Würde man das Naturkapital und intakte Ökosysteme ebenfalls als essentiellen Teil des materiellen Wohlstands und der gesellschaftlichen Wohlfahrt – neben Produktivkapital und „Sozialkapital“ sowie dem intangiblen Kapital guter Regierungsführung – betrachten, wäre im Endergebnis das bisherige, soziale und ökologische Folgekosten ausklammernde externalisierende Denkgebäude klassischer Wirtschaftsberichterstattung einer Wandlung unterzogen, wie in Kap. 1 dargelegt. Der Prozess einer so erweiterten Wirtschaftsberichterstattung ließe sich als „soziale Innovation“ verstehen.

Solche Innovationen treten in der Regel nicht einfach auf, sie sind von Akteuren und deren Verhalten abhängig, und sie könnten auch scheitern. Protagonisten können sich beispielsweise einem übergroßen Aufwand oder, um die politikwissenschaftliche Terminologie zu benutzen, Veto-Playern gegenübersehen. Im Endergebnis entscheidet eine größere Zahl an Einflussfaktoren darüber, ob sich gerade im Bereich ansonsten konservativ strukturierter statistischer Systeme Neuerungen umsetzen. Entsprechend ist die Berücksichtigung von Ökosystemleistungen (ÖSL) nicht allein von wissenschaftlicher Expertise abhängig, sondern letztlich von unterschiedlichen Akteuren mit ihren Logiken, Interessenlagen und Ressourcen sowie den sich abzeichnenden Allianzen. So ist die Identifizierung, Berechnung und Berücksichtigung von ÖSL ein vielschichtiger sozialer Prozess (der nicht allein eine naturwissenschaftliche oder statistische Frage ist) und als solcher zu betrachten. Im Rahmen des Bio-Mo-D Projektes (https://bio-mo-d.ioer.info/) wurden deshalb Untersuchungen vorgenommen, welche Organisationen und Akteure mit ihren jeweiligen Interessenlagen eine Rolle spielen. Diese ‚Stakeholder-Analyse‘ lässt sich nach zwei Phasen differenzieren:

  • Phase der Zusammenstellung von ÖSL-Informationen für Berichtssysteme („Angebotsseite“),

  • Phase des Wissenstransfers und der gesellschaftlichen Aufnahme dieser Informationen („Nachfrageseite“).

6.1 Strukturierung des Politikfeldes nach Phasen

Je nach Phase des Innovationsfeldes spielen somit bei der Modernisierung der Wirtschaftsberichterstattung in Deutschland unterschiedliche Akteure eine Rolle: Für die Zusammenstellung von relevanten, beispielhaften ÖSL in physischen und fallweise monetären Größen sind beispielsweise Stakeholder wichtig, welche über relevante Potenziale vorhandener Datenbestände oder der Datengewinnung verfügen.

Generierung von ÖSL-Daten und Accounting

Über längere Zeit waren demnach in Deutschland wissenschaftliche Einrichtungen die „Treiber“ einer Integration, es ging um die argumentativen Begründungen, dann immer mehr um die Klassifikation der Ökosysteme, technikgestützte Erhebung und Bereitstellung von Daten, unterstützt von staatlichen Forschungsprojekten (BMUV/BfN, BMBF, BMEL u. a.). Wobei das Umweltministerium mit seiner politischen Orientierung an wesentlichen internationalen Übereinkommen, einer institutionellen Absicherung der „Agenda“ und hinsichtlich einer finanziellen Unterstützung eine tragende Rolle einnahm und bis heute innehat. Unterstützt wird der Prozess vom BfN als zentralem Akteur für die Intensivierung der ÖSL-Integration, der durch die Vergabe von Forschungsaufträgen und Konferenzen die wissenschaftliche Fundierung sowie die Gewinnung und Bereitstellung von Daten vorantreibt. Zusammen mit dem Statistischen Bundesamt, welches nun abgesichert durch den Beschluss des UN Statistical Committees, die Verantwortung für die operative Umsetzung des SEEA-EA trägt, füllt dieser Verbund die Erweiterung der Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (UGR) mit Leben (und Daten).

Faktisch war – zumindest in Deutschland – in dieser ersten Phase weitgehend nur die „Angebotsseite“ von ÖSL-Informationen aktiv.Footnote 1 Zwar gab es bereits früher Versuche, die recht umfangreichen Forschungsarbeiten zu „Naturkapital Deutschland“ einschließlich wichtiger Ökosystemleistungen auf die politische Agenda zu bringen – siehe UFZ-Studie „Werte der Natur aufzeigen und in Entscheidungen integrieren“ (Naturkapital Deutschland – TEEB DE 2018). Aber es scheint, dass eine Erkenntnis aus vorangegangenen Bemühungen in anderen Ländern, die Umweltökonomischen Gesamtrechnungen (SEEA) in ihrer Entwicklungsphase bereits mit ihrer potenziellen Nutzungsphase in Beziehung zu setzen, noch zu wenig Beachtung gefunden hat, wie auch folgendes Zitat verdeutlicht: “But, in most cases, those who set up the accounts are not those who use the resulting information” (Ruijs et al. 2019, S. 715).

Wissenstransfer und Informationsnutzung

In der Phase des Wissenstransfers sind insofern Stakeholder bedeutsam, welche sich als „Bannerträger“ für eine Beachtung der nationalen Accounting-Ergebnisse respektive der betrieblichen Nachhaltigkeits-Bilanzierungen in Entscheidungsprozesse verstehen, oder als „Pioniere“ und „first mover“ gelten können. Für eine stärkere Nachfrageorientierung nach ÖSL-Informationen – als Basis einer höheren Wertschätzung von Biodiversität in der Gesellschaft – sind außerdem Stakeholder wichtig, welche generell die Kommunikation verbreitern können. Dabei soll jedoch nicht unberücksichtigt bleiben, dass es auch Akteure und Interessen gibt, die eine stärkere Berücksichtigung von Biodiversität und ÖSL, besonders in monetärer Form, ignorieren oder sogar blockieren wollen. Darauf wird später noch kurz eingegangen.

In der Hauptgruppe der „politisch-administrativen Akteure“ würden einige Ministerien und Behörden offensiv Ergebnisse aufgreifen: BMUV für die geplante neue nationale Biodiversitätsstrategie und BMWK für eine Weiterentwicklung des Jahreswirtschaftsberichts. Weitere Ministerien und das StBA selbst würden Ergebnisse wie den Ökosystematlas und Informationen zu Ökosystemleistungen in wichtigen Ökosystemen auch in die bundesdeutsche Nachhaltigkeitsstrategie sowie den Fortschrittsbericht dazu einbeziehen, der als begleitende Daten- und Indikatorengrundlage zum Stand nachhaltiger Entwicklung in Deutschland fungiert.

Stakeholder auf der Nachfrageseite sind im Bereich der NGOs vor allem der WWF, der Deutsche Verband für Landschaftspflege (DVL) oder der Deutsche Forstwirtschaftsrat e. V. (DFWR). Die Fortschritte bei der Erfassung von Ökosystemleistungen durch wissenschaftliche Institutionen wie die Thünen-Institute, das BfN oder das Deutsche Zentrum für Integrative Biodiversitätsforschung (iDiv), nicht zuletzt in monetärer Form, bilden eine Basis für die anstehende Ausbreitung von ÖSL und gesellschaftlicher Honorierung von Leistungen, vor allem durch Bauern und Forstwirte zum Erhalt intakter Ökosysteme und von Biodiversität, da sie nun immer mehr als „öffentliche Güter“ verstanden werden können. Diesen Punkt hat auch die Zukunftskommission Landwirtschaft (ZKL) in ihrem Bericht von 2021 aufgegriffen und weist auf die Bedeutung einer Honorierung der Landwirte für Maßnahmen zum Erhalt von Biodiversität und ÖSL hin (Zukunftskommission Landwirtschaft 2021).

Daneben gibt es immer wieder von wissenschaftlicher Seite induzierte Kooperationen mit potenziellen Nutzern neuer Informationsgrundlagen. Ein exemplarisches Beispiel ist ein von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt gefördertes Projekt, bei dem Waldbesitzer sich mit Ökosystemleistungen auseinandersetzen.Footnote 2 Ein weiteres Beispiel ist das Projekt Eklipse, das sich das Ziel gesetzt hat, wissenschaftliches Wissen so aufzubereiten, dass Regierungen, Institutionen und Unternehmen fundierte Entscheidungen in Bezug auf biologische Vielfalt und ÖSL treffen können. Auch das Projekt BioAgora zielt darauf, die Interaktion zwischen Wissenschaft und Politik sowie weiteren Stakeholdern zu verbessern. Es bildet zugleich die wissenschaftliche Säule des geplanten EU Knowledge Centre for Biodiversity (KCBD). Unabhängig davon verfolgte in den letzten Jahren die Umweltstiftung Michael Otto in ihrer Reihe ‚Hamburger Gespräche für Naturschutz‘ auch eine höhere Wertschätzung und Inwertsetzung der Wälder als Lebensgrundlage.

Hieraus resultierte immerhin ein von wissenschaftlichen und einzelnen staatlichen Akteuren ausgehender Reformdruck auf die offizielle Wirtschaftsberichterstattung.

Insgesamt haben Auswertungen zu Staaten, die Naturkapitalbilanzen bereits erstellt haben, einer Interaktion mit der Öffentlichkeit und den potenziellen Informationsnutzern einen wichtigen Stellenwert beigemessen: „They show that mainstreaming should be considered as a process to engage policy-makers, civil society and the private sector, and to demonstrate the long-term benefits of protecting natural capital“ (Ruijs et al. 2019, S. 715).

Dieser kommunikative Austausch auch zwischen statistischen Ämtern und gesellschaftlichen Adressaten ihrer Informationen impliziert und erleichtert nicht nur die Wahrnehmung von wechselseitigen Perspektiven, sondern ermöglicht häufig auch eine Interessenkooperation und damit im Laufe der Zeit eine gemeinsame Interessenallianz der Integration und Nutzung von Informationen über die Qualität von heimischen Ökosystemen und deren Leistungen für die Gesellschaft. Diese Annahme wird beispielsweise durch Erfahrungen mit dem ‚Natural Capital Committee‘ in Großbritannien oder Pilotprojekte im Rahmen der sog. NCAVES -Initiative mit Unterstützung der Weltbank, zu denen auch Staaten wie Mexiko gehörten, untermauert.

6.2 Relevante Advocacy Coalitions

Mit fortschreitender Institutionalisierung auf der Seite des Informationsangebots rückt der Fokus in diesem Politikfeld stärker in Richtung der Informationsrezeption und der Akzeptanz von Informationen über Ökosysteme und deren Leistungen. Jetzt stellt sich immer mehr die Frage, wer von den Stakeholdern in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft SEEA-EA Ergebnisse (einschließlich anderer ÖSL-Kennziffern von Forschungseinrichtungen und Behörden) aufgreift sowie als Multiplikator oder Information-Broker – im Sinne einer wissenschaftlichen oder kommerziellen Informationsplattform und Beratung – agieren könnte. Stakeholder und die gesellschaftliche Nachfrageseite sowie internationale Berichtsverbindlichkeiten werden immer wichtiger und führen so nach und nach zu einer Anwendung durch Staat und Unternehmen (im Sinne von Mainstreaming sowie Verfeinerung/Optimierung).

Bei Interessenkonstellationen im Bereich des staatlichen SEEA-Ecosystem Accountings sind folgende Entwicklungen absehbar: Soweit über bisherige Forschungsarbeiten erkennbar, zeichnen sich Akteurskonstellationen ab, welche ähnliche Interessen an einer stärkeren Informationsgewinnung und – teils in anderen Konstellationen – auch Nutzung der Informationen über Biodiversität, ÖSL und Naturvermögen haben. Sie müssen sich indessen bislang nicht kennen oder sogar eine „bewusste“ Allianz bilden: Der Begriff von Advocacy Coalitions (siehe v. a. Sabatier und Weible 2007; Weible et al. 2010) im politikwissenschaftlichen Sinne reicht hier von handfesten und abgestimmt vorgehenden Interessenverbünden bis hin zu Akteurskonstellationen, wo zwar ähnliche Interessen verfolgt würden, man diese jedoch nicht im Rahmen einer gemeinsamen und abgestimmten Strategie vorantreibt.Footnote 3

Interessenallianzen aus Sicht des Bio-Mo-D Projektes reichen von unmittelbar im Integrationsprozess involvierten Akteuren der Forschungslandschaft (meist in Verbindung mit Auftraggebern wie BMUV, BfN, UBA und BMBF, fallweise auch dem BMEL mit dem Thünen-Institut für internationale Waldwirtschaft und Forstökonomie) über statistische Behörden zu weiteren staatlichen Ministerien wie BMWK und BMZ (was hier auf den ersten Moment erstaunlich erscheinen mag, jedoch ist die eingebundene GIZ mit der Bedeutung von Ökosystemleistungen seit Längerem vertraut). Darüber hinaus könnte eine solche Advocacy Coalition im Prinzip NGOs und Stakeholder bzw. Organisationen wie den Deutschen Verband für Landschaftspflege oder Mitglieder der Zukunftskommission Landwirtschaft einschließen.

Hervorzuheben ist, wie nah an diesem Thema auch einige Umweltorganisationen arbeiten, u. a. über ein generelles Interesse an Umweltmanagementsystemen, so etwa das Netzwerk für nachhaltiges Wirtschaften B.A.U.M. e. V., der NABU oder der WWF.

Einige dieser NGOs haben sogar die EFRAG beraten, mithin WWF, NABU und die Capitals Coalition. EFRAG wiederum hat die Inhalte für die CSRD der EU-Richtlinie (mit) erstellt. Hier ist insbesondere der Praxispartner des Bio-Mo-D Projektes wichtig, die Value Balancing Alliance (VBA). Zu nennen sind darüber hinaus die Mitglieder des EU-Align-Projekts.Footnote 4

Insgesamt ist das Feld der Politikberatung in dieser Übergangsphase insofern interessant, weil die politische Meinungsbildung unterstützt wird – beispielhaft sei auf den Sustainable Finance Beirat der Bundesregierung, den Rat für Nachhaltige Entwicklung oder den parlamentarischen Beirat für Nachhaltige Entwicklung verwiesen.

Protagonisten aus der Medienlandschaft sind im Hinblick auf ein Agenda-Setting zur Einbeziehung von Naturvermögen in Berichtssysteme von Bedeutung, sie würden sich im weiteren Sinne durchaus einer interessenmäßigen Koalition zurechnen lassen. Exemplarisch zu nennen aus dem Multiplikatoren- und Netzwerk-Bereich sind u. a. Journalistinnen und Journalisten (Tagesspiegel Background-Informationsdienst zu „Sustainable Finance“ oder beim Handelsblatt im Bereich Nachhaltige Investments) und das Netzwerk-Forum Biodiversität (NeFo). Die Deutsche Umwelthilfe (DUH) führte frühzeitig eine Reihe von Informationsveranstaltungen über Ökosystemleistungen durch. Ähnlich ausgerichtete Stiftungen, die bereits jetzt einen Beitrag zur Verbreiterung der Diskussion über Ökosystemleistungen und Biodiversität leisten, sind die Bertelsmann-Stiftung, die Umweltstiftung Michael Otto u. a.

Relevant wird immer mehr der Green-Finance Sektor, der damit beginnt, Biodiversitätsrisiken in den eigenen Risikomanagementsystemen zu berücksichtigen. Eine bislang unterschätzte Rolle spielt das internationale „Network for Greening of the Financial System“ (NGFS 2022), ein weltweites Netzwerk von Zentralbanken und Finanzaufsichtsbehörden. Es hat im März 2022 einen Bericht über die Risiken des Biodiversitätsverlustes nicht nur für einzelne Unternehmen oder Branchen, sondern auch über die Finanzstabilität von Staaten veröffentlicht. In Deutschland ist das Thema inzwischen aufgegriffen und wird in einer Abteilung „Green Finance“ der Deutschen Bundesbank thematisiert. Zu einer Advocacy-Coalition, welche ein Interesse an der Weiterführung des ÖSL-Konzepts haben könnte, ließe sich auch der bereits erwähnte Sustainable Finance Beirat der Bundesregierung zählen.

Abb. 6.1 gibt einen aktuellen Einblick in die Forschungsarbeiten (Auszug) aus der Stakeholder-Modellierung im Projekt Bio-Mo-D.

Abb. 6.1
figure 1

Potenzielle Stakeholder-Allianzen: Interesse an Nationaler Ökosystemrechnung und ÖSL-Informationen

Nimmt man den Handlungsbereich einer erweiterten Unternehmensberichterstattung im Zuge der Corporate Sustainability Reporting Directive der EU hinzu, so erscheinen unmittelbar zusätzliche Akteure im Blickfeld, insbesondere die Value Balancing Alliance, das EU-ALIGN-Projekt, Biodiversity in Good Company e. V. und in Verbindung hierzu auch die Deutsche Industrie- und Handelskammer (DIHK). Inzwischen besteht eine gegenseitige Wahrnehmung von Aktivitäten.

Bemerkenswert ist die Vorreiterrolle der schweizerischen Rückversicherungsgesellschaft Swiss Re, welche frühzeitig ein erstes Indikatorenset zur Einschätzung der Biodiversitätsrisiken in verschiedenen Ländern erstellt hat (Swiss Re Institute 2020).

Von den internationalen Organisationen kann ebenfalls die OECD einer Advocacy Coalition zugeordnet werden, hier über den Argumentationsstrang einer erweiterten Wohlfahrtsberichterstattung (Stichwort „Well-being Economy“), mit einer recht aktiven Vertretung in Deutschland, dem OECD-Centre Berlin.

Was zukünftige Allianzen/Interessenkonstellationen anbelangt, so könnten und müssten Institutionen der Landschafts- und Raumplanung Abnehmer von amtlichen Informationen der Ökosystemrechnung sein (Grunewald et al. 2022b); in einigen Fällen ist das ÖSL-Konzept bereits bekannt, bspw. in der Gartenamtsleiterkonferenz (GALK e. V.) auf kommunaler Ebene.

Nicht zu vergessen sind Akteure aus dem Bereich Wissenschaft und Forschung, die einer Advocacy Coalition offen gegenüberstehen bzw. teilweise bereits angehören, wie insbesondere die Projekte SELINA auf europäischer oder iDiv auf deutscher Ebene.Footnote 5 Darüber hinaus sind Forschungsinstitute wie das IÖW, das ZALF und das deutsche ESP-Netzwerk nur einige wissenschaftliche Stakeholder, welche mit Konzepten der Ökosystemerfassung, -bewertung und -implementierung bereits arbeiten. Die Forschungslandschaft selbst erweiterte sich immer mehr, da sich parallel auch die Rahmenbedingungen für die Befassung mit ÖSL und deren Nutzung verbessern. Die überwiegende Mehrzahl dieser F&E-Projekte ist angehalten, sich mit gesellschaftlichen Stakeholdern in Verbindung zu setzen und partizipative Forschungsprozesse zu verfolgen. Dies gilt auch für Projekte, welche sich um Methoden oder Integrationsprozesse von biodiversitätsbezogenen Informationen in Unternehmensprozesse befassen (ALIGN- Projekt etc.).

6.3 Neue Herausforderungen

Zugleich steigt in Wissenschaft und damit assoziierter Praxis die Anzahl von sog. „Real-Laboren“, die zwar das Themenfeld Biodiversität und Ökosystemleistungen sowie auch Naturkapital in die Breite bringen, zugleich aber eine Vielzahl von Einzel- und Insellösungen hinter sich herziehen, deren Relevanz nach Auslaufen solcher Vor-Ort-Projekte noch offen ist: Sowohl was den erwünschten „Skalierungseffekt“ betrifft wie den erwünschten „nachhaltigen Wissenstransfer“, hat dies aber noch keine übergreifende Strategie der ÖSL-Implementierung in zentrale Entscheidungsprozesse auf Politik- oder Unternehmensebene induziert.

Die steigende Zahl von internationalen wie nationalen Forschungs- und Entwicklungsprojekten zur Erfassung und Bewertung von Ökosystemleistungen führt inzwischen erkennbar in ein Dilemma: Einerseits ist Methodenvielfalt aus Gründen des wissenschaftlichen Fortschritts und einer pluralen Forschung hilfreich, als demokratisches Grundprinzip im Sinne einer Freiheit der Wissenschaft ist sie auch konstitutiv verankert. Andererseits führt der Methodenpluralismus insbesondere bei der monetären Bewertung von Ökosystemleistungen leicht zur Fraktionsbildung unter den Akteuren, problematischer noch zu einem inkompatiblen Weg: Wenn man sich hier nicht auch an den internationalen Beschlüssen vor allem des UN Statistik-Committees und dem Global Biodiversity Framework 2022 der Convention on Biological Diversity sowie den Bestrebungen der EU-Kommission für ein Ökosystem-Accounting orientiert, würde eine Vielfalt an unterschiedlichen, methodisch induzierten Ergebnissen zu Leistungen der Ökosysteme die weitere Akzeptanz und somit Implementierung erschweren. Als worst case kann eine wissenschaftliche Uneinigkeit dann den gesamten Prozess einer amtlichen Ökosystembilanzierung nicht nur verzögern, sondern generell durch fehlende Akzeptanz bei anderen Stakeholdern unterminieren.Footnote 6

6.4 Spiegelbild einer Kontroverse – seltene Konstellationen

Abschließend soll noch kritischen Stimmen Raum gegeben werden, die insbesondere eine Monetarisierung von Ökosystemleistungen und häufig auch bereits den Begriff des „Naturkapitals“ ablehnen.

Versteht man die Modernisierung von Wirtschaftsberichterstattung als einen sozialen, von Akteuren gestalteten und beeinflussbaren Innovationsprozess, so lässt dies gerade nicht auf eine garantierte Implementierung schließen. Dies zeigt eindrücklich der lange Vorlauf einer Ergänzung des BIP um andere Fortschrittsindikatoren im Kontext der langjährigen ‚Beyond GDP‘-Diskussion. Interessant sind die Konfliktlinien, welche einerseits innerhalb von Organisationen auftreten und zu internen Kontroversen führen können, anderseits aus politisch nicht richtungsgleichen Organisationen parallel kommen. So gibt es Indizien, dass beispielsweise innerhalb des Parteispektrums von Bündnis90/Die Grünen konträre Einschätzungen zum Stellenwert monetärer Bewertungen von Ökosystemleistungen existieren. Die Grüne Bundestagsfraktion befürwortet eine erweiterte Sicht auf Wohlstand durch Einbeziehung von Naturkapital, die Heinrich-Böll-Stiftung betreibt eine konträr argumentierende Website. Bedenken gegen Berichtssysteme mit monetären Indikatoren zur Degradierung der Natur in nationalen oder unternehmerischen Berichtssystemen kommen außerdem von Teilen des NABU, des WWF, dem Denkkreis der Freien Demokraten, dem BDI-Umfeld, Teilen der Linken, der Gemeinwohlökonomie und von Vertretern aus der Psychologie.

Social Tipping Points

Das Politikfeld der Integration von ÖSL ist ein ideales Beispiel für einen „Social Tipping Point“, hier in positiver Analogie zu den häufig negativen naturwissenschaftlichen Tipping Points.Footnote 7 Erstens kann der Prozess, die Akteure und die zunehmenden internationalen Abstimmungen zur Einbeziehung von ÖSL und Naturvermögen in gesellschaftliche Berichtssysteme als ein sich entwickelndes Politikfeld angesehen werden: Es verfestigt sich über Ziele, internationale Verbindlichkeiten, neue Regelungen bis hin zu Standardisierungsabkommen und rechtlichen Vorgaben auf EU-Ebene. Auch werden mehr Akteure auf den Plan treten und die Diskussion um Schlussfolgerungen aus neuen Unternehmensbilanzierungen und Ecosystem-Accounts wird sich in den kommenden Jahren stärker entfalten. Gelingt die Integration von ÖSL in hinreichendem Maße, verstehen wir dies nicht nur als eine soziale Innovation, sondern als Chance für einen „Social Tipping Point“. Gemeint ist hiermit, dass vergleichsweise kleine Interventionen sich selbst verstärkende Feedbacks auslösen und etablieren können, welche in der Folge und über die Zeit einen qualitativen Systemwandel mit sich bringen – hier des Denkens im Kontext von Biodiversität als zentralem Bestandteil nicht nur des Naturschutzes, sondern von gesellschaftlichem Wohlstand. „A tipping point is where a small intervention leads to large and long-term consequences for the evolution of a complex system, profoundly altering its mode of operation“ (Lenton et al. 2022). Gegenwärtig besteht die Chance, dass Akteure aus dem Wissenschafts- und Statistikbereich hierzu maßgeblich einen Transformationsbeitrag leisten könnten.