I see what's outside the fucking manual for the first time later in the day, during my first visit to the hard site. Steven Stefanowicz takes me on a tour of the hard site (Fair 2016: 94).

Das obige Zitat stammt von dem ehemaligen Verhörer Eric Fair, der für das private Sicherheitsunternehmen CACI als privat contractor im Irak tätig war. Mit „hard site“ ist der Ort innerhalb Abu Ghraibs gemeint, an dem die meisten aus dem Irak berichteten US-Folterungen ausgeübt wurden sowie aus dem die berühmten Fotographien von folternden US-Soldat:innen stammen. Fairs Aussage zeigt, dass die theoretisierenden Dokumente wie Manuale keinesfalls als Beschreibungen ereigneter Foltersituationen missverstanden werden dürfen („what’s outside the fucking manual“). Auch gab es andere relevante Quellen für das Folterwissen, wie in diesem Fall die informelle kollegiale Weitergabe von Wissen durch Zeigen von Praktiken („takes me on a tour“). Zwar bestand die Folter teilweise in situativen Umsetzungen der in den Torture Memos und anderen Dokumenten entworfenen Handlungen. An vielen Stellen ging sie aber über die autorisierten Techniken hinaus oder wich auf andere Weise von den Vorgaben der organisationalen Dokumente ab. Nachdem ich in den vorangegangenen Kapiteln primär Handlungs- und Situationsentwürfe in diskursanalytischer und historischer Perspektive betrachtet habe, möchte ich mich nun stärker jenem „outside“ zuwenden; das heißt: Folter im War on Terror als in sozialen Situationen vollzogene Gewaltpraktiken analysieren. Ich ziehe Daten hinzu, welche Berichte von Folterüberlebenden und anderen Beteiligten enthalten oder auf solchen basieren wie staatliche Reports, NGO-Veröffentlichungen oder juristische Dokumente. Um die Folter in ihren situativen und organisationalen Kontexten verstehen zu können, rückbeziehe ich diese Daten weiterhin auf Handlungsentwürfe. Denn der untersuchte Folterkomplex zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sich ein großer Teil der Gewaltsituationen in einem hochgradig organisierten und vorstrukturierten Kontext ereignen, die Folternden als Vertreter:innen und Mitglieder formaler Organisationen auftreten sowie organisationale Vorgaben in Form von textlichen Handlungs- und Situationsentwürfen zugänglich sind, auch wenn zugleich evident ist, dass Gewaltsituationen Eigendynamiken entwickeln können und auch staatliche Folter nicht einfach durchgeplant werden kann: „one cannot teach torture by the book“, wie Rejali (2009: 264) betont.

Die folgenden Kapitel untersuchen das outside der organisationalen Dokumente als Spannungsfeld zwischen Situiertheit und Organisiertheit der Foltergewalt und sollen einen Beitrag zu der Ausdifferenzierung der gewaltsoziologischen Beschäftigung mit Situationen leisten (s. Kapitel 3). Folter ist eine extreme Form der Machtausübung oder der Versuch derselben durch Ausnutzen der vielfältigen menschlichen Verletzungsoffenheit. Die folgenden Kapitel fragen genauer, welche Akteure mittels welcher situativen Handlungen und Elemente versuchen, Macht auf die Gefangenen auszuüben und ihr Selbst anzugreifen, wie die Gefolterten teilweise versuchen, dies zu unterlaufen und eigene Handlungsmacht herzustellen, sowie auf welche Art und Weise die Macht der folternden Akteure durch ihr organisationales Setting hergestellt und begrenzt wird.

Die Angriffe auf das Selbst wehrloser Gefangener über den Zugriff auf deren Leibkörper habe ich in Kapitel 3 zunächst vor dem Hintergrund der idealtypisch extremen Asymmetrie als ein dyadisches soziales Verhältnis eingeführt. Und sogar die emische Foltertheorie selbst betont, es sei für ‚erfolgreiche‘, ‚effektive‘ Folter (bzw. ‚Verhöre‘) notwendig, eine dyadische und radikal asymmetrische soziale Beziehung zwischen einzelnen Folternden als Allmacht-Ausübende und -Darstellende einerseits und abhängigen, isolierten sowie hilflosen Gefolterten andererseits zu etablieren. Empirisch aber waren Foltersituationen im War on Terror ein komplexes Netz von verschiedenen Räumen, Handlungen, Akteuren, Organisationen, Artefakten und zeitlichen Strukturen. Auch foltern in den seltensten Fällen Einzelne Gefangene ohne mindestens Beobachtung von Dritten.Footnote 1 Die genaue lokale Akteurskonstellation und die Zugehörigkeit zu Organisationen unterscheiden sich innerhalb des globalen Netzes von Folterorten im War on Terror. Grundsätzlich lässt sich das in die Folter direkt oder indirekt eingebundene Personal aufteilen in Verhörer:innen, guards, Ärzt:innen, Psycholog:innen sowie Dolmetscher:innen und andere angestellte Zivilist:innen (wobei es, wie bei den SERE-Psychologen Mitchell und Jessen, zu Überschneidungen von Verhör- und psychologischem Personal kommen kann). Anders als in der europäisch-judikativen Folter gab es keine spezialisierten Folterknechte als alleinige Ausführende. In der diskursiven Foltertheorie sind es zwar vor allem die Verhörer:innen, die mittels der Kontrolle über die materielle Umgebung der Gefolterten und der Anwendung ‚effektiver‘ Techniken die Gefolterten zur ‚Kooperation‘ bringen. Dabei wird die Rolle anderer Akteure weniger stark expliziert. In Reports sowie Berichten von Folterüberlebenden wird aber deutlich, dass nicht nur – häufig sogar nicht primär – die Anwendung von Foltertechniken in Verhörsituationen severe pain and suffering für die Gefangenen schufen. Daher konzentriere ich mich im Folgenden auf die Gewalt außerhalb dieser Situationen. Denn auch die Aufnahmeprozeduren, der Transport der Gefangenen, die Haftbedingungen und die alltägliche Gewalt durch das Wachpersonal – Praktiken, die zum Teil aber unmittelbar dem Verhör dienten – waren Quellen von leidvollen Erfahrungen und sind damit als Teil der Folter zu verstehen. Die Foltergewalt konnte also in unterschiedlichen (Zeit-)Räumen und von unterschiedlichen Akteuren aufseiten der Organisationen erfolgen. Kurz: sie war dezentral. Sie bestand als „fortgesetzte Gewalt“ in komplexen „Verkettungen“ (Hoebel 2019) von – für die Gefolterten qualvollen – Situationen und ist daher immer auch vor dem Hintergrund ihrer Zeitlichkeit zu verstehen. Ich benutze die Metapher ‚Verkettung‘ (von Ereignissen und Interaktionen) in Anlehnung an Hoebel (2019), der sie in Verbindung mit dem Begriff „Verstrickung“ (von beteiligten Akteuren mit an- und abwesenden Dritten) zur „prozessualen Erklärung fortgesetzter Gewalt“ vorschlägt. Ich nutze die Kettenmetapher vor allem, um zu verdeutlichen, dass Folter nicht aus Gewalterfahrungen beziehungsweise -praktiken in zeitlich isolierten sozialen Situationen besteht (z. B. einer Verhörsituation), sondern sich über längere Zeiträume erstreckt und in der qualvollen – und intendierten – Verknüpfung von Situationen besteht. In der folgenden Analyse arbeite ich aber nicht mit detaillierten Rekonstruktionen einzelner Ereignisketten, wie sie Hoebel im Sinn hat, sondern versuche die Verkettung von Foltersituationen im War on Terror in ihrer Musterhaftigkeit aufzuzeigen.

Dies möchte ich in diesem Kapitel zunächst anhand der raumzeitlichen Übergänge im global vernetzten US-Folterkomplex aufzeigen, wobei Goffmans‘ (2016) Überlegungen zur totalen Institution instruktiv sind (s.a. Mackert 2011; in Bezug auf Guantánamo: Nungesser 2020). Denn, wie schon in Abschnitt 3.3 angedeutet, betreffen die Gemeinsamkeiten von Goffmans‘ Ausführungen zur Folter vor allem die Angriffe auf das Selbst und seine Autonomie außerhalb der Verhörsituation, die jedoch nicht als außerhalb der Folter betrachtet werden dürfen.

1 Folter als totale Institution

Goffman versteht totale Institutionen als solche Institutionen, die einen tendenziell allumfassenden Charakter aufweisen. Dieser „Charakter wird symbolisiert durch Beschränkungen des sozialen Verkehrs mit der Außenwelt sowie der Freizügigkeit, die häufig direkt in die dingliche Anlage eingebaut sind, wie verschlossene Tore, hohe Mauern, Stacheldraht, Felsen, Wasser, Wälder oder Moore“ (Goffman 2016: 15 f.). Die Ähnlichkeiten zwischen Folterorten des War on Terror und totalen Institutionen sind hier so offensichtlich wie unüberraschend. Schließlich ist die Gefangenschaft eine Voraussetzung für Folter als staatliche Gewalt. Als extraterritoriale, militärisch und räumlich abgeschottete, teils geheime, Einrichtungen ist der soziale Verkehr sogar mehr eingeschränkt als bei den meisten Institutionen, die Goffman im Sinn hat.Footnote 2 Für die Insass:innen totaler Institutionen, die durch eine deutliche Grenzziehung vom Personal getrennt werden (Goffman 2016: 19), bedeutet der umfassende Charakter:

1. Alle Angelegenheiten des Lebens finden an ein und derselben Stelle, unter ein und derselben Autorität statt. 2. Die Mitglieder der Institution führen alle Phasen ihrer täglichen Arbeit in unmittelbarer Gesellschaft einer großen Gruppe von Schicksalsgenossen aus, wobei allen die gleiche Behandlung zuteil wird und alle die gleiche Tätigkeit gemeinsam verrichten müssen. 3. Alle Phasen des Arbeitsstages sind exakt geplant, eine geht zu einem vorher bestimmten Zeitpunkt in die nächste über, und die ganze Folge der Tätigkeiten wird von durch ein System expliziter formaler Regeln und durch einen Stab von Funktionären vorgeschrieben. 4. Die verschiedenen erzwungenen Tätigkeiten werden in einem einzigen rationalen Plan vereinigt, der angeblich dazu dient, die offiziellen Ziele der Institution zu erreichen (Goffman 2016: 17).

In dieser Aufzählung der Merkmale zeigen sich auch Unterschiede zur Folter im Allgemeinen (s.a. Mackert 2011: 452) wie auch für den untersuchten Fall im Speziellen. Vor allem erzwungene gemeinsame Tätigkeiten und einen Arbeitsalltag gab es für die Gefolterten im War on Terror nicht. Wichtig ist aber, dass es im Sinne der totalen Institution keine getrennten Lebensbereiche gab und der gesamte Tagesablauf der Gefangenen, obgleich dieser nicht prinzipiell gleichförmig war, von der folternden Organisation als Autorität bestimmt wurde. Das durch den verbindenden rationalen Plan zu erreichende und legitimierende Ziel ist das Produzieren von intelligence und das Festhalten von gefährlichen Feinden. Goffman teilt totale Institutionen weiter in fünf Gruppen auf (Goffman 2016: 16). Neben Zufluchtsorten wie Klöstern, Einrichtungen zur Fürsorge von als harmlos geltenden Menschen (z. B. Altenheime) und von als potentiell gefährlich geltenden Menschen (z. B. forensische Psychiatrien), nennt er Institutionen, die dem Schutz der Gemeinschaft, aber nicht dem Wohlergehen ihrer Insass:innen dienen (z. B. Gefängnisse oder Kriegsgefangenenlager), und solchen, die darauf „abzielen arbeitsähnliche Aufgaben besser durchführen zu können“ (Goffman 2016: 16), wie Kasernen oder Internate. Bei Institutionen wie Guantánamo, Abu Ghraib und den CIA-Blacksites handelt es sich um Gefängnisse oder gefängnisartige Gefangenenlager (s. Kapitel 5). Die Gefangenschaft dient dem Schutz der Gemeinschaft (in diesem Fall emisch als national security bezeichnet), aber anders als in Gefängnissen üblich nicht durch Rehabilitierung und auch nicht nur durch die Isolierung von den gefährdenden Menschen – Terroristen, und zwar „the worst of the worst“ (Rumsfeld zit. n. Seelye 2002) –, sondern auch durch das Produzieren von intelligence in VerhörsituationenFootnote 3 sowie – das allerdings nicht als offizielle Selbstbeschreibung der folternden Organisationen – experimentelle Produktion von (geheimdienstlich/militärisch-) psychologischem Wissen (Denbaux et al. 2015; PHR 2017). Eine Besonderheit ist zudem, dass sofern man Militär als totale Institution versteht (Barnao 2019), die Folterorte des DoD totale Institutionen innerhalb einer sie umgebenden totalen Institution sind, und, dass das Personal daher, insbesondere die guards, ebenfalls als Insass:innen dieser zweiten, weniger drastischen, Institution verstanden werden können.

2 Gefangennahme und Übergabe an US-Kräfte

Der Beginn der Verkettung von Foltersituationen stellt die Gefangennahme dar. Häufig wurde sie wie im Fall von Abu Zubaydah nicht von US-Kräften durchgeführt, sondern auf deren Veranlassung von lokalen Akteuren in verschiedenen Ländern. Sie hatte zuweilen einen vergleichsweise harmlosen Anschein. Slahi beispielsweise wurde als mauretanischer Bürger von mauretanischen Polizeibehörden mit der Ankündigung festgenommen, bald freizukommen, bevor er erst nach Jordanien ausgeliefert, dort gefoltert und schließlich an US-Amerikaner:innen übergeben wurde (Slahi 2017: 127 f., 145 ff., 186 f.). Der Deutsche El-Masri wurde von der mazedonischen Polizei bei einem Grenzübertritt verhaftet und verbrachte zunächst eine 23-tägige Gefangenschaft in einem Hotel in Skopje ohne direkte Gewaltausübung (Watt et al. 2018: 8). In Afghanistan und Pakistan wurden insbesondere arabischsprachige und andere Ausländer in der frühen Phase des War on Terror von lokalen Kräften festgenommen und gegen Bezahlung an US-Instanzen ausgeliefert (Washington Media Associates 2008: 3),Footnote 4 so auch Kurnaz (Kurnaz/Kuhn 2017: 12 ff.),Footnote 5 die Tipton Three (Rasul et al. 2004: 5) und Ben Soud (Ben Soud/Smith 2017a: 134 f.). Die Übergabe an US-Instanzen bedeutete den endgültigen Eintritt in den US-Folterkomplex, der mit demütigenden Aufnahmeprozeduren verbunden war, auch wenn er noch nicht gleichbedeutend mit dem Eingang in einen speziellen räumlich abgegrenzten Folterort war. El-Masri beschreibt seine Auslieferung an die CIA in Mazedonien wie folgt:

On January 23, 2004, seven or eight men entered the hotel room and forced me to record a video saying I had been treated well and would soon be flown back to Germany. I was handcuffed, blindfolded, and placed in a car. The car eventually stopped and I heard airplanes. I was taken from the car, and led to a building where I was severely beaten by people's fists and what felt like a thick stick. Someone sliced the clothes off my body, and when I would not remove my underwear, I was beaten again until someone forcibly removed them from me. I was thrown on the floor, my hands were pulled behind me, and someone's boot was placed on my back. Then I felt something firm being forced inside my anus (El-Masri o. J.).

Die vor der Auslieferung erzwungene Videoaufnahme, in der El-Masri seine gute Behandlung und baldige Rückkehr nach Deutschland verkündete, scheint dem Zweck gedient zu haben, die mazedonischen Behörden unter Umständen entlasten zu können. Als solche Umstände könnten das Publikwerden El-Masris Entführung sowie eventuell späterer Misshandlung oder gar Tötung gesehen werden. Das Artefakt der Videokamera würde in dieser Lesart also das abwesende Dritte in Form der Öffentlichkeit bedeuten. Das ist an dieser Stelle deshalb interessant, weil aus Sicht der mazedonischen Akteure eine zukünftige weniger ‚gute‘ Behandlung durch die CIA zu erwarten war, und, dass diese Erwartung ebenso wie die anstehende Aushändigung bewusst verschwiegen wurde. Vor der nachfolgenden Autofahrt wurde El-Masri durch Fesselung immobilisiert und sein Sehsinn entzogen. Anschließend schlugen und entkleideten ihn gewaltsam mehrere Menschen in einem Gebäude bei einem Flughafen. Er wurde auf den Boden gedrückt und ihm wurde etwas (nämlich ein Zäpfchen, Gnjidic 2006: 10) anal eingeführt.

Trotz ihrer Knappheit und ihres nüchternen Charakters spricht die Erzählung bereits die meisten relevanten Punkte der demütigenden Übergänge an. Auffällig ist zunächst grammatikalisch die häufige Verwendung des auf El-Masri bezogenen Passivs („treated“, „flown“, „handcuffed“, „blindfolded“, „placed“, and „beaten“), die sein Ausgeliefertsein als Objekt der Handlungen anderer verdeutlicht – mit Goffman (2016: 45) ausgedrückt: die „Autonomie des Handelns selbst wird verletzt“. El-Masris aktive Handlungen sind entsprechend entweder erzwungen („saying“), werden mit unmittelbarer Gewalt beantwortet („would not remove“) oder betreffen sinnliche Wahrnehmungen („heard“, „felt“). Die unmittelbar ausgeführte Strafgewalt für die Weigerung, sich vollständig zu entblößen, ist ebenfalls typisch für totale Institutionen, denn die „ersten Momente der Sozialisierung [können] einen ‚Gehorsamstest‘ und sogar die Brechung des Willens beinhalten: ein Insasse, der sich widersetzt, wird unmittelbar und sichtbar bestraft“ (Goffman 2016: 27). Das bewusste Im-Unwissen-Halten des Gefolterten über das räumlich-institutionelle Ziel eines Transports und der zu erwartenden Gewalt verletzt unmittelbar die Autonomie des Selbst (Goffman 2016: 51) und ist typisch für die Übergangsrituale im War on Terror. Gleiches gilt für die mit der erzwungenen Mobilität stattfindende Immobilisierung durch Fesselung. Vor allem aber die erzwungene Nacktheit und das rektale Eindringen in den Körper ist ein entscheidender Angriff auf das Selbst durch eine „verunreinigende Entblößung“ (Goffman 2016: 33). Wenig überraschend erfuhr El-Masri die Episode als „most degrading and shameful“ (ECHR 2012: 4).

3 Erzwungene Nacktheit im Übergangsprozess

Für Goffman (2016: 29) kann allgemein die „Aufnahmeprozedur […] als ein Ent- und Bekleiden gekennzeichnet werden, wobei der Mittelpunkt physische Nacktheit ist“. Erzwungene Nacktheit war auch im US-Folterkomplex ein zentraler Bestandteil der räumlich-institutionellen Übergänge. Sie kam beispielsweise auch bei der gewaltvollen Übergabe von Gefangenen zwischen dem ‚gewöhnlichen‘ Teil des Gefängnisses und der hard site in Abu Ghraib zum Einsatz (Al-Aboodi 2004; Alsharoni 2004; Al-Sheikh 2004; Al-Yasseri 2004) oder beim Eintritt von kurz zuvor gefangengenommenen Afghanen in das Gefängnis Bagram (HRW 2004: 25 f.) Ebenso vor Flügen zwischen Folterorten innerhalb des US-Netzes fanden Prozeduren statt, die den von El-Masri in Mazedonien erlebten ähneln; so berichtet zum Beispiel Rasul vor dem Abflug von Kandahar nach Guantánamo:

There they cut off all my clothes and forcefully shaved our beards and heads. I was taken outside. I was completely naked with a sack on my head and I could hear dogs barking nearby and soldiers shouting ‘get ‘em boy’. Although I couldn’t see I had a sense that there were a lot of soldiers around. I was taken, still naked with a sack on my head, to another tent for a so called cavity search. I was told to bend over and then I felt something shoved up my anus. I don’t know what it was but it was very painful (Rasul et al. 2004: 21 f.).

Rasul wurde unter Sehentzug die Kleidung vom Körper geschnitten bis er, abgesehen von einem Sack auf dem Kopf, vollständig nackt war.Footnote 6 Anschließend wurde Rasuls Körper durchsucht und in diesen über den Anus schmerzhaft eingedrungen. Ebenso fällt erneut auf, dass Rasul nicht von sich als handelndem Akteur berichtet, sondern als jemandem, der etwas passiv erleidet. Die Unterschiede zu El-Masris Zitat betreffen zum einen die auditive Wahrnehmung („could hear dogs […] and soldiers“). Anstatt den Geräuschen eines Flughafens wie bei El-Masri, welche in diesem Moment für diesen (fälschlicherweise) als Vorboten der Entlassung aus der Gefangenschaft erscheinen konnten, nimmt Rasul das Bellen der Hunde und die Befehle der Soldaten:innen an die Hunde („get ‘em boy“) als bedrohliche Situation wahr. Diese wird dadurch gesteigert, dass er keine optischen Reize zur Einschätzung der Situation wahrnehmen kann („couldn’t see“). Zum anderen wird Rasul mit seinen Mitgefangenen („our heads and beards“) gewaltsam am Kopf und im Gesicht rasiert. Die erzwungene Rasur wurde im War on Terror häufig eingesetzt und war für Übergänge zu CIA-Blacksites in Handlungsentwürfen explizit vorgesehen und als eine auch „in other custodial settings“ (CIA 2004b: 28) übliche hygienische Maßnahme begründet.Footnote 7 Dunlaveys (2002) Memorandum schlägt sie sogar als ‚Verhörtechnik‘ für Guantánamo vor. Sie kann als Teil der symbolischen Entkleidung des Selbst verstanden werden. Beteiligte nahmen den Verlust des Bartes zudem auch als eine gezielte kulturelle Demütigung wahr (DoJ 2009a: 230), die auf eine angenommene hohe Relevanz von Bärten für die Gefolterten als männliche Muslime verweist.

Auf die Herstellung erzwungener Nacktheit bei Entzug von optischen Reizen erfolgte das Fotographieren der Gefangenen. Beispielsweise beschreibt Ben Soud in einer Zeugenaussage:

Some of the men and the women were aware standing there, were watching my body and my private parts. I was being photographed by a camera. My private parts were photographed by a camera (Ben Soud/Smith 2017b: 222).

Ben Souds Erfahrung der Entblößung zeigt sich hier deutlich als Erfahrung der eigenen Sichtbarkeit, mehr noch: dem bewussten Angesehen-Werden („watching“) des eigenen Körpers. Dieses Angesehen-Werden wird durch das Fotographieren mittels einer Kamera noch bestärkt.Footnote 8 Schließlich bedeutet dies die situationsübergreifende Ausweitung der Sichtbarkeit auf (das) abwesende Dritte. Der letzte Satz betont, dass dies auch die „private parts“ betrifft. Situatives Lachen und Witze des Personals während cavity searches (welche stets mit rektaler Penetration verbunden waren, ICRC 2007: 6), steigerte ebenfalls das schamhafte Angesehen-Werden des Körpers, indem sie sich kommunikativ auf die Entblößung als Entblößung beziehen.Footnote 9

Das Fotographieren des nackten Körpers, welches ebenfalls in organisationalen Vorgaben zum Übergang in eine CIA-Blacksite explizit vorgesehen war,Footnote 10 bildet im War on Terror jenen Mittelpunkt des Ent- und Bekleidens. In seiner Erzählung führt Rasul die weiter oben zitierte Stelle fort:

I was then taken over to another part of the tent where the head sack was removed and photographs were taken of me. I think they were head and shoulder, full face and profile. After the photos I was given an orange uniform, of polyester trousers and tshirt. Then new chains were put on (Rasul et al. 2004: 16).

Vor dem Fotographieren wird der Sehentzug (kurzzeitig) ausgesetzt („head sack was removed“).Footnote 11 Nur dadurch ist es möglich, „head and shoulder, full face and profile“ abzulichten. Vom Fotographieren der Genitalien erfährt man hier nichts. An anderer Stelle berichtet Rasul aber, dass er und seine Mitgefangenen sich unsicher waren, ob auch der ganze Körper fotografiert wurde.Footnote 12 Anschließend wird Rasul neue Einheitskleidung („orange uniform“) gegeben und neue Fesseln angelegt. Es findet also die ‚Bekleidung‘ statt, die den neuen Status symbolisiert – in diesem Fall: Gefangener in Guantánamo. Hervorzuheben ist, dass dies noch in Kandahar und vor dem Flug geschah, also räumlich weit entfernt von dem Folterort, zu dem Rasul transportiert werden würde: Voneinander geographisch weit entfernte Orte wurden durch die Übergangspraktiken zu sozial-institutionell verbundenen Folterräumen.

4 Flugzeug als Folterraum

Flugzeuge als technische Artefakte waren die raumzeitliche Verbindung zwischen Folterorten und bildeten für die Zeit des Transports selbst Räume, in denen die Gefolterten qualvolle Erfahrungen machen mussten. El-Masri berichtet über den Flug von Mazedonien nach Afghanistan:

One of the men placed me in a diaper and a track suit. I was put in a belt with chains that were attached to my wrists and ankles, earmuffs were placed over my ears, eye pads over my eyes, and then I was blindfolded and hooded. After being marched to a plane, I was thrown to the floor face down and my legs and arms were spread-eagled and secured to the sides of the plane (El-Masri o. J.).

El-Masri wurde zunächst ebenfalls wieder ‚bekleidet‘ („diaper“; „track suit“). Die zu Rasuls Erzählung unterschiedliche Bekleidung („track suit“ anstatt „orange uniform“) verweist dabei auf das unterschiedliche institutionell-räumliche Ziel (CIA-Blacksite anstatt Guantánamo). Anschließend wurde El-Masris Mobilität eingeschränkt, indem seine Hand- und Fußgelenke mit Ketten an einen Gürtel befestigt wurden. Es folgte eine sensorische Deprivation von optischen und akustischen Reizen („earmuffs“, „eye pads“, „hooded“). Die für den Weg zum Flugzeug benutzte Passiv-Konstruktion „being marched“ bringt seine Erfahrung als Objekt fremden Handels präzise zum Ausdruck. Das aktive Verb „march“ markiert eine schnelle sowie tendenziell militärische und kollektive Fortbewegung zu Fuß, die angesichts seiner Fesselung für El-Masri kaum durchführbar gewesen sein dürfte.Die passive Wendung verdeutlich daher eine Mischung aus erzwungener, aber ‚aktiver‘, Fortbewegung und einem passiven Transportiert-Werden, wie dies beim Zerren und Stoßen der Fall ist.Footnote 13 Im Flugzeug wurde El-Masri schließlich als passives Objekt auf dessen Boden geworfen („was thrown“) sowie mit gespreizten Armen und Beinen auf dem Bauch liegend fixiert. Der weiter oben schon angesprochene doppelte Angriff auf die Autonomie des Selbst durch erzwungene Mobilität bei gleichzeitiger Immobilisierung findet hier zunächst im „being marched“ statt.Footnote 14 Besonders heftig ist er in der anschließenden Flugzeugsituation, vor allem, wenn man sich vor Augen hält, dass es sich um einen Interkontinentalflug handelt, welchem El-Masri ohne Zustimmung und ohne Kenntnis des Ziels ausgesetzt ist. Das prinzipielle Vorgehen, die sensorische Deprivation und die Fesselung auf dem Boden des Flugzeugs entspricht erneut den organisationalen Vorgaben für Gefangenentransportflüge und wird auch von anderen Folterüberlebenden berichtet.Footnote 15 Das Angezogen-Bekommen einer Windel ist eine weitere Entwürdigung der „Verkörperung des Selbst[es]“ (Goffman 2016: 33),Footnote 16 und zwar in mehrfacher Hinsicht: Sie verweist erstens auf die schamhaftbesetzte Ausscheidung der Körpersubstanzen Kot und Urin, zweitens auf die Tatsache, dass El-Masri diese Ausscheidungen nicht in gewohnter Weise an speziellen, dafür vorgesehenen Orten (Toilette) vornehmen kann und drittens auf eine Infantilisierung. Denn die Windel ist vor allem ein mit Kleinkindern assoziiertes Artefakt und so kann ihr erzwungenes Einsetzen im Sinne Goffmans (2016: 50) „zu einem erschreckenden Gefühl der völligen Degradierung in der Alter-Rangordnung führen“.

Die Fesselungen im Flugzeug waren nicht nur Verletzungen der Autonomie: „my legs were in a painful position but if I tried to move to get comfortable they would kick you“ (Rasul et al. 2004: 22). Rasuls Worte machen klar, dass es sich dabei zugleich um Stresspositionen handelte, die leiblichen Schmerz verursachten. Die letzten Spielräume von körperlicher Bewegung, die die Fesselung zuließ, durften darüber hinaus nicht genutzt werden – „‚Do not move‘“ zitiert auch Slahi (2017: 28) einen guard im Flugzeug –, um die Schmerzen zu lindern. Auf ihre Nutzung folgte unmittelbar Strafgewalt („kick“). In Helikoptern, die teilweise für kürzere Distanzen innerhalb Afghanistans eingesetzt wurden, wurde ähnlich verfahren (HRW 2004: 37). Diese Dynamik lässt sich mit Goffman (2016: 43) als „Looping“ bezeichnen: Eine Reaktion von Gefolterten auf eine qualvolle Situation wird zum Anlass für weitere Gewalt, die die Situation noch qualvoller werden lässt.

Darüber hinaus berichtet Ahmed in einem Interview für Witness to Guantánamo von einer besonderen Form der Nahrungsdeprivation während des Fluges nach Kuba:

This woman came to my ear and she lifted my earmuffs and she said to me, ‘I’m going to place a peanut butter sandwich in your hand, so eat it.’ So obviously I’m tied down from my chest, my hands are tied here, which I can’t lift, I can’t even go forward. In between my gloves, she puts this peanut butter sandwich, and my mouth’s watering because obviously I’m starving. And you know the smell of a peanut butter sandwich is like (pffft) when you haven’t had food for, decent food. Even, you know, it’s only a peanut butter sandwich. It’s nothing delicious or exotic you could say. So obviously I’m there, I’m looking down, and I’m thinking, How am I supposed to eat that? You know, and I’m there for maybe half an hour, trying anything. I’m trying everything, coming forward, trying to lift my arms up. And I’m thinking, Damn, the things you have to do to eat food. So I’m there. Basically she came to my ear again and lifted my muffs off and said, ‘Don’t you want to eat it?’ And I said, ‘Well, how am I supposed to eat it?’ And she goes, ‘What do you mean, with your hands and your mouth.’ And I thought there’s no point explaining. So she took the sandwich, threw it in the bin (Ahmed 2009).

Eine Soldatin reduziert kurz die auditive Deprivation, um dem äußerst hungernden („my mouth’s watering […] I’m starving“) Ahmed ein „peanut butter sandwich“ anzukündigen, das sie ihm sodann in die behandschuhten Hände legt. Er nimmt das Sandwich optischFootnote 17 („looking down“) und olfaktorisch („smell“) wahr. Die Fesselung verhindert jedoch trotz halbstündigen Versuchens, dass er das Sandwich essen kann („I’m tied down from my chest, my hands are tied“). Ein zweiter Dialog mit der Soldatin endet mit ihrer Aufforderung, er solle das Sandwich „with your hands and your mouth“ essen. Das erlebte Leid in der Flugzeugsituation wird hier also gesteigert durch etwas, das man als ‚Tantalos-Technik‘ umschreiben könnte. Nicht nur ist Ahmed hungrig: ihm wird Nahrung in seinem körperlichen Nahbereich, in ‚greifbarer Nähe‘, sensorisch präsentiert und sogar buchstäblich in die Hände gelegt. Unter alltäglichen Umständen wäre er also in der Lage, diese alltägliche Speise („nothing […] exotic“) zum Mund zu führen, in dem er bereits somatische Reaktionen auf die Wahrnehmung spürt („watering“). Der abschließende verbale Dialog steigert die Demütigung und die Abweichung von alltäglichen Situationen noch weiter, in dem ihre ebenfalls alltäglichen Äußerungen, die Ahmeds Immobilisierung und damit Unfähigkeit zum Essen außer Acht lassen („Don’t you want to eat it?“, „with your hands and your mouth“), eben diese Unfähigkeit zusätzlich betonen.

Die beschriebenen Transporte mittels Flugzeugen unterscheiden sich erheblich von gewöhnlichen Flugreisen (s. zum Vergleich Schindler 2015). Vor dem Flug steht statt des freiwilligen, aktiven und autonomen Transportes einer Person zum Flughafen und Gate – häufig verbunden mit Vorfreude auf das Reiseziel – der passiv ausgelieferte oder zur Bewegung gezwungene Körper sowie das Nicht-Wissen über das Ziel. Die Situationen während gewöhnlicher Flüge und solche im Rahmen des Folterkomplexes ähneln sich dagegen insofern, als dass die Kombination von immobilen Körpern mit schneller Mobilität typisch für Flüge allgemein ist. Mittels materieller Strukturen wie engen Sitzreihen und Anschnallgurten werden auch im Normalfall menschliche Körper fast wie Gegenstände „für die Zeit des Fluges ‚geparkt‘“ (Schindler 2015: 302). Diese relative Immobilisierung ist aber nicht nur weniger einschränkend als bei den obigen Beispielen. Vor allem bemüht sich die Organisation von Flugreisen gewöhnlich darum, die – im Vergleich sehr leichte – Erfahrung von Autonomieeinschränkung und ‚Vergegenständlichung‘ zu lindern. Die Flugreise soll nämlich dem „humanistischen Anspruch, Menschen und ihren Körpern eine spezifische Wichtigkeit zukommen zu lassen“ (Schindler 2015: 306) gerecht werden. Bei Flügen innerhalb des US-Folterkomplexes wurde hingegen gegenteilig verfahren. Anstelle der Nutzung von für menschliche Körper spezialisierter Artefakte (Sitze) stand die Fixierung auf dem Boden des Flugzeugs; anstelle der digitalen Unterhaltungsmöglichkeiten wie Filme: sensorische Deprivation; anstelle von Mahlzeiten: die eigenwillige Nahrungsdeprivation (oder minimale Versorgung mit Nahrung); anstelle der (zeitweiligen) Möglichkeit von selbstständigen Toilettengängen: das erzwungene Tragen von Windeln; anstelle von freundlichem Service durch Flugpersonal: degradierende Verbalisierungen und physische Gewalt. Diese Gegenüberstellung zeigt nicht nur eine Gegensätzlichkeit mit dem Umgang der zu transportierenden Leibkörper, sondern auch, dass bei den Folterflügen die organisationalen Vorgaben und das Personal diese Körper trotzdem nicht als bloße Gegenstände behandelten. Auch hier wurden sie als menschliche Leibkörper mit spezifischen Bedürfnissen und Eigenschaften adressiert. Jedoch erhöhte der oben beschriebene Umgang mit diesen Bedürfnissen und Eigenschaften systematisch die Qualen anstatt sie – wie in gewöhnlichen Flugzeugen die leichten Unannehmlichkeiten – zu lindern. Weit entfernt der gemeinsamen Flugerfahrung von gewöhnlichen Fluggästen und -personal als „a time of shared fate“ (Knorr Cetina 2009: 81) fungierten Flüge zusätzlich zu ihrer Transportfunktion im War on Terror als Foltersituationen, in denen ausgehend von der extremen Immobilisierung weitergehende Qualen und Verletzungen des Selbst erzeugt werden konnten und wurden.

5 Ankunft und Processing

Nach der Landung des Flugzeugs stand die Ankunft an einem neuen Folterort. Ihr folgten weitere Aufnahmeprozeduren. El-Masri erinnert sich an die erste Nacht in der CIA-Blacksite: „they stripped me of my clothes, photographed me, and took blood and urine samples“ (El-Masri o. J.). Erneut bildet die erzwungene Nacktheit und das Fotographieren des nackten Körpers den Mittelpunkt des Einstiegsrituals. Hinzu kommt nun die Aufnahme biometrischer Daten, hier in Form von Körperflüssigkeiten („blood and urine“), in Bagram auch von Haarproben (HRW 2004: 26). In Guantánamo waren die Prozeduren besonders standardisiert geplant, wie die von WikiLeaks veröffentlichten Camp Delta Standard Operation Procedures (SOP) (JTF-GTMO 2004a: 4.2 f.) zeigen, und entsprechen im Wesentlichen den Prozeduren, die Goffman (2016: 27) idealtypisch für totale Institutionen aufzählt: Nach einem Bustransport vom Flugzeug zum Processing-Bereich in Camp Delta sollte den Gefangenen im „Undressing Room“ die Kleidung vom Körper geschnitten werden. Dieser Körper sollte weiter im „Shower Room“ mit Wasser gewaschen, medizinisch untersucht („cavity search“) und schließlich wieder ‚bekleidet‘ werden. Diese Wiederbekleidung beinhaltet wiederum das Anlegen neuer Fesseln und die Nummerierung der Gefangenen (die Gefolterten wurden später vom Wachpersonal häufig mit ihren Nummern als ‚Namen‘ angesprochen, s. z. B. Kurnaz/Kuhn 2017: 61). Die oben beschriebenen benutzten Ketten und Metallgürtel waren Eigentum der US Air Force und wurden dieser von der JTF-GTMO zurückgegeben. An diesem Umgang mit den Fesselungsartefakten ist erkennbar, dass es sich nicht nur um einen raumzeitlichen Übergang, sondern auch um eine institutionelle Übergabe von einer formalen Organisation zur anderen handelt. Sodann folgt die Aufnahme biometrischer Daten, namentlich DNA-Probe, Erfassung von Größe und Gewicht, (fünffaches) Fotographieren und Fingerabdrücke, sowie personenbezogener Daten wie Name, Nationalität und Alter. Die Berichte von den Tipton Three und Slahi bestätigen, dass diese Handlungen (auch vor der Verfassung der SOP) umgesetzt wurden (Rasul et al. 2004: 29; Slahi 2017: 33).

„Sein [des Neulings] Ich wird systematisch, wenn auch häufig unbeabsichtigt, gedemütigt“, schreibt Goffman (2016: 25). Die wesentliche Übereinstimmung zwischen den Handlungsentwürfen und Berichten Überlebender, was die Übergangsprozeduren angeht, bestätigt den systematischen Charakter der Demütigungen und Angriffe auf das Selbst. Die verschriftlichten und standardisierenden Anweisungen waren also durchaus Skripte für das situative Gewalthandeln und sorgten damit auch zu einer Verkettung der Situationen. Die Frage, inwieweit einige Praktiken „unbeabsichtigt“ demütigend waren, ist nicht eindeutig zu beantworten. Die Tipton Three beispielsweise deuten die als Sicherheitsmaßnahme kommunizierten cavity searches vor und nach dem Flug aufgrund der Wiederholung als intentionale Demütigungen: Wie hätten sie auch im Zustand ständiger Fesselung während des Transports etwas in ihren Körpern verstecken können (Rasul et al. 2004: 26, 29; s.a. Adayfi/Aiello 2021: 18)? Besonders offensichtlich ist der intentional-entwürdigende Charakter der situativen Handlungen der Folternden bei dem Lachen bei schamhafter Nacktheit sowie der Tantalos-artigen Situation. Entblößungen wurden zwar meist als medizinischeFootnote 18, hygienischeFootnote 19 oder als Sicherheitsmaßnahmen (Adayfi/Aiello 2021: 36) gerahmt und legitimiert. Mit Goffman (2016: 52 f.) kann man aber davon ausgehen, dass solche Begründungen „sehr häufig bloße Rationalisierungen“ sind. Dafür spricht auch, dass in den organisationalen Dokumenten empfohlen wird, den sogenannten „capture shock“ der Gefangenen auszunutzen (CIA 2002j: 2, 2004a: 2). In diesem Ausdruck zeigt sich ein deutliches organisationales Wissen von dem qualvollen Charakter der Aufnahme in den Folterkomplex. Der durch die Gefangennahme ausgelöste leidvolle Zustand („shock“) soll zudem für das Verhör nutzbar gemacht werden. Damit ist andererseits nicht ausgeschlossen, dass manche standardisierten Übergaberegeln nicht primär der Demütigung, sondern der bürokratischen Verwaltung der global verteilten Gefangenenpopulation diente; dass also der demütigende Charakter ein in Kauf genommenes oder willkommenes Nebenprodukt war, welches situativ verstärkt werden konnte. Dennoch sind die Demütigungen der Aufnahmeprozeduren im War on Terror nicht nur ausgeprägter als bei vielen anderen totalen Institutionen, sondern auch stärker als Teil des rationalen Plans intendiert und wurden von den Gefolterten auch so wahrgenommen.