Foltersituationen sind eine extreme Form von sozialen Situationen. Extrem sind sie vor allem hinsichtlich ihres asymmetrischen Charakters. Menschen (Gefolterte) sind der Gewalt anderer Menschen (Folternde) wehrlos ausgesetzt. Zweite entführen oder verhaften Erste als vermeintliche Mitglieder einer feindlich verstandenen Gruppe, halten sie in von der Umwelt abgegrenzten Räumen gefangen und tun diesen ‚feindlich‘ verstandenen Gegenübern Gewalt an. Nicht etwa, um diese als feindlich verstandenen Anderen auszurauben, zu töten oder „aus dem Weg“ (Reemtsma 2013: 111) zu räumenFootnote 1, sondern um gezielt Erfahrungen von Leid und Qual zu erzeugen. Dazu nutzen Folternde das embodiment und die damit verbundene „Verletzungsoffenheit“ (Popitz 1992: 44) des Menschen, um ausgehend von der Kontrolle über die Körper der Gefolterten deren Selbst zu attackieren. Schmerzzufügung durch stumpfe Gewalteinwirkung wie Schläge oder Tritte sind wohl die häufigste Methode (Busch et al. 2015: 17 f.). Sie ist aber nur eine Möglichkeit unter vielen, die Folternde nutzen (Inhetveen 2011; Nungeser 2019). Dazu gehören auch der Entzug von Nahrung, Kleidung und Sinnesreizen wie Licht, Drohungen oder das Erzwingen von schmerzproduzierenden Körperpositionen. Auf sehr unterschiedliche Weisen können Folternde mittels des äußerlichen Zugriffes auf das körperliche Objekt Einfluss auf das subjektive Erfahren nehmen. Folternde üben also eine Macht über die Gefolterten aus, die unmittelbar und extrem ist. Zugleich ist die umrissene Gegenüberstellung zwischen Gewalttäter:innenFootnote 2 und -erfahrenden in ihrer Vereinfachung irreführend. Denn es sind komplexe Konstellationen von verschiedenen Akteuren sowie von organisationalen, räumlichen, zeitlichen und materiellen Strukturen, die Foltersituationen konstituieren. Sofern man einer engen Folterdefinition folgt, sind sie zudem stets in staatlich-institutionelle Herrschaftsverhältnisse eingebettet. Folternde handeln dann nicht als Privatpersonen, sondern sind als Personal in Organisationen eingebunden. Wie lassen sich Foltersituationen als soziale Situationen, in denen verkörperte soziale Akteure interagieren, fassen, über die Feststellung ihrer äußersten Machtdifferenz hinaus? Diese Frage steht im Kern des vorliegenden Buches. Sie möchte ich in wissens-, körper- und gewaltsoziologischer Perspektive bearbeiten.

Empirisch konzentriere ich mich auf die Folter durch den US-amerikanischen Geheimdienst Central Intelligence Agency (CIA) und Teile der US-Streitkräfte im frühen 21. Jahrhundert. Ein Fall, der eine Vielzahl an öffentlich zugänglichen Dokumenten produziert hat. Die Folter war Teil einer Politik infolge der verheerenden Terroranschläge auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington DC am 11. September 2001 durch die jihadistische Organisation Al-Qaida, bei denen circa 3.000 Menschen ihr Leben verloren. Folterungen fanden in den folgenden Jahren an extraterritorialen Orten statt, wie dem militärischen Gefangenenlager Bagram in Afghanistan oder Guantánamo Bay auf Kuba, in global verteilten geheimen CIA-Foltereinrichtungen (Blacksites) oder nach dem Sturz Saddam Husseins 2003 im irakischen Gefängnis Abu Ghraib. Diese Gewalt richtete sich gegen vermeintliche Terroristen und wies dabei häufig auch geschlechtlich-kulturelle Bezüge zu unterstellten männlich-muslimischen Andersartigkeiten der Gefolterten auf. Folter wurde aber nicht nur angewandt. Vielmehr autorisierte die US-Regierung sie sogar im Namen von national security als Mittel des Verhörs (allerdings ohne sie explizit als Folter zu bezeichnen). Dies ging einher mit der Verschriftlichung von Situationsentwürfen und Foltertechniken als organisational verfestigtem Körperwissen, das mit Wissensformationen des Kalten Krieges in historischer Kontinuität steht; oder anders: der US-Fall beinhaltet neben den Gewaltpraktiken eine ‚emische Foltertheorie‘.

Ich spreche im Folgenden von diesem Fall als den ‚US-Folterkomplex im War on Terror‘. Die beiden Begriffe bedürfen zunächst einer Klärung. Erstens hatte die Entscheidung der republikanisch geführten US-Regierung unter Präsident George W. Bush, die Anschläge und die eigenen Reaktionen auf diese entgegen alternativer Metaphoriken als ‚Krieg‘ zu framen, weitreichende Folgen (s. hierzu Kirchhoff 2010, 2018), nicht zuletzt für die Autorisierung von Foltertechniken. Daher benutze ich War on Terror als einen emischen und nicht als deskriptiven Ausdruck, wenngleich Kriege in einem engen Sinne Teil dieses Konfliktes sind (nämlich die Kriege in Afghanistan und dem Irak). Der zweite Hinweis betrifft den Begriff ‚Folterkomplex‘.Footnote 3 Unter anderem bezeichnet der Politikwissenschaftler Darius Rejali (1994: 80) mit „torture complex“ den institutionellen Zusammenhang eines Staates, in dessen Rahmen Folter angewandt wird (s.a. Cohen/Corrado 2005: 110; Inhetveen et al. 2020: 4; Nungesser 2019: 379). Ich schließe mit meiner Verwendung des Begriffs an diese Bedeutung an. Für den US-Fall meine ich mit ihm das zusammenhängende Netz von Foltersituationen und -praktiken, Folterorten, eingebundenem Personal, (technischen) Artefakten sowie den beteiligten staatlichen (und teils privatwirtschaftlichen) Organisationen und deren innerbehördliche Diskurse, inklusive verschriftlichter Foltertechniken.

An dieser Stelle kann ich nun die eingangs formulierte Frage in präzisere Probleme auffächern: Wie konstituieren verschiedene Elemente wie Menschen, Organisationen, Artefakte und räumlich-zeitliche Strukturen soziale Situationen als Foltersituationen? Welche Verflechtungen von (diskursivem) Wissen sind dabei relevant; Wissen etwa über ‚effektive‘ Verletzung, vermeintliche Eigenarten der zu folternden Feinde und rechtliche Normen? Inwieweit erleben sich Gefolterte als handlungsfähige Subjekte und inwieweit werden sie als solche adressiert? Diese drei Leitfragen möchte ich empirisch am Fall des War on Terror angehen.

1.1 Von Handschuhen und faulen Äpfeln

Während Folter trotz ihres globalen und absoluten Verbotes durch die Vereinten Nationen (UN) leider keine seltene Ausnahme darstellt, hat der US-Folterkomplex in der globalen Öffentlichkeit besonders große Aufmerksamkeit erzeugt. In den medialen, politischen und akademischen Diskursen um den US-Folterkomplex wurden einige Aussagen von US-Politikern und -Beamten derart häufig wiederholt, dass sie zu einem selbstverständlichen Teil dieser Diskurse wurden.Footnote 4 Ihre Wiederholung liegt sicher auch darin begründet, dass die Aussagen jeweils einzelne Merkmale des US-Falls pointiert zum Ausdruck bringen. Die unten aufgeführten Zitate gehören zu diesem verfestigten Repertoire. Sie eignen sich daher für einen kurzen Überblick über die politische Rahmung der Folter im War on Terror. Für manche Leser:innen mag dies ein Ins-Gedächtnis-Holen darstellen, für andere ein erster Einblick.

We also have to work, though, sort of the dark side, if you will. We’ve got to spend time in the shadows in the intelligence world (Cheney zit. n. Cheney/Russert 2001).

The gloves are off (Anonym zit. n. Woodward 2001).

The worst of the worst (Rumsfeld zit. n. Seelye 2002).

If the detainee dies you’re doing it wrong (Fredman zit. n. DoD 2002a: 3).

A few bad apples (Wolfowitz zit. n. McCoy/Perl 2019: 66).

And we have yet to GITMOize the operation (Karpinski zit. n. Taguba/Karpinski 2004: 92).

We tortured some folks (Obama zit. n. Lewis 2014).

Die Worte des damaligen Vize-Präsidenten Dick Cheney bei der TV-Sendung „Meet the Press“, aus der das erste Zitat stammt, gaben nur wenige Tage nach den Anschlägen vom 11. September 2001 erste Hinweise darauf, welche Richtung die Politik der Bush-Administration in Zukunft einschlagen würde. Die Schattenmetaphorik („shadows“) verweist zum einen auf Unsichtbarkeit, also die Relevanz der Geheimhaltung sowie der Geheimdienste („intelligence world“), insbesondere der CIA, die ab 2002 eigene Foltergefängnisse betreiben würde. Zum anderen deutet die Metaphorik der Dunkelheit („dark side“) das Verlassen rechtlicher Normen aufgrund angeblicher Notwendigkeit („have to“) an. Die Journalistin Jane Mayer (2008) nutzte nach jahrelanger Recherche den Ausdruck „the dark side“ daher auch als sinnbildlichen Titel ihres vielbeachteten Buchs über den Folterkomplex.

Die Handschuhe in dem zweiten Zitat stehen für eine sanfte oder weiche Behandlung und eine Zurückhaltung, die nun endet, indem die Handschuhe sinnbildlich ausgezogen werden. Das Zitat stammt von einer anonymen US-Beamt:in gegenüber der Washington Post und meint hier die weitreichenden Kompetenzen, die die US-Regierung der CIA nach den Anschlägen übergab. Diese Metaphorik wurde aber auch in anderen Fällen innerhalb der Bush-Administration genutzt, um Verhörpersonal zu harten Maßnahmen gegenüber Gefangenen zu ermuntern. So zitiert Mayer auch den General Counsel des Verteidigungsministeriums (DoD)Footnote 5 Jim Haynes mit dem Imperativ: „take the gloves off“ (Mayer 2008: 97). Die Metapher verweist darüber hinaus nicht zuletzt auf die Vorstellung, in Ausnahmezuständen seien ‚verweichlichte‘ liberal-rechtstaatliche Normen (die Handschuhe) hinderlich und müssten im Namen von national security einer ‚männlichen‘ Härte weichen;Footnote 6 eine Vorstellung, die durchaus typisch ist für die Legitimierung von Folter in modernen Demokratien wie beispielsweise Frankreich im Algerienkrieg (Rejali 2007).

Nach der Eröffnung des Gefangenenlagers im Februar 2002 gab der damalige Außenminister Donald Rumsfeld den Insassen in Guantánamo das berühmte Label „the worst of the worst“ (drittes Zitat). Cheney (zit. n. Ross/Rothe 2013: 147) bezeichnete sie ähnlich als „worst of a very bad lot“ und ergänzte: „[they are] devoted to kill millions of Americans“. Die beiden Politiker gaben damit den gefangengenommenen ‚Feinden‘ einen niedrigen moralischen Status und suchten deren Internierung außerhalb der US-amerikanischen Rechtsnormen (und implizit ihre Folterung) mit ihrer angenommenen Gefährlichkeit für das eigene Kollektiv („Americans“) zu legitimieren. An diesem offiziellen Narrativ gab es früh berechtigte Zweifel, die sich rasch bestätigten: Nur 8 Prozent der Insassen hatte selbst das US-amerikanische Verteidigungsministerium als Al-Qaida-Kämpfer eingestuft (Denbeaux et al. 2006: 9). Das Zitat steht damit auch allgemein für das Scheitern der CIA und des US-Militärs, hochrangige Terroristen dingfest zu machen, und für die falschen Verlautbarungen der Bush-Administration über eine Sicherheitspolitik, der meistens nur hierarchisch niedrige Mitglieder von Al-Qaida und Taliban oder völlig Unbeteiligte zum Opfer fielen.

Das vierte Zitat stammt von dem CIA-Juristen Jonathan Fredman, der am 2. Oktober 2002 das leitende militärische Verhörpersonal in Guantánamo bei einem Treffen beriet. Zur Frage, welche Verhörtechniken autorisiert seien, bemerkte Fredman unter Bezug auf das globale Folterverbot:

Under the Torture Convention, torture has been prohibited by international law, but the language of the statutes is written vaguely. […] It is basically subject to perception. If the detainee dies you’re doing it wrong (Fredman zit. n. DoD 2002a: 3).

Moderne Folternde wollen typischerweise den Tod (wie auch Bewusstlosigkeit) verhindern, um den Gefolterten Leiden induzieren zu können (s. bspw. Rejali 1994: 7). Die Logik des letzten Satzes lässt also kaum Praktiken übrig, die man als Folter bezeichnen könnte. Fredmans Formulierung bringt damit die absurd anmutende Engführung des Folterbegriffs auf extreme Verletzungen überspitzt auf den Punkt, die die US-Regierung verfolgte. Insbesondere das Office of Legal Counsel (OLC) des Justizministeriums (DoJ)Footnote 7 versuchte auf diese Weise in den berüchtigten Torture Memos, gewaltvolle ‚Verhörtechniken‘ juristisch außerhalb der Folter zu verorten und so die moderne Anti-Folternorm zu unterlaufen, ohne sie per se für ungültig zu erklären.

Als Anfang 2004 die Veröffentlichungen der Fotographien aus dem irakischen Abu Ghraib-Gefängnis die dortige exzessive Gewalt durch US-Personal öffentlich sichtbar machte, bezeichnete der stellvertretende Verteidigungsminister Paul Wolfowitz bei einer Pressekonferenz die in den Bildern abgebildeten Militärpolizist:innen (MPs) als wenige faule Äpfel (fünftes Zitat). Der Ausdruck findet sich seitdem in fast sämtlichen journalistischen und akademischen Auseinandersetzungen mit den Folterungen durch US-Kräfte im Irak. Diese Metapher meint, dass es sich bei den Taten um Einzelfälle handele, und wird in ähnlicher Weise auch in anderen Zusammenhängen wie Polizeigewalt verwendet (s. z. B. Cunningham 2020). In diesem Fall steht sie exemplarisch für die Straflosigkeit politischer sowie militärischer Verantwortlicher der Folter, ebenso wie für die Versuche der US-Regierung, die Verantwortung bloß niedrig-rangigen MPs zuzuschreiben, und jeden systematischen Charakter der Folter – also die Existenz des Folterkomplexes als solchen – zu leugnen. Auch ein solches Leugnen ist typisch für moderne Folter (Huggins 2005: 166 ff.), die anders als die europäische Folter der Frühen Neuzeit eher illegale und im Geheimen vollzogene staatliche Praxis ist denn legales Rechtsmittel oder öffentliches Ritual.

Demgegenüber steht das sechste Zitat: Die Generalin Janis Karpinski, die das Abu Ghraib-Gefängnis zur Zeit des Folterskandals leitete, sagte im Rahmen einer internen Militäruntersuchung aus, dass General Geoffrey Miller gefordert hatte: „we have yet to GITMOize the operation“. Miller war zuvor als Leiter des Gefangenenlagers in Guantánamo tätig gewesen und sollte in der Folge die ‚Verhöroperationen‘ im Irak optimieren. Die Desubstantivierung „GITMO-ize“ meint, dass die Verhör- und Gefängnispraktiken („the operation“) in Abu Ghraib denen in Guantánamo („GITMO“) angepasst werden sollten. Miller (DoA 2004b: 257) bestritt zwar, diesen Ausdruck benutzt zu haben. Unabhängig davon, ob Miller tatsächlich der Urheber des Neologismus ist oder nicht, bringt dieses Wort jedoch pointiert den Transfer von Praktiken, Folterwissen und Personal von Guantánamo nach Abu Ghraib zum Ausdruck; das heißt: die Verschränktheit der verschiedenen Folterorte als globales Netz, für die nicht zuletzt Miller selbst steht.

Ein:e NGO-Anwält:in erklärte mir in einem Interview (Int. Anwält:in I), dass Menschenrechtsaktivist:innen das letzte Zitat ambivalent aufnahmen. Es stammt von dem damaligen US-Präsidenten Barack Obama, der diesen Satz anlässlich der Veröffentlichung eines Senatsberichts über das CIA-Folterprogramm 2014 sagte. Einerseits folgte Obama damit der jahrelangen Forderung danach, „the ‘T’ word“ (Huggins 2005: 161) nicht länger zu meiden und die Folter als solche anzuerkennen. Da die Bush-Administration die Folter stets bestritten hatte, war deren explizite Benennung durch einen US-Präsidenten zwar bahnbrechend („we tortured“). Andererseits spielte Obama aber mit dem Ausdruck „some folks“ das Ausmaß des Folterprogramms herunter; einmal, weil „some“ die Anzahl der Gefolterten als niedrig erscheinen lässt; und zum anderen, weil die umgangssprachliche Bezeichnung „folks“ für die Opfer der Foltergewalt einen gleichsam alltäglichen Vorgang nahelegt. Der Satz zeigt somit die uneindeutige Politik des Nachfolgers von Präsident Bush zum Folterkomplex. Die Obama-Administration beendete 2009 die Folterprogramme als gezielte US-Politik und versprach die Schließung von Guantánamo. Jedoch misslang der Regierung das zweite Ziel. Und mehr noch: sie entschied sich dazu, die Verantwortlichen der Folter vor möglicher Strafverfolgung zu schützen (Open Society Foundations 2013: 20). Ein Schutz, der über 20 Jahre nach dem Beginn des War on Terror im Wesentlichen fortbesteht.

1.2 Was dieses Buch (nicht) will

Aufgrund des starken öffentlichen Interesses an dem US-Folterkomplex im War on Terror gibt es bereits eine Vielzahl von Veröffentlichungen zu dem Fall. Wie verorte ich das vorliegende Buch in dieser breiten Literatur? Die Geschichte der Diskurse um den US-Fall ist zunächst die Geschichte seiner fortschreitenden Sichtbarmachung. Wie oben bereits erwähnt, wurde die Folteranwendung wie für moderne liberal-demokratisch verfasste Staaten üblich im Geheimen vollzogen und der Öffentlichkeit gegenüber geleugnet. Um über den Fall überhaupt sprechen zu können, war daher eine Dokumentierung über die Anwendung von Folter und deren politische Rahmung nötig. Insbesondere Journalist:innen, Menschenrechts-NGOs und Anwält:innen werteten früh Hinweise aus und machten diese publik.Footnote 8 Es folgten Berichte von Folterüberlebenden und von Personal der Folterorte, staatliche Untersuchungen sowie Veröffentlichungen von organisationalen Dokumenten – entweder durch Leaks oder durch legale Deklassifizierungen auf Basis des Freedom of Information Act (FOIA), die insbesondere die American Civil Liberties Union (ACLU) beantragte. Mit einer großen Fülle an Zeitungsartikeln, Reports, Interviews, Büchern, Dokumentarfilmen sowie organisationalen und juristischen Dokumenten kann der Fall mittlerweile als gut dokumentiert gelten.Footnote 9 Meine Untersuchung basiert empirisch auf dieser wertvollen Arbeit. Sie hat selbst keine enthüllende Intention oder den Anspruch, den Fall in all seinen Aspekten darzustellen. Auch ist in journalistischen und akademischen Auseinandersetzungen das bad apple-Narrativ hinreichend widerlegt und stattdessen der systematische, zusammenhängende und intendierte Charakter des Folterkomplexes bewiesen worden, sodass ich ihn als gegeben voraussetze. Ich behandle ihn jedoch, insofern er für meine Fragen relevant wird.

Die enge Verbindung zwischen den öffentlichen Diskursen und dem US-Folterkomplex führte auch dazu, dass die Fragen der Legitimierung von Folter einen Großteil der akademischen Literatur bestimmen. Vor allem in philosophischen und rechtswissenschaftlichen Debatten in der frühen Phase des War on Terror wurde normativ über das sogenannte ticking bomb scenario diskutiert. Dieses Gedankenexperiment hat folgende Prämisse: Eine Terrorist:in ist in staatlicher Gefangenschaft und hat Wissen über einen bevorstehenden Anschlag, der Leben kosten würde („ticking bomb“). Die einzige Möglichkeit, den Anschlag zu verhindern, ist, dieses Wissen zu erlangen; und die einzige Möglichkeit, dieses Wissen zu erlangen, besteht darin, die lebensrettende Information in Verhören durch Folter zu erpressen, da die Gefangene sich weigert, sie freiwillig preiszugeben. Besonders prominent forderte der Jurist Alan Dershowitz (2003) für solche Ausnahmefälle Folter zu (re-)legalisieren. Seitdem haben sich viele Autor:innen zurecht gegen diese utilitaristische Argumentation gewandt, indem sie die Rationalisierung von Folter als – nur vermeintlich effektives – Verhörmittel kritisieren, die Gefahren solch spekulativer Szenarien für liberale Rechtsnormen aufzeigen und die Absolutheit des Folterverbotes verteidigen (s. z. B. Brecher 2008; Athey 2011; Farrell 2013: 82–146, 2020; Baron 2018). Ich schließe mich dieser Kritik an, verfolge aber ein analytisches Interesse.

Ein anderer Teil der akademischen Literatur fragt allgemeiner nach der Rolle der legitimierenden Diskurse im Kontext anderer historischer Fälle von Folter in der US-amerikanischen Geschichte (Brundage 2018), der medialen Debatten nach 2001 (Förster 2016) oder des völkerrechtlichen Folterverbots (Steiger 2013; Hajjar 2019). Diese Literatur ist relevant zum Verständnis des Kontextes des US-Folterkomplexes. Ich konzentriere mich aber auf dessen ‚Inneres‘.

Mein Ausgangspunkt ist die Folter als körperliche Gewaltpraxis in sozialen Situationen und das mit ihr verbundene organisationale Körperwissen. Das bedeutet, dass die öffentlichen Debatten um die Legitimität von Folter, ihre medialen Repräsentationen, die traumatisierenden Folgen für gefolterte Individuen und Gesellschaften, die Aufarbeitung durch Menschenrechtsorganisationen und andere Formen der Sichtbarwerdung sowie die weitgehende Straflosigkeit der Verantwortlichen nicht im Mittelpunkt meines Interesses stehen. Zugleich können für das Verständnis der Foltersituationen die institutionellen, diskursiven und historischen Kontexte nicht ignoriert werden. Die legitimierenden Diskurse der US-Regierung und rechtliche Normen sind dann für die Untersuchung relevant, wenn sie Einfluss auf Vorgänge innerhalb des Folterkomplexes nehmen. Grundsätzlich ist hier besonders Rejalis (2009) zentrales Argument instruktiv, wonach die Anti-Folternorm und Menschenrechtsmonitoring dazu führen, dass demokratische Staaten solche Foltertechniken priorisieren, die wenige Spuren am Körper hinterlassen, um die Folter leugnen zu können.

Allgemeine phänomenologische Auseinandersetzungen interessieren sich für die Folter zumeist in theoretischem Interesse als Extremfall: als ein Maximum an leiblichen Qualen und als einen Endpunkt des Sozialen (Scarry 1992; s.a. Sofsky 1996: 96; Mackert 2011: 454; Grüny 2003, 2004: 189–212).Footnote 10 Diese Überlegungen sind als theoretische Ausgangspunkte nützlich. Über sie hinausgehend möchte ich aber Folter als wissensbasierte, sozial-körperliche und organisational hergestellte Praxis und Interaktion verstehen. Ich will sie also mit Begriffen der interaktionistischen Soziologie, welche zumeist eher einträchtige Interaktionen im Sinn hat, beschreiben und sie so nicht von vornherein als ‚ganz andere‘ Form von Handeln exotisieren (schließlich ist sie traurigerweise kein seltenes Phänomen). Dabei schließe ich zum einen an Diskussionen der sogenannten ‚neueren Gewaltsoziologie‘ über „analytische […] Normalisierung der Gewalt“ (Koloma Beck 2017: 52)Footnote 11 und des Situationsbegriffes (s. zusammenfassend Hoebel, Malthaner 2019) an. Zum anderen folge ich dem Bemühen jüngerer interdisziplinärer Folterforschung, Folter konzeptionell über Schmerzzufügung hinaus greifbar zu machen (z. B. Inhetveen 2011; Hilbrand 2015; Pérez-Sales et al. 2016; Cakal 2018; Nungesser 2019; Pérez-Sales 2020, 2021; Köthe 2023). Dies ist wichtig, denn die Versuche der Invisibilisierung moderner Folter gehen auch mit der Verschiebung des äußeren Zugriffs auf die Gefolterten, sprich der Foltertechniken, einher.

Aber wie kann ich von ‚Interaktion‘ sprechen, wo doch Gefolterte wehrlose Gewalterfahrende sind? Aus drei Gründen sehe ich dies als gerechtfertigt an. Erstens zielt die Folter oft nicht auf eine äußere Zerstörung der Handlungsfähigkeit, sondern bemüht sich darum, die agency der Gefolterten gegen sie selbst zu wenden (Sussman 2005). Zweitens bestehen Foltersituationen bei näherer Betrachtung aus einer VerkettungFootnote 12 von qualvollen Erfahrungen, ausgehend von der Gefangenschaft (sprich: der Kontrolle über den Körper und seiner Umgebung). Dabei sind die schmerzvollsten Verletzungserfahrungen, die einer „Zerstörung der Welt“ (Scarry 1992: 57) gleichkommen, bei denen also ein sinnhafter Weltbezug nicht mehr möglich ist, nicht auf Dauer gestellt. Eine prinzipielle Interaktionsfähigkeit der Gefolterten ist also meistens vorhanden. Daher können drittens Gefolterte mitunter autonome Handlungsmacht herstellen und gar kleine Widerständigkeiten entwickeln, wie auch der Kulturwissenschaftler Sebastian Köthe (2021, 2023; s.a. Nungesser 2019: 392) für den Fall Guantánamo eindrucksvoll festellt. Mit alldem sollen nicht im Geringsten die äußerst traumatisierenden Erfahrungen von Folter relativiert werden. Vielmehr will ich damit der Funktionsweise der Folter und ihrer Veralltäglichung über längere Zeiträume Rechnung tragen, was bei einem alleinigen theoretischen Fokus auf maximale leiblich-psychische Qualen und einer a priori gesetzten absoluten Machtdifferenz leicht aus dem Blick gerät.

Dieses Buch gliedert sich in drei Teile. Der erste Teil besteht aus methodischen, theoretischen und historischen Vorüberlegungen. Ich beschreibe das methodische Vorgehen und die verwendeten Daten (Kapitel 2 & 6) und nähere mich dem Spezifischen von Foltersituationen auf Basis von phänomenologischen und gewaltsoziologischen Überlegungen an (Kapitel 3). In den beiden folgenden Kapiteln (4 & 5) historisiere und kontextualisiere ich den untersuchten Fall; zunächst, indem ich ihn in moderne Folterphänomene einordne, die sich von der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Folter tendenziell hinsichtlich der kosmologischen und institutionellen Rahmung, des rechtlichen Status, der Foltertechniken und der Sichtbarkeit unterscheiden; und zum anderen, indem ich einen Überblick über die politische, organisationale und räumliche Rahmung der Foltersituationen im War on Terror gebe. Der zweite Teil (Kapitel 79) ist diskursanalytisch ausgerichtet. In Kapitel 7 und 8 rekonstruiere ich anhand von Memoranden und Situationsentwürfen das diskursive Folterwissen in organisationalen Dokumenten als ‚emische Foltertheorie‘ als „Interdiskurs“ (Link 2012: 58), während ich mich in Kapitel 9 auf die historischen Verbindungen dieses Folterwissens mit dem Kalten Krieg sowie dessen Verbreitung innerhalb des US-Folterkomplexes konzentriere. Der Begriff der ‚Wissensflüsse‘, mit dem ich im zweiten Teil arbeite, schließt an die Metapher der beiden Diskursforscher:innen Siegfried und Margarete Jäger an: Diskurs als „Fluss von Wissen durch Zeit“ (Jäger/Jäger 2007: 15). Die Betrachtung des fallbezogenen ‚Flusses‘ fördert vor allem emische Konstruktionen von ‚Effektivität‘ und ‚Unschädlichkeit‘ sowie eine diskursive Vermeidung von Schmerz als ‚Körper-Selbst-Scharnier‘ (s. zu dieser Metapher Inhetveen 2017: 104) zutage. Während der Folter-rationalisierende und -invisibilisierende Charakter dieser Konstruktionen im Kontext liberaler Rechtsnormen evident ist, will ich sie dennoch nicht als bloße Legitimierung abtun. Im dritten Teil (Kapitel 1014) ziehe ich Berichte von Folterüberlebenden und Mitgliedern der folternden Organisationen mit ein und frage nach der Konstituierung von Foltersituationen. Die Beschreibungen ereigneter Foltersituationen setze ich in Bezug zu den verschriftlichten Handlungsentwürfen und frage, inwiefern sie zur Strukturierung der Foltersituationen beitragen. Dabei erscheint Folter als dezentral und mehr als Verkettung von qualvollen Situationen denn als isolierte Momente maximaler Qualen. In Kapitel 10 blicke ich hierzu auf raumzeitliche Übergänge wie Aufnahmeprozeduren und Transporte und in Kapitel 11 auf den auf das Induzieren von Leid hin organisierten Gefängnisalltag in Guantánamo. Anschließend zeige ich (Kapitel 12), dass Gefolterte nicht per se als passiv zu begreifen sind und sogar widerständige Praktiken entwickeln können, wenngleich diese die extreme Asymmetrie der Foltersituationen nicht auflösen können. Kapitel 13 untersucht die Relevanz der Feindkonstruktion für die Folterpraktiken und das gewaltsame Othering der Gefolterten als ‚muslimische Männer‘, denen kultur-geschlechtlich spezifische Verletzlichkeiten unterstellt wurden. Die verschiedenen Formen von gewaltsamer Her- und Darstellung von Andersartigkeit durch rituelle und performative Praktiken sind jedoch begrenzt durch die Annahme prinzipieller Gleichartigkeit, welche der Folter als intersubjektivem Prozess paradoxerweise innewohnt. In Kapitel 14 schließlich fasse ich weitere entscheidende Elemente von Foltersituationen und deren Konstellationen im untersuchten Fall zusammen, um mich der Frage zu nähern, was Foltersituationen als solche konstituiert.

Mit diesem analytischen Interesse an Folter kann ich nicht wie die reichhaltige psychologische Forschung unmittelbar Beiträge zur Therapierung von Überlebenden und ehemaligen Täter:innen leisten (z. B. Hensel-Dittmann et al. 2011; Sironi 2011; Pérez-Sales et al. 2017; Rendahl/Santoso 2019). Was dieses Buch über das analytische Interesse hinaus kann, ist, uns daran zu erinnern, dass Folter nicht einer ‚barbarischen‘ Vergangenheit angehört oder bloß Diktaturen zuzuschreiben ist, sondern dass sie auch in demokratischen Staaten als politische Handlungsoption zur Verfügung steht. Foltersituationen, so extrem sie auch sein mögen, sind nicht unvorstellbar und keineswegs auf starke Schmerzzufügung zu begrenzen. Auch ohne politisch forcierte Autorisierung von Foltertechniken und Etablierung von Folterprogrammen wie im War on Terror sind die Bedingungen von Foltersituationen bei staatlicher Gefangenschaft prinzipiell gegeben. Darüber hinaus habe ich die Hoffnung, dass die empirische und theoretische Analyse der Zusammenhänge zwischen Foltersituationen, Interaktion, Körperwissen und Othering einen kleinen Beitrag leisten kann, das soziale Phänomen ‚Folter‘ allgemein besser zu verstehen und damit langfristig zu dessen Verhinderung ein wenig beizutragen.