Teams nicht zur Bestrafung zu nutzen, legen die SOP im übrigen solche Praktiken nahe: „Prior to the use of the IRF Team, an interpreter will be used to tell the detainee of the discipline measures to be taken against him and ask whether he intends to resist“ (JTF-GTMO 2004a: 24.7). Der Unterschied zwischen “discipline measures” und “punishment” ist zumindest unklar. Diese Vagheit der Anweisungen schafft bereits bei den auf Standardisierungen ausgelegten organisationalen Vorgaben Handlungsspielräume für die guards.

Neben der Verletzung durch direkten Körperkontakt wie Schläge oder Tritte, wie im folgenden Beispiel, bestand die Gewalt in FesselungenFootnote 13, Einsatz von ReizgasFootnote 14 und Transport in die Isolationshaft (Kurnaz/Kuhn 2017: 188 f.). Shafiq Rasul schildert eine von ihm beobachtete Situation, in der ein IRF-Team gerufen wurde, nachdem ein Gefangener („Jumah“) eine weibliche MP imitiert hatte:

When Jumah saw them coming he realised something was wrong and was lying on the floor with his head in his hands. If you’re on the floor with your hands on your head, then you would hope that all they would do would be to come in and put the chains on you. That is what they’re supposed to do. The first man is meant to go in with a shield. On this occasion the man with the shield threw the shield away, took his helmet off, when the door was unlocked ran in and did a knee drop onto Jumah’s back just between his shoulder blades with his full weight. He must have been about 240 pounds in weight. His name was Smith. He was a sergeant E5. Once he had done that the others came in and were punching and kicking Jumah. While they were doing that the female officer then came in and was kicking his stomach. Jumah had had an operation and had metal rods in his stomach clamped together in the operation. The officer Smith was the MP Sergeant who was punching him. He grabbed his head with one hand and with the other hand punched him repeatedly in the face. His nose was broken (Rasul et al. 2004: 73).

Hier zeigt sich die Abweichung von den SOP-Vorgaben sehr deutlich. Weder wurde der Gefangene verlegt, noch war er gewalttätig oder widerständig. Auch wurde von den guards keine „minimal force“, sondern exzessive Gewalt angewandt. Der Gefangene legt sich auf den Boden mit den Händen über dem Kopf, wohl um seine Kooperationsbereitschaft zu signalisieren. Dies schützt ihn ebenso wenig vor dem folgenden Übergriff wie seine bereits bestehende Verletzung („metal rods in his stomach“). „The first man“, der die Zelle betritt, wirft seine ihn schützenden Ausrüstungsgegenstände Schild und Helm beiseite, um den Gefangenen mit seinem Knie anzugreifen und mit seinem Körpergewicht zu Boden zu drücken. Daraufhin folgen andere guards und der Gefangene wird geschlagen und getreten – so stark, dass er ernsthafte Verletzungen von sich trägt. Auffällig ist an der Schilderung zudem, dass der Beobachter Rasul die Abweichungen von den Vorgaben der guards selbst als solche deutet („That is what they’re supposed to do. The first man is meant to go in with a shield“). Hier zeigt sich ein ausgeprägtes Wissen der Gefolterten über die organisationalen Abläufe und Vorgaben.Footnote 15 Der Versuch, sich durch das Legen auf den Boden vor der exzessiven Gewalt zu schützen, kann aus Sicht Rasuls zwar grundsätzlich erfolgreich sein. Dieser Erfolg ist aber nicht per se erwartbar, sondern nur erhoffbar („then you would hope“). Die IRF-Teams hatten also erhebliche situative Handlungsfreiräume.

4 Ungeregelte Regeln

Die relativen Freiräume der guards zeigen sich in der Vielzahl an Anlässen für IRF-Einsätze und in der flexiblen Auslegung von Regeln (s. hierzu auch Nungesser 2020: 57–61). Teilweise waren die Regeln für die Gefangenen nachvollziehbar und die Strafen vorhersehbar, die sie durch bewusste ‚Regelbrüche‘ in Kauf nahmen, wie bei sportlicher Betätigung in der Zelle (Kurnaz/Kuhn 2017: 145). Häufig kamen die IRF-Einsätze aber unerwartet. Kurnaz (2017: 95 f.) schreibt über die erste Zeit in Camp X-Ray beispielsweise:

In der ersten Nacht musste ich lernen, dass ich die Decke lediglich über meine Beine schlagen durfte. Dass ich nicht auf der Seite liegen durfte, sondern nur auf dem Rücken. In den Tagen danach musste ich lernen, dass ich im Käfig nicht aufstehen und herumlaufen durfte, sondern tagsüber zu sitzen und in der Nacht zu liegen hatte, und wenn man sich tagsüber hinlegen wollte, wurde man auch bestraft. Wir durften den Maschendraht nicht berühren und uns im Sitzen nicht daran anlehnen. Wir durften nicht sprechen. Wir durften die Wärter nicht ansprechen und sie nicht ansehen. Wir durften nicht mit dem Finger im Staub malen, nicht pfeifen, summen, singen oder lächeln. Jedes Mal, wenn ich aus Unwissenheit, oder weil sie gerade eine neue Regel erfunden hatten, etwas tat, das ich nicht tun durfte, kam das ‚IRF-Team‘ und verprügelte mich.

Die einzelnen strengen Verhaltensregeln in der Käfigzelle, die einen Großteil der unter den einschränkenden Umständen der Gefangenschaft noch möglichen körperlichen Handlungen („auf der Seite liegen“, „aufstehen“, „herumlaufen“, „tagsüber hinlegen“, „Maschendraht (…) berühren“, „anlehnen“, „sprechen, „malen“, „pfeifen, summen, singen oder lächeln“) verboten, musste Kurnaz nach dem Ankommen in Guantánamo („erste Nacht“) durch Strafgewalt seitens des IRF-Teams („verprügelte mich“) lernen. Auch Goffman (2016: 49) bemerkt in Hinblick auf totale Institutionen, dass „die neu angekommenen [Insassen], in permanenter Angst vor einer Übertretung der Regeln und vor den Folgen, die diese zeitigt, leben“. Dadurch, dass das Personal in Guantánamo die Regeln unklar kommunizierte oder flexibel bestimmte („erfunden“), wurden immer neue ‚Regelverstöße‘ produziert, die wiederum gewaltsame IRF-Einsätze nach sich zogen. Die Gefangenen waren daher einer „diffuse[n] Sanktionsangst“ (Popitz 2011: 378) ausgesetzt, denn sie konnten nicht einschätzen, welches Verhalten Strafen nach sich ziehen würde. Die Insassen befanden sich daher in „einem Zustand ständiger Deprivation und Sanktionierbarkeit“ (Nungesser 2020: 55), welcher einen „chronischen und erschöpften Spannungszustand“ (Nungesser 2020: 61) bedingte.

Eine solche Tendenz zur „Vervielfältigung der aktiv erzwungenen Regeln“ und der hohen Wahrscheinlichkeit von Sanktionen sieht Goffman (2016: 48) auch für totale Institutionen im Allgemeinen. Sie findet sich auch in Bidermans (1956: 207) Analysen chinesischer Folterpraktiken, was nahelegt, dass sie zumindest teilweise als ‚offensive‘ Anwendung von SERE-Wissen und als Teil der „camp-wide, environmental strategies“ (DoD 2002a: 2) planvoll erzeugt wurden. In Guantánamo war dieser Aspekt des Gefängnisalltags aber besonders ausgeprägt und findet sich häufig in Berichten Folterüberlebender. „Ein System konnte ich in der Bestrafung nicht erkennen. […] Ich begriff: Die Bestrafung war das System“ fasst Kurnaz (2017: 145) diesen Punkt treffend zusammen. Die schriftliche Protokollierung und Erläuterung von IRF-Einsätzen, die auch in den SOP vorgegeben sind (JTF-GTMO 2004a: 24.3), war kein Hindernis für die Handlungsspielräume der guards. Nach durchgeführter Strafgewalt konnten diese ihre Situationsdefinition (zumeist eine Widerständigkeit seitens des Gefolterten)Footnote 16 und die damit verbundene Rationalisierung des Einsatzes organisational festschreiben.Footnote 17

Auch über die Anfangszeit der Gefangenschaft hinaus wurden Regeln flexibel bestimmt. Slahi (2017: 281) erinnert sich bezüglich einer Episode in Isolation während der Durchführung des für ihn erstellten Special Interrogation Plans:

To forbidding me any kind of comfort items, they added new rules. One: I should never be lying down; whenever a guard showed up at my bin hole, I always had to be awake, or wake up as soon as a guard walked into my area. There was no sleeping in the terms that we know. Two: My toilet should always be dry! And how, if I am always urinating and flushing? ln order to meet the order, I had to use my only uniform to dry up the toilet and stay soaked in shit. Three: My cell should be in a predefined order, including having a folded blanket, so I could never use my blanket.

Slahi wurden nicht nur alle comfort items entzogen, ihm wurden strenge und neue Regeln auferlegt. Sobald Slahi bzw. seine Zelle für sich nähernde guards sichtbar wurde, musste er wach, seine Toilette trocken und seine Bettdecke gefaltet sein. Um diesen Regeln folgen zu können (und damit Strafen zu entgehen) musste er auf Schlaf („no sleeping“), Hygiene („soaked in shit“) und Wärme („never use my blanket“) verzichten. Die ihm auferlegten Regeln führten in diesem Fall also zu erzwungener Agentschaft: Sie zwangen Slahi, Deprivationen und Verunreinigungen an sich selbst durchzuführen.

Die Gefangenschaft und ihre alltägliche Organisation durch guards war nicht nur eine voraussetzende Rahmung der Folter in Guantánamo. Über das Privilegiensystem und Absprachen zwischen Verhörer:innen und guards war der qualvolle Gefängnisalltag prinzipiell mit den Verhörsituationen verbunden. Das Belohnungs-/Strafe-System war zudem teilweise standardisiert und für die Gefangenen ‚nachvollziehbar‘. Andererseits wurden Regeln auch willkürlich von guards ausgelegt oder situativ angepasst, um Strafgewalt legitimieren oder die Gefolterten zu Handlungen zwingen zu können, wobei die Definitionsmacht über den Verlauf von gewaltsamen Situationen bei ihnen lag. Damit hatten die guards ihrer niedrigen hierarchischen Stellung zum Trotz große Freiräume bei der Ausübung von Folter im Gefängnisalltag. Das organisationale Setting ist hier also eher ermöglichend als einschränkend. Ob und wann sich hinter den Legitimierungen bzw. Rationalisierungen der Gewalt als angemessene Reaktion auf Regelverletzungen bestimmte Intentionen wie das planvolle soften up für das Verhör oder Emotionen wie Hass oder Angst (Rasul 2009b) verbargen, lässt sich nicht generell klären. Der Einsatz von Regeln als Folter ist jedenfalls zu einem Teil den typischen Dynamiken zwischen Personal und Insass:innen in totalen Institutionen zuzuschreiben, zu einem anderen Teil der fallspezifischen Organisation des Alltags mit seinen intendierten „Verletzungsstrukturen“ (Nungesser 2020: 55), die – in Anfangszeit der Folterorte – auch auf das institutionelle Ziel der intelligence-Produktion in Verhören ausgelegt war, und des dabei eingesetzten organisationalen Wissens.