Die im vorangegangenen Kapitel erörterte und noch immer bestehende öffentliche Tabuisierung des Sterbens sowie das damit einhergehende Privatisieren und Verdrängen des Todes lassen sich mit der Hospizbewegung und der Palliative Care endlich etwas brechen. Grossen Einfluss dabei hatte die WHO in den 1980er Jahren, denn sie legte ein erstes umfassendes Konzept zu Palliative Care vor (Pleschberger, 2017, S. 34). Diese Definition und die damit einhergehend stärkere Ausdifferenzierung von Hospizarbeit in verschiedenen Ländern sowie in verschiedenen Formen, wie ambulant und stationär, führten dazu, dass das Sterben und der Tod zurück in die öffentliche Wahrnehmung gelangten. Wichtig dabei erscheint, nun nicht nur auf die medizinischen und pflegerischen Massnahmen und Behandlungen zu schielen, sondern die Begriffe Hospiz und Hospizarbeit genauer zu umreissen und diese gegenüber der Palliative Care verständlicher werden zu lassen. Zudem gilt es das Verhältnis zwischen Hospizarbeit und Sterbebegleitung bzw. Sterbehilfe zu klären. Das vorliegende Kapitel führt dies aus.

3.1 Paradigmenwechsel von Cure zu Care

Da sich die Palliative Care an den Menschen mit einer lebenslimitierenden Diagnose, ihren Bedürfnissen und der Unterstützung für sie und deren Angehörigen orientieren soll, gilt es einen Diskurs zu erwähnen, welcher einerseits für die Entwicklung der Hospizarbeit bzw. der Palliative Care und andererseits eigens für die Rolle der Sozialen Arbeit in Palliative Care essenziell ist. Gemeint ist die Entwicklung bzw. der Paradigmenwechsel von Cure zu Care.

Die Gründerin der Hospizbewegung, Cincerly Saunders, betonte stets, dass alles, was in der Hospizarbeit geleistet wird, mit persönlicher Fürsorge und Beziehung verbunden sein muss (1999, S. 16). So liegt es nahe, dass der Begriff «care», der aus dem Englischen stammt und sich mit «Sorge», «Fürsorge» bzw. «Sorgearbeit» übersetzen lässt, im pflegerischen und medizinischen Bereich für die Versorgung von Menschen am Lebensende wesentlich ist. Er ist gar im Kontext der Hospizarbeit als Gegenbegriff zur im Gesundheitssystem vorherrschenden «durchtechnisierten Apparatemedizin» zu verstehen, wie Junker & Lohner (2021, S. 121) treffend schreiben. Care bzw. Fürsorge bzw. Sorge-Arbeit ist in der Sozialen Arbeit ein fast immanenter Begriff. Wie Wendt ausführt, verweist Care auf die Konnotation von Sorge und Fürsorge zugleich (2011, S. 214). Der Ausdruck Care kann Lebenssorge (Klinger, 2018) oder Sorgsamkeit (Aulenbacher & Dammayr, 2014) bezeichnen. Sich um andere sorgen, sich um sich selbst sorgen, Hilfestellungen leisten und/oder eine solche für andere übernehmen, das alles ist Care-Arbeit.Footnote 1

Vorliegend geht es um den Care-Begriff, welcher sich, wie in Abschnitt 3.3 später ausgeführt, im Fachterminus «Palliative Care» befindet. Care nimmt allerdings nicht nur in Bezug auf das professionelle Wirken der Sozialen Arbeit, sondern auch im Hinblick auf die Interprofessionalität in der Betreuung von Menschen am Lebensende einen grösseren Stellenwert ein, als man ihm in den letzten Jahrzenten in anderen Handlungsfelder der Sozialen Arbeit, z. B. in der Jugendhilfe oder der Frühen Förderung, zuschrieb.Footnote 2

Dabei wird Care als gemeinsam gestaltete soziale Praxis verstanden, der signifikante Machtdifferenzen innewohnen (Conradi, 2001; Kohlen 2005). Kastenbaum (1977) führt aus, dass sich die Kritik, dass die medizinische Betreuung von Sterbenden allein nicht ausreiche, um ein ethisch würdevolles Sterben zu ermöglichen, bereits in den 1950er Jahren in den USA etablierte. Es dauerte fast 20 Jahre, bis 1970 diese Kritik erstmals eine breite Resonanz fand und Care in Bezug auf das Sterben diskutiert wurde. Cincerly Saunders führte den Ausdruck «Hospice Care» (Junker & Lohner, 2021, S. 123 in Anlehnung an Saunders, 1999) ein und versuchte damit der Komplexität der umfassenden Versorgung am Lebensende gerecht zu werden. Diese Diskussion führt sodann zu einem Paradigmenwechsel oder – im Englischen – zu einem «challenging shift» (Brosky, 2015)Footnote 3 von Cure zu Care, also von Heilung hin zu Fürsorge oder Sorgearbeit. Dieser Paradigmenwechsel kann auch im Zusammenhang mit dem gesellschaftlichen Wandel, welcher sich in den 1970er Jahren mit dem Fokus auf mehr Individualität und auch mit einer offeneren Haltung gegenüber dieser Individualität und Pluralität der Lebensstile zeigte, verbunden werden. Wie später ersichtlich, hatten die 1970er Jahren auch einen grossen Einfluss auf die professionstheoretische Entwicklung der Sozialen Arbeit.

Betrachtet man die theoretischen und praxisnahen Diskussionen um den Care-Begriff in der Sozialen Arbeit, so gilt es den Care -Begriff sich auf drei Ebenen zu manifestieren. Rerrich & Thiessen (2021, S. 48 f.) führen diese drei Ebenen wie folgt aus:

  • Care als Fürsorgebegriff/Sorgebegriff für Erziehungsarbeit und jegliche Betreuungs-/Begleitungsleistungen für andere, die sich auch in asymmetrischen Beziehungen darstellen; auch mit Fokus auf die Diskussion bezüglich Wertschätzung und Anerkennung;

  • Care als professionstheoretischer Begriff in der Sozialen Arbeit und für deren professionelles Handeln;

  • Care als Abgrenzungsbegriff für alles, was nicht Pflege, Medizin oder Seelsorge betrifft, sondern unter dem Sammelbegriff «Betreuung» gefasst werden kann.

Die Heilung von Krankheiten und damit der Aspekt von Cure ist zwar noch immer das Erfolgsmodell in der Medizin. Daran werden ihr Wirken und Können gemessen. Doch Cure tritt in Bezug auf die sozialen Berufe in den Hintergrund. Ist oder wird die Heilung nicht mehr realisierbar, so geht es um Fürsorge bzw. Sorge. Student et al. (2016/2020, S. 32) formulieren in Anlehnung an Brauswein (2015), dass sich durch die Hospize bzw. die Hospizarbeit eine «neue Fürsorgekultur für Schwerstkranke, Sterbende und ihre Zugehörigen» entwickelte (S. 12). Dieser Wandel von Cure zu Care lässt sich als ein Paradigmenwechsel lesen, welcher insbesondere für die Soziale Arbeit eine entscheidende Wende für ihre Tätigkeit bringt. Bei der Medizin oder, wie Colla & Krüger es in Anlehnung an Brückner (2011) formulieren, beim bio-medizinisch-technischen Verständnis steht «cure», die Heilung, an erster Stelle. Bei «care» steht, phänomenologisch betrachtet, die «Fürsorge» oder die «Sorge» im Zentrum – da spielt es in erster Linie keine Rolle, ob das Fürsorge zur Heilung oder eben Fürsorge auf dem letzten Weg bedeutet (2013, S. 257).

Für die Begleitung am Lebensende steht aber dieser Paradigmenwechsel von Cure zu Care als ein gewichtiger Marker, welcher dazu führt, dass die psychosoziale und spirituelle Begleitung stärker in den Vordergrund des professionellen Wirkens rücken. Die medizinische Versorgung bleibt zwar relevant, aber nicht zwingend in der führenden Rolle (ebd., 2013, S. 258). Dieser Paradigmenwechsel lässt sich auch nachskizzieren, wenn das Versorgungskonzept der Palliative Care, wie nachfolgend in Abschnitt 3.3 erläutert, nicht gleichbedeutend mit der letzten Lebensphase oder dem unmittelbaren Lebensende bzw. der Sterbephase verbunden wird.Footnote 4 Palliative Care kommt nicht nur dann zur Anwendung, wenn jemand sich in der letzten Phase des Sterbens befindet, sondern sie setzt ab der Diagnose der sog. Unheilbarkeit ein – und damit beginnt auch die Sorgearbeit in Form von Care.

Betrachtet man die Entwicklungen im Bereich Betreuung im Alter und somit z. B. die dort vorherrschenden normativen Vorstellungen über das Alter wie auch über das Älter-Werden, so zeigt sich, dass sich dies seit den 1970 Jahren ebenfalls stark gewandelt hat und sich durchaus Parallelen zur Entwicklung von Cure zur Care ziehen lassen. War es früher die Orientierung an einem defizitären Blickwinkel, so geht es heute um die Kompetenzorientierung und das Zugestehen der Individualität in jedem Altersabschnitt bzw. jeder Altersphase (Meyer, 2019). Care umfasst dann im Alters- und Pflegeheimbereich die kompetenzorientierte Betreuung von Beginn bis zum Lebensende und mit der Trauerarbeit gar noch für die Angehörigen darüber hinaus. Care wird so auch als etwas Prozesshaftes, Fortwährendes angesehen und sich in unterschiedlichen Phasen manifestierendes (Colla & Krüger, 2013, S. 258). Das Sterben entwickelt sich so zu etwas Prozesshaftem und erzeugt auch eine je individuelle Begleitung und Betreuung, es geht um individuelle Leistungen und das Ermöglichen von Lebensqualität oder – in den Worten von Saunders – «der Tugend des Wachens», welche die Sorgen und Nöte des Sterbenden und die Achtung vor denen gleichermassen erfasst und als eine Art «Wachen über jemanden» gelesen werden kann (2009, S. 39). Care im Sinne von Fürsorge kann vieles beinhaltet. «Eine ideale Arbeitsbeziehung in der Sozialpädagogik dreht sich auch nicht ausschließlich um eine konkrete Problemlage, sondern um Begriffe wie Freundschaft, Verantwortung, Subjektivität und auch Liebe» (Colla & Krüger, 2013, S. 267). Das ist vorliegend auch wichtig.

Diese soeben skizzierte Entwicklung lässt sich ebenso an der Terminologie «terminal care», «hospice care», «palliative care» und dem neuzeitlichen Begriff «supportiv care» bzw. «comfort care» skizzieren. Mit der sich im europäischen Raum ab den 1970er Jahren stark etablierenden Hospizbewegung wurde der Ausdruck «terminal care» sodann durch «hospice care» abgelöst (Student et al., 2016, S. 138; Saunders 1999). Die Begleitung unmittelbar am Lebensende stehender Menschen wurde durch die Betreuung und Begleitung sterbenskranker Menschen in unterschiedlichen Phasen und mit unterschiedlichen Bedürfnissen weiteretabliert. Es ging nicht mehr nur darum, Sorge unmittelbar am Lebensende zu leisten, der Sorgebegriff wird weiter gefasst und lehnt sich damit auch an die oben ausgeführte drei Ebenen an. Mit Palliative Care münden die Begleitung und Betreuung in ein noch umfassenderes Konzept mit Fokus auf Lebensqualität und Selbstbestimmung für Menschen mit unheilbaren Krankheiten noch lagen bevor der Tod unmittelbar bevorsteht. Der Ausdruck «comfort care» bezeichnet ebenfalls einen Übergang von kurativen Behandlungen hin zu einer auf Wohlbefinden ausgerichteten Versorgung (Steffen-Bürgi, 2017, S. 46), wobei dieser Begriff sich bei weitem in Fachdiskursen nicht durchgesetzt hat, teils auch, weil damit eine subjektive Bewertung in Bezug auf „comfort“ verbunden ist.

Wesentlich ist, dass sich Care und insbesondere Care-Aufgaben heute in verschiedenen Feldern durchgesetzt haben und als Teil einer öffentlichen Kultur des Sorgens, ohne zwingenden Paternalismus, aufgefasst werden – insbesondere in nicht ehrenamtlichen, sondern in Form einer professionellen und institutionell gestützten sowie geschützten Rahmung (vgl. dazu Brückner, 2021). Der Paradigmenwechsel von Cure und Care ist damit gerade in der Sozialen Arbeit vollzogen. Hospize und Palliativinstitutionen bilden zudem einen institutionellen Rahmen für Care-Arbeit am Lebensede.Footnote 5 Mit der Hospizarbeit bzw. der Palliative Care ist eine professionelle (Für-)Sorgekultur für Menschen am Lebensende und deren Angehörige verbunden, welche sich eben nicht mehr Heilung sondern am sich sorgen in einem professionellen Rahmen orientiert. Diese Sorge soll nun nachfolgend mit den entsprechenden Begrifflichkeiten konkretisiert werden.

3.2 Hospiz und Hospizarbeit

Das Wort Hospiz ist ursprünglich abgeleitet von dem lateinischen «hospicium» und bedeutet «Herberge». Im Mittelalter wurden sog. Hospize von kirchlichen Orden gegründet und mit dem Ziel geführt, Pilger und Wallfahrende auf der Durchreise zu beherbergen, ihnen eine Unterkunft sowie «Rast, Pflege und Stärkung» anzubieten (Student, 1999, S. 21; Colla 2011; Colla & Krüger, 2013). Diese Häuser kümmerten sich aber nicht nur um Wandernde, sondern damals schon um sterbenskranke Menschen, infolge der Kreuzzüge, aber auch bedingt durch die Entwicklung der Pest wurden Menschen am Lebensende beherbergt. Das «Selbstverständnis der Hospize im christlichen Mittelalter ergab sich, ebenso wie die Begründung des memento mori, aus biblischen Geboten» (Krüger, 2017, S. 27) – und diese Tradition hielt sich bis zum Beginn der Neuzeit. Dass es aber überhaupt einer Bewegung, wie derjenigen der Hospize, gelang, seit dem 11. Jahrhundert sich in Form von Häusern und später organisierten Institutionen zu halten, beschreibt Krüger zu Recht als eindrucksvoll. War es doch im Mittelalter schon auch so, dass Familien in sog. Grossfamilien zusammenlebten und aufgrund dieser Strukturen, welche ebenfalls Betreuungs- und Begleitungsfunktionen am Sterbebett übernahmen, nicht nötig, dass sich Einrichtungen wie Hospiz weiterentwickelten (ebd., 217, S. 62).Footnote 6

Menschen zu beherbergen und zu pflegen, sie vollumfänglich mit allen ihren Bedürfnissen zu versorgen, das bildet bis heute das Grundprinzip von Hospizen und Hospizarbeit. Das erste Hospiz, welches in diese Traditionslinie gehört und internationale Bekanntheit erlangte, wurde 1967 in Grossbritanniens Hauptstadt London eröffnet, und zwar von Cincerly Saunders. Sie gilt als eine der wichtigsten Gründungs- und Leitfiguren in der Hospizbewegung und war ausgebildete Ärztin, Krankenschwester und Sozialarbeiterin (Student, 1999, S. 21). Mit ihrem beruflichen Hintergrund stand sie ein für das später auch vorliegend als wichtig erachtete multiprofessionelle Wirken und Tätigsein im Bereich von Sterben und Tod. Die Medizin sei zwar wichtig, doch ihr allein gehöre keine Monopolstellung (Pleschberger, 2017, S. 36 in Anlehnung an Saunders, 1970). Etwa zur gleichen Zeit begann sich auch in den USA Elisabeth Kübler-Ross mit dem Sterben von Menschen intensiver auseinanderzusetzen und fokussierte dabei die letzten Wünsche und Bedürfnisse von am Lebensende stehenden Personen. Sie, als ausgebildete Psychiaterin, wagte das Vorhaben, in einer gesellschaftlich noch sehr konservativen Zeit Interviews mit Sterbenden zu führen und deren Wünsche und Bedürfnisse wissenschaftlich aufzuarbeiten und machte diese erstmals in Form eines Buches mit dem Titel «On Death and Dying» (1971) sichtbar. Darin konnte sie nicht nur aufzeigen, welche Phasen Menschen am Lebensende durchlaufen (Nichtwahrhabenwollen; Zorn; Verhandeln; Depression; Zustimmung; Hoffnung), sondern zugleich eine Tabuisierung aufbrechen, indem endlich über die Angst vor dem Tod systematisch gesprochen werden konnte.

Die Hospizbewegung war v. a. als Gegenbewegung zur zunehmenden Institutionalisierung des Sterbens zu verstehen. Hospize gelten zwar auch als Häuser doch sie verfügen über eine eigenständigen Organisationskulturen. Sie grenzen sich von Palliativstationen in dem Sinne ab, dass zwar eine medizinische Versorgung angeboten wird, aber nicht im gleichen Umfang, wie in einem Spital (Colla & Krüger, 2013, S. 260).

In der Medizin gilt der Tod noch immer als Niederlage, da die Gesundheit nicht wiederhergestellt werden kann. Diese Denkweise führt einerseits zu vermehrten Forschungsaktivitäten in der Medizin, um die Gesundheit so lang wie nur möglich erhalten oder wiederherstellen zu können und entsprechende Therapien dafür zu generieren: Gesundsein um jeden Preis, so lange wie möglich, Intensivmedizin und vollumfängliche Therapien bis zum Schluss. Borasio selbst sagt dazu, dass diese Entwicklung gar darin mündet, dass der Tod als Feind und das Eintreten als Niederlage angesehen wird (2016, S. 27). Auf der anderen Seite erstarkte so aber auch die Hospizbewegung, welche die Versorgung kranker und sterbender Menschen aus einer ganzheitlichen Perspektive betrachtet. Psychischen, physische und sozialen Bedürfnisse des Menschen am Lebensende werden als gleichwertig angesehen. Für diese ganzheitliche Betrachtung setzt sich allmählich auch ds Konzept «active total care» durch. Steffen-Bürgi bezeichnet es als in dem Sinne holistisch, in dem ein umfassendes Versorgungskonzept in Zentrum gestellt wird, dass sowohl individuelle wie krankheitsbezogene Bedürfnisse und Wünsche beachtet. Ein ressourcenorientiertes und zugleich gesundheitsbezogenes Arbeiten ermöglichst, sowie partizipative und selbstbestimmende Begleitung umsetzt (2017, S. 42). Diese ganzheitliche Betrachtung macht deutlich, dass die Hospizarbeit sich beziehungsgestaltend versteht, der medizinische Aspekte zwar vorhanden, aber nicht mehr in einer hegemonialen Stellung zu betrachten ist, sondern sich in das umfassende Konzept mit der ganzheitlichen Behandlung sowie der Pflege und Betreuung einfügt.

Hospizarbeit ist als Leitidee zu begreifen und kann daher institutionsunabhängig funktionieren. Das bedeutet, Hospizarbeit muss nicht zwingend in einem Hospiz oder in einer anderen Institution des Gesundheitswesens geleistet werden. Die Hospizarbeit gründet seit Beginn auf der Tatsache, dass es um die vollumfängliche und bedürfnisgerechte Unterstützung und Begleitung von Menschen am Lebensende geht; der Ort, wo das geleistet wird, war und ist auch heute noch sekundär. Gemäss Graf ist Hospizarbeit somit auch kein «in sich geschlossenes System, sondern entsprechend ihrem ideellen Ansatz nach allen Seiten offen» (2009, S. 16). Sie gründet auf folgenden vier Säulen:

  1. (1)

    psychosozialer Begleitung

  2. (2)

    spiritueller Begleitung

  3. (3)

    palliativer Pflege

  4. (4)

    palliativer Medizin

Diese vier Säulen verdeutlichen, dass der Mensch als Ganzes mit und in seiner Umwelt betrachtet wird – und zugleich, dass Hospizarbeit eine Tätigkeit ist, wo interprofessionelle Zusammenarbeit eine wichtige und eigentlich gar grundlegende Voraussetzung ist. Diese vier Säulen bildeten schon gemäss Student & Zippel (1987) die vier Dimensionen unseres Lebens und Sterbens ab und lassen sich in Verbindung mit Bedürfnissen und Wünsche weiterentwickeln, was wie folgt zu lesen ist:

  1. (1)

    (psycho-)soziale Dimensionen: Wunsch, nicht allein zu sterben, sondern in Geborgenheit.

  2. (2)

    spirituelle Dimensionen: Sinnfragen stellen zu können, Sinn des Sterbens thematisieren zu können und Ängste zu äussern.

  3. (3)

    psychische Dimensionen: letzte Dinge erledigen zu können, Offenheit und Unterstützung dafür zu erhalten und Ängste abzubauen

  4. (4)

    körperliche Dimensionen: keine Schmerzen oder andere gesundheitliche Beschwerden zu haben und/oder physisch leiden zu müssen

Auch in dieser Leseart zeigt sich: Die umfassende Begleitung ist zentral, womit wir wieder bei «total care» angelangt sind. Dieser Ansatz ist auch eine Antwort auf das 1967 von Cincerly Saunders konzipierte Konzept «total pain» (Junker & Lohner, 2013, S. 123), welches physische, psychische bzw. mentale und spirituelle Komponenten gleichermassen gewichtet. Jeffrey führte 2003 aus, dass das Konzept des «total pain», welches körperliche Schmerzen den seelischen und sozialen Komponenten in der Versorgung sterbender Menschen gleichstellt, als das Kernstück in der Versorgung am Lebensende gilt und damit zur Hospizarbeit gehört. Daran hat sich auch bis heute nichts geändert – und «total care» und «total pain» gelten als Maxime in der Begleitung von Menschen am Lebensende. Die Wahrnehmung der Leiden am Lebensende als «umfassende Schmerzen» eröffnet einen weiten Handlungsspielraum. Die kommunikativen Zugänge, das In-Erfahrung-Bringen von noch intakten Ressourcen, ungelösten Problemen oder das Filtern oder Ordnen von Gefühlszuständen gehören genauso zur Begleitung wie die medizinische und pflegerische oder spirituelle Versorgung (Müller, 2017, S. 408). Diese Betrachtungsweisen der Hospizarbeit mit dem Konzept «total pain» verlangt nicht zwingend danach, nach formalen Strukturen, wie den Orten, wo diese umfassende Versorgung stattfindet, zu suchen, sondern nach deren inhaltlichen Umsetzung. Es ist aber klar, dass Orte, wie ein Hospiz, diese Konzeption und damit die umfassende Begleitung umsetzen – und somit auch nach aussen sichtbarer wird, was am Lebensende für Leistungen erbracht werden.

Mittlerweile hat sich das Angebot der Hospizarbeit weiter ausdifferenziert zu ambulante Hospizdiensten, spezialisierte ambulante Palliativversorgung (SAPV) bzw. SAPPV (Fokus Pädiatrie) (Student et al. 2020, S. 33 f., Schütte-Bäumner, 2015). Zudem existieren auch sog. Tageshospize. Diese fokussieren auf die Entlastung und die Unterstützung der Klientel und deren Angehörigen im Alltag. Ein Aufenthalt in einem Tageshospiz ist möglich, ohne dass eine stationäre Unterbringung angezeigt ist (Colla & Krüger, 2013, S. 261). Hospizarbeit kann sich somit in unterschiedlichen institutionellen Facetten zeigen, ortsgebunden, aber auch ortsunabhängig umgesetzt werden.

3.3 Palliative Care

Eigentlich beginnt die Diskussion bereits vor der Begriffsbestimmung zu Palliative Care, denn die eigens gemachte Recherche zum Forschungsstand offenbart, dass Palliative Care einerseits als Begriff und andererseits als Konzept verstanden wird. Zudem ist mit der Entwicklung der Palliative Care ein Paradigmenwechsel im Gesundheitssystem eingetreten, welcher den Tod nicht mehr als Niederlage und als Versagen der Medizin ansieht, sondern als Teil eines umfassenden Versorgungskonzept, welches in einem frühen Stadium der Diagnose bis ans Lebensende greift. Der aus dem englisch stammende Begriff «Palliative Care» begann sich im medizinischen Bereich ab den 1980er Jahren durchzusetzen. Die weltweite Etablierung des Begriffs in der Medizin und darüber hinaus ist der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zu verdanken, welche 1980 erstmals und 2002 in Erweiterung folgende Definition von Palliative Care vorgelegt:

«Palliative care is an approach that improves the quality of life of patients and their families facing the problems associated with life-threatening illness, through the prevention and relief of suffering by means of early identification and impeccable assessment and treatment of pain and other problems, physical, psychosocial and spiritual.» (WHO, 2002)

«Palliativmedizin dient der Verbesserung von Lebensqualität der Patienten und ihren Angehörigen, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung konfrontiert sind. Dies geschieht durch die Vorbeugung und Linderung von Leiden mittels frühzeitiger Erkennung, hochqualifizierter Beurteilung und Behandlung von Schmerzen und anderen Problemen physischer, psychosozialer und spiritueller Natur.» (deutsche Übersetzung, DHPV, 2002)Footnote 7

Die Übersetzung in das Deutsche mit «Palliativmedizin» greift etwas kurz. Der Ausdruck impliziert eine starke Fokussierung auf das Medizinische. Graf (2009) ist zwar der Meinung, dass dennoch «die ganzheitliche Betreuung sterbender Menschen» mitgemeint sei, da sich der Ausdruck aus der Entwicklungsgeschichte der USA ergebe und die Hospizarbeit dort ebenfalls integriere (S. 15–16) – doch mit der Übersetzung wird erneut deutlich: Palliative Care wurde und wird in der Öffentlichkeit mit medizinischen Aspekten erörtert; man kann gar kritisch anmerken, teils darauf verengt. Diese Ansicht verstärkt sich noch, wenn man die Palliativstationen in den Spitälern und deren Tätigkeiten betrachtet. Colla & Krüger (2013) führen an, dass die Zielsetzung von Palliativstationen v. a. in der Schmerz- und Symptomlinderung wie auch -kontrolle liegt, damit Patientinnen und Patienten möglichst bald in eine häusliche Umgebung oder einen schmerzfreien Tod entlassen werden können (S. 260). Graf führt an, dass auf Palliativstationen die Versorgung der Menschen am Lebensende in erster Linie durch ärztliches Personal und die Pflege gewährleistet wird (2009, S. 17). Auch Heller (2000) führt aus, dass der Begriff Palliative Care es gerade für andere Berufsgruppen, wie jene der Sozialen Arbeit, schwieriger macht, sich zu etablieren. Die WHO hat mit ihrer begrifflichen Weiterentwicklung im Jahre 2002 einen wichtiger Meilenstein in der Öffnung der Begleitung am Lebensende für andere Professionen geschaffen.

«Addressing suffering involves taking care of issues beyond physical symptoms. Palliative care uses a team approach to support patients and their caregivers. This includes addressing practical needs and providing bereavement counselling. It offers a support system to help patients live as actively as possible until death.» (Who, 2002)

Bei der überarbeiteten Version – welche heute noch gilt – auffällt ist, dass die palliative Versorgung ein Team, bestehend aus unterschiedlichen Fachpersonen, bedarf, das sich gemeinsam um die schwerstkranke Person und ihr soziales Umfeld kümmert.Footnote 8 Folgt man diesem Begriffsverständnis, so kann in Anlehnung an Heller & Pleschberger formuliert werden, dass Palliative Care als ein umfassendes Versorgungskonzept gelesen werden kann, welches einen funktionalen Charakter bekommt und gleichzeitig mit einer Säkularisierung einhergeht (2015, S. 62–63). Es geht um physische, psychische, soziale und spirituelle Themen, welche alle für die sterbende Person und ihre Angehörigen bearbeitet werden müssen. In dem Sinne ist es auch folgerichtig, von Palliative Care als umfassendem Betreuungskonzept zu sprechen, welches auf die physischen bzw. krankheitsbedingten und die psychischen bzw. psychosozialen Aspekte am Lebensende gleichermassen setzt (Pleschberger, 2002; Buckley, 2002).

Die Definition der WHO beschreibt die Grundprinzipien von Palliative Care – und dahinter stehen verschiedene Umsetzungsaspekte für die in der Praxis tätigen Berufsgruppen. Durch den umfassenden Ansatz wird deutlich, dass nicht eine defizitorientierte Sichtweise, sondern eine ressourcenorientierte Perspektive, welche auf die individuellen Möglichkeiten der Person am Lebensende und deren Selbstbestimmung verweist, favorisiert wird. Menschen, die mit dem eigenen Lebensende konfrontiert sind, erleben nicht nur physischen Schmerz. Sie erleben mentale und psychosoziale Schmerzen, insbesondere, wenn der soziale Tod dem physischen Tod vorausgeht (vgl. Abschnitt 2.1). Der soziale Ausschluss infolge der Krankheit, aber auch der Ungewissheit kann stärkere Leiden auslösen als der eigentliche Schmerz infolge der Krankheit. Das Prinzip des «total pain» findet in der Palliative Care damit auch seine Beachtung, nämlich im subjektiven Erleben (Steffen-Bürgi, 2017, S. 42). Diese umfassende Ansicht von Palliative Care wird auch heute vom Schweizerischen Bundesamt für Gesundheit (BAG) und von der Schweizerischen Ärztegesellschaft (FMH) propagiert.

«Palliative Care umfasst die Betreuung und die Behandlung von Menschen mit unheilbaren, lebensbedrohlichen und/oder chronisch fortschreitenden Krankheiten. Sie (…) beinhaltet medizinische Behandlungen, pflegerische Interventionen sowie psychologische, soziale und spirituelle Unterstützung am Lebensende.» (BAG, 2011/2014)Footnote 9

Die Schweiz orientiert sich nicht nur an dem umfassenden Verständnis der WHO, sondern legt diesem auch nationale Leitlinien (2011) zugrunde. Es wurde festgestellt, dass unterschiedliche Auffassungen von Seiten der verschiedenen Professionen, welche in die Begleitung am Lebensende involviert sind, über die Definition von Palliative Care existieren. Diese Unterschiede müden nicht selten in Diskussionen um professionelle Zuständigkeiten. Die nationalen Leitlinien sollen dafür sorgen, dass die Begleitung von hoher Qualität ist, diese sicherstellt und Kooperationen fördert. In den Leitlinien finden sich deshalb auch klare Prinzipien betreffend die Erbringung von Leistungen in der Palliative Care (2011, S. 11 f.):

  • Gleichbehandlung aller Menschen

  • interprofessionelle Vernetzung und Kontinuität

  • offene und angemessene Kommunikation

  • Unterstützung bei Entscheidungsprozessen

  • Einbezug des persönlichen Umfelds

  • Multidimensionalität in körperlicher, psychischer, sozialer und spiritueller Dimension

Mit der Nennung dieser Prinzipien versucht die Schweiz, auch das Wirken der Professionen in der Palliative Care näher zu fassen und dieses auf der methodischen, systemischen bzw. sozialen und individuellen Ebene zu verankern. Die Leitlinien können als wichtige Grundlagen angesehen werden, doch sie führen noch nicht zu der nötigen Konkretisierung, welche die Soziale Arbeit braucht um ihr Wirken sichtbarer zu machen. 

3.4 Verhältnisklärung von Palliative Care und Hospizarbeit

Wie in den vorangegangene Begriffsdefinitionen ersichtlich, meinen Hospizarbeit und Palliative Care nicht zwei grundsätzlich verschiedene Konzepte. Die beiden Begriffe können als miteinander verwoben betrachtet werden – und die nicht zuletzt auch teils mediale undifferenzierte Berichterstattung sorgt dafür, dass nicht immer trennscharf gesagt werden kann, wie Hospizarbeit zu Palliative Care steht oder wo Unterschiede liegen. Student et al. (2020, S. 32) zeigen auf, dass Hospizarbeit sich aus der Bürgerbewegung etablierte. Der Fokus liegt mehrheitlich auf der psychosozialen Begleitung und Unterstützung, die teils auch ehrenamtlich erbracht werden kann. Bei der Palliative Care liegt der Fokus auf der medizinischen schmerz- und symptomlindernden Behandlung, gefolgt von sozialer und psychologischer Unterstützung. Zusammen seien sie «fester Bestandteil im Gesundheitswesen» (S. 32) und werden teils auch unter dem Fachbegriff «Hospiz und Palliative Care» gemeinsam verwendet. Mit dem in Abschnitt 3.1 erwähnten Paradigmenwechsel von Cure zu Care öffnet sich eine Möglichkeit, für eine «neue Kultur des Helfens» (Colla & Krüger, 2013, S. 257). Es entsteht ein Raum, der die Fürsorge und die psychosoziale sowie die spirituelle Begleitung in das Zentrum stellt, gerade dann, wenn Heilung nicht mehr möglich ist. Hospizarbeit un Palliative Care sowie deren Umsetzung bedingen sich und stehen wechselseitig in Verbindung. Student et al. (2020) meinen dazu, es könne «in der Summe von hospizlich-palliativer Versorgung» (S. 34) gesprochen werden.

In der aktuellen Forschungsdebatte sowie auch im schweizerischen Diskus setzt sich allerdings der Begriff «Palliative Care» als umfassendes und verständliches Konzept durch (Gfs, 2017). Darunter werden alle Begleitungs- und Unterstützungsangebote, seien diese stationär, teilstationär oder ambulant mitumfasst. Gemäss der nationalen Strategie im Jahre 2012, sollen sich mit dem Begriff Palliative Care auch alle darin tätigen Professionen gleichermassen angesprochen fühlen (NFP, 67). Es stehen Versorgungs- und Begleitungsaufgaben am Lebensende gleichermassen im Fokus. Um diesem umfassenden Blick gerecht zu werden, habe ich mich vorliegend für den Begriff Palliative Care entschieden.