1 Forschungsstand und Quellenlage

Fahrradgeschichte boomt. Mit der Renaissance des Fahrradfahrens seit dem späten 20. Jahrhundert ist auch das Interesse an historischen Nutzungsweisen von Fahrrädern deutlich gewachsen. Eine Reihe von Monografien, Sammelbänden und Ausstellungskatalogen hat in den letzten Jahren unterschiedlichste Aspekte der Fahrradgeschichte präsentiert (exemplarisch zur Bandbreite methodischer Fragestellungen zuletzt Männisto-Funk und Myllyntaus 2019). Als Langzeitprojekt dokumentiert die Publikationsreihe „Cycling Cities“ die Geschichte des Fahrradfahrens in einzelnen Städten in europäischer und internationaler Perspektive (Oldenziel et al. 2016).

Praktiken des Lastentransports per Fahrrad haben im Zuge dieser Konjunktur erstaunlicherweise bislang kaum Aufmerksamkeit gefunden. Dieses Desinteresse reiht sich in eine Forschungstradition in der Wirtschafts- und Technikgeschichte ein, historische Dimensionen der Logistik vornehmlich mit Blick auf groß angelegte Transportinfrastrukturen per Schiff, Eisenbahn oder LKW zu untersuchen. Alltagsnahe, wenig technisierte Praktiken des Transports wie das Tragen von Lasten oder die Nutzung von Handwagen, Schubkarren oder ähnlichem fanden demgegenüber lange Zeit nur in Forschungsfeldern wie der Volkskunde oder der europäischen Ethnologie Beachtung. In dieser Linie sind auch die zahlreichen Aspekte der Geschichte des Lastentransportes per Fahrrad nicht systematisch erforscht – und das gilt ebenso für die Geschichte der Nutzung von konstruktiv als solchen ausgelegten Lastenfahrrädern (als maßgebliche, knappe Synthesen Cox und Rzewnicki 2015; Ghebrezgiabiher und Poscher-Mika 2018, S. 37–49; als Grundlage dieses Beitrags Popplow 2020).

Zusätzlich erschwert werden Einblicke in den historischen Gebrauch von Lastenfahrrädern durch eine fragmentarische Quellenüberlieferung (Cox und Rzewnicki 2015, S. 132). Material zur quantitativen Einschätzung der Verbreitung von Lastenrädern fehlt sowohl auf lokaler als auch auf nationaler und internationaler Ebene. Dies gilt insbesondere mit Blick auf Asien, wo der Lastentransport per Fahrrad im Verlauf des 20. Jahrhunderts zweifellos quantitativ den höchsten Anteil am innerurbanen Transport hatte (Cox 2010, S. 165–188). Ebenso lückenhaft sind Quellen zu historischen Aspekten der Logistik des Lastenradeinsatzes, insbesondere mit Blick auf die ökonomischen Parameter, in deren Rahmen Kauf und Betrieb der vergleichsweise kostspieligen Lastenräder rentabel wurden. Selbst bei staatlichen Postgesellschaften ist der flottenmäßige Einsatz von Fahrrädern und Lastenrädern kaum dokumentiert (vgl. Abb. 3.1). Geschäftsunterlagen der unzähligen regionalen Fahrradhersteller wiederum, die insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Varianten von Lastenrädern im Angebot hatten, wurden meist nicht archiviert. Aktenmaterial zu weiteren Einzelfragen wie zu Verkehrsunfällen unter Beteiligung mit Lastenrädern ist noch nicht ausgewertet (vgl. Abb. 3.2). Einzigartig ist eine Sammlung von Interviews aus den späten 1950er- und 1960er-Jahren, die Erfahrungen von Fahrradboten in Kopenhagen dokumentiert, die zum Teil auch Lastenräder fuhren. Allerdings lassen diese Interviews nur vergleichsweise wenig Details zur Nutzung der Fahrräder selbst erkennen, da sie stärker auf die Biografien der Fahrer abheben (Haugbøll 1979). Letztlich werden Grundzüge eines Gesamtbildes somit nur über verstreut überlieferte Text- und Bildquellen unterschiedlichster Art erkennbar, deren Sammlung sich oft privaten Enthusiasten für die Geschichte von Lastenrädern verdankt. Dabei besteht ein deutlicher Schwerpunkt in historischen Fotografien sowie Werbe- und Prospektmaterial (Zuiderwijk 2023, Filterkategorien „foldermateriaal“ und „oude afbeeldingen“).

Abb. 3.1
figure 1

1897 berichtet der begleitende Artikel zu diesem Bild, dass bei der Post für die Verteilung ab Eisenbahnstationen neben Fuhrwerken auch Schwerlast-Dreiräder zum Einsatz kommen. (Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Berlin, Inventarnummer 4.0.17796)

Abb. 3.2
figure 2

Unfall auf den Champs-Elysées, Paris, 1946. (Robert DOISNEAU/GAMMA RAPHO)

Unter Berücksichtigung dieses wenig konsolidierten Forschungsstandes werden im Folgenden historische Aspekte des Einsatzes von Lastenrädern im 20. Jahrhundert in Europa unter besonderer Berücksichtigung der gewerblichen Logistik skizziert. Zunächst werden die zentralen Etappen der Nutzung von Lastenrädern nachgezeichnet, im Anschluss Aspekte der Logistik im gewerblichen Einsatz dargestellt. Schließlich wird das Image von Lastenrädern als unspektakulärer, im Vergleich zu motorisierten Transportmitteln rückwärtsgewandter Alltagsgegenstand diskutiert und daran erinnert, dass die private Nutzung von Lastenrädern im 20. Jahrhundert praktisch ausblieb.

2 Rahmenbedingungen und Trends des Einsatzes von Lastenrädern im 20. Jahrhundert

Der Lastentransport per Fahrrad ist so alt wie das Fahrrad selbst. Schon für die von Karl v. Drais 1817 erstmals erfolgreich erprobte Laufmaschine wurde Zubehör für die Beförderung zusätzlicher Personen oder schwerer Lasten vorgeschlagen, nicht zuletzt für den Einsatz im Postwesen oder beim Militär (Hadland und Lessing 2021, S. 13). Auch im Zuge der verstärkten Nutzung des modernen Sicherheits-Niederrades seit den 1890er-Jahren ging es nicht nur darum, als Person von A nach B zu kommen oder das Fahrrad zum Freizeitvergnügen zu nutzen. Transportbedürfnisse umfassen seither unterschiedlichste Ebenen: die Mitnahme von Handgepäck für die Alltagsmobilität, schwerere Ausrüstung beispielsweise zum Radwandern oder wiederum für militärische Einsätze (Fitzpatrick 1998), die Mitnahme weiterer Personen, insbesondere Kleinkinder (Henshaw 2022, S. 128–134), schließlich der Transport größerer Mengen von Waren und Gütern – meist im städtischen Gewerbe, aber auch in der Landwirtschaft (instruktive Beispiele bei Briese 1995; Amoser 2011; Essler 2014; Schimek 2015; Gundler et al. 2017; Zelck 2018, S. 167–190; für Lateinamerika und z. T. Asien Navarro et al. 1985, S. 83–157). Welche Lasten in der Praxis transportiert werden konnten und können, hing dabei nicht nur von der konstruktiven Auslegung des genutzten Fahrrads und der Topografie der befahrenen Wegstrecke ab, sondern auch von Geschicklichkeit, Wagemut und Körperkräften der Fahrer:innen. Vielfach fotografisch festgehalten um die Mitte des 20. Jahrhunderts ist beispielsweise der Transport zweier voller und damit je zwanzig Kilogramm schwerer Milchkannen durch Halterungen links und rechts am Rahmen unterhalb der Lenkstange (Schimek 2015, S. 90). Wie nicht nur dieses Beispiel zeigt, waren technische Adaptionen, um entsprechende Lasten befördern zu können, vielfältig: verstärkte Rahmen und Gepäckträger, Zusatzequipment wie Kindersitze oder Fahrradanhänger und schließlich Fahrräder, die von Beginn an konstruktiv für die Mitnahme größerer Lasten ausgelegt waren (Hadland und Lessing 2021, S. 335–363).

Für genuine Lastenräder sahen Fahrradhersteller in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts offenbar gute Absatzchancen. Schon im Zuge des „Tricycle-Booms“ der 1890er-Jahre kamen nicht nur Konstruktionen auf den Markt, mit denen zwei Personen gemeinsam unterwegs sein konnten, sondern auch Schwerlast-Dreiräder mit kastenförmigen Aufbauten vor oder hinter dem Fahrer (Werbeanzeigen bei Pinkerton 1983, o. S.). Es folgten die so genannten „Bäckerfahrräder“, bei denen über einem verkleinerten Vorderrad ein Stahlkorb oder ein Gestell angebracht war. Dort platzierte Weidenkörbe mit Deckel boten einen gewissen Schutz für die Waren. „Long Johns“ mit gestreckter Ladefläche zwischen Vorder- und Hinterrad tauchen im Vergleich dazu in den folgenden Jahrzehnten sowohl im historischen Bildmaterial als auch in Werbeanzeigen und Prospekten der Hersteller weit seltener auf (zu dieser Klassifikation die Einleitung in diesen Band; ausführlicher Überblick in Ghebrezgiabiher und Poscher-Mika 2018, S. 10–36). Auch die Nutzung von Fahrradanhängern ist vor den 1930er-Jahren kaum belegt. Wie speziell zwischen Investition in und Nutzung von Anhängern im Vergleich zur Nutzung von Lastenrädern abgewogen wurde, ob also Kosten, optischer Eindruck, Zugänglichkeit der Ware oder Fahrkomfort und Sicherheit ausschlaggebend waren, ist ungeklärt.

Lastenfahrräder im eigentlichen Sinn waren vor dem Einsatz neuer, leichterer Werkstoffe seit dem späten 20. Jahrhundert nach heutigen Maßstäben eher schwerfällig: Ihre Stahlrahmen hatten ein hohes Eigengewicht, waren erst ab den 1960er-Jahren – als Lastenräder bereits wieder außer Gebrauch kamen – mit Gangschaltung ausgestattet und verfügten, von Prototypen abgesehen, nicht über einen Elektroantrieb (vgl. Abb. 3.3). Damit setzte die Topografie der Nutzung je nach Fahrzeugtyp und Beladung Grenzen, fallweises Schieben beispielsweise bei stärkeren Steigungen war unter diesen Bedingungen unumgänglich. Wenn Werbeanzeigen seit den 1890er-Jahren über Jahrzehnte hinweg betonten, wie leicht sich Lastenräder fuhren („… so easily driven that a boy of thirteen rides it with ease“, Werbeanzeige für ein Schwerlast-Dreirad 1896, Pinkerton 1983, o. S.) sind dies natürlich zunächst Marketingbotschaften. Allerdings dokumentiert Quellenmaterial insbesondere aus den Niederlanden, aber auch aus England und anderen europäischen Ländern die Nutzung von Lastenrädern so umfassend, dass sie zweifelsfrei ein Alltagsphänomen waren. Erhaltenes Filmmaterial von Lastenradrennen gibt ebenfalls einen Eindruck von der Möglichkeit des schnellen Fahrens zumindest bei solchen Gelegenheiten. In Rechnung zu stellen ist dabei, dass zu dieser Zeit auch das Fahren von „Standardfahrrädern“ durch die nach heutigen Maßstäben schweren Stahlrahmen prinzipiell höhere Anstrengungen erforderte. Wie körperlich belastend das Fahren mit Lastenrädern letztlich war, hing von einer Vielzahl von Faktoren, insbesondere auch den konkreten Arbeitsbedingungen ab, für die sich Gewerkschaften, wie vereinzelte Quellen zeigen, schon seit der Wende zum 20. Jahrhundert einsetzten (für Deutschland Reith 1989, S. 19; für Dänemark Haugbøll 1979, passim). Mit Blick auf die zum Fahren nötigen Körperkräfte markieren technische Entwicklungen im frühen 21. Jahrhundert einen klaren Bruch: Durch neue Materialien im Fahrradbau zur Gewichtsreduzierung vor allem des Rahmens und insbesondere die Möglichkeit des Elektroantriebs hat sich das Potenzial des Lastentransportes mit spezifischen Lastenrädern erheblich erweitert.

Abb. 3.3
figure 3

Prototyp eines Schwerlast-Dreirads mit Elektroantrieb für die Briefkastenentleerung 1902. (Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Berlin, Inventarnummer 4.1.868)

Seit der Zeit um 1900 war das wesentliche Einsatzgebiet von Lastenfahrrädern die Zustellung bestellter oder im Laden bereits erworbener Waren über kurze Distanzen. Sie wurde durch Gesellen oder Hilfsarbeiter geleistet, die direkt bei den Gewerbetreibenden angestellt waren bzw. von diesen bezahlt wurden – es handelte sich also nicht um einen Service externer Dienstleister. (vgl. Abb. 3.4). Die genannte Studie zu Kopenhagen lässt allerdings in diese Richtung zumindest erkennen, dass es dort zu Anfang des 20. Jahrhunderts auch eine Infrastruktur von „Kiosks“ mit Telefonanschluss gab, über die Fahrradboten vor Ort ad hoc für alle möglichen Botenwege und Transporte gebucht werden konnten – in welchem Umfang sie auch Lastenräder nutzen, ist unklar (Haugbøll 1979, S. 48–49). Eine zentrale Funktion hatten derartige Kurierdienste per Fahrrad in Europa wie den USA im frühen 20. Jahrhundert vor allem für die Zustellung von Telegrammen (Downey 2002). Was Einkäufe angeht, war ein solcher Kundenservice in den seit der Hochindustrialisierung erheblich gewachsenen Städten natürlich auch über Botengänge zu Fuß oder per Handwagen möglich. Die demgegenüber vergleichsweise kostspielige Anschaffung von Lastenrädern – Werbematerial erwähnt oft die Möglichkeit monatlicher Ratenzahlungen – lohnte sich zu diesem Zweck jedoch offenbar gerade im Lebensmitteleinzelhandel für die Lieferung von Backwaren, Fleisch oder Milch sowie für Tageszeitungen. Tägliche Milchlieferungen, die vor der flächendeckenden Verbreitung von Kühlschränken in privaten Haushalten gängig waren, erfolgten dabei auch direkt durch Molkereien und damit in größerem Stil als die Transporte durch selbstständige Einzelhändler. Werbeanzeigen für Lastenräder strichen heraus, dass deren erhöhte Zuladungsmöglichkeiten es erlaubten, Touren um zusätzliche Kunden zu erweitern oder verwiesen auf die niedrigen Lohnkosten für die Anstellung von Jugendlichen als Lastenradfahrer (Pinkerton 1983, o. S.). Ein weiteres Plus war angesichts der wachsenden Bedeutung von Reklame als Mittel der Kundengewinnung die Sichtbarkeit: Gewerblich genutzte Lastenräder waren meist auch Werbeträger, sei es über Beschriftungen auf den Transportkisten, sei es über in den Rahmen eingebaute, individualisierte Emailschilder, deren Anfertigung die Fahrradhersteller als zusätzlichen Service anboten. Zumindest das überlieferte Bildmaterial legt den Schluss nahe, dass Lastenräder im Gewerbe fast ausschließlich von Männern gefahren wurden, auch wenn Frauen vielfach beim Transport erheblicher Lasten auf „Standardfahrrädern“ zu sehen sind. Ein möglicher Grund dafür ist, dass „berufliches“ Lastenradfahren im Kleingewerbe, wenn auch in Form schlecht bezahlter Hilfsarbeit, nicht als Frauenarbeit akzeptiert wurde, sodass Frauen eher als Privatpersonen oder als betriebliche Familienmitglieder entsprechende Transporte fuhren. Eine gewisse Ausnahme war der Postdienst, wo Bildmaterial seit der Zeit um 1900 Fahrerinnen nicht nur in Kriegszeiten bei der Zustellung von Telegrammen oder Postsendungen zeigt, in der Regel allerdings nicht auf Lastenrädern (vgl. Abb. 3.5).

Abb. 3.4
figure 4

Fahrer für die Kundenbelieferung einer Amsterdamer Fleischerei 1917. (transportfiets.net 2024)

Abb. 3.5
figure 5

Zustellerinnen der Reichspost vor einem Postamt in Schleswig-Holstein 1915. (Museumsstiftung Post und Telekommunikation, Berlin, Inventarnummer 3.2011.4812)

Dominierte die geschilderte Form des Kundendienstes im Lebensmitteleinzelhandel den Einsatz von Lastenrädern, eröffneten deren Eigenschaften weitere Nischen der Nutzung wie beispielsweise den Direktverkauf. Ob Backwaren oder Milch auch ohne Vorbestellung direkt vom Lastenrad verkauft wurden, ist unklar. Speiseeis allerdings erreichte die Kundschaft schon seit Anfang des 20. Jahrhunderts mit speziell ausgelegten und zuweilen aufwendig dekorierten Lastenrädern, die je nach Bedarf auf der Straße platziert werden konnten (Pinkerton 1983, o. S.) (vgl. Abb. 3.6). Im Handwerk wurden auch Dienstleistungen wie Messer- und Scherenschleifen über spezifisch ausgestattete Lastenräder auf der Straße angeboten. Häufiger war aber die Nutzung zum Transport des bei Kund:innen benötigten Equipments, beispielsweise für Reparaturen oder Reinigungsarbeiten (vgl. Abb. 3.7).

Abb. 3.6
figure 6

Schwerlast-Dreiräder für den Direktverkauf von Eis, Norditalien, frühes 20. Jahrhundert. (Fabrizio de Lorenzo, Bielefeld)

Abb. 3.7
figure 7

Varianten von Schwerlast-Dreirädern für den Transport von Molkereiprodukten, Obst und Gemüse und variable Nutzungen im Handwerk, Prospekt der Firma Sparta, Apeldoorn. (o.V. 1936)

In den Städten boten für das Kleingewerbe genutzte Hinterhöfe mit Schuppen und Remisen ausreichend Möglichkeiten des ebenerdigen Abstellens der Lastenräder mit einem Eigengewicht von zwanzig bis dreißig Kilogramm oder mehr. Auch wenn der motorisierte Lastentransport in europäischen Städten schon nach dem Ersten Weltkrieg kontinuierlich zunahm und Geschäfte dementsprechend häufig nicht mehr per Pferdefuhrwerk, sondern per LKW beliefert wurden (Möser 2002, S. 115–128), blieben Lastenräder vielfach bis in die Nachkriegszeit in Gebrauch. Verdrängt wurden sie letztlich erst in den 1950er- und 1960er-Jahren. Zu dieser Zeit erhöhte sich die Fahrgeschwindigkeit auf den Straßen durch die stadtplanerische Optimierung für den Autoverkehr, was die Wahrnehmung des muskelkraftbasierten Langsamverkehrs als Verkehrshindernis beschleunigte. Von entscheidender Bedeutung allerdings war zeitgleich die energiehistorische Zäsur im Sinne der zunehmenden Verfügbarkeit billiger fossiler Kraftstoffe in den westlichen Konsumgesellschaften: In den späten 1940er-Jahren hatten die prekären Bedingungen der unmittelbaren Nachkriegszeit der Nutzung von Lastenrädern als Notbehelf in Krisenzeiten noch einmal einen Aufschwung verschafft. Bald darauf jedoch schlossen sich ökonomische Nischen der Nutzung von Lastenrädern im Kleingewerbe (Cox und Rzewnicki 2015, S. 139–141). Motorisierte Kleintransporter waren gegenüber Lastenrädern nicht nur leistungsfähiger und bequemer, sondern nun auch ökonomisch rentabel (Bönig 2008). Zeitversetzt sollte eine strukturell vergleichbare Verdrängung von Lastenrädern und Rikschas durch eine an die Motorisierung angepasste Straßeninfrastruktur in asiatischen Regionen seit den 1990er-Jahren erfolgen. Hier allerdings verlief dieser Prozess weniger en passant wie im Europa der 1960er- und 1970er-Jahre. Aufgrund der schieren Menge der eingesetzten Räder war er stärker mit spezifischen obrigkeitlichen Gegenmaßnahmen wie Fahrverboten in bestimmten städtischen Zonen verbunden, auch wenn eine komplette Verdrängung nicht erreicht wurde (als exemplarische, persönlich eingefärbte Übersicht Rosen 2022, S. 221–250). Zuletzt bietet die Elektrifizierung gerade von Fahrradrikschas dieser Transporttechnologie in Asien in gewissem Rahmen neue Perspektiven.

In Europa verdankte sich – nach dem weitgehenden Verschwinden von Lastenrädern aus dem Straßenbild in den 1970er- und 1980er-Jahren – das seit den 1990er-Jahren erneute, wenn auch im Umfeld der entstehenden Umweltbewegung noch sehr sporadische Interesse am Lastentransport per Fahrrad weiterhin Impulsen „von unten“. Mit vornehmlich Müttern im urbanen Raum, die ihre Kleinkinder mittels Fahrradanhänger und später zwei- und dreirädrigen Lastenfahrrädern transportierten, waren nun im Vergleich zu den Hilfsarbeitern im urbanen Kleingewerbe der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts völlig andere Akteur:innen im Einsatz. Auf politischer oder verkehrswissenschaftlicher Ebene fand diese Entwicklung zunächst keinen Widerhall.

3 Logistik „von unten“?

Die Logistik des gewerblichen Lastentransportes per Fahrrad in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ist kaum mit aktuellen Bemühungen zu vergleichen, insbesondere den Waren- und Gütertransport im urbanen Raum auf der „letzten Meile“ verstärkt unter Zuhilfenahme digitaler Tools auf Lastenräder zu verlegen. Der zentrale Unterschied besteht darin, dass gewerbliche Transporte mit Lastenrädern in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts direkt zwischen Einzelhändlern als Eigentümer der Räder und deren Kund:innen erfolgten. Damit ergänzte die Zustellung von Waren im Einzelhandel per Lastenrad gewissermaßen als komfortable Dienstleistung den privaten Einkauf. Lastenräder wurden also nicht als Teil längerer Logistikketten eingesetzt, innerhalb derer zwischengeschaltete Logistikunternehmen als Dienstleister für unterschiedliche Auftraggeber fungierten. Unklar ist, ob die zur Warendistribution genutzten Lastenräder im Einzelhandel fallweise auch für andere Transportzwecke verwendet wurden, beispielsweise für den Transport der benötigten Rohstoffe vom Großhändler – plausibler aber ist deren Zustellung durch die erwähnten Fuhrwerke oder LKWs.

Von besonderem Interesse bleibt die quantitative und qualitative Beschreibung der ökonomischen Nische, in der sich Gewerbetreibende für Erwerb und Einsatz von Lastenfahrrädern entschieden, gerade weil sich die dafür relevanten Parameter sich im Lauf des 20. Jahrhunderts ständig verschoben. Die entsprechenden Kostenkalkulationen sind jedoch nicht bekannt – welche Beträge also für diesen Service angesetzt wurden, ob die Lieferung ab einem gewissen Warenwert „frei Haus“ erfolgte, oder inwiefern eine generell kostenfreie Zustellung der Kundenbindung diente. Zumindest bei Backwaren und Milch ist auch von einer vorab vereinbarten, regelmäßigen Zustellung auszugehen, welche dem Einzelhändler die Planung regelmäßiger Routen ermöglichte. Nutzungsmodalitäten und weitere Aspekte des Einsatzes von Lastenrädern, beispielsweise Wartung und Reparatur der stark belasteten Fahrzeuge oder die Unfallhäufigkeit, sind bislang ebenso schwer einzuschätzen wie die täglich im gewerblichen Gebrauch zurückgelegten Distanzen.

Natürlich stellten somit auch Gewerbetreibende seit der Zeit um 1900 logistische Planungen mit Blick auf die Touren an, die ihre Angestellten fuhren. Je mehr Kundschaft auf diese Weise bedient wurde und je mehr Lastenräder unterwegs waren, desto komplexer wurde die Planung, beispielsweise bei größeren Molkereien. In der Regel wurden die Planungen jedoch auf ebenso individueller wie informeller Weise vorgenommen. In Konzepte einer übergreifenden Logistik war der Transport per Lastenrad nicht eingebunden – mit Ausnahme der damals noch monopolisierten Postunternehmen. Nur für diesen prominenten Sonderfall der Brief- und Postzustellung, der einzigen Verwendungsweise, in der es Kontinuitätslinien der Lastenradnutzung durch das 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart gibt (Schimek, S. 95–100), gab es eine umfassend geplante „Flottenlogistik“ mit festen Tagestouren. Eine spezifische Lastenradlogistik war dafür jedoch nicht erforderlich. Vielmehr hatten die für die Zustellung genutzten Transporthilfen – von Taschen über Ziehwagen und Fahrrädern mit Gepäcktaschen bis hin zu Anhängern, Varianten von „Bäckerfahrrädern“ oder Schwerlast-Dreirädern – ihre je spezifische Leistungsfähigkeit. Diese beeinflusste natürlich die Auslegung der entsprechenden Touren hinsichtlich von Menge und Geschwindigkeit der zugestellten Post, ansonsten waren speziell die mit Lastenrädern gefahrenen Touren selbst jedoch komplett in die etablierte Logistik innerhalb der Postunternehmen integriert. Angesichts der hohen Stückzahlen von Fahrrädern im Postdienst wurden mit Fahrradherstellern häufig langfristige Verträge abgeschlossen, in denen auch die spezifischen Eigenschaften von Rahmen, Gepäckträgern, etc. festgehalten wurden. In diesem Zusammenhang waren letztlich alle bestellten Modelle von vornherein konstruktiv für die Beförderung höherer Lasten ausgelegt. Welchen Anteil Bäckerfahrräder und Schwerlast-Dreiräder hatten und nach welchen Parametern die Entscheidung für ihren Einsatz gefällt wurden, ist aus den Quellen bislang nicht zu rekonstruieren. Außerhalb des Postwesens bilden mit der Expansion des urbanen Logistikwesens seit etwa 2000 prekär beschäftigte Radkuriere ein scheinbar neuartiges Phänomen, auch wenn sie letztlich in der Tradition der Telegrammzustellung per Fahrrad in den Jahrzehnten um 1900 stehen (Kidder 2011; Popan und Anayan-Boig 2022).

Wird heute diskutiert, wie für die gewerbliche Nutzung elektrifizierter Lastenräder in etablierten Logistikketten ökonomisch rentable Nischen geschaffen werden können, sind daran neben Fahrradherstellern auch Akteur:innen aus den Verkehrswissenschaften und der Politik involviert. Im Vergleich zu einer derartigen Umsetzung vorab modellierter Lastenradlogistik konsolidierte sich die Logistik des gewerblichen Transportes per Lastenrad im Lauf des 20. Jahrhunderts „von unten“. Fahrradhersteller antworteten letztlich ohne derartige, übergeordnete Impulse auf Transportbedürfnisse des Kleingewerbes und des Postwesens. Überlegungen für lastenradadäquate Infrastrukturen im urbanen Raum von politischer Seite blieben aus, Verkehrswissenschaften und die Logistik als wissenschaftliche Disziplin ignorierten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts Lastenfahrräder als Optionen für den städtischen Gütertransport. Dies war insofern nur konsequent, als diese seit den 1960er-Jahren ohnehin mit Ausnahme des Postwesens weitgehend außer Gebrauch kamen. Vor dem Einsetzen von Umweltdebatten war für Lastenräder im öffentlichen und wissenschaftlichen Mainstream nicht einmal auf theoretischer Ebene Zukunftspotenzial erkennbar – auch wenn sie prinzipiell durchaus zu allen Zeiten einen gewissen Anteil gewerblicher und privater Alltagsmobilität hätten übernehmen können und der Lastentransport per Fahrrad im globalen Süden das gesamte 20. Jahrhundert hindurch Teil des Alltags blieb. Eine derartige Logistik „von unten“ im Rahmen wenig formalisierter Ökonomien ist dementsprechend ebenfalls für den Lastentransport per Fahrrad und den Einsatz von Rikschas in asiatischen Ländern (Steele 2021; Mom 2020, S. 72–98 und passim) oder auch in Südamerika (Navarro et al. 1985) zu konstatieren. Was den asiatischen Raum betrifft, gab es neben den zahllosen Ein-Mann-Unternehmen auch größere Betriebsstrukturen, deren Logistik sich allerdings ebenfalls in völliger Abwesenheit von politischen oder wissenschaftlichen Reflexionen konstituierte und sich wechselnden Rahmenbedingungen anpasste. Die gesamtwirtschaftlich aufgrund der reinen Quantität der geleisteten Transportvorgänge erhebliche Leistung entsprechender Transportstrukturen in Asien ist nicht zuletzt aufgrund dieser informellen Strukturen schwer abzuschätzen.

4 Image

Ein fortschrittliches Image und damit die Zuschreibung eines Zukunftspotenzials hatte die Nutzung von Lastenfahrrädern in Europa eigentlich nur in den Jahren um 1900. Hier waren Fahrräder prinzipiell, nicht zuletzt aufgrund des noch hohen Preises, ein Prestigeobjekt der Oberschicht. Daher konnten auch im gewerblichen Kontext Lastenräder – beispielsweise im Vergleich zu Handwagen und Fuhrwerken – problemlos als Symbol für Modernität gelten. Als jedoch bald nach 1900 die Faszination für motorisierte Fahrzeuge deutlich zunahm (Mom 2015), verlor das Fahrrad als solches schnell an Prestige – obwohl, beziehungsweise gerade weil es zugleich durch den Einstieg in die industrielle Massenfertigung für breitere Bevölkerungsschichten erschwinglich wurde. Auch im gewerblichen Gütertransport wurde die Motorisierung mit der Möglichkeit, menschliche oder tierische Muskelkraft zu ersetzen, zum Leitbild. Wenn sich die Nutzung von Lastenrädern dennoch und gewissermaßen in Widerspruch zu diesem Leitbild in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts insbesondere im urbanen Raum etablierte, wurden Lastenräder bis zu ihrer großflächigen Außerdienststellung in den 1960er-Jahren konsequenterweise primär als reine Arbeitsgeräte wahrgenommen. Mediale oder öffentliche Aufmerksamkeit zogen sie so gut wie gar nicht auf sich. Ebensowenig spielten sie, wie angemerkt, eine Rolle in verkehrspolitischen Debatten, noch erhielten sie Aufmerksamkeit von Seiten der sich etablierenden Verkehrswissenschaften.

Als die Massenmotorisierung in der Nachkriegszeit vom Wunschtraum zur Realität wurde (Möser 2002, S. 189–203, 276–288), war die Zeit der Lastenräder aufgrund der nötigen körperlichen Anstrengung, der Schwerfälligkeit in beladenen Zustand und dem langsamen Fahrtempo schnell vorbei, auch wenn Fahrradhersteller sie in den 1950er-Jahren für gewerbliche Zwecke noch durchaus intensiv bewarben (vgl. Abb. 3.8). Im französischen Spielfilm „Le triporteur“ von 1957, nach dem 1951 erschienenen Roman von Réné Fallet, ist der Fahrer des namengebenden Schwerlast-Dreirades als Hauptfigur dementsprechend ein von der Moderne abgehängter, wenn auch sympathischer Verlierer (Cox und Rzewnicki 2015, S. 138). Lastenräder Zukunftspotenzial zuzuschreiben, wie es derzeit im Zeichen der Klimakrise geschieht, war im Verlauf des 20. Jahrhunderts praktisch völlig ausgeschlossen – was trotz der dort weit umfassenderen Verbreitung ebenso für asiatische und andere Regionen des globalen Südens gilt. Für Besucher aus westlichen Industrienationen war die Allgegenwart der Lastenbeförderung per Fahrrad wie auch von Fahrradrikschas in asiatischen Regionen vielmehr ein deutlich sichtbares Symbol von technischer Rückständigkeit und Wohlstandskluft: Dass der Sandmann des DDR-Fernsehens 1970 Vietnam besuchte und dort ein dreirädriges Lastenrad fuhr, war eher folkloristisches Detail denn eine Wertschätzung des technischen Objektes als solches (Rundfunk Berlin-Brandenburg 2023).

Abb. 3.8
figure 8

Werbung für Lastenräder adressierte stets gewerbliche Nutzer. Broschüre der Neckarsulmer Motorenwerke, vermutlich 1950er-Jahre

Wertschätzung für den Lastenradtransport ist damit am ehesten bei den Gesellen und Hilfsarbeitern zu finden, die mit ihnen ihre Waren auslieferten. Auch wenn die Räder ihnen in der Regel nicht gehörten, konnten sie sich offenbar trotz oder gerade wegen des anstrengenden Arbeitsalltags mit ihrer Arbeit identifizieren. Dies ist für Kopenhagen, wo es seit etwa 1910 Initiativen zu gewerkschaftlicher Organisation von Fahrradkurieren im Post- und Telegrafendienst gab, ebenso belegt wie für Lastenrad- und Rikschafahrer in Asien (Haugbøll 1979; Samanta 2013). Sichtbarstes Kennzeichen dieser Gruppenidentität im städtischen Alltag waren die bereits erwähnten, unter hoher öffentlicher Aufmerksamkeit vor allem in den Niederlanden und Dänemark von den 1910er- bis in die 1950er-Jahre regelmäßig in Stadien oder Innenstadtbezirken abgehaltenen Lastenradrennen. Anknüpfend an die Faszination des Radsports wurden unterschiedliche konstruktive Varianten mit Beladung gefahren (Zuiderwijk 2023, Filterkategorie „transportfietsraces“, vgl. Abb. 3.9).

Abb. 3.9
figure 9

Lastenradrennen in Amsterdam, 4. Juli 1949

Die besonders kräftezehrende Personenbeförderung per Fahrradrikscha etablierte sich in Europa nicht, obwohl entsprechende Modelle um 1900 durchaus Aufmerksamkeit fanden (o.V. 1896). Vermutlich lag dies daran, dass solche Dienste von Beginn an nicht mit den Netzen von Pferde- und elektrischen Straßenbahnen einerseits und motorisierten Droschken andererseits konkurrieren konnten (Cox 2010, S. 165–188). Die gewerbsmäßige Beförderung von Personen wie in der asiatischen Form der Rikscha oder mittels Kabinenanhänger ist nur sporadisch und in fast diametral entgegengesetzten Kontexten belegt: Einerseits beispielsweise im Paris der 1940er-Jahre als Reaktion auf Treibstoffknappheit in Kriegs- und Nachkriegsjahren, sowie ab den 1990er-Jahren in europäischen Metropolen als Element des städtischen Tourismus (vgl. Abb. 3.10).

Abb. 3.10
figure 10

Velotaxi als Notbehelf in Kriegsjahren, Paris 1942. (Robert DOISNEAU/GAMMA RAPHO)

Nachdem die urbane Nutzung von Lastenrädern in den 1960er- und 1970er-Jahren zum Erliegen kam und nach und nach aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwand, wurden Lastenfahrräder im begrenzten Umfeld alternativ-ökologischer „Gegenkulturen“ der 1970er- und 1980er-Jahre punktuell als Privatfahrzeuge zum Symbol eines zukunftsweisenden, alternativen Lebensstils. Das Resultat waren Anleitungen zum Selbstbau ebenso wie der erneute Einstieg in die Fertigung von Lastenrädern in der Kopenhagener Christiania-Community (Kuhtz 1982; Ghebrezgiabiher und Poscher-Mika (2018), S. 44–47 und 51–58). Auch für den globalen Süden wurden Lastenräder in diesem Kontext als Entwicklungsoption für den Kurzstreckentransport als Alternative zum westlichen Vorbild zunehmender Motorisierung diskutiert (Navarro et al. 1985). Breitenwirksam konnte sich dieses Image nicht durchsetzen, eher ist es ein Beispiel für Impulse zu einem ökologischen Alltagsleben, die sich in den 1990er-Jahren wieder weitgehend verlieren sollten. So blieben auch die in dieser Phase produzierten Stückzahlen sehr niedrig. Eine wechselseitige Dynamik von Angebot und Nachfrage, wie sie in den 1990er-Jahren zunächst bezüglich der Nutzung von Anhängern zum Kindertransport und in den 2010er-Jahren bezüglich der Nutzung von Lastenrädern erkennbar wurde und die zwischenzeitlich auch ihren medialen Niederschlag findet, blieb in dieser Phase aus.

Als Lastenräder um 2010 wieder in größeren Stückzahlen produziert wurden, waren sie in der öffentlichen Wahrnehmung quasi auf einer Tabula rasa unterwegs. Nichts mehr erinnerte an Konnotationen früherer Zeiten, als sie Teil des Arbeitsalltags schlecht bezahlter, meist junger Hilfsarbeiter waren. Gegenüber der früheren, medial kaum reflektierten Wahrnehmung von Lastenrädern als Alltagsgerät etablieren sich jedoch im frühen 21. Jahrhundert im gesellschaftlichen Diskurs neue symbolische Deutungen von Lastenrädern. Wurden sie in der westlichen Welt zunächst als umweltfreundliche Alternative zum Automobil- und LKW-Verkehr propagiert, gewann in den letzten Jahren als Gegenreaktion eine kritische Interpretation als sinnfreies Spielzeug wohlhabender urbaner Mittelschichten an Boden – in Deutschland insbesondere, als Lastenräder im Bundestagswahlkampf 2021 im Zuge von Vorschlägen zu umfassenden Förderprogrammen erstmals zum umstrittenen Politikum wurden.

5 Private Nutzung

Das im 20. Jahrhundert weitgehend stabile Image von Lastenrädern als gewerbliches Arbeitsgerät korreliert damit, dass ihre Nutzung als Privatfahrzeug für den Transport von Kindern oder Einkäufen vor dem frühen 21. Jahrhundert nie zur Diskussion stand, auch wenn Fotos entsprechende Nutzungen immer wieder sporadisch dokumentieren (vgl. Abb. 3.11). Historische Fotos aus den 1910er- und 1920er-Jahren zeigen zuweilen in Kontinuität zu den Tri- und Quadrocycles des ausgehenden 19. Jahrhunderts entsprechende Anbauten für den Kindertransport. Dabei scheint es sich jedoch um wenig verbreitete Sonderanfertigungen gehandelt zu haben – auffälligerweise adressierten selbst Fahrradhersteller mit ihrem Werbematerial für Lastenräder grundsätzlich keine privaten Abnehmer. Sicherlich hatten in der Folgezeit private Transportbedürfnisse im Alltag vielfach einen Umfang, der problemlos mit Standardfahrrädern bewältigt werden konnte. Eine Passgenauigkeit von Lastenrädern für die private bzw. familiäre Logistik im Kleinen gab es offenbar das gesamte 20. Jahrhundert hindurch nicht. Die praktisch vollständige Abwesenheit auch nur entsprechender Überlegungen, trotz der als solcher verfügbaren Technik, scheint letztlich fast einem Tabu gleichzukommen.

Abb. 3.11
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Ad-hoc Personentransport per Schwerlast-Dreirad, Berlin 1919. (bpk/Kunstbibliothek, SMB, Photothek Willy Römer/Willy Römer)

Auf der Ebene der symbolischen Deutung mochte der Radsport als Austesten körperlicher Grenzen von sechs-Tage-Rennen bis zur Tour de France breite Bevölkerungsschichten das gesamte 20. Jahrhundert hindurch faszinieren. Demgegenüber winkte für die private, schweißtreibende Nutzung von Lastenrädern keine Anerkennung – weder in Zeiten, in denen das Automobil seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunächst nur ein ersehntes Leitbild der individuellen Mobilität war, noch als seit den 1920er-Jahren gerade in Deutschland Mopeds und Motorräder zur viel genutzten Zwischenetappe der Motorisierung wurden (Steinbeck 2012), und erst recht nicht als seit den 1960er-Jahren mit der Massenmotorisierung die Anschaffung von Automobilen für breite Schichten konkret möglich wurde. Spätestens zu dieser Zeit waren Impulse für die Anschaffung von Lastenrädern für den Privathaushalt kaum noch denkbar – obwohl nun der Bedarf an privaten Transportleistungen durch Konzentrationsprozesse im Einzelhandel und die Ausweitung des Konsums deutlich anstieg. Vor den Zeiten einer mit Elektroantrieb bequemeren Nutzung und dem Aufkommen von Umweltdebatten blieb die Anschaffung von Lastenrädern als Privatfahrzeug jedoch über Jahrzehnte hinweg kein Thema. Auf dieser Ebene taugten sie offenbar nicht einmal, allein aufgrund ihrer Größe und damit theoretisch vergleichbar mit dem Ansehen größerer Limousinen im Vergleich zu Kleinwagen, als individuelles Statussymbol – vielmehr blieben sie eine Notlösung, die Armut und Rückständigkeit symbolisierte.

6 Fazit

Welchen Beitrag können die an dieser Stelle kurz skizzierten Erkenntnisse zur Geschichte des Lastentransportes per Fahrrad für aktuelle Debatten zur Radlogistik bieten? Eindeutige „how to“-Empfehlungen sind hier sicher kaum abzuleiten. Dazu unterscheiden sich die Rahmenbedingungen der Lastenradnutzung um 1900, in der Zwischenkriegszeit oder in den 1950er-Jahren viel zu sehr von heutigen ökonomischen, sozialen und kulturellen Kontexten – gerade mit Blick auf die ältere Logistik „von unten“ im Vergleich zu ausgefeilten, im Zuge der Digitalisierung möglich gewordenen Logistikkonzepten. Der Blick in die Geschichte verdeutlicht jedoch, dass die Nutzung von Lastenrädern, wie die aller anderen Verkehrsmittel auch, nicht nur aus transporttechnischer und ökonomischer Effizienz zu evaluieren ist, sondern immer auch eine symbolische Dimension hat. Dabei definiert sich das Image der Nutzung von Lastenrädern grundsätzlich durch den Vergleich mit anderen Transportmitteln. Gerade durch die Verschiebung entsprechender Konstellationen im Transportsektor im Verlauf des 20. Jahrhunderts kam es zu entsprechenden Umdeutungen. So fuhren Lastenräder nach einer kurzen Phase eines fortschrittlichen Images zu Ende des 19. Jahrhunderts in der Folge gewissermaßen stets unterhalb des Radars des Leitbildes des motorisierten Automobil- bzw. LKW-Verkehrs, bis ihre Nutzung in den 1960er-Jahren ausklang bzw. in asiatischen Regionen zeitversetzt ab den 1990er-Jahren aktiv eingeschränkt wurde.

Dass die Strahlkraft des motorisierten Automobil- und LKW-Verkehrs im 21. Jahrhundert in allen Weltregionen weitgehend ungebrochen ist, prägt auch das Handeln aller Akteur:innen im Bereich der Lastenradlogistik. Wird eine Zunahme des Anteils von Lastenrädern gerade am innerstädtischen Transport gewünscht, liegen dafür zwischenzeitlich sicherlich die technischen Grundlagen ebenso vor wie die logistischen Konzepte. Soll darüber hinaus auf kultureller Ebene ein möglichst positives Image für die private wie auch für die gewerbliche Nutzung von Lastenrädern erreicht werden, muss allerdings auch dieses gewissermaßen neu erfunden und medial verankert werden. Der Blick in die Geschichte zeigt dabei, dass ein entsprechendes Image stark von emotionalen und unausgesprochenen Einschätzungen geprägt wird, die zwar kulturell bedingt und damit wandelbar sind, aber eine erhebliche Trägheit aufweisen. Hier neue Deutungsangebote zu entwickeln, könnte Ansätze zu einer optimierten Radlogistik sinnvoll ergänzen. Überlegenswert bleibt schließlich, inwiefern im Zuge einer zukünftigen, weniger automobilzentrierten Umgestaltung des städtischen Raumes die Serviceleistung der Belieferung von Kund:innen im Einzelhandel oder Kleingewerbe, wie auch der Straßenverkauf von Waren direkt vom Lastenrad, wieder zu einem attraktiven „low-tech“ Einsatzfeld werden könnte – eine ausgefeilte Logistik wäre dafür kaum nötig.