1 Einführung

Lastenräder waren über Jahrzehnte ein fester Bestandteil des Straßenbilds und wichtiger Bestandteil des Geschäftsmodells von Wirtschaftsakteuren und sind zwischen ca. 1950 und 2010 (fast) vollständig aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden (siehe Kap. 3). Ein Lastenrad ist flexibel einsetzbar, kostengünstig, energiesparend und einfach zu nutzen. Diese Vorteile stechen in Zeiten des Klimawandels, steigenden Energiepreisen und wachsenden Ansprüchen an Liefergeschwindigkeiten erneut deutlich hervor. Dieses Kapitel gibt eine Übersicht über die Wiederkehr des Lastenrads im gewerblichen Bereich. Einen umfangreichen Blick auf den Cargo Bike Boom, eher im privaten Sektor, bieten (Poscher-Mika und Ghebrezgiabiher 2018).

Die Wiederkehr von Lastenrädern und Radlogistik wird gern als die Renaissance der Radlogistik bzw. des Lastenrads bezeichnet. Bestehendes Wissen, Praktiken und Technologien werden wiederbelebt, weiterentwickelt und an die Anforderungen und Bedarfe der neuen Zeit angepasst.

2 Nie wirklich weg, aber in der Nische versteckt

Lastenräder und Radlogistik sind aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwunden. Über Jahrzehnte waren sie im Straßenbild der Städte nahezu nicht zu sehen. Dabei war es nicht so, dass die Räder physisch verschwunden sind und nicht mehr gefertigt wurden. Es ist auch nicht der Fall, dass Lastenräder nur noch die Spielwiese von ein paar wenige Ökologiebewegte waren. In bestimmten Regionen und Einsatzfeldern hat das Fahrzeug die Zeit überdauert und damit auch einen Grundstein für die aktuelle Renaissance gelegt. In Deutschland sind besonders drei Einsatzbereiche zu nennen, in denen Lastenräder dauerhaft für gewerbliche Zwecke genutzt wurden.

Auf den morgendlichen Straßen der Städte sieht man häufig Zusteller:innen für Zeitung und Briefe, die mit dem Lastenrad ihre Arbeit verrichten. Es kann auch gut sein, dass das Rad so aussieht, als ob es inzwischen einige Jahre im Einsatz ist. Das ist nicht weiter verwunderlich, sind doch Lastenräder in diesem Logistiksektor durchgängig im Einsatz gewesen. Kurze Distanzen zwischen den Stopps, geringes Gewicht und Volumen bei den Einzelsendungen waren und sind hier sinnvolle Einsatzbedingungen.

Von der Deutschen Post ist aus dem Nachhaltigkeitsbericht 2019 bekannt, dass die Flotte 27.000 Stück beträgt (DPAG 2019). Daneben war und ist der Lastenradeinsatz bei den Logistiktöchtern der regionalen Verlagshäuser und ihrer Zeitungs- und Postzustellung sowie bei privaten Postunternehmen lang etablierte Praxis. Eine genaue Flotten- bzw. Marktgröße ist jedoch aus öffentlichen Quellen nicht bekannt. Es kann aber auch hier von einer erheblichen Flottengröße ausgegangen werden. Gruber und Rudolph (2016) schätzten den Bestand auf 30.000 Stück.

Ein zweiter Sektor mit durchgehender Lastenradnutzung sind innerbetriebliche Transporte. Auf großen Firmen- und Produktionsgeländen und auch auf den Flächen von Veranstaltungs- und Messeorganisationen war dieses Transportmittel nie verschwunden. Häufig einfach gestaltete, robuste Modelle wurden über Jahre und Jahrzehnte als funktionales Transport- und Personenbeförderungsmittel eingesetzt und sind auch heute dort noch zu finden. (Gruber und Rudolph 2016) schätzten den Bestand auf 10.800 Stück.

Ein dritter Bereich sind Fahrräder für Senior:innen und Personen mit gesundheitlicher Beeinträchtigung. Diese Fahrräder sind häufig als Dreirad ausgeführt, um einen stabilen Stand auch bei langsamen Geschwindigkeiten zu sichern. Weiterhin verfügen viele Modelle über einen Korb o. ä. um Einkäufe und kleinere Gegenstände zu transportieren. Da diese im Fassungsvermögen und Ladegewicht über konventionelle Gepäckträger hinausgehen, ist die Bezeichnung Lastenrad für diese Fahrzeuge möglich. Weiterhin zu erwähnen sind Fahrradrickschas, auch Velotaxi genannt (Abb. 4.1), die bereits in den frühen 2000ern in deutschen Städten zur Personenbeförderung (besonders in touristischen Segmenten) in einigen Städten zu finden waren.

Abb. 4.1
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Velotaxi für den Personentransport. (Foto: ŠJů; Creative Commons 4.0; Quelle: wikimedia.org)

Wenn man den Blick über die Grenzen Deutschlands weitet, so sind in Europa weitere Einsatzfelder ersichtlich. In Dänemark und den Niederlanden sind Lastenräder sowohl für den Personentransport wie in Teilen auch im gewerblichen Bereich seit Jahrzehnten etabliert. Einige, auch auf dem deutschen Markt inzwischen fest etablierte Marken und Hersteller, haben in diesen Ländern ihren Ursprung und Heimatmarkt. Die Klassiker Christiania und Bullitt sind hier Beispiele (Abb. 4.2 und 4.3). Von einem umfangreichen Einsatz von Lastenrädern in der Logistik ist außerhalb von Radkurieren in diesen Ländern vor den 2010er-Jahren auch nichts bekannt. In Kopenhagen hat der erste lokale Radlogistiker seinen Dienst in den 2020er aufgenommen.

Abb. 4.2
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Bullit Lastenrad. (Foto: Herzi Pinki; Creative Commons 4.0; Quelle: wikimedia.org)

Abb. 4.3
figure 3

Christiania Lastenrad. (Foto: Daniele Zanni, Creative Commons 3.0; Quelle: wikimedia.org)

Zu Beginn der 2010er-Jahre gab es in Europa eine breite Vielfalt an Lastenrädern und -anhängern. Viele der Modelle waren jedoch Kleinserien und Spezialräder. Einige Modelle wurden bereits in relevanten Stückzahlen abgesetzt, waren aber auf dem deutschen Markt kaum vertreten und zu erwerben. Eine gute Übersicht der Modelle, die um die 2010er herum am Markt verfügbar gewesen sind, gibt es auf der Seite nutzrad.de. Die letzte Aktualisierung der Webseite ist anscheinend Ende das Jahres 2016 vorgenommen wurden. Damit zeigt diese Seite sehr gut den Stand der Technik zum damaligen Zeitpunkt auf.

Die Lastenradtechnik steckte, verglichen zu den heutigen Modellen, noch in den Kinderschuhen. Eine elektrische Unterstützung ist bereits bei einigen Modellen vorgesehen, jedoch noch nicht weit verbreitet. Mittelmotoren, die besonders bei 2-rädrigen Modellen beliebt und verbreitet sein, sind kaum vorhanden. Die Lastenräder sind nahezu ausschließlich auf Basis von herkömmlichen Komponenten des Fahrradsektors aufgebaut und die Nutzlast beschränkt sich damit mehrspurigen Modellen überwiegend auf ca. 150 kg. Das maximale Ladevolumen ist hier auch auf ca. 1 m3, selten 1,5 m3, begrenzt.

Der Einsatz von Lastenrädern erfolgte bereits damals in fast allen Wirtschaftsbereichen der Stadt. In den jeweiligen Großstädten konnten die gewerblich genutzten Lastenräder außerhalb der Schwerpunktbereiche Kurierdienstleistungen und Paketlogistik tlw. mit einer Hand abgezählt werden (Assmann 2016). Beliebt waren in dieser Zeit einspurige Modelle im Kurierbereich und es erfolgten erste Einsätze und Erprobungen in der Logistik und der Zustellung von Paketen. Für die Logistik mit höheren Anforderungen an Ladevolumen und Nutzlast wie dem Paketbereich waren die damals vorhandenen Fahrzeuge jedoch nur bedingt geeignet und konnten häufig auch der hohen Dauerbelastung im Logistikeinsatz nicht standhalten.

3 Die Renaissance beginnt

Die Renaissance der Lastenräder und Radlogistik beginnt mit den frühen 2010er-Jahren in Europa. Seitdem lassen sich Aktivitäten in der Logistik, bei Verbänden und der Wissenschaft erkennen, die darauf abzielen Einsatzpotenziale des Lastenrads im gewerblichen Bereich zu erkunden, zu erschließen und das Transportmittel für Gewerbe und Logistik bekannt zu machen. Eine wesentliche Motivation dahinter war es Lösungen für der Herausforderungen des urbanen Wirtschaftsverkehrs zu finden.

Die Renaissance ist eng verbunden mit dem Start der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Themenfeld. Einen guten Einblick bietet eine Recherche auf der Datenbank sciencedirect.Footnote 1 Die ersten beiden wissenschaftlichen Veröffentlichungen sind in den 2000er zu finden. Beide befassen sich mit Brennstoffzellen in Lastenrädern und stellen keine logistische Bearbeitung dar. Das Paper von Browne et al. (2011) stellt dort eine der ersten Veröffentlichung dar, welche Lastenräder in einem logistischen Einsatzszenario auf der letzten Meile untersucht. Die Autoren stellen hier anhand der Auswertung eines Pilotversuches dar, dass Lastenräder wirtschaftlich eingesetzt werden können und dabei Verkehr und Emission einsparen. Sie führen darüber hinaus auch das neue Konzept eines Micro-Consolidation-Center in der letzten Meile ein. Dies ist ein Umschlagsort nah des eigentlichen Zustellgebiets, an dem Sendungen von LKWs aus dem Zulauf auf Lastenräder für die Zustellung umgeladen werden können. Dieses MCC ist der Vorläufer für viele nachfolgende Mikro-Hub und Mikro-Depot Projekte und Piloten. Eine der ersten wissenschaftliche Veröffentlichung aus dem deutschsprachigen Raum war (Lenz und Riehle 2013).

Seit dem Jahr 2014 ist in dem Feld von Lastenrädern und Radlogistik ein, wenn auch auf geringem Niveau, relevantes Forschungsgeschehen vorzufinden. Ebenso mit Beginn der 2010er verzeichnet die wissenschaftliche Arbeit zu urbaner Logistik und City Logistik nennenswerte Einträge. Die Befassung mit Radlogistik gliedert sich damit ein in ein zunehmendes akademisches Interesse zur urbanen Logistik und neuen Lösungsansätzen sowie einem besseren Verständnis und Planung dieser.

In der deutschen Wissenschaftslandschaft und den Diskurs in der Fachwelt waren die Veröffentlichungen rund um das Projekt „Ich ersetze ein Auto“ und seine Nachfolgeprojekte von hoher Bedeutung. Die Veröffentlichungen haben zu der Zeit zum einen eine sehr gute Basis zum Verständnis des Themenfelds gegeben (Gruber 2015; Gruber et al. 2015) (Anmerkung: Zwei der Autoren sind auch Herausgeber des Buchs) sondern durch eine breite und eingängige Öffentlichkeitsarbeit und -wirkung viel Aufmerksamkeit und Bewusstsein für die Potenziale von Lastenräder im gewerblichen Einsatz erzeugt. In den folgenden Jahren war eine breite Aktivität bei wissenschaftlichen Projekten zur Radlogistik zu verzeichnen, die sich häufig um den Einsatz von Lastenrädern in Verbindung mit Micro-Hubs drehten. Wissenschaft und Wissenschaftsförderung war an dieser Stelle ein Anstoß zur Erprobung des neuen Transportmittels und zur Erhöhung und Verbreiterung des Wissens.

Auf europäischer Ebene wurden Lastenräder und Radlogistik mit dem EU-geförderten Projekt „cyclelogistics – moving europe forward: 2011–2014“ bekannt. Ein relevanter Output ist der Bericht „Potential to shift goods transport from cars to bicycles in European cities“ (Reiter et al. 2013) in dem berechnet wird, dass sich 51 % der motorisierten Fahrten mit Gütertransport in der Stadt durch Lastenräder ersetzen lassen. Daraus wurde schnell, dass jede zweite Fahrt in der Stadt mit Lastenrädern durchgeführt werden kann. Dahinter steckt eine kommunikative Stärke, die von Aktivisten, Wirtschaft wie auch Wissenschaft in den folgenden Jahren als Referenz für das Potenzial von Lastenrädern genutzt wurde. Die EU-geförderten Projekte cyclelogistics ahead und CityChangerCargoBike führten bis zum Jahr 2022 die europäische Vernetzung und den Wissensaustausch der in diesem Projekt initiiert wurde erfolgreich weiter fort.

Auf europäischer kann als entscheidend die Gründung der European Cycle Logistics Association im Jahr 2014 angesehen werden, die sowohl als Netzwerk- und Lobbyorganisation tätig wurde. Mit den European-Cycle-Logistics-Konferenzen in den Jahren 2014, 2015, 2017, 2018 und 2019 bot sie zudem die erste Konferenzreihe mit dezidiertem Fokus auf die Radlogistikbranche. Als Netzwerkplattform diente hier vorher (und bis heute noch) das International Cargo Bike Festival, welches seit 2012 stattfindet. Es ist als Treffpunkt der Lastenradbranche fest etabliert, jedoch mit weniger starkem Fokus auf die Radlogistik sondern auch auf die private Nutzung.

Die europäische Vernetzung spielte auch für die Etablierung der Radlogistik eine entscheidende Rolle. Die zu diesem Zeitpunkt bereits in einigen europäischen Städten wie Cambridge, Oxford, Paris etablierten Unternehmen mit dezidierter Radlogistik wurden als Good Practice beschrieben und kommuniziert. Sie bildeten so auch eine Inspiration und Blaupause für Start-ups und Unternehmen in Deutschland.

Die breite Aufmerksamkeit in Deutschland für Lastenräder als alternatives Transportmittel im Logistikeinsatz wurde zu Beginn durch das Projekt „Lasten auf die Räder“ des VCD Deutschland und auch durch zwei bekannte initiale Umsetzungen erzielt. Ab dem Jahr 2014 lieferte das Berliner Start-Up VelogistaFootnote 2 Biokisten, Paketsendungen, Bürobedarf und andere Waren in der Stadt ausschließlich mit Lastenrädern aus. Für den Pakettransport bei großen Logistikdienstleistern wurde ab dem Jahr 2012 mit der Umsetzung von zunächst einem Mikro-Hub, ab dem Jahr 2015 von vier Mikro-Hubs durch UPS in der Innenstadt von Hamburg Aufmerksamkeit erzeugt. Hier wurden Wechselbrücken an zentralen Orten aufgestellt, von denen aus Lastenräder und teilweise auch Personen mit Sackkarren Gewerbe und Privatpersonen in unmittelbarer Nähe zu den Hubs belieferten (Pfaue 2016).Footnote 3 Tab. 4.1 gibt einen Überblick zu den Startpunkten der Renaissance des Lastenrads und der Radlogistik.

Tab. 4.1 Startpunkte der Radlogistik-Renaissance

4 Die Radlogistik nimmt Fahrt auf

In der oben dargestellten Anlaufphase der Radlogistik wurde gezeigt, dass Lastenräder ihren Platz im Wirtschaftsverkehr und der Logistik in urbanen Räumen finden können. Eine der Barrieren für die weitere Etablierung in der Logistik stellte jedoch die vorhandene Lastenradtechnologie dar (Assmann 2016; Rudolph und Gruber 2017). Die zu der Zeit vorhandenen Lastenradmodelle konnten nicht die Anforderungen der Logistikbranche, besonders der Paketzustellung, in Bezug auf die notwendige Nutzlast, das Ladevolumen und die Zuverlässigkeit der Komponenten im Dauereinsatz mit hohen Kilometerleistungen erfüllen. Die Lastenradtechnik war bis dato noch nahezu ausschließlich dem Fahrradsegment entnommen und vorwiegend an die Nutzung im privaten Bereich angepasst.

Seit der 2. Hälfte der 2010er-Jahre ist ein rapides Innovationsgeschehen in der Radlogistik zu verzeichnen. In dieser Phase machten sich viele Unternehmer:innen auf den Weg, Lastenräder oder Komponenten zu entwickeln, welche den hohen Anforderungen des täglichen Einsatzes bei Gewerbe- und Logistikakteuren entspricht. Seit 2015 haben sich entsprechend Daten des Branchenverbands RLVD (Abschn. 4.5) allein in Deutschland mehr als 15 Unternehmen neu gegründet bzw. einen eigenen Geschäftsbereich etabliert, um Lastenräder oder Anhänger für Gewerbe und Logistik zu entwickeln. Hinzu kommen weitere Unternehmen zur Fertigung von Aufbauten und Fahrzeugkomponenten sowie zum Service rund um das Rad, die sich nicht so eindeutig erfassen lassen. In der Branche lässt sich jedoch im generellen seit 2015 ein ausgeprägtes Gründungsgeschehen erkennen, das auch mit immer neuen Angeboten an Lastenrädern, Komponenten, Dienstleistungen und Geschäftsmodellen einhergeht.

Im gleichen Zeitraum entstehen in mehreren deutschen Städten Unternehmen des Typus Radlogistiker. Dies sind Start-Ups, die Güter ausschließlich oder überwiegend mit Lastenrädern transportieren oder auch klassische Radkurierunternehmen, welche ihr Geschäftsfeld erweitern und ausbauen. Die Geschäftsmodelle zum Einsatz von Lastenrädern sind bereits da sehr divers, von klassischer Kurierlogistik über Pakettransporte, Biokisten bis zu Pharma- und Stückguttransporten ist eine hohe Vielfalt zu erkennen.

Ein wesentlicher Enabler für die Innovation in der Radlogistik war die steigende Verfügbarkeit von bezahlbaren, leistungsstarken und flexiblen Batteriesystemen, welche wiederum durch die weltweit stark wachsenden Nachfrage nach E-Fahrzeugen befördert wurde (Thielmann et al. 2020) sowie die kontinuierliche Verbesserung von E-Antrieben für Pedelecs. Die kontinuierliche Entwicklung und Verbesserung beider Technologien ermöglicht flexiblere Designs und höhere Fahrzeuggewichte. Beides ist notwendig, um die Ansprüche der Anwender an mehr Ladevolumen, höhere Nutzlasten und zuverlässigere, robustere Fahrzeugtechnik zu erfüllen. Ersichtlich wird dieser Entwicklungsprozess in der Modellklasse, der inzwischen so benannten, schweren Lastenräder.

Logistiklastenräder, auch Schwer-Lastenräder genannt, sind seit der 2. Hälfte der 2010er am Markt bekannt. Seitdem hat sich eine breite Modellvielfalt verschiedener Hersteller etabliert, um unterschiedliche Ansprüche von Kunden- und Logistiksegmenten entsprechen zu können (Abb. 4.4 und 4.5). Logistiklastenräder haben ein zulässiges Gesamtgewicht von mehr als 300 kg. Das Ladevolumen kann, stark abhängig von Modell und Hersteller, bis zu 3 m3 betragen. Seitdem sich diese Fahrzeuge im Vertrieb und Verkehr befinden, ist auch auf Seiten der Anwender ein deutlich steigendes Interesse, sowie eine zunehmende Einflottung zu verzeichnen. Die Anwender befinden sich vorwiegend im Logistik-, im Service-, im öffentlichen Sektor und Handwerks-Bereich.

Abb. 4.4
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Lastenrad der Firma Vowag

Abb. 4.5
figure 5

Lastenrad der Firma ONOMOTION GmbH. (Foto: ONOMOTION)

Die Entwicklung von schweren Lastenrädern ging, und geht auch immer noch, einher mit der Anpassung der Komponenten und der Entwicklungs- und Fertigungsstruktur. Für die schweren Lastenräder sind viele Hersteller nach Eigenauskunft den Weg gegangen, Lastenräder entsprechend der Standards der Automobilindustrie zu entwickeln und auch, zu mindestens einige, Komponenten aus dem Motorrad und Kfz-Bereich mit höheren Lastbereichen einzusetzen. Es hat sich damit ein neues Segment innerhalb des Fahrradbereichs herausgeprägt, dass zwischen Fahrrad- und Kfz-Branche steht.

Die Abgrenzung zwischen leichten und schweren Lastenrädern ergibt sich auf Basis der Anfang 2020 veröffentlichten DIN 79010 zu Lastenrädern (Kap. 2). Die darin dargestellten Prüfanforderungen gelten nur für Lastenräder bis zu einem zulässigen Gesamtgewicht von 300 kg. Als der DIN-Arbeitskreis seine Arbeit aufnahm, war der Trend zu Lastenrädern für den Gewerbe- und Logistikeinsatz weder absehbar, noch waren relevante Fahrzeuge dafür am Markt. Im Rahmen der Konsultation der Norm hatte sich der Markt jedoch bereits rasant gewandelt, sodass einführend dem Normtext vorangestellt wurde, dass die Norm explizit auch schwere Lastenräder ermöglicht. Der aktuelle und im Januar 2020 begonnene Prozess für eine einheitlich europäische Lastenradnorm hat diesen Prozess aufgegriffen und nimmt nun die relevante Unterscheidung in leichte und schwere mehrspurige Logistiklastenräder vor.

Einen großen Schritt in der Professionalisierung und Organisation wurde im Jahr 2018 mit der Gründung des Radlogistik Verband Deutschland e.V. getan. Der Verein von ursprünglich 23 Gründungsmitgliedern hat sich seitdem als sowohl als Lobbyorganisation wie als Netzwerkplattform der Branche fest etabliert. Die Mitgliederschaft bildet mit Händlern, Herstellern, Anwendern, Beratung, Software, Forschung u. a. Akteuren die breite der Branche ab. Prominentes Aushängeschild ist die jährlich stattfindende Nationale Radlogistik Konferenz (RLVD 2023). In Europa und weltweit stellt sie aktuell die einzige, regelmäßige Veranstaltung zur Radlogistik dar.

Seit dem Jahr 2021 erhebt der RLVD zu Jahresbeginn die Branchendaten und veröffentlicht den Branchenreport. Für das Jahr 2020 konnte in der ersten Ausgabe der Verkauf von 10.000 Lastenrädern und -anhängern für den Logistikeinsatz sowie von 76 Mio.€ Umsatz in der gesamten Radlogistikbranche ermittelt werden. Ausgehend von den Nischenmärkten 10 Jahre zuvor, stellte dies ein solide Basis dar. Im Jahr 2023 hat der RLVD auf ein lang bestehendes Bedürfnis der Branche nach einer Standardisierung von Aufbauten und Wechselcontainern reagiert. Die Anwenderempfehlung RLVD-001 gibt für fest montierte Aufbauten einen Maßrahmen für die Befestigung von Aufbauten auf dem Lastenradrahmen vor.

Lastenräder wurden mit Beginn der Renaissance besonders auf Ebene der Bundesländer und teilweise Kommunen gefördert. Die Förderbedingungen hinsichtlich der berechtigten Antragssteller:innen, der Förderhöhen, Förderdauern und weiterer Nebenbedingungen sind jedoch jeweils unterschiedlich ausgeprägt. Die ausgeprägte Vielfalt an unterschiedlicher Förderung (eine Übersicht gibt es hier: https://www.cargobike.jetzt/tipps/cargobike-kaufpraemien/), die vorwiegend auch die private Nutzung fokussiert, wurde für den gewerblichen Bereich mit der BAFA Bundesförderung beendet, die es bundesweit einheitlich ermöglicht eine Kaufförderung zu beantragen. Seit dem Jahr 2018 können Lastenräder bei juristischen Personen bundeseinheitlich gefördert werden. Dies geschah zuerst mit mäßigem Erfolg im Rahmen der Kleinserienrichtlinie und wurde zum Jahr 2021 neu aufgesetzt. Seit der Förderung zum 01. März 2021 ist ein sehr großes Interesse an der Förderung zu verzeichnen. Mit der neuen Richtlinie wurde das zuvor geltende Mindestvolumen von 1 m3 abgeschafft. Damit besonders auch kleinere Lastenräder wie Long-Johns förderfähig, die in gewerblichen Sektoren Einsatzpotenziale bieten.

Gegen Ende das Jahrzehnts sind Lastenräder und Radlogistik in der Bundespolitik angekommen. Das zeigt nicht nur das Förderprogramm, vielmehr wurden Lastenräder auch vom damaligen Bundesverkehrsminister Andreas Scheuer aktiv in die Außendarstellung des Ministeriums eingebunden (vgl. Abb. 4.6). Verbunden damit war die Zielstellung des Ministers, einen relevanten Anteil urbaner Lieferverkehre mit dem Lastenrad zu absolvieren. Andreas Scheuer sprach hier von 20 % (BMVI 2019) und 30 % (Behrensen 2021). In das strategische Planungsdokument zum Radverkehr, den Nationalen Radverkehrsplan (NRVP 3.0) hat dieses Ziel jedoch keinen Eingang gefunden. Dem Einsatz von Lastenrädern im Wirtschaftsverkehr wurde in diesem Dokument jedoch erstmals viel Raum eingeräumt. Eines von neun Leitzielen ist: Lasten- und Wirtschaftsverkehr nutzt das Fahrrad. Eine Übersicht zu den Kernereignissen der Renaissance bietet Tab. 4.2.

Abb. 4.6
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Bundesverkehrsminister mit Lastenrad. (Foto: Tom Assmann)

Tab. 4.2 Kernereignisse der Renaissance der Radlogistik

5 Aktueller Status der Radlogistik

Zur Beschreibung des Status Quo der Radlogistik wird ein Blick auf die aktuellen Marktdaten der Radlogistik geworfen, wobei sowohl der Branchenreport der Radlogistik 2023 eingesehen wird als auch erste Ergebnisse des Förderprojekts iKnowRadlogistik (Braun et al. 2023).

Zunächst zum Branchenreport, der im Jahr 2024 bereits das dritte Jahr in Folge die junge Branche der Radlogistik durchleuchtet und quantifiziert hat. Teilgenommen haben bundesweite Akteure der Radlogistik, wobei hier vorbehaltlich kleine und mittelständische Unternehmen sowie weitere Einrichtungen teilgenommen haben. Es wurden keine Daten von Logistiksystemdienstleistern erfasst.

Was der Report deutlich zeigt – die Branche wächst bereichsübergreifend (vgl. Tab. 4.3). In der Branche sind von 2021 auf 2022 über 42 % mehr Beschäftigte eingestellt worden. Zusätzlich ist eine Erhöhungen von rund 46 % im Umsatz zu verzeichnen. Die erfasste Zahl der produzierten Räder hat sich im gleichen Zeitraum mehr als verdoppelt.

Tab. 4.3 Entwicklung der Radlogistikbranche, auf Basis von. (Schüte et al. 2023)

Ein differenzierter Blick auf die Akteure der Branche benötigt zunächst eine Klassifizierung, denn die Themenbereiche sind divers. Neben der Kerngruppe der Radlogistik: den operativen Unternehmen der Logistikdienstleister und Kurierfahrer:innen sowie den Herstellern von Fahrzeugen, Komponenten und Zubehör bestehen viele weitere Geschäftsfelder: Dienstleistungsangebote, Handel, Beratung, Service, Systemdienstleistungen, Finanzierung – das Ökosystem rund um die Radlogistik ist breit aufgestellt.

Das im Januar 2023 gestartete Projekt iKnowRadlogistik, welches noch bis Ende 2024 im Rahmen des Nationalen Radverkehrsplans durch das Bundesministerium für Digitales und Verkehr gefördert wird, hat sich zum Ziel gesetzt, diese Bandbreite an Akteuren zu ermitteln, aufzuarbeiten und georeferenziert auf einer bundesweiten Wissenslandkarte darzustellen (https://www.radlogistikatlas.de/). Ergänzend werden Handlungsempfehlungen für Städte und Gemeinden aber auch für Anwender:innen, die Wirtschaft, Politik und Verwaltung erstellt, welche als Planungshilfen die großflächige Implementierung von Radlogistik erleichtern sollen.

Der Stand der systematischen Marktrecherche hat ermittelt, dass aus den Bereichen der lokalen Radlogistiker, Stadtkuriere und Subunternehmer/Servicepartner für Logistikdienstleister über 100 Unternehmen bundesweit vorliegen. Nicht (vollständig) betrachtet wurden bislang die Speditionen oder Netzwerklogistikdienstleister, die Systemdienstleister und die Vermittler/Vermittlungszentrale von Aufträgen. Diese über 100 Unternehmen bespielen unterschiedlichste Geschäftsfelder wie KEP-Dienste, Lebensmittelauslieferung, Service und Wartung, Dokumententransport, Pharma- und Medizinische Transporte aber auch Kuriervermittlung.

Darüber hinaus wurden auch die Fahrzeughersteller recherchiert, welche – bereits beschrieben als die Renaissance – viele Neugründungen und Innovationen in den letzten Jahren aufweisen. In der Bundesrepublik werden zum aktuellen Forschungsstand Lastenfahrräder von 47 Unternehmen hergestellt. Es gibt bei diesen einige Firmen, die vorwiegend für den gewerblichen Bereich produzieren (ca. 27 Hersteller) aber auch eine Vielzahl von Firmen, deren Lastenräder sich auch an private Kund:innen für den Transport von beispielsweise Einkäufen, Kindern oder Haustieren richten. Die Vielzahl von möglichen Modellen kann dem Kap. 1 entnommen werden. Besonders bei den Herstellern von Fahrradanhängern zeigt die Recherche, dass eine Vielzahl von Unternehmen vorliegt, welche Anhänger für den privaten Bereich herstellen. Im überwiegend oder reinen gewerblichen Bereich liegen aktuell 13 Hersteller vor.

Die Analyse der Standortwahl der Unternehmen zeigt, dass in elf Bundesländern mindestens ein, in den meisten Fällen jedoch im Schnitt drei Unternehmen vorliegen. Einzig Mecklenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz und das Saarland sind nach bisherigen Recherchen ausgenommen. Eine besonders hohe Dichte liegt in Nordrhein-Westfalen vor, gefolgt von Bayern und Baden-Württemberg.

Die operativen Betriebe sowie die Fahrzeughersteller werden komplementiert durch eine wachsende Zahl von Servicedienstleistungsunternehmen. Zu diesen zählen beispielsweise Händler:innen, Sharingfirmen, Dienstleistungsangebote im Bereich Software und Fahrzeugservice und etc. Mit steigendem Einsatz von gewerblichen Lastenrädern und dem identifizierten Potenzial, das von diesen ausgeht sowie der im Projekt iKnowRadlogistik ermittelten geringen Kenntnisstände innerhalb der bundesweiten Kommunen, nehmen auch immer mehr Beratungsunternehmen diese Fahrzeuge als Teil ihrer Beratungsleistungen auf (Braun et al. 2023).

Auf Grund stetiger Neugründungen und einem generellen Wachstum sowie diverser sich wandelnder Geschäftsfelder des Dienstleistungsbereichs ist eine Quantifizierung an dieser Stelle schwer umzusetzen. Auch die Zahlen von Händler:innen nehmen mit steigenden Absatzzahlen der Räder stetig zu. Hierbei gilt es auch einen Blick auf Autohäuser zu werfen, welche teilweise ebenfalls Lastenfahrräder und Anhänger in ihrem Portfolio anbieten. So findet in manchen Autohäusern eine Entwicklung weg vom Autohaus und hin zum Mobilitätshaus statt, was sich in Form eines erweiterten Angebot zeigt. Zur Auswahl stehen in diesen Mobilitätshäusern nicht mehr nur Kraftfahrzeuge, sondern auch Leichtfahrzeuge wie Lastenfahrräder und -anhänger. Das Serviceangebot wird häufig auch auf den Lastenradservice sowie Beratungsleistungen erweitert.

6 Fazit

Der Transport von Waren und Gütern per (Lasten-)Rad ist eine über hundert Jahre alte, etablierte Technik, die zwischen den 1950er- und 2000er-Jahren nur in bestimmten Segmenten auftrat und nicht Teil der kollektiven Wahrnehmung war. Seit dem Jahr 2010 findet die Renaissance statt, die in diesem Kapitel bis zum aktuellen Status nachgezeichnet wird. Treiber der Renaissance waren einige Projekte welche die Aufmerksamkeit wieder auf das Lastenrad gelenkt haben, Pionier:innen mit neuen Logistik- und Fahrzeugkonzepten, Innovationen in der Fahrzeugtechnik, besonders bei e-Motoren und ein politisch, gesellschaftlicher Rahmen, welcher mehr Verkehrssicherheit, weniger CO2, Luftverschmutzung und eine Verbesserung der Lebensqualität in Städten zum Ziel hat.