In diesem Kapitel wird vor dem Hintergrund der forschungsethischen Grundlage (Abschnitt 9.1), welche insbesondere in der Forschung mit einer vulnerablen Personengruppe essentiell ist, der Zugang zu den teilnehmenden pflegenden Angehörigen beschrieben. Dabei wird in Abschnitt 9.2 die angewandte Rekrutierungsstrategie aufgezeigt und im Detail dargestellt. Darüber hinaus erfolgt eine kurze Beschreibung der an der Studie teilnehmenden pflegenden Angehörigen (Abschnitt 9.3) sowie einer Betrachtung des Interviewsettings (Abschnitt 9.4).

9.1 Forschungsethische Grundlage

Pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz werden mit besonderen Herausforderungen in der Pflege und Begleitung ihres an Demenz erkrankten Angehörigen konfrontiert, welche aus dem Erkrankungsbild resultieren (Wilz & Pfeiffer, 2019). Diese wirken sich häufig negativ auf das Wohlbefinden, den Gesundheitszustand und das soziale Netzwerk der Pflegenden aus (Wilz & Pfeiffer, 2019). Durch ihre besonderen physischen und psychischen Anforderungen gelten pflegende Angehörige häufig als „der vergessene zweite Patient“ (Meier et al., 1999) und demnach als vulnerable Personengruppe (ausführlich in Kapitel 2 dargestellt).

Die Begleitung und Übernahme pflegerischer Hilfe entwickelt sich häufig als schleichender Prozess und wird von pflegenden Angehörigen nicht selten mit Gefühlen der Machtlosigkeit und Überforderung erlebt. Da pflegende Angehörige nicht nur die tragende Säule im deutschen Pflegesystem, sondern auch Fürsprecher der an Demenz erkrankten Personen sind, die die Bedürfnisse, Wünsche und Interessen ihrer Angehörigen am besten erkennen und interpretieren können, bedürfen sie vielfältiger Unterstützungsmöglichkeiten für die konkrete Für- und Selbstsorge.

Die hohe Verletzlichkeit, die aufgrund der Übernahme der Pflege und Begleitung eines Menschen mit Demenz bei pflegenden Angehörigen entsteht sowie die hohen Belastungen und geringen Zeitressourcen tragen dazu bei, dass besondere Achtsamkeit und Empathie in der Einbindung pflegender Angehöriger in die Teilnahme der Studie erforderlich sind. Aus diesen Gründen wurde in enger Zusammenarbeit und intensiven Gesprächen mit den pflegenden Angehörigen ihre Belastbarkeit zur Teilnahme an der Studie abgewogen und sensibel und empathisch auf deren Bedürfnisse eingegangen. Um zu gewährleisten, dass die Studienteilnahme für die pflegenden Angehörigen so wenig belastend als möglich ist, wurde die Erhebungsphase jeweils individuell nach den Wünschen der pflegenden Angehörigen ausgerichtet. Die Auswahl der Interviewzeitpunkte und -orte war dabei ebenfalls den pflegenden Angehörigen überlassen und fand demnach meistens in der Häuslichkeit statt (detailliert dargestellt in Abschnitt 9.4). Darüber hinaus stellt die Wahl der Methodik der vorliegenden Arbeit auch aus ethischen Aspekten das Mittel der Wahl dar, denn diese erlaubt eine „Synthese von therapeutischer Unterstützung und wissenschaftlicher Untersuchung“ (Wilz & Brähler, 1997, S. 7). Um alle forschungsethischen Standards der Universität Heidelberg einzuhalten, wurde für die Studie der Ethikantrag AZ Kief 2020 1/2 eingereicht, welcher am 04.12.2020 ohne Beanstandungen bewilligt wurde.

9.2 Rekrutierung

Da die beschriebene Personengruppe als schwer zu erreichen gilt (Wilz & Kalytta, 2012) und insbesondere das theoriegeleitete Interesse bestand, eine möglichst breite Personengruppe in das Projekt mit einzubinden, um der Heterogenität der Lebenswelten dieser Personengruppen gerecht zu werden, wurden unterschiedliche Rekrutierungsstrategien angewendet. Die Autorin war dabei mit der Herausforderung konfrontiert, pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz sowohl als teilnehmende Interviewpartner als auch Diaristen zu gewinnen.

Das hier dargestellte Dissertationsprojekt ist in das großangelegte und bundesweit durchgeführte Forschungsprojekt „Pflegenden Angehörigen von Menschen mit Demenz eine Stimme geben – Das Town Hall-Projekt“ (Wiloth et al., 2021) eingebunden. Das Town Hall-Projekt dient dabei als Ansatzpunkt der Rekrutierung, weshalb im Nachfolgenden die Rekrutierungsstrategie des Projektes beschrieben wird, um diese dann um die Rekrutierungsstrategie des Dissertationsprojektes zu ergänzen.

Indirektes Rekrutieren: Gatekeeper

Im Rahmen des Town-Hall-Projektes wurden pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz unter anderem mit Hilfe von „Gatekeepern“ (Bohnsack et al., 2011; Helfferich, 2011; Kruse, 2014; Mayring, 2015) rekrutiert. Als Gatekeeper werden dabei Multiplikatoren bezeichnet, die aufgrund ihrer Tätigkeiten (Fachpersonen in Tagespflegeeinrichtungen, ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten, Seniorenbüros) einen besonders guten Zugang zu pflegenden Angehörigen haben. Vorteil dieser Strategie ist der erleichterte Zugang zu pflegenden Angehörigen durch Vertrauenspersonen (Helfferich, 2011). Grundsätzlich muss bei diesem Vorgehen jedoch beachtet werden, dass Gatekeeper den Feldzugang nicht nur öffnen können, sondern das Feld auch selektieren (Reinders, 2016). Die hier beschriebenen Fachpersonen machten die pflegenden Angehörigen im persönlichen Kontakt und unter Zuhilfenahme von Informationsschreiben und Flyern auf das Forschungsprojekt Town Hall aufmerksam und motivierten zur Teilnahme. Im Vorfeld wurden die Multiplikatoren durch die Autorin über das Forschungsvorhaben und Einschlusskriterien aufgeklärt und über den gesamten Rekrutierungsprozess begleitet.

Indirektes Rekrutieren: Pressearbeit

Zusätzlich erfolgte die Rekrutierung innerhalb des Town-Hall-Projektes über Pressearbeit in den jeweiligen Kommunen. Dabei wurden regelmäßig niederschwellige Einladungen zur Teilnahme am Town-Hall-Projekt in der Presse geschaltet sowie Flyer und Plakate in der Öffentlichkeit platziert, um das Projekt in den jeweiligen Kommunen zu bewerben. Mit Hilfe von Multiplikatoren in den Kommunen wurden Einladungen und Informationen zur Teilnahme am Town-Hall-Projekt gezielt an öffentlich zugänglichen Plätzen ausgelegt, in denen ein großes Aufkommen der Zielgruppe herrscht (bspw. Arztpraxen, Apotheken, etc.). So konnten interessierte pflegende Angehörige von Menschen mit Demenz Kontakt zur Autorin bzw. dem Projektteam aufnehmen.

Direktes Rekrutieren:

Die Autorin begleitete den Großteil jener am Forschungsprojekt Town-Hall teilnehmenden pflegenden Angehörigen durch die gesamte Projektlaufzeit (Zeitraum von ca. zwölf Wochen), sodass hier bereits ein Zugang zu einem großen Sample an pflegenden Angehörigen bestand. Aus diesem Sample konnte die Autorin passende Personen zur Teilnahme am Dissertationsprojekt auswählen und diese im Rahmen einer persönlichen Anfrage für die zusätzliche Teilnahme am Dissertationsprojekt gewinnen.

Für die Rekrutierung passender Studienteilnehmender wurden im Voraus die in Tabelle 9.1 dargestellten Einschlusskriterien benannt.

Tabelle 9.1 Einschlusskriterien der Studienteilnehmenden

Indirektes Rekrutieren: Schneeballsystem

Teilnehmende pflegende Angehörige, die über die direkte Ansprache von der Autorin am Dissertationsprojekt rekrutiert wurden, haben Personen in ihrem engen Verwandten- und Bekanntenkreis angesprochen und für eine Teilnahme am Dissertationsprojekt geworben und motiviert.

Insgesamt wurden 17 Personen von der Autorin kontaktiert und als Studienteilnehmende angefragt. Zwölf dieser Personen waren an einer Studienteilnahme näher interessiert. Gründe für die Absage an der Teilnahme (Drop-Outs) waren dabei vor allem die Angst vor dem großen Zeitaufwand, welche in vielen Studien mit pflegenden Angehörigen eine wesentliche Rolle spielt (Andrén & Elmståhl, 2008; Ducharme et al., 2005; Wilz & Kalytta, 2012) und die Befürchtung, keine schönen Momente mit den Angehörigen im Alltag zu erleben. Insbesondere die hohe Belastung der pflegenden Angehörigen wird hierdurch deutlich. Auch die gewählte Methode des Tagebuch-Schreibens wurde von einigen angefragten pflegenden Angehörigen abgelehnt.

9.3 Studiensample

Final besteht die Stichprobe aus insgesamt zehn pflegenden Angehörigen, zwei interessierte Teilnehmende konnten aus privaten Gründen letztendlich nicht an der Studie teilnehmen (Drop-Outs).

Bei der Stichprobe handelt es sich um zwei Ehemänner und vier Ehefrauen, die ihre an Demenz erkrankten Ehepartner zuhause begleiten und um insgesamt vier Töchter, die ihre Mütter in unterschiedlichen Settings (zuhause bei der Tochter, zuhause bei der Mutter mit Unterstützung einer 24-Stunden-Pflegekraft und während des Übergangs in ein Pflegeheim) begleiten. Zum Zeitpunkt der Erhebung waren die teilnehmenden pflegenden Angehörigen zwischen 54 und 76 Jahre alt, der Durchschnitt lag bei 64,9 Jahren. Acht der Teilnehmenden waren verheiratet; eine Person ist geschieden und eine verwitwet. Alle Teilnehmenden haben Kinder. Die Hälfte (50 Prozent) haben einen Realschulabschluss, eine Person einen Volksschulabschluss, drei Personen (Fach-)Abitur und eine Person einen Hochschulabschluss.

Die an der Studie teilnehmenden pflegenden Angehörigen wurden durch ein Informationsschreiben und eine schriftliche Datenschutzerklärung über die Nutzung eines externen Transkriptionsbüros sowie den Umgang und der Speicherung der (personenbezogenen) Daten aufgeklärt. Offene Fragen wurden dabei in einem persönlichen Gespräch geklärt. Alle Teilnehmenden haben freiwillig den Datenschutzbestimmungen durch eine unterschriebene Einwilligungserklärung zugestimmt.

In Tabelle 9.2 sind die Merkmale der teilnehmenden pflegenden Angehörigen aufgezeigt. Weitere Angaben zu den soziodemographischen Daten der pflegenden Angehörigen und Menschen mit Demenz werden in Abschnitt 12.1 detailliert dargestellt.

Tabelle 9.2 Merkmale der teilnehmenden pflegenden Angehörigen

9.4 Interviewsetting

Bereits im telefonischen Erstkontakt mit den Interviewteilnehmenden wurde diesen die Entscheidung belassen, in welchem Setting und zu welcher Zeit das Interview stattfinden soll. Die Autorin handelte dabei nach dem Prinzip der Offenheit hinsichtlich der Wahl des Interviewortes und -zeit, sodass das Gespräch an einem Ort und zu einer Zeit stattfinden konnte, zu dem sich die Interviewpartner sicher und wohl fühlten. Aufgrund der zum Erhebungszeitpunkt (Spätjahr 2021 bis Frühjahr 2022) bundesweit vorherrschenden SARS-CoV-2-Pandemie wurden insgesamt zwei Gespräche telefonisch oder via Zoom-Konferenz geführt. Dies wurde je nach aktueller Infektionslage individuell vereinbart. Der Großteil aller Interviews wurde jedoch im Präsenz im häuslichen Umfeld geführt. Dies hatte nicht nur den Vorteil, dass sich die Interviewteilnehmenden in ihrem gewohnten Umfeld befanden, sondern stellte auch eine gegebenenfalls zum Interviewzeitpunkt notwendige Betreuung des Menschen mit Demenz sicher.

Der Ablauf war bei allen Treffen (annähernd) gleich: Zu Beginn fand ein informelles Gespräch zwischen der Autorin und dem jeweiligen Teilnehmenden statt, um dann im Anschluss das Tagebuch vorzustellen und dieses gemeinsam durchzugehen und eventuell aufkommende Rückfragen zu beantworten. Nach der Einwilligung in die Teilnahme wurde den pflegenden Angehörigen das Vorgehen während des Interviews ausführlich erklärt. So konnten die Interviewpartner größtmögliche Kontrolle über die Situation bewahren und fühlten sich sicher und wohl. Die Antworten auf die erzählgenerierenden Fragen des Interviews wurden mit Hilfe eines Diktiergeräts aufgenommen.

Die Gespräche dauerten im Durchschnitt 20 Minuten (Interview vor dem Tagebuch-Schreiben) und 30 Minuten (Interview nach dem Tagebuch-Schreiben). Nach etwa sechs bis acht Wochen erfolgte ein weiteres Interview, welches im Schnitt 20 Minuten dauerte. Die Interviews erfolgten in einem Zeitraum von August 2021 bis April 2022.